Europäischer Sozialraum und Arbeitnehmerrechte

vom EWG-Vertrag zum Vertrag von Lissabon


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2008

20 Seiten


Leseprobe


Einleitung

Der Gründungsvertrag der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) hatte zunächst keinen nennenswerten sozialpolitischen Auftrag für die Gemeinschaft vorgesehen. Die Sozialpolitik gehört zu jenen Politikfeldern, in denen die Vergemeinschaftung erst spät eingeleitet wurde und in denen es nur allmählich zu einer Ausweitung der Kompetenzen der Gemeinschaft gekommen ist. Die Sozialpolitik spielt auch heute noch eine untergeordnete Rolle in der Europäischen Union, und die konkrete Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme bleibt im Wesentlichen den einzelnen Mitgliedstaaten überlassen. Angesichts der inzwischen mehrfach erweiterten EU und der großen Unterschiede zwischen den Sozialsystemen der einzelnen Staaten wurden lediglich einzelne Maßnahmen ergriffen, die zu einer besseren Kompatibilität dieser Systemen führen sollen.

Eine Diskussion innerhalb der EU seit 2005 über das Europäische Sozialmodell zeigte, dass es kein einheitliches europäisches Modell gibt, sondern lediglich sehr unterschiedliche nationale Konzeptionen.[1] Auch von einer Sozialunion ist die EU in Anbetracht ihrer begrenzten Kompetenzen noch ein gutes Stück entfernt. Deshalb ist es passender, bislang nur von einem europäischen Sozialraum zu sprechen.

Das sozialpolitische Defizit der EU ist stets ein aktuelles und überaus strittiges Thema. Während zahlreiche nationale Politiker befürchten, dass die EU den Sozialstaat aushöhlen wird, vertreten andere, dass eine positive wirtschaftliche Entwicklung in Europa durch eine sozialpolitische Überforderung beeinträchtigt werden würde. Während für die einen also eine europäische Sozialpolitik ähnlich der nationalstaatlichen vorstellbar und wünschenswert ist, streben anderen eine EU im Wesentlichen nur als Freihandelszone an.

I. Der EWG-Vertrag von 1957

Der Vertrag zur Gründung der EWG aus dem Jahr 1957 enthielt trotz der Überschrift „Sozialvorschriften“ (Art. 117 ff. EWGV) neben Bestimmungen zum Europäischen Sozialfonds mehr feierliche Erklärungen als konkrete Handlungsaufträge.[2] Die sozialpolitischen Modelle der sechs Gründerstaaten zeigten keine großen Unterschiede, und die EWG war als Gemeinsamer Markt gedacht und nicht als Sozialgemeinschaft.[3] Der wichtigste Grund war aber wohl der Widerstand Deutschlands gegen den französischen Plan, die ökonomische Liberalisierung mit sozialpolitischen Kompetenzen für die Gemeinschaft zu flankieren.[4] Die damalige konservative deutsche Regierung setzte sich mit gewissen Abstrichen mit ihren Forderungen nach einer sozialpolitischen Enthaltsamkeit des EWG-Vertrages letztendlich durch. Angesichts ökonomischer Prosperität und geringer Arbeitslosigkeit in den Staaten fiel dies seinerzeit aber auch nicht schwer.

Im Vertrag fand diese Kontroverse Niederschlag in der Kompromissformel des Art. 117 Abs. 2 EWGV, die bis heute in Art. 136 Abs. 3 des Vertrages von Nizza Gültigkeit besitzt und auch in Art. 151 Abs. 3 des Vertrages von Lissabon beibehalten wurde. Danach soll sozialer Fortschritt ebenso aus dem Wirken des Gemeinsamen Marktes wie aus der rechtlichen Angleichung der Sozialordnungen bewirkt werden.

Die Ausgestaltung der Sozialpolitik blieb primär in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Die Europäische Kommission erhielt lediglich die Aufgabe, „eine enge Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten in sozialen Fragen zu fördern“ (Art. 118 EWGV), welche sie mit unverbindlichen Untersuchungen, Stellungnahmen etc. wahrnehmen konnte. Verbindliche europäische Sozialnormen betrafen vorerst nur das gleiche Entgelt für Männer und Frauen nach dem unmittelbar anwendbaren Art. 119 EWGV,[5] existierten mit den Regeln über den Europäischen Sozialfonds nach Art. 123 ff. EWGV oder konnten auf der Grundlage von Art. 51 EWGV in Bezug auf die Freizügigkeit und von Art. 100 ff. EWGV zur sozialen Rechtsangleichung gemäß Art. 117 Abs. 2 EWGV beschlossen werden.

Der Europäische Sozialfonds (ESF) war von Beginn an dem Ziel verpflichtet, „die Beschäftigungsmöglichkeiten der Arbeitskräfte im Gemeinsamen Markt zu verbessern und damit zur Hebung der Lebenshaltung beizutragen“ (Art. 123 EWGV). Er spielte in dieser Phase – gemessen am Gesamthaushalt der Gemeinschaft – allerdings nur eine bescheidene Rolle[6] und wurde aus Finanzbeiträgen der Mitgliedstaaten nach einem besonderen Schlüssel gespeist. Der ESF funktionierte als eine Art Erstattungskasse für 50 % der nationalen Kosten von bereits durchgeführten Programmen der Mitgliedstaaten. Förderfähig waren Maßnahmen zur Umschulung sowie zur Umsiedlung von Arbeitskräften und Lohnkostenzuschüsse für Arbeitnehmer, die durch innerbetriebliche Umstrukturierungen vorübergehend von Lohneinbußen betroffen waren.[7]

Nur auf dem Umweg über andere Kompetenznormen des EWG-Vertrages konnten Beschlüsse zur Angleichung sozialrechtlicher Regelungen in den Mitgliedstaaten gefasst werden.[8] Zum einen hatte die Gemeinschaft nach Art. 51 EWGV die Kompetenz, die Arbeitnehmerfreizügigkeit dadurch zu fördern, dass Nachteile von Wanderarbeitnehmern in der Sozialversicherung beseitigt wurden, zum anderen konnten Art. 100 ff. EWGV für die Rechtsangleichung in Bezug auf die Errichtung oder das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes fruchtbar gemacht werden. Diese Hintertür für sozialpolitische Interventionen der Gemeinschaft verlangte allerdings Einstimmigkeit unter den Ratsmitgliedern. Deswegen blieb ihre Nutzung nur auf Einzelfälle beschränkt. So wurden etwa die Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 zur Erleichterung der Freizügigkeit von Wanderarbeitnehmern und deren Familienangehörigen oder die Richtlinie 68/360/EWG über Reise- und Aufenthaltsrechte der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen beschlossen. Ferner folgten die Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 zum Verbleiberecht sowie die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 mit einem europäischen Sozialversicherungsverrechnungssystem auf der Grundlage von Art. 51 EWGV.

Die EWG war somit von Beginn an nicht dazu befugt, die Sozialsysteme der Mitgliedstaaten zu harmonisieren. Vielmehr konnte sie lediglich Teilbereiche von übergreifendem Interesse koordinieren.[9] Im Vordergrund des integrationspolitischen Konzeptes standen stattdessen zunächst der Aufbau der Zollunion und anschließend die Umsetzung des Binnenmarktprojekts. In finanzieller Hinsicht dominierte die Entwicklung des Agrarmarktes.[10]

II. Die europäische Sozialpolitik in den 1970er Jahren

Die marktorientierte Formel „Wohlstand durch Wachstum“ blieb so lange plausibel, wie die Wirtschaft kontinuierlich wuchs und die Arbeitslosigkeit in den Staaten gering war. Vor dem Hintergrund der Ölkrise waren diese „goldene Zeiten“ Anfang der 1970er Jahren jedoch vorbei.

Im Zusammenhang mit dem Werner-Plan von 1970 zur Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion bis zum Jahr 1980 begann in den 70er Jahren eine erste Phase intensiverer sozialpolitischer Aktivität der EWG.[11] 1971 veröffentlichte die Kommission ihre „Vorläufige Ausrichtung für ein Programm einer gemeinschaftlichen Sozialpolitik“, in der sie auf die Notwendigkeit einer Wechselwirkung zwischen den wirtschaftlichen und den sozialen Aspekten des Integrationsprozesses verwies. Begründet wurde diese Kombination der wirtschaftlichen mit der sozialpolitischen Integration mit Spill-over-Effekten.

In der Folge befasste sich im Jahr 1972 der Pariser Gipfel mit der Sozialpolitik.[12] Auf dieser Konferenz hielten die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten fest, dass wirtschaftliche Expansion kein Selbstzweck sein soll, sondern dazu dienen muss, die Lebensqualität und den Lebensstandard der Bevölkerung zu heben, und gaben die Ausarbeitung eines sozialpolitischen Aktionsprogramms in Auftrag. In diesem Programm von 1974[13] forderte der Rat Maßnahmen der EWG zur Verwirklichung der drei Hauptziele: Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie weiter gehende Beteiligung der Sozialpartner.

Kennzeichnend für die Umsetzung des Aktionsprogramms war der Verzicht auf eine Harmonisierung. Das Einstimmigkeitserfordernis setzte entsprechenden Ambitionen der Kommission unüberwindliche Grenzen.[14] Stattdessen einigten sich die Regierungen in mehreren Richtlinien auf gemeinsame, auf nationaler Ebene einzuhaltende Mindeststandards, über die aber hinausgegangen werden durfte. Trotz dieses die einzelstaatliche Autonomie schonenden Verfahrens gestalteten sich die Verhandlungen oft sehr schwierig, und die Einigung auf eine Richtlinie erforderte häufig mehrere Jahre.

[...]


[1] Siehe http://www.euractiv.com/de/soziales-europa/eu-berat-europaeisches-sozialmodell/article-146385; letzter Zugriff am 1. Oktober 2008.

[2] Gerda Falkner, EG-Sozialpolitik nach Verflechtungsfalle und Entscheidungslü>

[3] Hans-Jürgen Wagener/Thomas Eger/Heiko Fritz, Europäische Integration. Recht und Ökonomie, Geschichte und Politik, München 2006, S. 475.

[4] Wilhelm Knelangen, Sozialstaatswerdung Europas? Integrationstheoretische Überlegungen zur Entwicklung der EU-Sozialpolitik, in: Alexandra Baum-Ceisig/Anne Faber (Hrsg.), Soziales Europa? Perspektive des Wohlfahrtsstaates im Kontext von Europäisierung und Globalisierung, Wiesbaden 2005, S. 20 (22).

[5] EuGH Slg. 1976, S. 455 ff. – Rs. 43/75 „Defrenne II“.

[6] Erst im Zusammenhang mit den Sozialfondsreformen in den 1970er Jahren nahm der Anteil stetig zu, so dass er in den 1980er Jahren etwa fünf Prozent und in den 1990er Jahren etwa acht Prozent des EG/EU-Budgets ausmachte; vgl. Wolfgang Kowalsky, Europäische Sozialpolitik. Ausgangsbedingungen, Antriebskräfte und Entwicklungspotenziale, Opladen 1999, S. 249.

[7] Hildegard Kaluza, Der Europäische Sozialfonds. Seine Entwicklung und Funktion im europäischen Integrationsprozeß mit einem Exkurs zu seiner Bedeutung für die bundesdeutsche Arbeitsförderung, Baden-Baden 1998, S. 20 f.

[8] Falkner (Fn. 2), S. 281.

[9] Bernd Schulte, Die „offene Methode der Koordinierung“ (OMK) als politische Strategie in der europäischen Sozialpolitik, in: Sozialer Fortschritt 2005, S. 105 (105 f.).

[10] Elisabeth Mayer, Beschäftigung im Kontext der europäischen und nationalen Sozialpolitik, Würzburg, Univ., Diss., 2000.

[11] Patrick Thalacker, Ein Sozialmodell für Europa? Die EU-Sozialpolitik und das Europäische Sozialmodell im Kontext der EU-Erweiterung, Berlin 2006, S. 213.

[12] Thalacker (Fn. 11), S. 216.

[13] ABl. 1974 Nr. C 13, S. 1.

[14] Knelangen (Fn. 4), S. 24.

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Europäischer Sozialraum und Arbeitnehmerrechte
Untertitel
vom EWG-Vertrag zum Vertrag von Lissabon
Autor
Jahr
2008
Seiten
20
Katalognummer
V117987
ISBN (eBook)
9783640201815
Dateigröße
477 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Europäischer, Sozialraum, Arbeitnehmerrechte
Arbeit zitieren
Dr. Gerald G. Sander (Autor:in), 2008, Europäischer Sozialraum und Arbeitnehmerrechte, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/117987

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