René Girards Sündenbocktheorie in Anwendung auf den Antijudaismus des Mittelalters: Das Frankfurter Passionsspiel von 1493


Hausarbeit (Hauptseminar), 2002

23 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1. Das Stereotyp der Krise
1.2. Das Stereotyp der Anschuldigungen
1.3. Das Stereotyp der Opferselektion
1.4. Das Stereotyp der Gewalt selbst

2. Das Frankfurter Passionsspiel von 1493: Einleitung
2.1. Die Anschuldigungsmotive gegen die Juden im Frankfurter Passionsspiel
2.1.1 Die theologischen Motive Verstocktheit, Blindheit und Teufelsbund
2.1.2 Die ökonomischen Motive Habgier, Zinshandel und Wucher
2.1.3 Die psychopathologischen Motive Spott, Sadismus und Gottesmord

3. Immer die gleichen Anschuldigungen?

4. Fazit

5. Quellenangaben

1. Einleitung:

Bei vielen Untersuchungen von Judenfeindschaft im Mittelalter drängt sich gewohnheitsgemäß die Frage auf, ob jener Antijudaismus mit dem modernen Antisemitismus seit dem 19. und vor allem dem des 20. Jahrhunderts vergleichbar ist. Ohne Zweifel ist diese Frage mit Nein zu beantworten; doch wäre der Antisemitismus ohne den Jahrhunderte lang währenden Antijudaismus des Mittelalters und der späten Antike nicht denkbar gewesen.

Die rassistische Komponente des Antisemitismus spielte im Mittelalter keine Rolle. Allerdings kann man eine kontinuierliche Erweiterung der Anschuldigungsmotive und Opferstereotype feststellen.

Das geistliche Spiel, als Oster-, Weihnachts- oder Passionsspiel auf den städtischen und dörflichen Bühnen dramatisch vorgetragen, war im Hoch- und Spätmittelalter nicht nur eine beliebte Art, die ewige Auseinandersetzung um die Auslegung der Evangelien weiterzuführen. Vielmehr bot die künstlerische Plattform mit teils Hunderten von Schauspielern und Statisten auf spektakuläre Weise auch die Möglichkeit, im Namen der Kirche öffentlich gegen Juden zu hetzen.

Die Tatsache, dass diese Form des mittelalterlichen Dramas über mehrere Jahrhunderte aufgeführt wurde und die Passionsspieltexte samt Regieanweisungen bis heute erhalten sind, ermöglicht eine gründliche Rekonstruktion der damaligen Ereignisse.

Anhand der Kontinuität der Judenverfolgung vor dem Hintergrund der christlichen Passionsspiele als historische Station soll die Theorie vom Sündenbock, die René Girard Ende des vergangenen Jahrhunderts entwickelte, untersucht werden. Universale Aspekte der Sündenbocktheorie werden auf die Passionsspiele (v.a. auf das Frankfurter Passionsspiel von 1493) angewendet und analysiert. Die zentrale Fragestellung wird demnach sein, ob Girards Theorie so universal ist, dass sie auf die antijudaistischen Passionsspiele des Mittelalters angewendet werden kann.

Zunächst wird Girards Theorie in ihren wichtigsten Punkten vorgestellt, werden die Stereotypen der Verfolgung erläutert. Nach der Untersuchung der Passionsspiele auf die Anwendbarkeit der Girardschen Theorie möchte die Arbeit klären, ob nicht jede Epoche seine eigenen Stereotypen der Verfolgung hervorbringt oder ob tatsächlich eine temporär wie geografisch stereotype Universaldynamik bei der Findung von Sündenböcken existiert.

2. Girards Sündenbocktheorie: Die Stereotypen der Verfolgung

Girards Sündenbocktheorie ist universal, d.h. sie sollte anwendbar sein auf alle Sündenböcke, die es in der Geschichte gab oder heute noch gibt. Girard legt von Anfang an großen Wert darauf, individuelle von kollektiver Verfolgung zu trennen. Seine Theorie fußt auf Beobachtungen lediglich kollektiver Verfolgungen der Vergangenheit, die generell von relativ vielen Tätern begangen wurden und in der Regel relativ viele Adressaten bzw. Opfer im Visier hatten. Konstellationen, in denen sich Einzelne oder Wenige (z.B. eine Familie) ihren speziellen und individuellen Sündenbock suchen, sind gewiss denkbar. Hier soll es aber ausschließlich um komplexe Gesellschaften als Tätergemeinschaft gehen.

Die Verfolgung des Individuums durch das Kollektiv spielt bei Girard beispielsweise im Fall des Mythos (Verfolgung des Ödipus) auch eine Rolle; mehrere Kapitel widmet er darüber hinaus den Evangelien, der Passion Christi und dessen Märtyrer- und Sündenbockfunktion. Beides soll an dieser Stelle aber ebenfalls nicht behandelt werden. Die vorliegende Arbeit wird Mythos wie Antike außer Acht lassen und sich im Wesentlichen auf Ereignisse des Mittelalters beschränken, die in ihrer Mehrheit als „real stattgefunden“ eingestuft werden können. Des Weiteren werden lediglich kollektive Verfolgungen berücksichtigt, die einer relative großen Masse galten und keinem Einzelnen. Dieser Typus ist auch in Girards Werk der wichtigste.

Wie bereits erwähnt beansprucht Girards Theorie eine Universalität, die sowohl die möglichen Opfer als auch die auftauchenden Stereotypen betrifft. Was die

immer wieder gleichen Stereotypen angeht, so existieren derer vier:

- das Stereotyp der Krise
- das Stereotyp der Anschuldigung
- das Stereotyp der Opferselektion
- das Stereotyp der Gewalt selbst

2.1.Das Stereotyp der Krise

Das erste Stereotyp der Verfolgung bei Girard ist die gesellschaftliche Krise. Hervorgerufen durch verschiedene potenzielle Umstände (Epidemien, Naturkatastrophen, politische Umwälzungen, ...) führen diese doch immer zu einer zugespitzten politischen Situation sowie einer höchst labilen, verunsicherten Gesellschaft. Es tritt ein Phänomen ein, das Girard die „Entdifferenzierung“ des Kulturellen bzw. der Gesellschaft“ nennt.[1] Demnach ist die Gesellschaft in Friedens- bzw. sorglosen Zeiten gekennzeichnet vor allem dadurch, dass sie und ihre Bürger sich hierarchisch und funktional differenzieren. Diese „Unterschiedlichkeit des Realen“ (Girard, S. 23) und ein komplexes Tauschsystem (Austausch von Konsumgütern; Tauschheiraten) sind die Merkmale jener Gesellschaften. Ich möchte Letzteres an dieser Stelle sekundäre und tertiäre Faktoren des Lebenswandels nennen, das heißt der Tauschhandel und die Aktivitäten des Alltags sind geprägt von der Befriedigung wichtiger und weniger wichtiger Güter und Bedürfnisse. Während einer handfesten Krise verschwinden die Faktoren sekundären und tertiären Lebenswandels. Übrig bleibt der „Tausch des unbedingt Notwendigen“[2], also quasi der primäre Tauschhandel.

In Erscheinung tritt eine verkürzte negative Reziprozität[3], also neben der Konzentration des Einzelnen auf das Wesentliche (Nahrung, kurzfristiges Überleben) eine schnellere Wechselseitigkeit von Aggressionen.

Die Gesellschaft also entdifferenziert sich, gibt Kultur und Soziales preis, gleichzeitig sind Institutionen und Hierarchien geschwächt bis aufgehoben. Am Ende dieses Prozesses steht eine uniformierte Masse, ein hochgradig verunsicherter, aggressiver Pöbel („mob“, „turba“).[4]

Da es sich um eine gesellschaftliche Krise handelt, wird dieser Pöbel versuchen, sie auch gesellschaftlich zu erklären: „Statt jedoch sich selbst zu tadeln, neigt der Einzelne zwangsläufig dazu, die Schuld entweder der Gesellschaft insgesamt zuzuschieben [...] oder aber andere Individuen, die ihm aus leicht einsichtigen Gründen als besonders schädlich erscheinen.“[5]

Die Masse sucht einen bzw. die Schuldigen für die Misere und wird diese auch finden. Nach welchen Kriterien diese Sündenbockfindung erfolgt, wird durch die nachstehenden Punkte deutlich.

2.2. Das Stereotyp der Anschuldigungen

Typisch für jene Sündenbockfindung ist, dass die Verdächtigen in den überwiegenden Fällen aufgrund einer ganz bestimmten Art von Verbrechen angeklagt werden.

Wenn man bedenkt, dass die Verdächtigen generell in der Minderheit sind, ja, dass es sich nicht selten um Einzelpersonen handelt, muss die Gravidität der Tat immens sein, wenn sie als Erklärung einer kompakten gesellschaftlichen Krise herhalten soll. Dementsprechend verhält es sich mit der Schwere der Anschuldigungen. Wollte die mittelalterliche Kommune um 1350 Sündenböcke für die Pest als eine Seuche finden, die ganze Regionen auslöschte und Millionen hinwegraffte und sollten diese Sündenböcke gleichzeitig eine Minderheit repräsentieren, musste die Anschuldigung in ihrer Schwere und Unfassbarkeit erschüttern.

Den Juden wurde damals vorgeworfen, sie hätten Brunnen und Quellen vergiftet und somit die Pest ausgelöst. Infolgedessen wurden Juden in ganz Europa verfolgt und getötet.

Wichtig ist bei den stereotypen Anschuldigungen, dass sie in unseren säkularisierten, aufgeklärten Augen keineswegs als plausibel erscheinen müssen. Selbstverständlich existierte im 14. Jahrhundert kein Gift einer solchen Konzentration, dass vorsätzlicher Missbrauch zu den Auswirkungen hätte führen können, die die Pest letztendlich mit sich brachte.

Im Gegenteil, auffallend sind derart irrationale, absurde Vorwürfe und Anschuldigungen, die dennoch über Jahrhunderte in der christlichen Bevölkerung aufrecht erhalten wurden und immer wieder zur Rechtfertigung von Judenpogromen und Massakern dienten:

ritueller Kindermord, religiöse Profanierung, Sexualverbrechen (Inzest, Vergewaltigung, Bestialität), Vatermord, Teufelsbündnisse usw.

[...]


[1] René Girard: Der Sündenbock. Zürich/Düsseldorf 1998, S. 24 (im Folgenden: Girard, S. ...)

[2] Girard, S. 25

[3] Girard, S. 25

[4] Girard, S. 28

[5] Girard, S.26

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
René Girards Sündenbocktheorie in Anwendung auf den Antijudaismus des Mittelalters: Das Frankfurter Passionsspiel von 1493
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Institut für deutsche Literatur)
Veranstaltung
Judenbilder im Mittelalter
Note
1,3
Autor
Jahr
2002
Seiten
23
Katalognummer
V11816
ISBN (eBook)
9783638178716
ISBN (Buch)
9783638796583
Dateigröße
560 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Juden, Judenbilder, Mittelalter, Girard, Sündenbock, Antijudaismus, Frankfurter Passionsspiel
Arbeit zitieren
Magister Artium Haiko Prengel (Autor:in), 2002, René Girards Sündenbocktheorie in Anwendung auf den Antijudaismus des Mittelalters: Das Frankfurter Passionsspiel von 1493, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/11816

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