Leseverstehen im Französischunterricht


Seminararbeit, 2008

27 Seiten, Note: "-"


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Theoretischer Teil: Leseverstehen
1.1 Inhalt und Ziele der Arbeit
1.2 Leseprozess und Lesertypen
1.3 Leseabsicht und Leseverfahren
1.4 Leseverstehen im Unterricht: Übungsgestaltung und Übungsformen
1.5 Fazit für die Unterrichtsgestaltung

2. Praktischer Teil: Unterrichtsentwurf
2.1 Datenteil
2.2 Analyse der Klassensituation
2.3 Die Unterrichtsstunde
2.4 Lernziele der Stunde
2.4.1 Verankerung im Lehrplan
2.4.2 Lernziel: Methoden der Texterschließung
2.4.3 Lernziel: Umgang mit dem einsprachigen Wörterbuch
2.5 Didaktische Analyse
2.5.1 Begründung der Auswahl
2.5.2 Analyse der Schwierigkeit
2.5.3 Förderung von Kompetenzen
2.6 Methodische Überlegungen
2.6.1 Unterrichtsphasen
2.6.2 Sozialformen
2.6.3 Medien
2.7 Detailplanung

3. Anhang: Materialien zum Unterrichtsentwurf
3.1 Anlage 1: Erwartungshorizont für die Wiederholung
3.2 Anlage 2: Kopiervorlage zum Text „Vous avez dit polyandrie"
3.3 Anlage 3: Erwartungen an die Schüler im ersten Textabschnitt
3.4 Anlage 4: Kopiervorlage für die Verständnisfragen
3.5 Anlage 5: Detailfragen und Erwartungshorizont an die Schüler
3.6 Anlage 6: Übersichtstabelle zur Detailplanung

4. Literaturverzeichnis
4.1 Wissenschaftliche Literatur zum theoretischen Teil
4.2 Literatur zum Unterrichtsentwurf

1. Theoretischer Teil: Leseverstehen

1.1 Inhalt und Ziele der Arbeit

„Die Schüler lernen, Texte vielfältiger Art unter verschiedenen Gesichtspunkten zu erschließen und zu kommentieren, und sie entwickeln eine individuelle Lesekompetenz. Neben der Arbeit mit schriftlichen Texten, bei denen auch die Anwendung unterschiedlicher Lesestrategien trainiert wird, (beschäftigen sie sich mit Hörtexten...).“1 Mit diesen Worten äußert sich die Lehrplanredaktion im Fachprofil für moderne Fremdsprachen zum Thema Leseverstehen und nennt dabei die wichtigsten Ziele, die ein Lerner einer modernen Fremdsprache im Schulunterricht erreichen sollte. Diese sollen im Zusammenhang mit geeigneten Methoden, die zu ihrem Erwerb führen können, im Folgenden unter besonderer Berücksichtigung der Didaktik des Französischen näher untersucht werden. Im Anschluss an eine theoretische Einführung in das Thema wird ein konkreter Entwurf einer Unterrichtsstunde zum Thema Leseverstehen vorgestellt.

1.2 Leseprozess und Lesertypen

Beim Lesen finden auf verschiedenen Ebenen ineinander verwobene Abläufe statt, die in ihrem Zusammenspiel zum Verständnis eines Textes führen. Auf der graphophonischen Ebene werden mit Hilfe von Fixationspunkten, zu denen sich die Augen ruckartig bewegen, vertraute Rechtschreibmuster und Morpheme wahrgenommen und der Text damit visuell dekodiert. Gleichzeitig wird auf das mentale Lexikon zugegriffen, in dem die einzelnen Wörter mit ihren Bezeichnungen gespeichert sind, um die Wortbedeutung zu entschlüsseln. Außerdem wird das Gelesene syntaktisch analysiert, wobei hier hinsichtlich des fremdsprachlichen Lesens die Ähnlichkeiten, die zwischen Mutterund Fremdsprache bestehen, eine große Bedeutung haben und das fremdsprachliche Lesen erleichtern können. Auf der semantischen Ebene beeinflusst vor allem inhaltliches Vorwissen sowie die Kenntnis von Schemata das Verständnis positiv.2

Jeder fremdsprachliche Leseprozess findet zunächst auf der Basis allgemeiner Leseabläufe und auf der Grundlage des muttersprachlichen Lesens statt. Grundsätzlich muss bei der Dekodierung eines gelesenen Textes von zwei Typen der Informationsverarbeitung ausgegangen werden, nämlich von einem beim muttersprachlichen Lesen und im Idealfall auch beim fremdsprachlichen Lesen automatisch ablaufenden Teilprozess, der dem Erkennen der sprachlichen Form dient und einem bewussten, der besonders von untrainierten Lesern als mühsam empfunden werden kann und anders als der automatische Prozess keine uneingeschränkte Kapazität besitzt. Nur mit Hilfe dieses bewusstseinsnahen Prozesses jedoch gelingt es, den Inhalt des Gelesenen aufzunehmen und zu verstehen.3 Erfordert aber bereits der Prozess der sprachlichen Dekodierung alle vorhandene Gedächtniskapazität, unterbleibt der Prozess des Verstehens, da für ihn keine Kapazitäten mehr zur Verfügung stehen.4 Leseanfänger, bei denen die einzelnen Elemente des Leseprozesses5 noch nicht automatisch ineinander greifen, müssen sich stark auf die eigentliche Dekodierung konzentrieren und sind häufig darauf angewiesen, sich von ihren Erwartungen steuern zu lassen, die ihrerseits das richtige Verständnis erschweren können. Raten, inhaltliches Inferieren (hierbei kann Vorwissen zum Thema durchaus hilfreich sein)6 oder auch das Vermeiden schwierigerer Textstellen sind typische Hilfsstrategien schwacher Leser. Nur durch Übung und Erfahrung kann die sprachliche Dekodierung immer weiter automatisiert und das Lesetempo verbessert werden.7

Beim Lesen in der Fremdsprache müssen auch geübte muttersprachliche Leser anfangs Strategien schwacher Leser anwenden, solange sie mit Wortschatz und Syntax (besonders an Stellen, wo diese von der muttersprachlichen Struktur abweicht)8 noch nicht so vertraut sind, dass die Erkennungsprozesse automatisch ablaufen können. Eine unmittelbare Sinnentnahme aus dem Gelesenen wird erst ermöglicht, wenn nicht mehr die gesamte Konzentration auf die Entschlüsselung des sprachlichen Materials gerichtet werden muss.

1.3 Leseabsicht und Leseverfahren

Wie und wie genau jemand liest, ist stark abhängig von der Absicht, die er beim Lesen verfolgt. Ein Jungendlicher, der in der Schule zur Lektüre eines bestimmten Textes „gezwungen“ wird, hat sicherlich eine niedrigere Motivation als einer, der in seiner Freizeit aus Interesse liest und sich daher mehr bemühen wird, korrekte Informationen zu entnehmen.

Zu unterscheiden ist begrifflich zwischen Lesestrategien, die die „Art und Weise, wie die Prozesse kombiniert werden“9, bezeichnen, Lesetechniken, d.h. lehrbare Handlungen wie beispielsweise gezieltes Unterstreichen oder Nachschlagen, und Lesestilen, bei denen das Leseverhalten durch die Leseabsicht beeinflusst wird.10 Oft wird in der Literatur ‚Lesestrategie’ als Synonym für alle drei Be-griffe verwendet und auch wenn SCHMIDT (2007) gerade diese Ungenauigkeit kritisiert, verwendet sie hinterher selbst den Begriff Strategie übergreifend auch für Lesestil und Lesetechnik.11 Für die Schüler ist es in erster Linie wichtig, sich über den eigenen Lesestil bewusst zu werden und verschiedene Lesetechniken kennenzulernen, die ihnen das Leseverstehen erleichtern. Die Vermittlung bestimmter bewusst einsetzbarer Strategien kann erst danach geschehen und ist überhaupt erst ab der Mittelstufe und vor allem im Anfängerunterricht sinnvoll.12

VIGNAUD (2002) unterscheidet in ihrem Aufsatz fünf „stratégies de lecture“13. Sie klassifiziert diese Strategien danach, welchen Zweck sie erfüllen und wie sie beim Lesen und im Unterricht geübt und eingesetzt werden können. Unter „lecture repérage“ versteht sie ein gezieltes Suchen nach Informationen, besonders in Bedienungsanleitungen, Übersichten, kurzen Presseartikeln etc., bei dem der Text mehrmals in verschiedene Richtungen überflogen wird, um die benötigten Gesichtspunkte möglichst schnell zu finden und zu überprüfen. Als Übungsform für den Unterricht schlägt er vor, die Schüler innerhalb eines begrenzten zeitlichen Rahmens, der ein genaues Lesen verhindert, eine Tabelle ausfüllen zu lassen, in die nur Stichwörter oder Zahlen eingefügt werden müssen. Mit „lecture écrémage“ bezeichnet er ein Lesen, bei dem in relativ kurzen Texten oder Textausschnitten die wesentlichen Informationen herausgefunden und Art und Funktion des Textes erkannt werden sollen. Indem die Schüler die einzelnen Paragraphen gegeneinander abtrennen und Schlüsselwörter markieren, anhand derer sie – auch unter Beachtung des Titels – in der Lage sind, Vermutungen über den weiteren Inhalt aufzustellen,14 die ihnen wiederum das Verständnis erleichtern können, schaffen sie sich einen Überblick über Textaufbau und Inhalt. Auch bei der Einübung dieser Leseform bleibt die Zeit, die den Schülern gegeben wird, begrenzt. Als dritten der fünf Lesestile nennt VIGNAUD den der

„lecture survol“, der zu einem globalen Verständnis des Textes führt, indem zwar Details noch unbeachtet bleiben, die Gesamtstruktur des Textes aber durchschaut wird. Es werden Autor, eventuelle Abbildungen, Erscheinungsdatum usw. berücksichtigt, vor der Lektüre kann eine Inhaltsübersicht dazu beitragen, dass sich beim Lesenden Hypothesen und Erwartungen an den Text bilden können, die dann durch das genauere Lesen bestimmter Passagen überprüft werden. Die Form des Lesens, bei der der Leser den Inhalt in seinen Details erfasst, nennt VIGNAUD „lecture approfondissement“. Nach einer Phase des überfliegenden Lesens gelangt der Leser hiermit zu einem genauen Textverständnis, das es ihm unter anderem erlaubt, exakte Antworten auf Fragen zum Text zu formulieren. Bei der fünften

„stratégie de lecture“ fällt VIGNAUD nun aus der sich steigernden Anordnung der Lesestile vom ungenauen zum detailhaften Lesen heraus und führt die „lecture de loisir et de détente“ an, die das Ziel der Leseübungen im Unterricht darstellen sollte. Sie versteht darunter das freiwillige, lineare Lesen eines beliebigen Textes, der dem Interessensfeld des Lesenden entspricht. Der Lehrer kann durch geeignete Vorschläge und Methoden gezielt dazu anregen.15

SCHMIDT (2007) nennt in ihrem Aufsatz über die Lesestrategien ebenfalls fünf Lesestile, die sie mit denselben Begriffen bezeichnet, die auch in den bayerischen Lehrplänen verwendet werden: Der

„lecture repérage“ entspricht bei ihr das „selektive Lesen“, der „lecture écrémage“ das „kursorische Lesen“, der „lecture survol“ entspricht das „orientierende (oder globale) Lesen“, der „lecture approfondissement“ das „detaillierte (oder totale) Lesen“. Der fünfte von ihr angeführte Lesestil, das „argumentative Lesen“, das zu einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Textinhalt führt, ist bei VIGNAUD durch die „lecture de loisir et de détente“ ersetzt, die, wie oben beschrieben, ein nahezu entgegengesetztes Ziel verfolgt.16

NIEWELER (2003) fügt diesen fünf Lesestilen, die er in leicht abgeänderter Terminologie beschreibt – das „selektive Lesen“ nennt er „suchendes Lesen“, das „argumentative Lesen“ heißt bei ihm

„analytisches Lesen“ – einen sechsten hinzu, den des „kombinierten Lesens“, bei dem die einzelnen Lesestile gleichzeitig, abwechselnd oder nacheinander zum Einsatz kommen.17

RAMPILLON (1996) stellt in ihrem Beitrag zum Leseverstehen sehr systematische, aber auch sehr theoretische Leseverfahren in hauptsächlich englischer Terminologie vor, die hier nicht ausführlich referiert werden sollen, da sie im Wesentlichen nichts Neues aussagen: „skimming“ (Sammeln erster Leseeindrücke), „scanning“ (Erfassen bestimmter Informationen) und „speed reading“ (Schnelllesemethode) sind Ausprägungen des überfliegenden Lesens,18 die sich in die oben beschriebenen Kategorien einordnen ließen. Für das intensive oder textverarbeitende Lesen beschreibt RAMPILLON vor allem zwei Verfahren, die zu einem genauen Textverständnis führen sollen: die SQ3R-Methode (oder 5- Schrittmethode)19 und das MURDER-Schema20. Ein fest vorgegebener Ablauf des Leseprozesses soll dem Lesenden eine genaue Anleitung bieten, engt ihn aber eventuell auch ein. Zusätzlich besteht unter Umständen die Gefahr, zu viel Konzentration auf das Verfahren an sich aufzuwenden, das aufgrund seiner Komplexität nur schwerlich automatisiert werden kann, sodass das Lesen aufwendig und mühsam wird. Gerade beim Lesen muss die Individualität der Lesenden respektiert werden, der ein festgelegtes Schema nicht gerecht werden kann. Es kann zwar durchaus sinnvoll sein, im Unterricht eine der genannten Verfahrensweisen vorzustellen, um den Schülern Anreize und Ideen zu geben, die sie beim eigenen Lesen umsetzen können, falls sie daraus eine Erleichterung für sich erkennen, man sollte sich allerdings die Frage stellen, ob ein solches Schema wirklich zur Pflicht für alle gemacht werden sollte und auch auf die Gefahren, die sich daraus ergeben, aufmerksam machen.

Sehr nützlich hingegen wirkt eine Lesetechnik, die RAMPILLON für das textverarbeitende Lesen vorschlägt: Um einen Text im Detail leichter verstehen zu können, muss man ihn visualisieren, d.h. an Stellen mit besonders wichtigen Gedanken – hierbei ist die Leseintention ausschlaggebend – mit Markierungen versehen, und strukturieren, d.h. die Gliederung des Textes erkennen und durch Markierungen hervorheben. Die verschiedenen Möglichkeiten, wie ein Text entsprechend visualisiert und strukturiert werden kann (ob z.B. graphisch mit verschiedenen Farben, einfarbig durch Unterstreichen, Unterringeln, Einkreisen usw. oder verbal durch Notizen am Rand), müssen im Unterricht besprochen und geübt werden.21

1.4 Leseverstehen im Unterricht: Übungsgestaltung und Übungsformen

Wie bereits mehrfach angesprochen, ist Übung der einzige Weg, um zu einem ausgeprägten und automatisierten Leseverstehen zu gelangen. Besonders für das erste Lesen eines unbekannten Textes kann es sich als hilfreich erweisen, wenn vor der Lektüre Vorwissen zum Thema aktiviert wird, denn, wie WESKAMP (1996) stichhaltig formuliert, sind häufig Verständnisschwierigkeiten beim Lesen nicht zuletzt in der „Unkenntnis der Schüler darüber, daß das, was man bereits zu einem Thema weiß, oft mehr hilft als das zeitraubende Nachschlagen unbekannter Vokabeln in Wörterbüchern“22. Die gleiche entlastende Wirkung können Bilder, Tabellen, Vokabelhilfen usw., die dem Lesen vorangeschickt werden, erzielen.23 In einem ersten Schritt müssen sich die Schüler bewusst machen, wie sich ihr instinktives Leseverhalten gestaltet, indem sie selbstkritisch überprüfen, wie viel sie beim ersten Lesen eines Textes verstehen, ob sie z.B. die Hauptgesichtspunkte des Inhalts wiedergeben können.24 Sie lesen den Text dazu am besten leise und in Einzelarbeit, um den persönlichen Leistungsstand messen zu können.25 Andere „Verfahren zur ersten Textbegegnung“ im Fremdsprachenunterricht stellen auch BRUSCH / CASPARI (1998) ausführlich vor.26

Anschließend kann der Lehrer entscheiden, ob er eines der oben genannten Leseverfahren vorstellt, das die Schüler hinterher erproben können, oder ob er sie weiter ihrer Intuition überlässt. Wichtig ist jedenfalls – und gerade WESKAMP (1996) misst diesem Arbeitsschritt zentrale Bedeutung zu – dass die Schüler in der Gruppe ihre Erfahrungen bezüglich des angewendeten Verfahrens oder des Leseprozesses im Allgemeinen austauschen.27

Die größten Schwierigkeiten gerade bei authentischen Texten entstehen aus der lexikalischen Ebene. Die Schüler müssen daher Wege finden und erproben, wie sie mit unbekannten Wörtern unter möglichst geringem Aufwand umgehen können. Sie müssen durch Überlegung und Erfahrung trainieren, Wörter ohne Hilfsmittel als Internationalismen zu erkennen oder sie aus dem Kontext, aus der Ähnlichkeit zu anderen bekannten Sprachen oder aufgrund der Zugehörigkeit zu Wortfamilien zu erschließen.28 Möglichst früh sollen die Schüler deshalb Techniken kennen lernen, die sie dazu befähigen, Lücken im Wortschatz zu überwinden.29 Auf glossierte Texte möchte WESKAMP (1996) verzichten, da diese zwar zunächst eine Erleichterung zu bringen schienen, in Wirklichkeit aber dadurch, dass die Schüler ständig durch die Anmerkungen vom Haupttext abgelenkt würden, ein Lesen in größeren Sinnzusammenhängen, das eigentlich das Ziel der Leseübungen ist, verhinderten.30 Andere Didaktiker wie z.B. BLÜMEL-DE VRIES (2003) bezeichnen annotierte Texte jedoch durchaus als sinnvoll, um Frustrationserlebnisse zu vermeiden.31

Eine entscheidende Rolle für die Gestaltung und den Erfolg einer Unterrichtsstunde zum Leseverstehen spielt die Textauswahl, sowohl bezüglich der Schwierigkeit als auch bezüglich des Inhalts, von der besonders die Motivation der Schüler beim Lesen abhängt. Schulbuchtexte neigen dazu, zumindest wenn das entsprechende Lehrwerk bereits seit mehreren Jahren im Einsatz ist, in ihren Inhalten nicht mehr aktuell zu sein und die Schüler daher nur mäßig zu interessieren.32 Erinnert man sich an den Französischunterricht, den man selbst als Schüler erlebt hat, wird man zugeben, dass die Texte in den Lehrbüchern, die, obwohl sie häufig Geschichten von Erlebnissen französischer Jugendlicher erzählen, dennoch nicht der Lebenswelt und dem Interessensfeld der Schüler entsprechen, da sie weder besonders spannend geschildert sind noch irgendeinen Anspruch darauf erheben, dass das Erzählte wirklich passiert ist. Authentischen Texten soll daher von Anfang an, wenn möglich, der Vorzug gewährt werden, da solche Texte generell motivierender auf die Lerner wirken.33 Diese können vom Lehrer eher so ausgewählt werden, dass sie auf die „individuelle jetzige oder zukünftige Lebensund Berufswelt“34 der Schüler abgestimmt sind. Um die Ausbildung des Leseverstehens zu fördern, erweist es sich als sinnvoll, den Schülern mehrere kürzere Texte zum gleichen Thema zu präsentieren, in denen dann auch ähnliche sprachliche Phänomene und vor allem ein ähnlicher Wortschatz vorkommen.35 Derselbe Effekt kann beim Lesen einer Ganzschrift erzielt werden,36 wobei auf didaktisiertes Material weitgehend verzichtet werden sollte, da es für die Schüler ein größeres Erfolgserlebnis darstellt, eine Schrift im Original gelesen zu haben, und da bei didaktisierten Lektüren häufig der Stil des Originals, den die Schüler auch kennen lernen sollten, verloren geht.

Nicht zuletzt muss auch im Schulunterricht extensives Lesen gefördert werden. Den Schülern darf nicht das Gefühl vermittelt werden, dass sie jeden Text, der ihnen begegnet, mühsam bis ins letzte Detail, womöglich sogar unter Leistungsdruck, verstehen müssen. Gerade im Alltagsleben – man denke zum Beispiel an Presseartikel im Internet – werden sie immer wieder auf Texte stoßen, die sie je nach Interesse genauer oder nur überfliegend lesen. Um ein solches Leseverhalten zu unterstützen, kann den Schülern beispielsweise in Einzelarbeit oder in Kleingruppen die Möglichkeit gegeben werden, ihren eigenen Interessen nachzugehen und in selbständiger Recherche im Internet, in Büchern oder Zeitschriften, die im Klassenzimmer oder in der Schulbibliothek zur Verfügung stehen, nach Texten zu suchen, über die sie sich einen Überblick verschaffen oder die sie eingehender behandeln möchten. Automatisch werden die Schüler sich mehrerer Lesestile bedienen, um das ihrer Intention entsprechende Ziel zu erreichen.37 Gut vorstellbar wäre im Anschluss an eine solche Unterrichtseinheit, die auch eine Differenzierung innerhalb der Klasse zulässt, die Präsentation dessen, was die Schüler allein oder in der Gruppe an interessanten Informationen in Erfahrung bringen konnten, vor der Klasse.

1.5 Fazit für die Unterrichtsgestaltung

Noch viele Aspekte könnten hier angeführt werden, müssen aber aufgrund des beschränkten Umfangs der Arbeit unberücksichtigt bleiben. Gedacht ist hier beispielsweise an die Überprüfungsformen des Leseverstehens,38 an viele weitere Ideen zur Gestaltung einer Unterrichtsstunde zum Leseverstehen,39 sowie an Arbeitsformen, die mit dem Leseverstehen in engem Zusammenhang stehen, wie das Schreiben.40 Aus der theoretischen Betrachtung des Leseprozesses, aus der Vorstellung der verschiedenen Lesestile und aus der wissenschaftlichen Darstellung der Mittel, durch die das Leseverstehen im Unterricht umgesetzt und gefördert werden kann, entsteht nun der folgende Unterrichtsentwurf, in dem versucht wird, sowohl dem Lehrplan als auch den didaktischen Ansichten der oben zitierten Wissenschaftler und den im theoretischen Teil der Arbeit gewonnenen Erkenntnissen bei der Umsetzung in die Praxis gerecht zu werden.

[...]


1 Lehrplan Gymnasium G8, Fachprofil Moderne Fremdsprachen G8 (Ebene 2), Leseverstehen.

2 Vgl. LUTJEHARMS (2006), S. 147f.

3 Vgl. LUTJEHARMS (2007), S. 107.

4 Vgl. LEUPOLD (2004), S. 227.

5 Lesen wird hier als „interaktiver Prozess“ angenommen, bei dem verschiedenste Kenntnisquellen (Kenntnis der Zeichen, Worterkennung, semantische Analyse, inhaltliches Vorwissen, Weltwissen) gleichzeitig zum Tragen kommen (dazu LUTJEHARMS (2007), S. 108ff.).

6 „Inferieren“ bedeutet beim Lesen mitzudenken und sich zu überlegen, was als nächstes passieren könnte, sowie Rückschlüsse aus dem Gelesenen zu ziehen. Es kann somit durch die Bildung von Hypothesen das Leseverstehen erleichtern. Zum Begriff und Nutzen des Inferierens siehe auch LEUPOLD (2004), S. 228.

7 Vgl. LUTJEHARMS (2007), S. 109 u. 112 und WESKAMP (1996), S. 325.

8 Vgl. Kap. 1.2, S. 3.

9 SCHMIDT (2007), S. 122f.

10 Vgl. ebd. S. 123.

11 Besonders im Unterpunkt 4 ‚Strategievermittlung’, S. 126f. Auch das, was LUTJEHARMS (2006) unter ‚Strategien’ zusammenfasst (vgl. S. 151), würde SCHMIDTs Definition zufolge eher zu den Lesetechniken gehören.

12 Vgl. SCHMIDT (2007), S. 126 f.

13 VIGNAUD (2002), S. 7. Nach SCHMIDT (2007), die an dieser Stelle eher von Stilen bzw. Formen des Lesens sprechen würde, ist der Begriff der Strategie hier nicht korrekt verwendet (vgl. S. 123). Siehe auch Kap. 1.3, S. 4.

14 Zu den Gefahren solcher Vorgehensweisen siehe LUTJEHARMS (2007): Ratestrategien können leicht auch zu falschen Hypothesen führen und so das richtige Verstehen sogar erschweren (vgl. S. 109). Siehe auch Kap. 1.2, S. 4.

15 Zum ganzen Abschnitt vgl. VIGNAUD (2002), S. 7.

16 Siehe dazu SCHMIDT (2007), S. 123.

17 Vgl. NIEWELER (2003), S. 7.

18 Vgl. RAMPILLON (1996), S. 84ff.

19 SQ3R:Survey –Question –Read –Recite –Review, vgl. RAMPILLON (1996), S. 87f.

20 MURDER: SetMood to study – Read forUnderstanding –Recall the Material –Digest the Material –Expand Knowledge –Review Effectiveness of Studying, vgl. RAMPILLON (1996), S. 88.

21 Vgl. RAMPILLON (1996), S. 88ff. Dazu auch FRITSCH (2003), S. 23f.

22 WESKAMP (1996), S. 324.

23 Vgl. JUNG (2006), S. 149.

24 Vgl. LUTJEHARMS (2007), S. 115 sowie WESKAMP (1996), S. 324.

25 Vgl. FRITSCH (2003), S. 23. Leise sollen die Schüler den Text deshalb lesen, damit nicht die lautliche Umsetzung des Gelesenen Gedächtniskapazität wegnimmt, die dem Verstehensprozess, d.h. der inhaltlichen Verarbeitung des Textes fehlt. Abgesehen davon rät HERMES (1998), dass „leises Lesen als die ‚natürliche‛ Art der lesenden Informationsaufnahme von Anfang an gefördert und geübt werden“ soll (vgl. S. 232).

26 U.a. werden hier genannt: Textunterbrechung und Hypothesenbildung, Füllen von Textlücken, schriftliche Dokumentation des ersten Leseeindrucks...,vgl. BRUSCH / CASPARI (1998), S. 174.

27 Vgl. WESKAMP (1996), S. 325.

28 Vgl. LEUPOLD (2004), S. 229.

29 Vgl. HERMES (1998), S. 233.

30 Vgl. WESKAMP (1996), S. 325.

31 Vgl. BLÜMEL-DE VRIES (2003), S. 71.

32 Vgl. WESKAMP (1996), S. 325.

33 Vgl. LEUPOLD (2004), S. 230.

34 WESKAMP (1996), S. 325.

35 Vgl. ebd., S. 325 und LEUPOLD (2004), S. 331.

36 Vgl. WESKAMP (1996), S. 325.

37 Vgl. LUTJEHARMS (2006), S. 151 und LUTJEHARMS (2007), S. 115.

38 Dazu LEUPOLD (2004), S. 231.

39 Dazu FRITSCH (2003), S. 23–28.

40 Dazu NIEWELER (2003), S. 6, oder der Aufsatz von NOLTE (2003), S. 61–67.

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Leseverstehen im Französischunterricht
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Institut für Romanische Philologie)
Veranstaltung
Proseminar: Theorie und Praxis des Französischunterrichts
Note
"-"
Autor
Jahr
2008
Seiten
27
Katalognummer
V118255
ISBN (eBook)
9783640209354
Dateigröße
1494 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Leseverstehen, Französischunterricht, Proseminar, Theorie, Praxis, Französischunterrichts
Arbeit zitieren
Stefanie Wind (Autor:in), 2008, Leseverstehen im Französischunterricht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/118255

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