„Vom Zauber der inneren Melodie zur Klage über zerbrochene Suppenschüsseln“: Das Prinzip der Künstlerliebe in E.T.A. Hoffmanns „Die Serapionsbrüder“


Seminararbeit, 2008

33 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Liebe des Künstlers im Unterschied zur Liebe des Philisters

3. Dualismus und Duplizität

4. Hoffmanns Künstlerliebe

5. Das Gelingen der Künstlerliebe durch Verzicht auf das Ideal
5.1 Heinrich von Ofterdingen in „Der Kampf der Sänger“
5.2. Reinhold in „Meister Martin der Küfner und seine Gesellen“
5.3. Salvator Rosa in „Signor Formica“
5.4. Edmund Lehsen in „Die Brautwahl“
5.5. Traugott in „Der Artushof“

6. Das Gelingen der Künstlerliebe trotz Besitz des Ideals
6.1 Wolfframb von Eschinbach in „Der Kampf der Sänger“
6.2 Friedrich in „Meister Martin der Küfner und seine Gesellen“
6.3 Antonio Scacciati in „Signor Formica“

7. Zusammenfassung und Fazit

8. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die vorliegende Hausarbeit beschäftigt sich mit dem Thema der Künstlerliebe in E.T.A. Hoffmanns Erzählungssammlung „Die Serapionsbrüder“. In der Forschungsliteratur wird häufig lediglich auf die verzichtende Künstlerliebe in Zusammenhang mit dem Künstlerzölibat eingegangen. Tatsächlich geben die meisten Werke Hoffmanns dieser Möglichkeit den Vorzug. Gerade in den Erzählungen der „Serapionsbrüder“ stellt Hoffmann jedoch Alternativen zum Verzicht des Künstlers auf die irdische Erfüllung seiner Liebe vor. Ziel der Analyse verschiedener Erzählungen soll sein, die Abstufungen und Differenzierungen dieser Alternativen herauszuarbeiten. Besonders interessant wird dabei die Gegenüberstellung der Geschichten sein, in denen die zwei unterschiedlichen Modelle der Künstlerliebe, Verzicht und Besitz des Ideals, aufeinander treffen.

Um das Prinzip der Künstlerliebe zu bestimmen, muss es zunächst von Hoffmanns Verständnis der Philisterehe abgegrenzt werden. Im darauf folgenden Schritt kann dann die Künstlerliebe dem Begriffspaar des Dualismus und der Duplizität zugeordnet werden. Die Stadien des Dualismus und der Duplizität begleiten den Weg der Erkenntnis des Künstlers in allen Lebensbereichen und sind zentrale Begriffe in Hoffmanns Werk. Auch in dieser Arbeit werden sie daher als Kriterien für den Erkenntnisstand des liebenden Künstlers dienen. Im folgenden Kapitel wird Hoffmanns eigenes Verhältnis zur Künstlerliebe thematisiert. Dies bietet sich an, um die zentrale Stellung des Themas der Künstlerliebe im Werk Hoffmanns zu erklären, von einem Übertrag der Biographie Hoffmanns auf seine Erzählungen wird jedoch abgesehen.

Im analytischen Teil der Arbeit werden, unterteilt in die Möglichkeiten des Verzichts auf das Ideal und dessen Besitz, ausgewählte Erzählungen der „Serapionsbrüder“ bearbeitet. Zu diesem Zweck werden die Handlungen der einzelnen Erzählungen zunächst vorgestellt. Es wird darauf hingewiesen, dass die Handlungsstränge oft stark verkürzt dargestellt werden. Themenkreise, die in anderem Zusammenhang bedeutend wären, finden so keine Erwähnung, um den Fokus auf das Thema der Künstlerliebe zu bewahren. Im Zuge dieser Analyse soll anhand relevanter Textstellen der Erkenntnisverlauf der einzelnen Künstler nachvollzogen werden. Darüber hinaus soll herausgestellt werden, welche Bedingungen für den Verzicht des Künstlers auf sein Ideal, oder, im Gegensatz dazu, für eine gelungene Verbindung mit der Geliebten gelten. Die Ergebnisse der Analysen werden abschließend im Fazit zusammenfasst.

2. Die Liebe des Künstlers im Unterschied zur Liebe des Philisters

Bevor darauf eingegangen werden kann, was die Liebe des Künstlers ist und welchen Regeln diese Liebe gehorcht, muss sie zunächst von einer grundverschiedenen Art von Liebe unterschieden werden: der Liebe und Ehe des Philisters.

Spott und Abneigung gegen den Philister ziehen sich wie ein roter Faden durch Hoffmanns gesamtes Werk, wie auch durch die Erzählungen der „Serapionsbrüder“. Wer oder was ist dieser verachtete Typ Mensch? In Hoffmanns Verständnis ist der Philister ein Spießbürger, jemand, der Kunst nur zur Unterhaltung schätzt und über wenig Phantasie verfügt. Erklärtes Lebensziel der Philister in Hoffmanns Erzählungen sind „keine Schulden, sondern viel Geld haben, gut Essen und Trinken, eine schöne Frau und auch wohl artige Kinder, die nie einen Talgfleck in das Sonntagsröckchen bringen“[1]. Auch für Philisterfrauen ist es das Wichtigste, schnell einen Mann zu finden und zu heiraten „denn was sollte[n] sie wohl in aller Welt anfangen, wenn sie niemals Frau würde[n]“[2]. Dabei spielt die Liebe in der philiströsen Verbindung eine eher untergeordnete Rolle. Wichtiger ist, dass der Auserwählte seine zukünftige Frau ernähren kann und ins Bild der Familie passt: „‚Was lieben, was alter Mann’, fiel ihr der Kommissionsrat ins Wort, ‚von lieben ist gar nicht die Rede, sondern von Heiraten.’“[3]

Die jungen Frauen scheinen die Meinung ihrer Väter zu teilen und trauern nicht lange, stellt sich die Verbindung als unpassend heraus. So tauscht Christine in „Der Artushof“ Traugott schon bald und ohne sichtliche Gefühlsregung gegen den Buchhalter aus, als ihr klar wird, dass Traugott nicht zur Ehe mit ihr bereit ist. Ebenso sieht man Albertine Voßwinkel aus „Die Brautwahl“, als ihr Verlobter Edmund sich von ihr abwendet, bald mit dem aufstrebenden Referendarius Gloxin anbändeln. Insgesamt ist die Philisterehe also oft eine Zweckehe ohne große Gefühle und Leidenschaft. Deutlich wird dies abermals am Geheimen Kanzleisekretär Tusmann aus der „Brautwahl“, der versucht, sich anhand von Lehrbüchern auf die Ehe wie für ein „schweres Examen“[4] vorzubereiten und in diesen Rat sucht, „was die Wahl des Gegenstandes betrifft, den man zu lieben und zu heiraten gesonnen“[5].

Verliebt sich dagegen ein Künstler, geschieht dies niemals aus wirtschaftlichem Interesse oder Prestigegründen. Die Künstlerliebe in Hoffmanns Erzählungen ist stets gekennzeichnet durch Leidenschaft, Hingebung, aber auch Schmerz und Verzweiflung. Wenn der Künstler seiner Geliebten begegnet, ist von „wahnsinniger Lust“[6], „heißer sehnsüchtiger Liebe“[7] und „hellen Liebesflammen“[8] die Rede. Im Gegensatz zu den Philisterfrauen, welche zwar hübsch aber bodenständig sind und sich auf die Hausarbeit verstehen, ansonsten aber recht normal erscheinen, sind die Künstlergeliebten überirdisch und „madonnenhaft“[9] dargestellt. Passend dazu werden diese Frauen oft mit religiösem Vokabular als „wunderliebliche Jungfrau“[10] oder „Engel des Lichts“[11] beschrieben[12]. Die Krönung der Künstlerliebe ist nicht die Heirat. Im Gegenteil wird vom Künstler verlangt, seine Geliebte nur mit dem Geiste zu lieben und von jeder körperlichen Annäherung abzusehen. Am Ende der Erzählung „Die Fermate“, die von der missglückten Liebe eines Komponisten zu einer Sängerin handelt, erfährt der Leser nicht nur, was dem Künstler droht, der sein Ideal heiratet, sondern auch, was stattdessen von ihm verlangt wird:

„‚Und doch’, sprach Eduard: ‚hast du ihnen das Erwachen deines innern Gesanges zu verdanken.’ ‚Allerdings’, erwiderte Theodor: ‚und eine Menge guter Melodien dazu, aber eben deshalb hätte ich sie nie wieder sehen sollen. […] Gewiß ist es, daß, so angeregt, alle Melodien die aus dem Innern hervorgehen, uns nur der Sängerin zu gehören scheinen, die den ersten Funken in uns warf. Wir hören sie und schreiben es nur auf, was sie gesungen. Es ist aber das Erbteil von uns Schwachen, daß wir, and der Erdscholle klebend, so gern das Überirdische hinabziehen wollen in die irdische ärmliche Beengtheit. So wird die Sängerin unsere Geliebte - wohl gar unsere Frau! - Der Zauber ist vernichtet und die innere Melodie, sonst Herrliches verkündend, wird zur Klage über eine zerbrochene Suppenschüssel oder einen Tintenfleck in der neuen Wäsche. - Glücklich ist der Komponist zu preisen, der niemals mehr im irdischen Leben die wiederschaut, die mit geheimnisvoller Kraft seine innere Musik zu entzünden wusste. Mag der Jüngling sich heftig bewegen in Liebesqual und Verzweiflung, wenn die holde Zauberin von ihm geschieden, ihre Gestalt wird ein himmelherrlicher Ton und der lebt fort in ewiger Jugendfülle und Schönheit und aus ihm werden die Melodien geboren, die nur sie und wieder sie sind. Was ist sie denn nun aber anders als das höchste Ideal, das aus dem Innern heraus sich in der äußern fremden Gestalt spiegelte.’“[13]

Hier wird es ganz deutlich: Die Künstlerliebe spielt sich auf einer anderen Ebene ab als die Ehe. Schneider nennt sie „poetische“[14] oder „höhere Sphäre“[15], im Gegensatz zur „prosaischen Sphäre“[16] des Philisters. Die Geliebte, das Ideal, kann nur dann Muse und Inspiration bleiben, wenn der Künstler es nicht körperlich besitzt, gleichsam ‚hinabziehen’ will ‚in die irdische Beengtheit’. Das Ideal soll im Innern des Künstlers bleiben und nur als Kunstwerk nach außen gebracht werden. Oft findet man dieses Motiv bei Hoffmann in Form eines Porträts, dass der Künstler von seiner Geliebten anfertigt. „Das Frauenporträt bei Hoffmann bildet nicht mehr ab, es stellt die Frau als höheres Ideal dar und ist daher mit Leben und Ehe unvereinbar.“[17] Dieser Zustand des „unbesessenen Besitzes“[18] löst im Künstler eine höchst produktive Sehnsucht aus.

„In der Sehnsucht bleibt der Gegenstand gleichsam immer voraus, wird nie erreicht, so daß eine ungeheure Zielspannung von ihm ausgeht. Und so bleibt darin auch das Ideal erhalten.“[19]

Versucht der Künstler dennoch, sein Ideal zu heiraten, droht als Konsequenz der Verlust seiner künstlerischen Produktivität.

„Über den Künstler, der sich am Ideale vergreift, der die Geliebte in seine sinnliche Umarmung herabzieht, bricht mit der Zerstörung der Illusion der Fluch geistiger Unfruchtbarkeit herein.“[20]

Den Schmerz, den der Künstler während dieser Phase des ‚Nicht-Haben-Könnens’ durchlebt, nennt Hoffmann Dualismus. Erst wenn er den „tieferen Sinn der Künstlerliebe“[21] erkennt, weicht dieser Schmerz dem Annehmen des Zustandes und damit der Duplizität. Dualismus und Duplizität sollen im folgenden Kapitel noch ausführlicher bestimmt werden.

Wie unter Anderem Walter Jost feststellt, weist Hoffmanns Auffassung von der Künstlerliebe Ähnlichkeit mit Ludwig Tiecks Roman „Franz Sternbalds Wanderungen“ auf. Das in Tiecks Roman thematisierte Motiv der Künstlerliebe und die damit zusammenhängende Ehelosigkeit des Künstlers greift Hoffmann in vielen seiner Erzählungen auf[22]. Im Tieck-Roman findet Franz sein Ideal am Ende seiner Reise in Rom. Ob diese Verbindung glücklich endet, bleibt offen.

Wie sich im Verlauf dieser Arbeit herausstellen wird, ist das strikte Verbot, das Ideal zu heiraten und der Gedanke des „Künstlerzölibats“[23] nicht konsequent durch die Erzählungen der „Serapionsbrüder“ durchgehalten. Welche Umstände eine solche Verbindung möglic machen, ohne den Künstler zum Scheitern zu verurteilen, wird Thema der entsprechenden Kapitel sein.

3. Dualismus und Duplizität

Wie bereits erwähnt durchleiden viele der Künstler in den „Serapionsbrüdern“ zunächst den Zustand des Dualismus, bevor sie die Duplizität erkennen. Was genau bezeichnen diese Begriffe? Dualismus beinhaltet stets Schmerz, Verzweiflung und Zerrissenheit. Es ist, wie Klaus Deterding beschreibt, der „Widerspruch des Seins“[24]. Bezogen auf die Künstlerliebe ist es etwa der Schmerz des Künstlers, sein Ideal nicht erreichen zu können. Erst wenn der Künstler erkennt, dass er die Geliebte zwar nicht im körperlichen Sinne besitzen kann, sie jedoch für immer in seinem geistigen Besitz übergehen kann, verlässt er den Zustand des Dualismus und erreicht die Duplizität.

„Und jetzt wird deutlich, daß „Duplizität“ den Dualismus überschreitet: es ist anerkannter Dualismus. Die Erkenntnis führt weg vom Erleiden des Widerspruchs - hin zu seiner An-erkennung. Der Dualismus wird erkannt und anerkannt, innerlich bejaht und so überwunden. „Duplizität“ heißt also, den Schritt - den wahrhaft entscheidenden Schritt - vom Leiden am Widerspruch zur Souveränität der Anerkennung des Gegensatzes zu tun.“[25]

Dualismus und Duplizität tauchen in Hoffmanns Werk nicht nur im Bereich der Künstlerliebe auf, sondern ebenso beim Gegensatz zwischen Kunst und Leben allgemein sowie dem Widerspruch zwischen Künstlerberuf und Brotberuf. Die Analyse dieser Bereiche ist Thema anderer Arbeiten. Einige Erzählungen der „Serapionsbrüder“ enden mit dem Scheitern des Künstlers, der sein Ideal besitzen will, und dies mit Gewalt oder Inanspruchnahme dunkler Mächte durchzusetzen versucht. Da es sich hierbei jedoch nicht um ‚Besitzenwollen’ einer Frau im Sinne der Ehe handelt - Cardillac aus „Das Fräulein Scuderi“ will seine verkauften Kunststücke wiedererlangen und Elis Fröbom aus „Die Bergwerke zu Falun“ ist besessen davon, das Geheimnis der „Strukturen des Seins“[26] in Form der Bergkönigen zu lösen - sollen diese Erzählungen hier nicht im Detail besprochen werden. Für diese gescheiterten Künstler gilt jedoch derselbe Grundsatz wie für diejenigen, die versuchen, ihr weibliches Ideal mit Gewalt in Besitz zu nehmen: Sie verkennen die Duplizität, wollen entweder besitzen oder untergehen und sind so zum Scheitern verurteilt.

4. Hoffmanns Künstlerliebe

Auch Hoffmann selbst musste als Künstler erfahren, was es bedeutet, einem unerreichbaren Ideal verfallen zu sein. Obwohl er bereits verheiratet war, verliebt er sich 1811 während des Aufenthalts in Bamberg in seine Musikschülerin, die 15-jährige Julia Marc. Das Leiden unter der unmöglichen Liebe über die Verwandlung Julias zu seinem geistigen Ideal, ist für viele Hoffmannforscher der Grund für die zentrale Stellung des Prinzips der Künstlerliebe in Hoffmanns Werk. Wolfgang Rüdiger sieht in der „Julia-Krise“[27] den

„Brennpunkt der Zerrissenheit in der Lebensgeschichte E.T.A. Hoffmanns, [die] im dichterischen Werk bewältigt und zum konstitutiven Motiv des Konflikts zwischen Künstler und Gesellschaft objektiviert wird“[28].

Karl Ludwig Schneider stellt ergänzend fest, dass die „spezifisch Hoffmannsche Gestaltung der Künstlerliebe in der Biographie des Dichters ihr direktes Vorbild [hat]“ und, so Schneider weiter

„in der Tat […] die hoffnungslose Leidenschaft des Bamberger Kapellmeisters Hoffmann zu seiner Musikschülerin Julia Marc schon jene Merkmale erkennen [lässt], die für die spätere literarische Gestaltung des Motivs charakteristisch sind“[29]

Anhand verschiedener Tagebuchstellen, zusammengefasst in Klaus Günzels Hoffmann-Biographie, lässt sich der Erkenntnisverlauf Hoffmanns verfolgen. Er bezeichnet Julia hier oft als „Ktch“ oder „K.v.H.“, eine Anspielung auf Heinich von Kleists „Käthchen von Heilbronn“[30], die in seinen Augen das „Wesen der Romantik“[31] verkörpert. Als Hoffmann 1811 seine Liebe zu Julia entdeckt, gleichzeitig jedoch weiß, dass sie aufgrund seiner Ehe sowie Alters- und Standesunterschieden unerfüllbar ist, leidet er zunächst sehr unter diesem Zustand. „Ktch - Ktch - Ktch!!!! Exaltiert bis zum Wahnsinn.“[32] Bald beginnt Hoffmann jedoch, sich von dem Verlangen, Julia zu besitzen, zu lösen. Es entsteht die Idee, das geliebte Ideal in die Kunst zu übertragen. „[…] gefunden, daß es möglich ist, von Käthchen zu abstrahieren - gesprochen mit ihr und doch nicht“[33], „Ich glaube, daß irgend etwas Hochpoetisches hinter diesem Dämon spukt, und insofern wäre Ktch nur als Maske anzusehen“[34]. Nachdem er von der geplanten Hochzeit Julias mit dem Kaufmann Graepel erfährt, ist Hoffmann endgültig klar, dass der Wunsch, das Ideal zu besitzen ein „großes Fantasma“[35] war, das ihn täuschte. Eine Heirat mit seinem Ideal, so sieht er ein, hätte seinem Leben als Künstler geschadet. „Nachricht, daß Graepel die Julchen wahrscheinlich ehelicht… - Das Schicksal meint es mit mir und meinem Künstlerleben gut“[36]. Er löst sich von der wirklichen Julia und macht sie zur Idealgestalt seines Werks.

„[…] diese Loslösung von Julia und der simultan einsetzende Prozeß der Gestaltung von „Julia“ ist nichts anderes als die (schmerzhafte) Anerkenntnis des Widerspruchs und seine beginnende Überwindung“[37]

„Die ‚ewige Liebe’ wird ihm zur ‚Liebe des Künstlers’, die im Geist gehegte Geliebte zur begeisternden Muse seiner Kunst“[38] Nur zwei Jahre vor seinem Tod, 1820, schreibt er in einem Brief von Gedanken an sein Ideal,

„wovon das Innere erfüllt ist, was im geheimnißvollen Regen des höheren Geistes uns die schönen Träume bringt von dem Entzücken, dem Glück, das keine Aerme von Fleisch und Bein zu erfassen, festzuhalten vermögen“[39].

Hoffmann hat also in exemplarischer Art und Weise den Dualismus überwunden und die Duplizität erreicht.

Zwar erkennt man in vielen Erzählungen Hoffmanns, besonders in der Figur des Kapellmeisters Johannes Kreisler, den viele Hoffmannforscher als dessen Alter-Ego betrachten, Motive der Künstlerliebe, die an die Julia-Krise erinnern, jedoch scheint es, wie Karl Ludwig Schneider bemerkt, dennoch

„ungerechtfertigt, hinter all den verschiedenen engelgleichen Gestalten der Künstler-Geliebten stets Julia Marc zu vermuten und zu unterstellen, daß Hoffmann nur sein persönliches Liebesschicksal und den Schmerz der Entsagung in immer neue Gestalten habe einkleiden wollen“[40].

Schneider schlägt stattdessen vor, die biographischen Fakten nicht zu auszublenden, dessen ungeachtet aber

„davon auszugehen, daß Hoffmann mit dem Thema der Künstlerliebe umfassendere Fragen der Kunstauffassung anschneidet und nicht nur seinen persönlichen Schmerz abreagiert und sublimiert.“[41]

Für diese Auffassung spricht, dass Hoffmann in den Erzählungen der „Serapionsbrüder“ Künstler völlig unterschiedlichen Ranges mit der Künstlerliebe in Berührung kommen lässt. Eine Identifizierung der eigenen Person mit jeder unter der Künstlerliebe leidenden Figuren ist somit ausgeschlossen. Vielmehr deutet dieses Vorgehen auf eine Universalität des Themas im Bereich der Künstler hin. Darüber hinaus beschränkt er sich nicht auf die Alternative des absoluten Künstlerzölibats - das für ihn selbst schließlich durch seine Heirat auch nicht galt - sondern stellt Alternativen der Künstlerliebe vor, die bis zur glücklichen Verbindung des Künstlers mit seinem Ideal gehen. Den Anfang der Analyse soll jedoch die ‚klassische’ Künstlerliebe machen: Der vollständige Verzicht auf irdische Erfüllung der Liebe zum Ideal.

5. Das Gelingen der Künstlerliebe durch Verzicht auf das Ideal

Behandelt werden sollen im Folgenden vier verschiedene Erzählungen aus den „Serapionsbrüdern“, in denen Künstler sich zunächst in eine Frauengestalt verlieben, diese zum Ideal stilisieren und sich schließlich gegen eine körperliche Vereinigung entschließen und so, im Prinzip der ewigen Sehnsucht, das Ideal ausschließlich im Geist besitzen. Die Wege der Erkenntnis sind bei jedem Künstler unterschiedlich. Während einerseits der bereits in der Duplizität lebende Künstler vorgestellt wird, erzählen andere Beispiele von dem Weg des werdenden Künstlers aus dem Dualismus in die Erkenntnis.

5.1 Heinrich von Ofterdingen in „Der Kampf der Sänger“

Die 1818 geschriebene Erzählung „Der Kampf der Sänger“ erschien erstmals in „Urania. Taschenbuch auf das Jahr 1819“. Sie wurde, wie viele weitere Erzählungen Hoffmanns, inspiriert von Johann Christoph Wagenseils Chronik „De sacri Romani imperii laibera civitate Noribergensi commentatio“. Eine der Hauptpersonen der Erzählung, Wolfframb von Eschinbach, ist angelehnt an den Minnesänger Wolfram von Eschenbach. Wolfframb von Eschinbachs Rolle in der Erzählung wird Thema des Kapitels 6.1 sein.

Die Erzählung spielt im Jahr 1218 am Hof des Landgrafen von Thüringen, welcher sechs berühmte Meistersinger um sich versammelt hat. Diese Gemeinschaft lebt in Eintracht miteinander, bis einer der Sänger, Heinrich von Ofterdingen, den Hof, scheinbar von einer mysteriösen Krankheit geplagt, verlässt. Der ihm am tiefsten verbundene Sänger, Wolfframb von Eschinbach, reist seinem Freund nach, um den Grund für dessen Unglück zu erfahren. Heinrich gesteht ihm am Krankenbett, er habe es nicht länger ertragen können, dass nicht er der Auserwählte der Gräfin Mathilde, Tochter des Landgrafen, sei, sondern ihre Gunst Wolfframb gelte. Trotz Wolfframbs Bitten, ihn wieder an den Hof zu begleiten und sich ebenfalls um die Liebe der Gräfin zu bewerben, entscheidet sich Heinrich für ein Leben fernab der Geliebten. Nachdem er sich fast vom Schmerz genesen glaubt, holt ihn jedoch die Eifersucht ein. Verführt von einem teufelsähnlichen Wesen entschließt er, Unterricht bei dem berüchtigten Meister Klingsohr zu nehmen, um Wolfframb im Gesang zu übertrumpfen und Mathildes Liebe zu gewinnen. Als er mit seiner neuen Sangeskunst an den Hof zurückkehrt, gelingt es ihm zunächst, zu beeindrucken, schnell wird jedoch klar, dass er sich dunklen Mächten bedient haben muss, um in dieser Weise singen zu können. Allein Mathilde scheint von ihm in Bann geschlagen zu sein. Der Streit eskaliert, als Heinrich den Grafen und die Hofdamen beleidigt und endet mit der Herausforderung der verbliebenen Sänger zum Wettsingen auf Leben und Tod. Als der zum Richter über das Wettsingen bestimmte Klingsohr im Dorf eintrifft, fordert Wolfframb diesen zu einem Wettsingen heraus, welches er souverän gewinnt. Zornig schickt Klingsohr in der Nacht ein dunkles Wesen, Nasias, um ihn im Gesang zu besiegen. Als Wolfframb Gefahr läuft, den dunklen Tönen des Wesens zu erliegen, verhilft ihm der Gedanke an Mathilde, ihm zu widerstehen und durch ein Lied zu verjagen. Obwohl Klingsohr nicht mehr als Schiedsrichter fungieren will, findet der Wettstreit zwischen den Meistersingern und Heinrich statt. Das Los fällt auf Wolfframb und abermals gelingt es ihm, die betörend-düsteren Lieder mit Gedanken und Gesang an die Geliebte zu bezwingen. Als der besiegte Heinrich im Anschluss darauf hingerichtet werden soll, löst sich dieser in Rauch auf und es wird erkannt, dass es in Wahrheit Klingsohr gewesen ist, der an seiner Stelle angetreten war. Wolfframb vereinigt sich schließlich mit der vom Bann erlösten Mathilde und auch Heinrich scheint der dunklen Macht entsagt zu haben. So teilt er Wolfframb in einem Brief mit, dass er als freier Sänger Anstellung in Österreich gefunden hat.

Von Anfang an ist Heinrich von Ofterdingen als unausgeglichener und unberechenbarer Charakter dargestellt, mit flammenden Augen und vor Schmerz zuckenden Muskeln „als quäle ihn ein unsichtbares Wesen, das hinter ihm aufgestiegen“[42]. Sein „unruhiges und zerrissenes Wesen“[43] kommt auch im Gesang zum Vorschein, welcher sich von dem der anderen Meister unterscheidet in seinem „schmerzlichen Sehnen“[44] und durch „unermessliche Qual des irdischen Seins“[45]. Was schon in dieser Beschreibung anklingt, bestätigt sich, als Heinrich gegenüber Wolfframb gesteht, dass er sich in die Gräfin Mathilde verliebt hat: Heinrich erleidet den Dualismus, den Streit in seinem Innern, die Geliebte besitzen zu wollen, es aber nicht zu können. Doch statt um sie zu kämpfen oder gar mit Gewalt an sich zu reißen, entscheidet er, den Hof zu verlassen. Schon bald beginnt er, neuen Lebensmut zu fassen, scheint sogar produktiver als zuvor. Alles deutet darauf hin, dass Heinrich den Dualismus überwunden hat und in den Zustand der Duplizität übergegangen ist, also akzeptiert hat, dass er Mathilde nur im Geiste und nicht körperlich besitzen kann.

„Es geschieht wohl, daß der Liebesschmerz in unserer Brust, der uns zu zerreißen drohte, heimisch wird, so daß wir ihn gar hegen und pflegen. Und die schneidenden Jammerlaute, sonst uns von unnennbarer Qual erpresst, werden zu melodischen Klagen süßen Wehs, die tönen wie ein fernes Echo zurück in unser Inneres und legen sich lindernd und heilend an die blutende Wunde. So geschah es auch mit Heinrich von Ofterdingen. Er blieb in heißer, sehnsüchtiger Liebe, aber er schaute nicht mehr in den schwarzen hoffnungslosen Abgrund, sondern er hob den Blick empor zu den schimmernden Frühlingswolken. Dann war es ihm, als blicke ihm die Geliebte aus ferner Höhe an mit ihren holdseligen Augen und entzünde in seiner Brust die herrlichsten Lieder, die er jemals gesungen.“[46]

Zwar ist der innere Kampf noch nicht ganz gewonnen, da er immer wieder von den „Todesqualen der Eifersucht“[47] heimgesucht wird, doch scheint es, als könne Heinrich diese nach und nach durchaus überwinden: „Dann floh er wie von bösen Geistern getrieben zurück in sein einsames Zimmer, da vermochte er Lieder zu singen, die ihm süße Träume und in ihnen die Geliebte selbst zuführten.“[48] In einem schwachen Moment jedoch wird er verführt und somit wieder zurückgeworfen. Er begibt sich zu Klingshorn, um zu lernen, wie man „Ehre - Reichtum - Gunst der Frauen“[49] erlangt, ein Ziel, das kaum zu einem Künstler im Hoffmann’schen Sinn zu passen scheint. Als er völlig verändert an den Hof des Landgrafen zurückkehrt, weisen seine Lieder zwar technische Raffinesse und Perfektion auf, doch sie klingen künstlich und seelenlos. Die Besonderheit, welche durch die Sehnsucht zu Mathilde in Heinrichs Liedern hervorgerufen wurde, ist verschwunden. Als später Klingsohr in Heinrichs Gestalt von Wolfframb beim Wettsingen besiegt und verjagt wird, zeigt sich jedoch, dass er unter einem Bann stand, der sich erst mit der Besiegung Klingsohrs lösen konnte. Heinrich erkennt, dass das ‚Besitzenwollen’ von Mathilde falsch war: „‚Nein es war wohl nicht die herrliche Frau, es war ein unheimlicher Spuk, der mich erfüllte mit trügerischen Bildern eitler irdischer Lust!’“[50] Er entscheidet sich, sein Leben voll und ganz der Kunst zu widmen.

Aus Heinrich von Ofterdingen ist also am Schluss der Erzählung noch ein vollwertiger Künstler geworden. Ob er Mathilde auch als Ideal aus seinem Herzen verbannt hat, bleibt unklar. Eindeutig begehrt er sie nicht mehr auf körperliche Weise und ist so als ein Beispiel für gelungene Künstlerliebe anzusehen, da am Ende seines Weges die Erkenntnis der Duplizität und die Bereitschaft, in und mit ihr zu leben, stehen.

[...]


[1] E.T.A. Hoffmann: Die Serapionsbrüder. Gesammelte Erzählungen und Märchen. Winkler Weltliteratur Dünnruck Ausgabe. München, 1976, S. 152

[2] ebd., S. 150

[3] ebd., S. 571

[4] ebd., S. 537

[5] ebd., S. 538

[6] ebd., S. 158

[7] ebd., S. 284

[8] ebd., S. 434

[9] Karl Ludwig Schneider: Künstlerliebe und Philistertum im Werk E.T.A. Hoffmanns. In: Die deutsche Romantik. Poetik, Formen und Motive. Hg. von Hans Steffen. 3. Auflage. Göttingen 1978, S. 201-218, S. 211

[10] Hoffmann: Die Serapionsbrüder, 158

[11] ebd., S. 788

[12] vgl. Schneider: Künstlerliebe und Philistertum im Werk E.T.A. Hoffmanns , S. 207

[13] Hoffmann: Die Serapionsbrüder, S. 74

[14] Schneider: Künstlerliebe und Philistertum im Werk E.T.A. Hoffmanns, S. 200

[15] ebd., S. 211

[16] ebd., S. 211

[17] Aurélie Hädrich: Die Anthropologie E.T.A. Hoffmanns und ihre Rezeption in der europäischen Literatur im 19. Jahrhundert. eine Untersuchung insbesondere für Frankreich, Rußland und den englischsprachigen Raum, mit einem Ausblick auf das 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2001, S. 200

[18] Walter Jost: Von Ludwig Tieck zu E.T.A. Hoffmann. Studien zur Entwicklungsgeschichte des romantischen Subjektivismus. Darmstadt 1921, S. 81

[19] Klaus Deterding: Das wunderbarste aller Märchen. Hoffmanns Dichtung und Weltbild. Band 3. Würzburg 2003, S., 11

[20] Jost: Von Ludwig Tieck zu E.T.A. Hoffmann, S. 81

[21] Deterding: Das wunderbarste aller Märchen, S. 10

[22] vgl. Jost: Von Ludwig Tieck zu E.T.A. Hoffmann, S. 84f

[23] Schneider: Künstlerliebe und Philistertum im Werk E.T.A. Hoffmanns, S. 213

[24] Klaus Deterding: Die Poetik der inneren und äußeren Welt bei E.T.A. Hoffmann. E.T.A. Hoffmanns Dichtung und Weltbild. Band 1. Frankfurt a. M. 1991, S. 267

[25] Deterding: Die Poetik der inneren und äußeren Welt bei E.T.A. Hoffmann, S. 268

[26] Deterding: Das allerwunderbarste Märchen, S. 120

[27] Wolfgang Rüdiger: Musik und Wirklichkeit bei E.T.A. Hoffmann. Zur Entstehung einer Musikanschauung der Romantik. Pfaffenweiler 1989, S. 56

[28] ebd., S. 56

[29] Schneider: Künstlerliebe und Philistertum im Werk E.T.A. Hoffmanns, S. 202

[30] vgl. Rüdiger: Musik und Wirklichkeit bei E.T.A. Hoffmann, S. 57

[31] E.T.A. Hoffmann: Briefwechsel. Gesammelt und erläutert von Hans von Müller und Friedrich Schnapp. Hg. von Friedrich Schnapp. Band 1. München 1967, S. 335

[32] Klaus Günzel: E.T.A. Hoffmann. Leben und Werk in Briefen, Selbstzeugnissen und Zeitdokumenten. 1. Auflage. Berlin 1976, S. 201

[33] ebd., S. 202

[34] ebd., S. 202

[35] ebd., S. 204

[36] ebd., S. 203

[37] Deterding: Die Poetik der inneren und äußeren Welt bei E.T.A. Hoffmann, S. 268

[38] Jost: Von Ludwig Tieck zu E.T.A. Hoffmann, S. 77

[39] Günzel: E.T.A. Hoffmann. Leben und Werk in Briefen, Selbstzeugnissen und Zeitdokumenten, S. 62

[40] Schneider: Künstlerliebe und Philistertum im Werk E.T.A. Hoffmanns, S. 203

[41] ebd., S. 203

[42] Hoffmann: Die Serapionsbrüder, S. 277

[43] ebd., S. 281

[44] ebd., S. 280

[45] ebd., S. 281

[46] ebd., S. 284

[47] ebd., S. 284

[48] ebd., S. 285

[49] ebd., S. 288

[50] ebd., S. 316

Ende der Leseprobe aus 33 Seiten

Details

Titel
„Vom Zauber der inneren Melodie zur Klage über zerbrochene Suppenschüsseln“: Das Prinzip der Künstlerliebe in E.T.A. Hoffmanns „Die Serapionsbrüder“
Hochschule
Christian-Albrechts-Universität Kiel  (Neuere Deutsche Literaturwissenschaft)
Veranstaltung
E.T.A. Hoffmanns "Die Serapionsbrüder"
Note
2
Autor
Jahr
2008
Seiten
33
Katalognummer
V118231
ISBN (eBook)
9783640214594
Dateigröße
565 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Zauber, Melodie, Klage, Suppenschüsseln“, Prinzip, Künstlerliebe, Hoffmanns, Serapionsbrüder“, Hoffmanns, Serapionsbrüder
Arbeit zitieren
Vera Frommeyer (Autor:in), 2008, „Vom Zauber der inneren Melodie zur Klage über zerbrochene Suppenschüsseln“: Das Prinzip der Künstlerliebe in E.T.A. Hoffmanns „Die Serapionsbrüder“ , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/118231

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