Die Darstellung von Homosexualität in deutschen TV-Unterhaltungssendungen


Diplomarbeit, 2003

113 Seiten, Note: 2,7


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

1 Vorbemerkungen
1.1 Begriffsklärung: Homosexualität
1.2 Begriffsklärung: Unterhaltungssendungen
1.3 Forschungsstand
1.4 Eigene Umfrage

2 Historischer Rückblick: Homosexualität und Öffentlichkeit
2.1 Vor der Christianisierung Europas: Die Götter und ihre Lustknaben
2.2 Christliches Mitteleuropa: Hexen, Ketzer und Sodomiten
2.3 Reformation und Aufklärung: Vom Scheiterhaufen ins Irrenhaus
2.4 Deutsche Reichsgründung 1871: Die zarten Anfänge der Schwulenbewegung
2.5 NS-Deutschland: Schwule Stabsführer und Rosa Winkel
2.6 Nach 1945: Kampf um den §175

3 Theoretische Grundlagen

4 Homosexualität und Fernsehen
4.1 TV-Homosexualität im Wandel der Zeit
4.1.1 Wie die Homosexualität ins Unterhaltungsfernsehen fand
Pionier der Schwulenbewegung: Rosa von Praunheim
Tabubrecher Talkshow
Progressive Familienserien
Comedy
Schwules Fernsehen
Prominente
Die „kleinen Schwestern“ der Schwulenbewegung: Lesben
4.1.2 TV-Homosexualität im 21. Jahrhundert
4.2 Kategorisierung fiktiver homosexueller Figuren in Unterhaltungsserien
4.2.1 Der „komische“ Schwule: Beispiel „Bewegte Männer“
4.2.2 Der „realistische“ Schwule: Beispiel Carsten Flöter
4.2.3 Der „heroische“ Schwule: Beispiel „Falk von Schermbeck“
4.2.4 Fazit

5 Weitere Umfrageergebnisse

6 Fazit

Ausblick

Quellenverzeichnis

Anhang

Einleitung

Die vorliegende Arbeit behandelt die Darstellung von Homosexuellen und Homosexualität in deutschen Fernseh-Unterhaltungssendungen. Die homosexuelle Minderheit in unserer Gesellschaft ist noch nicht lange Bestandteil des Mediums Fernsehen; im Gegenteil war Homosexualität über lange Zeit ein von den meisten Medien absolut tabuisiertes Thema. Vor einigen Jahren aber ist offenbar ein Wandel eingetreten: Längst beschäftigt die Situation der Homosexuellen in Staat und Gesellschaft nicht nur Politik und Nachrichten, sondern offensichtlich auch die Autoren von Unterhaltungssendungen. Verschiedene Zeitungen sprechen bereits von „Homo-Boom“[1] und „Quotenschwulen“, insbesondere in der Welt der fiktionalen Fernsehserien. Diese Wendung erfolgte allerdings nicht von heute auf morgen. Es bedurfte eines Prozesses von mehreren Jahren, an dem verschiedene Faktoren aus Politik, Gesellschaft, Informationsmedien und Unterhaltungsindustrie beteiligt waren. Bisheriges Ergebnis dieser Entwicklung ist eine Fernsehsituation, in der das Thema Homosexualität auf ganz unterschiedliche Weise und mit unterschiedlichen Zielen aufgegriffen und verarbeitet wird. Sie führt gleichzeitig zu einem sich wandelnden Bild „des Homosexuellen“, das u.a. vom Unterhaltungsfernsehen vermittelt wird und so auch das öffentliche Bild nachhaltig beeinflusst. Diese Entwicklung aufzuzeigen und nachzuzeichnen, ist Kernziel der vorliegenden Arbeit. Wie im Folgenden zu sehen sein wird, war es ein steiniger Weg, den schwule und lesbische[2] Personen und Charaktere zu gehen hatten, bis ihre Existenz über den Fernsehschirm auch dem deutschen Durchschnittszuschauer vor Augen geführt wurde. Und wie weiterhin gezeigt wird, bedeutet die bloße Präsenz in der Fernsehwelt noch lange nicht, dass diese Darstellung immer realitätsnah wäre und für die homosexuellen Zuschauer tatsächliche Identifikationsmöglichkeiten bieten könnte.

Vorgehensweise und Fragestellung

Viele Sparten, von Information bis Unterhaltung, werden dem Fernsehzuschauer täglich feilgeboten. Da das gesamte Spektrum im Rahmen einer solchen Arbeit unmöglich erfasst werden kann, beschränkt sie sich auf ausgewählte „Unterhaltungssendungen“; was darunter zu verstehen ist, wird im nachfolgenden Kapitel erläutert. Es ist unbestritten, dass Homosexualität jahrhundertelang gesellschaftlich nicht als anerkannt galt. Um zu klären, wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass eine – erwiesenermaßen – harmlose sexuelle Neigung, die zudem zur Privatsphäre jedes Einzelnen gehört, derart herabgewürdigt und gar staatlich verfolgt wurde, muss ein Blick in die Vergangenheit geworfen werden. Mit der historischen Entwicklung der sozialen Lage von Homosexuellen beschäftigt sich Kapitel 2.

In dieser Arbeit soll aufgezeigt werden, wie Homosexualität in den Medien, insbesondere in Sendungen des Unterhaltungsfernsehens dargestellt wurde und wird und wie sich diese Darstellungsformen im Laufe der Jahre entwickelt haben. Dahinter stehen die folgenden zu erörternden Fragen: Wie kommt es, dass sich das öffentliche Ansehen von Homosexualität derart geändert hat, dass Fernsehinhalte, die noch vor 20 Jahren nationale Entrüstung hervorriefen, heute gezielt zum Quotenfang eingesetzt werden können? Und zweitens: Inwiefern kann die Tatsache, ob und wie eine soziale Minderheit wie die der Homosexuellen im Fernsehen dargestellt wird, die öffentliche Meinung – und, damit eng verbunden, gar die Gesellschaft – verändern? Oder beeinflusst lediglich das bereits bestehende öffentliche Bild die Programmgestaltung? Für die Klärung dieser Fragen soll in Kapitel 3 eine theoretische Basis geschaffen werden. Die darauf folgenden Kapitel beleuchten die Situation konkret am Beispiel der deutschen Fernsehlandschaft, insbesondere der Unterhaltungssendungen. Anknüpfend an den allgemeinhistorischen Überblick und die theoretischen Überlegungen, wird zur deutschen Fernsehprogrammgeschichte bezüglich der Darstellung von Schwulen und Lesben übergegangen. Parallel zur gesellschaftlichen Lage wurde Homosexualität auch von den Massenmedien lange tabuisiert und insbesondere vom (Mainstream-) Fernsehen zunächst völlig totgeschwiegen. Erst seit knapp 20 Jahren wird Homosexualität im täglichen Fernsehprogramm überhaupt thematisiert, und die Reaktionen auf die ersten Bilder von schwulen oder lesbischen Paaren belegen, dass es sich um einen schweren Tabubruch handelte – fernsehgeschichtlich wie gesellschaftlich. Um aber die volle Bedeutung dieser Jahre im sozialen und medialen Kontext erfassen zu können, muss zunächst mit einem Rückblick auf die jüngere Fernsehgeschichte die Relevanz der ersten Auftritte Homosexueller im deutschen Fernsehen erklärt werden. Schließlich zeigt ein Überblick, welch selbstverständlicher Präsenz sich das Thema Homosexualität in der heutigen Unterhaltungsfernsehlandschaft erfreut. Damit beschäftigt sich Kapitel 4.

Um die rein deskriptiven Aussagen zu untermauern, zu denen die Autorin als außen stehende Beobachterin der Homosexuellenszene nur in der Lage ist, wurde zusätzlich eine Online-Befragung[3] unter 126 Schwulen und Lesben aus ganz Deutschland durchgeführt. Gefragt wurde nach der Meinung der Betroffenen zu Darstellungen von Homosexuellen in konkreten Fernsehsendungen des aktuellen Angebots. Außerdem standen zwei allgemeine Leitfragen hinter der Konzeption des Fragebogens: Interessieren sich Homosexuelle in besonderem Maße für die Darstellung von Homosexualität im Unterhaltungsfernsehen, und empfinden sie selbst diese Darstellung als realistisch? Antworten auf diese Fragen liefert Kapitel 5. Auf Einzelergebnisse dieser auf die vorliegende Arbeit zugeschnittene Befragung wird im Folgenden gelegentlich zurückgegriffen, um die Darlegung konkreter Beispiele mit empirischen Daten zu stützen. Das fünfte Kapitel fasst die Ergebnisse zusammen und erlaubt Rückschlüsse auf offensichtliche Einschätzungen und Präferenzen der Befragten.

1. Vorbemerkungen

1.1 Begriffsklärung: Homosexualität

Unter den (zumeist selbst homosexuellen) wissenschaftlichen Autoren zum Thema „Homosexualität“ ist umstritten, ob dieser im 19. Jahrhundert als Kunstwort eingeführte Begriff überhaupt auf alle Zeiten, in denen gleichgeschlechtliche Sexualität praktiziert wurde, angewendet werden darf. Es steht außer Frage, dass man zum Beispiel die „Knabenschänder“ aus der griechischen Antike (vgl. dazu Kapitel 0) nicht mit den Schwulen und Lesben von heute gleichsetzen kann. Dennoch sei es gestattet, im Rahmen dieser Arbeit alle Tendenzen unter dem Begriff „homosexuell“ zusammenzufassen, die mit der Neigung eines Mannes oder einer Frau zum eigenen Geschlecht zusammenhängen – ohne explizite Unterscheidung der praktischen Form, in der diese Neigung ausgelebt wird.

Der Begriff „Homosexualität“ setzt sich aus den Wörtern homos (gr.: „gleich“) und sexus (lat.: „Geschlecht“) zusammen. Er wurde von Wissenschaftlern des 19. Jahrhunderts eingeführt, um die gängigen, abwertenden Bezeichnungen „Sodomie“ und „Unzucht“ zu vermeiden und das Phänomen der gleichgeschlechtlichen Liebe zwischen Männern oder Frauen – die Forschung konzentrierte sich in erster Linie auf männliche Homosexualität – von anderen Formen der „Unzucht“ wie Inzest oder Geschlechtsverkehr mit Tieren abzugrenzen. Die bis dahin gebräuchlichen Bezeichnungen vitium sodomiticum (sodomitischer organischer Defekt), peccatum contra naturam (widernatürliche Sünde) oder einfach „Ketzerei“ lassen keinen Zweifel, was die Zeitgenossen von gleichgeschlechtlicher Liebe hielten. Auch der Ausdruck „schwul“ wird seit dem 19. Jahrhundert umgangssprachlich für homosexuelle Männer gebraucht, zunächst als despektierliche Ableitung des nhd. Adjektivs schwül für „drückend heiß“. Offenbar spielt dieser Begriff, ebenso wie der Ausdruck „warmer Bruder“, auf Verweichlichung und mangelnde Männlichkeit bei homosexuellen Männern an. Seit dem Aufkommen der sog. „Schwulenbewegung“ in den späten 60er Jahren allerdings verwenden emanzipierte Homosexuelle das eigentliche Schimpfwort selbst, sozusagen aus trotzigem Protest, „als Ehrennamen“ (vgl. Bleibtreu-Ehrenberg 1978:15). Tatsächlich zeigen aktuelle Umfragen, dass eine große Mehrheit der Betroffenen heute tatsächlich selbst diesen Ausdruck dem wissenschaftlichen „homosexuell“ vorzieht[4] und ihn demnach nicht mehr als Beleidigung zu empfinden scheint. Die Bezeichnung „lesbisch“ dagegen, allgemein gängig für gleichgeschlechtlich orientierte Frauen[5], stammt aus der griechischen Mythologie: Auf der Insel Lesbos gründete einst die Dichterin Sappho (geb. um 600 v.Chr.) eine Schule für junge Mädchen – und soll damit vor allem sich selbst und ihren sexuellen Neigungen einen Gefallen getan haben.[6]

Wie viele Schwule und Lesben es heute tatsächlich gibt, ist schwer zu sagen. Ein derart privates soziologisches Detail wie das der sexuellen Orientierung ist statistisch schwer zu erfassen, und es kann von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen werden. Die hochgerechneten Zahlen seit den 70er Jahren schwanken synchron mit der gesellschaftlichen Toleranz. Experten schätzen heute, dass rund 5% der Bevölkerung in Deutschland schwul bzw. lesbisch leben, wobei der Anteil der Männer größer ist. Absolute Zahlen können jedoch nicht genannt werden.

1.2. Begriffsklärung: Unterhaltungssendungen

Der Begriff „Unterhaltungssendungen“ wurde für den Titel dieser Arbeit bewusst gewählt, um den untersuchten Themenbereich einzugrenzen. Beabsichtigt ist dabei die Distanzierung von jenen Genres des Fernsehens, die der reinen Information des Zuschauers über reale, nicht fiktionale Inhalte dienen, d.h. Nachrichten, Reportagen etc. Dennoch sind die Übergänge zwischen diesen Genres heutzutage fließender denn je, und Grenzen sind schwer zu setzen, denn in vielen neueren Fernsehformaten werden informative und unterhaltende Elemente zunehmend bewusst vermischt (z.B. „Reality-TV“, „Doku-Soaps“). Vor allem die Privatsender haben sich dieses Konzept in den letzten Jahren zunehmend auf die Fahne geschrieben. Macher und Kritiker streiten hierbei darüber, wo die Grenzen von Information, Unterhaltungswert und Intimsphäre liegen. Im Rahmen dieser Arbeit muss auf eine Analyse dieser Bereiche des Unterhaltungsfernsehens allerdings weitgehend verzichtet werden.

Die vorliegende Arbeit beschränkt sich auf das „klassische“ Unterhaltungsfernsehen und richtet insbesondere den Blick auf fiktionale Sendungen in Form der Familien- bzw. Krimiserie. Das Genre des Spielfilms dagegen muss aus Gründen des Umfangs leider außen vor gelassen werden; hierzu sei auf andere wissenschaftliche Arbeiten verwiesen, die dieses Thema ausführlich behandeln (zum Forschungsstand s. Kapitel 1.3).

Als „Unterhaltungssendung“ werden generell jene Programmangebote verstanden, die auf das menschliche Bedürfnis ausgerichtet sind, „unterhalten“ zu werden, d.h. ihm beim Entspannen und „Abschalten“ zu helfen oder aber seine Langeweile zu vertreiben. Der Zuschauer will in diesem Moment meist keine zusätzlichen Informationen über die harte Realität erhalten, sondern sich in seiner Freizeit vom eigenen Alltag ablenken lassen. Wie und womit das geschieht, darüber lässt sich schwer eine allgemein gültige Aussage machen: Letztlich liegt es beim individuellen Zuschauer, ob und von welchem Programm er sich „unterhalten“ fühlt, in Abhängigkeit unter anderem von seinem persönlichen momentanen Befinden, seiner sozialen Lage bis hin zu seiner persönlichen Biografie.

Verschiedene Studien haben die Erkenntnis gebracht, dass der Unterhaltungswert für den Zuschauer einer Sendung – z.B. einer Fernsehserie – offenbar davon abhängt, inwieweit sie ihm Bezüge zu seiner eigenen Lebenswelt, Identifikationsmöglichkeiten mit den dargestellten Figuren oder Geschehnissen bietet oder zumindest Geschichten so realitätsnah erzählt, dass er sie leicht nachvollziehen kann (vgl. etwa Kepplinger/Tullius 1995). Gleichzeitig muss für den Erfolg eines unterhaltenden Fernsehangebots die richtige Gewichtung von dramaturgischer Inszenierung und Inhalten gefunden werden, um den Zuschauer in den idealen Zustand zwischen „physiologischer Anregung (z.B. Spannung) und emotionalem Wohlbefinden“ zu versetzen (Gleich 1997:103).

Diese Aussagen finden sich auch der Massenkommunikationstheorie wieder. Der Use-and-Gratifications-Ansatz unterscheidet vier Arten von Gratifikationen, die der Rezipient – in diesem Falle also der Fernsehzuschauer, der ein Unterhaltungsangebot nutzt – erhält und die ihn z.B. im Falle von Serien motivieren können, bei der nächsten Folge erneut einzuschalten. Auf den medientheoretischen Hintergrund wird in Kapitel 3 näher eingegangen.

1.3. Forschungsstand

Der Darstellung von Homosexualität in den verschiedenen Medien haben sich bereits einige wissenschaftliche Arbeiten gewidmet. Vergleichsweise gut erforscht ist dabei der Spielfilm, der daher im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht weiter berücksichtigt wird. Mit dem amerikanischen Film beschäftigt sich dabei z.B. Vito Russo (1990). Zu Homosexualität im deutschen Spielfilm wurden an anderen Universitäten bereits Diplom- bzw. Magisterarbeiten vorgelegt, so von Kirsten Harder (1983) über „Homosexualität im bundesdeutschen Film seit 1970“ und von Werner Wegmann (1991) über die „Darstellung von Minderheiten im Fernsehen der BRD, veranschaulicht am Beispiel der männlichen Homosexualität im kleinen Fernsehspiel des ZDF“. Über „Homosexuelle Identitätenkonstruktion in schwul-lesbischen und Mainstream-Fernsehserien“ schreibt Adrian Ortner (2002). Seine Arbeit bezieht sich auf ausgewählte Serien aus amerikanischer Produktion sowie deutsche Spartensendungen für Homosexuelle im Offenen Kanal und greift der vorliegenden Arbeit damit nicht vor.

Umfangreiche statistische Daten zur aktuellen Lebenssituation von Schwulen und Lesben in Deutschland liefert eine Studie der Sozialwissenschaftlichen Forschungsstelle SOFOS (Vaskovics/Buba 2001) in Bamberg, die im Auftrag des Bundesministeriums der Justiz durchgeführt wurde. Hier wurden die Probanden ausführlich über eventuelle Benachteilungen befragt, die sie in Verbindung mit ihrer sexuellen Orientierung in Deutschland erfahren. Eine empfundene Diskriminierung durch Medien wurde allerdings nur am Rande erfragt und nicht weiter analysiert; daher erschien eine eigene Befragung hierzu im Rahmen dieser Diplomarbeit sinnvoll.

1.4. Eigene Umfrage

Um die Beobachtungen und Thesen, die im Folgenden dargestellt werden, empirisch zu untermauern, wurde eigens eine schriftliche Befragung unter Homosexuellen durchgeführt. Der Fragebogen orientiert sich an den Forschungszielen der vorliegenden Arbeit und kann keinen Anspruch auf Perfektion im Sinne einer sozialwissenschaftlichen Datenerhebung erheben. Ziel der Befragung ist es, die Meinungen speziell der homosexuellen Fernsehzuschauer zur Darstellung von Homosexualität im Unterhaltungsfernsehen in Erfahrung zu bringen. Gemäß verschiedener Thesen zur Fernsehrezeption ist es wahrscheinlich, dass schwule und lesbische Zuschauer(innen) sich von der Darstellung gleichgeschlechtlich orientierter Personen besonders angesprochen fühlen und sie womöglich anders wahrnehmen, als dies bei heterosexuellen Zuschauern der Fall ist. In Anlehnung an die Aussagen von Beth (1977)[7] wurde insbesondere danach gefragt, ob die Befragten die Darstellung Homosexueller, wie sie aktuell stattfindet, als diskriminierend empfinden.

Befragt wurden insgesamt 126 Schwule und Lesben aus ganz Deutschland anhand eines Fragebogens[8], der ihnen in einem Zeitraum von knapp 6 Wochen (1. März bis 10. April 2003) auf Anforderung per Email zugesandt wurde. Der Aufruf zur Umfrage erfolgte in erster Linie über das Internet und damit deutschlandweit, obwohl ursprünglich lediglich eine Veröffentlichung in der Nürnberger Szenezeitung Nürnberger Schwulenpost geplant war, die monatlich vom lokalen Schwulenverein fliederlich e.V. herausgegeben wird. Nach einer zusätzlichen Veröffentlichung auf der Internetseite des Vereins erschien der Aufruf jedoch – dank Mund-zu-Mund-Propaganda und „Schneeballsystem“ - bald auch auf anderen Internetseiten. Eine Liste der veröffentlichenden Stellen sowie ein Abdruck des Artikels und der Original-Fragebogen befinden sich im Anhang (S. XXIff). Die Interessenten mussten den Bogen nach Erhalt per E-Mail am eigenen Computer mit einem Textverarbeitungsprogramm ausfüllen, umspeichern und per E-Mail zurückschicken. Dieses verhältnismäßig komplizierte Verfahren und die Notwendigkeit erhöhter Eigeninitiative erklärt, warum trotz deutschlandweiten Aufrufes über verschiedene Internetseiten „nur“ 126 auswertbare Fragebögen eingingen; aus technischen, zeitlichen und finanziellen Gründen war eine andere Methode leider nicht möglich.

Eine Erfassung der soziodemografischen Daten im ersten Teil des Fragebogens ergab, dass sich etwa zwei Drittel Schwule und ein Drittel Lesben an der Umfrage beteiligten[9] ; das entspricht in etwa dem geschätzten bundesdeutschen Durchschnitt. Zwischen homo- und bisexuellen Teilnehmern wurde bei der Auswertung aufgrund des verschwindend geringen Anteils der Letzteren (insgesamt 5 Befragte, d.s. 4%) nicht unterschieden. Eine große Mehrheit aller Kandidaten ist dabei unter 30 Jahre alt (Anhang, Grafik 1). Außerdem fällt ein überdurchschnittlich hoher Bildungsstand der Befragten ins Auge: Über 80% haben Abitur, ein Drittel gar einen Hochschulabschluss. Dieser Umstand dürfte damit zusammenhängen, dass der Umfrageteilnahme ein gewisser Aufwand vorausging, den sich offenbar überwiegend Schwule und Lesben mit wissenschaftlichen Interessen zumuteten. Die Teilnehmer mussten außerdem über einen Internetzugang und eine E-Mailadresse verfügen und zu ihrer Homosexualität insofern offen stehen, dass sie in ihrer Freizeit einschlägige Internetseiten besuchen (Nachteil von Teilgruppenstichproben, vgl. Brosius/ Koschel 2001:139f). Die Teilnahme machte schließlich auch eine Preisgabe der E-Mailadresse erforderlich, was weitere Interessenten abgeschreckt haben könnte, obwohl die Anonymität des Vorgangs zugesichert wurde. Weitere von Brosius/Koschel angeführte Nachteile einer Online-Befragung wie die mögliche doppelte Teilnahme durch mehrfache E-Mailadressen können in diesem Fall als unwahrscheinlich vernachlässigt werden, da das zeitraubende Ausfüllen des 8-seitigen Fragebogens (ohne unmittelbaren Profit für den Auszufüllenden) eventuelle Schwindler schnell dazu bringen dürfte, derlei Absichten fallen zu lassen. Abgesehen davon entstand bei der Durchsicht der eingegangenen Fragebogen der Eindruck, dass es den Teilnehmern mit dem Thema und einem aussagekräftigen Ergebnis durchaus ernst war.

Wie bereits angedeutet, können die Ergebnisse nicht als repräsentativ betrachtet werden; die Teilnehmerzahl, der ungewöhnlich hohe Bildungsstand der Teilnehmer und die ungleichmäßige Alterskurve können dafür keine Voraussetzung liefern. Dennoch war die Resonanz sehr positiv, und die verwertbaren Ergebnisse erfüllen mehr als zufrieden stellend ihren Zweck. Sie sollen lediglich dazu dienen, die in dieser Arbeit getroffenen Aussagen zu untermauern und ein subjektives Bild von einem Kreis der Betroffenen zu erhalten, da in der Fachliteratur darüber kaum Informationen vorliegen.

2. Historischer Rückblick: Homosexualität und Öffentlichkeit

„Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren begangen wird, ist mit Gefängnis zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.“

(§175 StGB[10], Fassung von 1871 für das Deutsche Kaiserreich; im Wortlaut mehrfach verändert und später entschärft, gültig für Weimarer Republik, Drittes Reich, DDR und Bundesrepublik Deutschland bis 1994)

Bevor unsere relativ junge und kurzlebige Fernsehlandschaft betrachtet werden soll, stellt sich die Frage danach, wie die offensichtliche Abneigung, die Homosexuellen lange Zeit entgegengebracht wurde (und teilweise noch wird), überhaupt entstehen konnte. Es ist längst wissenschaftlich belegt, dass Homosexualität weder ansteckend, erblich, psychisch krankhaft noch physiologisch krankheitsverbreitend[11] ist; solange sie in beiderseitigem Einvernehmen geschehen, sind homosexuelle Handlungen in keinerlei Hinsicht schädlich und in unserem Kulturraum auch nicht (mehr) strafbar. Dennoch waren gleichgeschlechtliche Sexualität und Partnerschaften lange ein absolutes Tabu in der Gesellschaft – und damit auch den Medien.

Gleichwohl ist bekannt, dass Homosexualität keineswegs eine Erfindung der modernen Gesellschaft ist. Wie es aber zur allgemeinen Homophobie kam und wie schwer die Homosexuellen der Vergangenheit es mit ihrer Neigung im öffentlichen Leben hatten, soll im nachfolgenden historischen Rückblick auf den europäischen bzw. deutschen Raum beleuchtet werden.

2.1 Vor der Christianisierung Europas: Die Götter und ihre Lustknaben

Homosexualität ist vermutlich so alt wie die Menschheit. Im Tierreich werden sexuelle Aktivitäten unter Männchen oder Weibchen quer durch alle Arten beobachtet, wenn auch von der Wissenschaft gerne verschwiegen: Forscher mussten etwa beobachten, dass bis zu zwei Prozent der Vogel-Strauß-Männchen lieber ihren eigenen Geschlechtsgenossen ein aufwändiges Balzritual widmen, das überdies um ein Vielfaches länger dauert als das für die Straußendamen. Ebenso ist bekannt, dass Bonoboaffenweibchen ihr Liebesleben gelegentlich durch intime Kontakte miteinander erweitern. Solche und ähnliche Verhaltensweisen wurden bei über 450 (von rund 2000 gut erforschten) Tierarten beobachtet[12]. Man vermutet, dass gleichgeschlechtliche Liebe schon zu Zeiten des Eismenschen „Ötzi“ praktiziert wurde, auch wenn der Schwulenszene nie gelungen ist, wissenschaftlich nachzuweisen, dass der Eismann aus dem Ötztal homosexuell gewesen sei[13]. Bedenkt man die evolutionäre Abstammung des Menschen und die enge Verwandtschaft zu den Affen, liegt jedoch die Vermutung nahe, dass auch unsere Vorfahren bei der Auslebung ihrer sexuellen Triebe ihrem eigenen Geschlecht gegenüber probierfreudig waren. In Peru gefundene Tongefäße aus der Zeit um 500 v.Chr. belegen sehr anschaulich, dass die diversen Indio-Kulturen der gleichgeschlechtlichen Leidenschaft absolut nicht abgeneigt waren. Homosexualität war und ist seit Jahrhunderten Bestandteil dieser Kulturen; solche Funde reichen bis zu Darstellungen aus dem 17. Jh. n.Chr.[14].

Wann, wie und wieso die moralische Verwerfung gleichgeschlechtlicher Sexualpraktiken in unserer Kultur begann, gegen die Schwule und Lesben unserer Gesellschaft heute noch ankämpfen, ist nicht genau nachzuweisen. Timothy Taylor (1997:136) verlegt den Ursprung der Homophobie spekulativ in die neolithische Zeit, in der die Menschen mit der produktiven Nahrungserzeugung in Form von Viehwirtschaft und Ackerbau begannen; dieser Zeitpunkt wird für den mitteleuropäischen Kulturraum auf ab 6000 v.Chr. datiert[15]. Für die jungsteinzeitlichen Viehzüchter galten sexuelle Aktivitäten zwischen zwei Männchen demnach offensichtlich als unerwünscht, da nicht reproduktiv. Haus- und Herdentiere, die ihre Energie auf diese Weise sozusagen auf Kosten der Fortpflanzung „vergeudeten“, wurden für ihr Verhalten bestraft, vielleicht sogar aus Angst vor Ansteckung getötet. Ein ähnliches Verhalten könnte auch gegenüber menschlichen Mitgliedern mit den entsprechenden Affinitäten an den Tag gelegt worden sein. Tatsache ist jedenfalls, dass Homophobie mindestens seit dieser frühesten Zivilisation in unserem Kulturkreis überlebt hat.

Ganz anders in der Antike. Zahlreiche Funde und Überlieferungen, von der Darstellung auf Tellern und Vasen bis hin zu literarischen Texten aus der klassischen und hellenistischen Zeit ab ca. 480 v.Chr.[16] belegen, dass in der antiken griechischen Gesellschaft, in Philosophenkreisen ebenso wie in der Armee, Homosexualität geradezu salonfähig war. Reiche Athener hielten sich Lustknaben; ob die Rolle des jungen Liebhabers gesellschaftlich allerdings angesehen war oder eher als „weibisch“ verlacht wurde, darüber gehen die Meinungen auseinander[17]. Die heutige Schwulenszene brüstet sich damit, Sokrates, Alexander den Großen und Julius Cäsar zu den Ihren zählen zu können.

Der Begriff „Homosexualität“ geht allerdings, wie bereits erläutert, auf die Neuzeit zurück – die Griechen sprachen von „Päderastie“, da es sich um den Akt zwischen erwachsenen Männern und Knaben handelte. Er wurde als Lehrer-Schüler-Verhältnis verstanden und war gesellschaftlich voll anerkannt. Feste Beziehungen zwischen gleichaltrigen Männern dagegen galten auch in der Antike als ungewöhnlich, auch wenn es historisch belegte Beispiele gibt. Auch die griechische Mythologie[18] berichtet von homosexuellen Eskapaden auf dem göttlichen Olymp, am bekanntesten wohl die Entführung des schönen sterblichen Ganymed durch den als Adler getarnten Zeus. Der Göttervater verlieh dem Jüngling Unsterblichkeit und behielt ihn als Mundschenk und Liebhaber, bis er ihn auf Drängen seiner eifersüchtigen Frau Hera entlassen musste[19]. Der Sage zufolge steht der schöne Knabe seitdem als 11. Sternbild am Himmel, als Wassermann, entsprechend seiner Tätigkeit als Wasserträger[20]. Streng genommen handelte es sich bei all diesen Berichten allerdings – nach der heutigen Definition – meist um bisexuelle Lebensweisen, in denen das gelegentliche Vergnügen reifer Männer mit blühenden Knaben als Bereicherung ihres Sexuallebens gesehen wurde. Der liberale Umgang mit gleichgeschlechtlicher Liebe im alten Griechenland beschränkte sich übrigens nicht nur auf Männer: Nicht zufällig hat auch die Bezeichnung „lesbisch“ eine altgriechische Patin (vgl. Kap. 0).

Im antiken Rom und den von den Römern besetzten Gebieten (etwa ab dem 4. Jh. v.Chr.) hatten es Menschen mit bi- oder homosexuellen Neigungen schon schwerer[21]. Körperliche Liebe in gehobeneren Kreisen zu Knaben oder jungen Männern war zwar durchaus an der Tagesordnung, denn der Missbrauch von (im wahrsten Sinne des Wortes) Leibeigenen war straffrei, galt aber nie als moralisch gebilligt. Ab dem 2. Jh. n.Chr. begann sich dann eine Sexualmoral zu entwickeln, die sich zwar nicht auf die christlichen Normen berief, aber wegbereitend für sie wirkte. Gesellschaftliche Veränderungen etablierten die öffentlich geordnete Ehe zwischen Mann und Frau als Grundlage des sozialen Lebens – und verdammten damit gleichzeitig sexuelle Beziehungen zwischen Männern oder Frauen. Spätestens als dann zu Beginn des 4. Jh. n.Chr. das Christentum im gesamten Reich zur Staatsreligion erklärt wurde, endete für Homosexuelle die Zeit, in der sie ihren Neigungen öffentlich und ungeächtet nachgehen konnten. Was einst von den gebildetsten Männern der Gesellschaft in aller Öffentlichkeit befürwortet und praktiziert worden war, wurde unter dem Deckmantel religiöser Vorschriften zu einem staatlich verfolgten Schwerverbrechen, das bis Ende des 20. Jahrhundert verfolgt, rechtskräftig abgeurteilt und bestraft wurde.

Zusammenfassend lässt sich über Homosexualität in der Antike sagen, dass sie zwar nicht als Norm galt, jedoch toleriert, wenn nicht gar salonfähig war. Homosexuelle mussten ihre Neigungen in der Öffentlichkeit nicht verstecken. Das alles beweist nicht nur, dass Homosexualität ein schon seit Jahrtausenden bestehendes Phänomen ist, das sich trotz teilweise massiver Bekämpfung bis heute nicht hat ausrotten lassen. Es weist außerdem auch darauf hin, dass sich hinsichtlich gesellschaftlicher Toleranz gegenüber Andersdenkenden und

-lebenden im Verlauf der letzten 3000 Jahre ein deutlicher Rückschritt getan haben muss.

2.2 Christliches Mitteleuropa: Hexen, Ketzer und Sodomiten

Auch in den nord- und mitteleuropäischen Kulturen war Homosexualität schon früher ein gesellschaftliches Phänomen, als man vielleicht vermuten möchte. Gisela Bleibtreu-Ehrenberg (1978) durchkämmt die germanische Gesetzgebung nach Hinweisen auf Homosexualität und zitiert den Römer Publius Cornelius Tacitus, der im Jahre 98 n.Chr. über das Gerichtswesen germanischer Volksstämme berichtet:

„In der Volksversammlung darf man auch Klagen vorbringen und ein peinliches Gerichtsverfahren anstrengen. Die Strafen werden unterschieden nach der Art des Vergehens: Verräter und Überläufer hängen sie an Bäumen auf, Feige, Kriegsscheue und Unzüchtige [corpore infames, Anm. d. Verf.] versenkt man in Kot und Sumpf ...“[22]

Da Tacitus in anderen Zusammenhängen offenbar stets den Ausdruck „corpore infames“ als Synonym für Homosexuelle verwendet, kann nach Bleibtreu-Ehrenberg davon ausgegangen werden, dass es sich hierbei um die Bestrafung handelt, die man Männern und Frauen angedeihen ließ, die des gleichgeschlechtlichen Verkehrs verdächtigt oder überführt wurden. Mit ihren Eroberungen und Besiedelungen verbreiteten die Römer auch ihre Rechts- und Moralvorstellungen über die Lande – und nach römischen Recht galten homosexuelle Handlungen unter Freien und Päderastie als Straftat, die zunächst mit Geldbußen, später mit der Todesstrafe[23] geahndet wurde. Im Jahre 391 n.Chr. wurde das Christentum zur Staatsreligion ausgerufen. Die christliche Ethik, die mehr und mehr die Moralvorstellungen im Römischen Kaiserreich regierte, propagierte absolute Keuschheit außerhalb der gottgesegneten Ehe. Rein lustvoll motivierter Geschlechtsverkehr galt als verwerflich - Sexualität sollte sich ausschließlich auf die Erzeugung neuen Lebens beschränken. Dass die „widernatürliche“ sexuelle Vereinigung zwischen zwei Männern oder zwei Frauen damit erst recht verteufelt wurde, liegt auf der Hand. Es kam zu einem Konflikt zwischen christlichen und römischen Moralvorstellungen: Das Christentum predigte Gleichheit und Freiheit aller Menschen, nach römischen Recht aber waren homosexuelle Handlungen unter Freien verboten. Damit wurde der gleichgeschlechtlichen Sexualität endgültig ein Riegel vorgeschoben. Kaiser Konstantin der Große (280-337) hatte schon 326 das verschärfte Verbot von Päderastie, freiwilliger gleichgeschlechtlicher Sexualität oder Vergewaltigung mit folgender Bestimmung besiegelt:

„Wenn ein Mann nach Art einer Frau ‚heiratet’ und die Männlichkeit verleugnet, was erstrebt er denn, wenn das Geschlecht seine Bedeutung verliert, wenn es sich um ein Verbrechen handelt, wovon man besser nichts wüsste, wenn Venus in eine andere Form verwandelt wird [...] ? Wir ordnen an, dass die Gesetze, ausgerüstet mit dem Schwert der Rache, aufgerichtet werden, damit die jetzt oder in Zukunft Schuldigen unter die ausgesuchtesten Strafen gestellt werden.“ (Codex Iustinianus, „Lex Julia de adulterium“)[24]

Damit folgte Konstantin ganz der christlichen Ethik und läutete für Homosexuelle finstere Zeiten ein, die über das Ende der römischen Herrschaft, über das Mittelalter hinaus bis in die Neuzeit andauerten.

Dem Zerfall des Weströmischen Reiches 476 folgte eine Zeit, die von Völkerwanderungen und erbitterten Kämpfen zwischen den verschiedenen Germanenstämmen und den angreifenden Hunnen geprägt war. Doch die römischen Besatzer und das Vordringen während der Völkerwanderung in streng römisch-katholische Gebiete hatten Spuren hinterlassen. Viele der Stammführer hatten sich von den germanischen Göttern abgewandt und zur römisch-katholischen Kirche bekehren lassen. Der fränkische König Chlodwig war 496 der erste germanische König, der sich taufen ließ und legte damit den Grundstein für die Christianisierung Europas. Er begründete das Fränkisch-Karolingische Reich, das seinen Höhepunkt unter Karl dem Großen, im Jahre 800 zum Kaiser gekrönt, hatte. Zwei Generationen später wurde das Reich wieder geteilt; was blieb, war die Religion, die die verschiedenen Völker verbunden hatte. Das gesamte gesellschaftliche Leben wurde an der strengen, nahezu asketischen Ethik der römisch-katholischen Lehre ausgerichtet. Folglich orientierte sich auch die Gesetzgebung stark an der Bibel. Vor allem das Alte Testament lässt keine Zweifel darüber, was aus christlicher Sicht als Sünde anzusehen ist, und die mittelalterlichen Herrscher und Rechtsgelehrten zögerten nicht lange, die göttlichen Verfügungen in strenge Gesetze und harte Strafen umzusetzen. So erzählt gleich das 1. Buch Moses vom Untergang der legendären Städte Sodom und Gomorrha[25] und der Errettung des tugendhaften Lot, der als „Zugezogener“ eine für die Stadt Sodom sehr unübliche Gastfreundschaft an den Tag legt und zwei Reisende unaufgefordert bei sich aufnimmt. Es handelt sich dabei um zwei gottgesandte Engel, die ausgeschickt wurden, um die beiden Städte wegen der Lasterhaftigkeit ihrer Bewohner zu zerstören. Das gemütliche Abendessen der drei in Lots Haus bleibt jedoch nicht lange ungestört:

„Aber ehe sie sich legten, kamen die Männer der Stadt Sodom und umgaben das Haus, jung und alt, das ganze Volk aus allen Enden, und riefen Lot und sprachen zu ihm: Wo sind die Männer, die zu dir gekommen sind diese Nacht? Führe sie heraus zu uns, daß wir uns über sie hermachen.“ (1. Moses 19, 4f)[26]

Wird hier noch nicht deutlich, dass die Sodomiten sich den Fremden in sexueller und nicht nur rein gewalttätiger Absicht nähern wollen, lassen die folgenden Verse darüber keinen Zweifel, denn Lot macht ihnen ein Angebot:

„Ach, liebe Brüder, tut nicht so übel! Siehe, ich habe zwei Töchter, die wissen noch von keinem Manne; die will ich herausgeben unter euch, und tut mit ihnen, was euch gefällt; aber diesen Männern tut nichts, denn darum sind sie unter den Schatten meines Dachs gekommen.“ (1. Moses 19,7)

Über Lots Tugendhaftigkeit lässt sich (aus heutiger Sicht) streiten, wenn er den Schändern die Unschuld seiner beiden Töchter anbietet, um seine Gäste zu verschonen. Deutlich wird jedenfalls, dass den Männern eindeutig ihr sexuelles Vergnügen vorschwebt – und zwar mit Gleichgeschlechtlichen. Die sündigen Sodomiten schlagen das letzte Angebot aus Lots Hand aus, das ihre Seele noch hätte retten können, und danken es ihm nicht einmal:

„Du bist der einzige Fremdling hier und willst regieren? Wohlan, wir wollen dich noch übler plagen als jene. Und sie drangen hart ein auf den Mann Lot.“ (1. Moses 19,9)

Doch bald folgt die gerechte Strafe, denn die beiden Engel verteidigen sich und ihren Gastgeber, indem sie die Sünder mit Blindheit schlagen. Kurz darauf werden Sodom und Gomorrha mitsamt ihren Bewohnern vom Herrn vernichtet; Lot und seine Töchter aber werden errettet.

Das dritte Buch Moses stellt eindeutige Regeln auf, welche sexuellen Aktivitäten erlaubt und welche verwerflich sind; zu letzteren gehört auf jeden Fall der Kontakt zwischen zwei Männern.

„Du sollst nicht bei einem Mann liegen wie bei einer Frau; es ist ein Greuel.“ (3. Moses 18,22)

Im Weiteren wird das Verbot auf den Kontakt mit Tieren ausgeweitet, das ausdrücklich auch auf Frauen gilt (18,23). Gleichgeschlechtliche Sexualität wird damit mit Inzest und Sodomie (nach heutiger Definition) gleichgesetzt. Auch die Konsequenzen für diese Gräueltaten, die „das Land unrein gemacht“ haben (18,27), legt die Bibel fest: „Denn alle, die solche Greuel tun, werden ausgerottet werden aus ihrem Volk.“ (18,29). Präziser wird es in Kapitel 20:

„Wenn jemand bei einem Manne liegt wie bei einer Frau, so haben sie getan, was ein Greuel ist, und sollen beide des Todes sterben; Blutschuld lastet auf ihnen.“ (3. Moses 20,13)

Mit diesen Worten aus dem Alten Testament wurde vermutlich der Grundstein gelegt für eine Jahrhunderte lange, verbitterte Verfolgung Homosexueller: Sie legitimieren die jeweiligen Interpreten der Bibel, auf Homosexualität im Namen Gottes die Todesstrafe auszusprechen. Auch im Neuen Testament wird diese Haltung bekräftigt; Apostel Paulus verkündet in seinem Briefen an die Römer, dass die „unverständigen Heiden“, die die Allmacht des Herrn nicht anerkennen wollten, zu „Narren geworden“ seien und deshalb von Gott in unsündiges Treiben entlassen wurden, um dafür später ihre gerechte Strafe zu empfangen. Und zu diesen Sündern zählt Paulus auch Männer, die „den natürlichen Verkehr mit der Frau verlassen und ... in Begierde zueinander entbrannt [sind] und den Lohn ihrer Verirrung, wie es ja sein mußte, an sich selbst empfangen“ (Römer 1,18ff). Bedenkt man die in Kapitel 0 geschilderten Zustände in Rom, verwundert es nicht, dass der Apostel die Sündhaftigkeit homosexuellen Verkehrs an dieser Stelle so explizit anspricht. Ähnliche Drohungen gegen Lustknaben, Knabenschänder und Unzüchtige im Allgemeinen finden sich auch in den Briefen an die Korinther (1. Kor. 6,9f) und an Timotheus (1. Tim. 1,9f). Die Todesstrafe darauf wird allerdings im Neuen Testament nicht ausdrücklich gefordert. Dennoch genügte die Androhung von Hungersnöten und Naturkatastrophen an den entsprechenden Bibelstellen den christlichen Herrschern und Richtern, später der Inquisition als Legitimation. Auf Basis dieser Ausführungen wurde im Mittelalter ein Rechtssystem aufgebaut, das Bestrafungen (je nach „Schwere“ des Verbrechens, also meist, ob es zur Vollendung des Aktes kam oder nicht) von Verbannung bis Todesstrafe durch Enthauptung oder öffentliche Verbrennung für solche Sünder vorsah; und sie wurden mit ähnlicher Vehemenz verhängt und durchgeführt wie Ketzerprozesse und Hexenverbrennungen[27]. Die Bibel war damit das erste Massenmedium der westlichen Zivilisation, das Normen festlegte und dafür sorgte, dass davon abweichendes Verhalten zum gesellschaftlichen Ausschluss führte.

Aus heutiger Sicht erscheint das zweifellos als völlig unverständliche Grausamkeit. Man muss allerdings bedenken, dass die meisten der Gebote zu Gerechtigkeit und Nächstenliebe aus dem Alten Testament – trotz der deutlich verringerten Gläubigkeit in der modernen Gesellschaft – heute noch unsere westliche Zivilisation normieren, nämlich u.a. die Verwerflichkeit von Lügen, Betrug, Bestechung und Mord ebenso wie Ehebruch, Inzest und Sodomie (Zoophilie). Ein Großteil ist in unseren Gesetzen verankert und wird wohl von den wenigsten in seiner Berechtigung angezweifelt. Da überrascht es nicht mehr so sehr, dass die Vorstellung von der Sündhaftigkeit des „widernatürlichen“ Geschlechtsverkehrs unter Männern oder Frauen sich so lange halten konnte, dass Homosexualität sich erst zum Ende des 20. Jahrhundert sehr zögerlich von ihrem negativen Image befreien konnte.

2.3. Reformation und Aufklärung: Vom Scheiterhaufen ins Irrenhaus

Die äußerst brutale Ahndung von Unzüchtigkeiten dieser Art hielt über das Mittelalter hinaus an bis ins 16. Jahrhundert. Zu dieser Zeit gab es kein allgemein gültiges deutsches Strafrecht; jedes Fürstentum, jedes Bistum hatte seine eigenen Gesetze. Die „Bamberger Halsgerichtsordnung“ (Constitutio criminalis Bambergensis, kurz CCB), eine umfassende Sammlung solcher Gesetze, die von einem gewissenhaften Juristen 1507 niedergeschrieben wurde, gilt als wegbereitend für das deutsche Strafrecht.[28]. Die CCB enthält auch Weisungen zum Thema „Widernatürliche Unzucht“: Artikel 141 verordnet als Strafe für unkeuschen Verkehr zwischen Mensch und Tier, Mann und Mann oder Weib und Weib, „man soll sie der gemeynen gewonheit nach mit dem feur vom leben zum tod richten“ (ebd.). Dieser Abschnitt aus der Bamberger Halsgerichtsordnung ist insofern von Bedeutung, als er 1533 – die Reformation hatte gerade begonnen - wortwörtlich in das Gesetzeswerk Karl V. übernommen wurde. Diese Constitution criminalis Carolina wiederum behielt allgemeine Gültigkeit, bis sich erst im 18. Jahrhundert nach dem Zerfall des Reiches eigene strafrechtliche Verordnungen in den deutschen Territorialstaaten durchsetzten. Damit regierte die dem Mittelalter entlehnte strikte Homophobie weitere knapp 200 Jahre in den deutschen Gerichtssälen.

Ab Mitte des 18. Jahrhundert durchdrangen aufklärerische Tendenzen Mitteleuropa und verdrängten die religiös-mittelalterliche Weltsicht durch eine vernunftbetonte. Sie hinterließen auch Spuren in den Gerichtsakten. Es wurden Rufe nach einer Trennung von Staat und Religion laut, nach einer Liberalisierung des Strafrechts dahingehend, nur diejenigen Delikte zu ahnden, die dem Staat tatsächlich schadeten. Bayern schaffte daher 1813 als erstes Land in seinen Gesetzbüchern die Todesstrafe auf alle Formen von Sodomie vollständig ab und ersetzte sie durch vergleichsweise milde Gefängnisstrafen, sofern die Tat mit Erregung öffentlichen Ärgernisses verbunden war[29]. Im mächtigen Preußen dagegen blieb Homosexualität durchgehend Straftat bis zur Gründung des deutschen Reiches. Prozessakten zeigen allerdings, dass die Richter auch hier zunehmend Milde walten ließen (vgl. Bleibtreu-Ehrenberg 1975:314f) und die Höchststrafe nur noch in den „härtesten“ Fällen verhängt wurde. Erst im Neuen Preußischen Landrecht von 1794 wurde die Todesstrafe auf „Sodomiterei und andere dergleichen unnatürliche Sünden“[30] ersetzt durch eine mehrjährige Zuchthausstrafe (Prügelstrafe eingeschlossen) und Verbannung des Sünders. Von elementarer Bedeutung für die weitere Entwicklung der Situation Homosexueller in Deutschland war die wiederum auf eine kürzere Gefängnisstrafe abgemilderte Version aus Preußischen Strafgesetzbuches von 1851: Sie gilt als Vorlage für den berüchtigten Paragraphen 175 des Strafgesetzbuches für das junge deutsche Kaiserreich, datiert auf 15. Mai 1871 (vgl. Eingangszitat zu Kapitel 2, S.8). Er behielt seine Gültigkeit bis weit ins nächste Jahrhundert – und legitimierte damit die Aufrechterhaltung und Festigung eines Vorurteils, das bereits seit Jahrhunderten Menschen mit gleichgeschlechtlichen Neigungen das Leben zur Hölle gemacht hatte.

Dass aus dieser Zeit über Prozesse gegen Lesben relativ wenig bis gar nichts überliefert ist, hängt vermutlich damit zusammen, dass Frauen generell einen niedrigen Status in der Gesellschaft und schon bei der Wahl eines Ehemanns nur selten Mitspracherecht hatten. Da liegt nahe, dass eine eventuelle gleichgeschlechtliche Orientierung den wenigsten Frauen überhaupt in den Sinn kam, denn Sexualität wurde ihnen vermittelt als etwas, an dem sie selbst keinen Gefallen zu finden hatten. Vermutlich gab es also tatsächlich nur verschwindend wenige Fälle, in denen zwei Frauen dazu kamen, gegenseitige Hingezogenheit auszuleben und später dafür bestraft werden konnten.

2.4 Deutsche Reichsgründung 1871: Die zarten Anfänge der Schwulenbewegung

Das späte 19. Jahrhundert und das Deutsche Kaiserreich waren geprägt von bürgerlichen Idealen und der Philosophie der Aufklärung. Religiöse Weltanschauungen waren somit endgültig überholt. Aufgeklärte Juristen formulierten ein aus der menschlichen Vernunft hergeleitetes „Naturrecht“, das dem Menschen „stets erkennbar und jederzeit und überall gegenwärtig“ sein sollte (Stümke 1989:13). Bei den großen Denkern und ihren Anhängern besaß es absolute Gültigkeit, und aus ihm ergab sich ein reformiertes Wertesystem. Widernatürliche Sexualität allerdings – nicht nur, aber insbesondere zwischen zwei Personen des gleichen Geschlechts - war aus dieser Sicht alles andere als vernünftig. Da sie dem natürlichen Sexualtrieb mit dem höchsten Ziel menschlicher Fortpflanzung zweifellos widersprach, blieb nur eine logische – vernünftige – Erklärung übrig: Homosexualität wurde zur Krankheit erklärt. Wer nicht in das bürgerlich-aufgeklärte Naturmodell passte, wurde zu einem Fall für Ärzte und Psychiater. Was nun folgte, ist in zahlreichen medizinischen Dokumenten belegt. Ärztliche Akten des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts, hauptsächlich empirische und deskriptive Dokumentationen, zeugen von einem regen Forscherdrang bezüglich einer wissenschaftlichen Erklärung dieses „widernatürlichen“ Verhaltens; vor allem aber bezeugen sie, dass die Liebe zum eigenen Geschlecht offenbar eine weit verbreitete „Krankheit“ war und die „Unzüchtigen“ mit ihren widernatürlichen Neigungen längst nicht so alleine dastanden, wie man sie früher hatte glauben lassen.

Dass Homosexuelle auch zu dieser Zeit noch am gesellschaftlichen Abgrund standen, lag nicht nur am aufklärerischen Gedankengut von der Vernunft aller Dinge, sondern auch an den gesellschaftlichen Moralvorstellungen des Bürgertums. Konnte man diese Gesellschaft auch als vergleichsweise modern bezeichnen, waren die moralischen Wertvorstellungen doch von klassischen Tugenden dominiert. Offene Sexualität jenseits der Ehe passte generell schlecht in das tugendhafte Bild der prüden bürgerlichen Gesellschaft, in der Züchtigkeit der Frauen und Selbstdisziplin der Männer hochgehalten wurden. Entsprechend lag das Ziel in der Behandlung widernatürlicher gleichgeschlechtlicher Neigungen darin, die „Krankheit“ zu therapieren und den Bürger möglichst auf die tugendhaften Bahnen seiner Gesellschaft zurückzuführen, z.B. durch kalte Bäder, harte Arbeit und Heirat. Pillen sollten Potenz und Sexualtrieb stärken oder schwächen, später wurden auch Kastration, Hypnose und elektrische Schocks eingesetzt, um dem Problem beizukommen (vgl. Stümke 1989:14f). Half alles nichts, musste der Patient in die Psychiatrie überwiesen werden.

Es gab jedoch auch Gegenstimmen. Vor allem Mediziner und aufgeklärte Juristen forderten immer wieder, homosexuelles Verhalten zu entkriminalisieren, fügte es doch dem Staat keinerlei Schaden zu. Der homosexuelle Jurist Karl Heinrich Ulrichs (1825-1895) forderte die Homosexuellen in einer 1864 erschienenen Schrift offiziell auf, sich gegen die staatliche und gesellschaftliche Verfolgung zu widersetzen und zu organisieren. Er führte die lange gebräuchlichen Begriffe „Urninge“ und „Urninden“ für Schwule und Lesben (in Anlehnung an Uranus, den Vater der griechischen Göttin Aphrodite Urania, die dem Mythos nach ohne Mutter geboren wurde). Als Begründer der homosexuellen Bürgerbewegung (vgl. Donate 1993:23) gilt der Sexualmediziner Magnus Hirschfeld[31]. Er erforschte und studierte Homosexualität und die Situation Homosexueller im Kaiserreich. 1897 gründete er in Berlin das „Wissenschaftlich-humanitäre Komitee“ (WhK), eine überregionale Vereinigung mit über 400 Mitgliedern aus allen Schichten, unabhängig ihrer sexuellen Orientierung und Parteizugehörigkeit. Erklärtes Ziel und Programm dieser ersten deutschen Schwulenorganisation war es, auf Basis wissenschaftlicher Studien und Erfahrungsberichte „endlich Klarheit darüber zu schaffen, daß es sich bei [...] der sogenannten Homosexualität um kein Laster und kein Verbrechen, sondern um eine von Natur tief in einer Anzahl von Menschen wurzelnde Gefühlsrichtung handelt“ (Stümke 1989:35). Ein Eintrag aus einem allgemeinen Lexikon von 1930 dokumentiert eindrucksvoll den Forschungsstand des frühen 20. Jahrhunderts:

Konträre Sexualempfindung, (...) Richtung des Geschlechtstriebes zu Personen des gleichen Geschlechts (Homosexualität), verbunden mit der Empfindung, dem ganzen inneren Wesen nach dem eigenen Geschlechte entfremdet zu sein. Diese (...) Abweichung (...) trägt ganz die nämlichen Merkmale wie die andersgeschlechtliche Liebe, hat aber besonders häufig etwas auffallend Schwärmerisches, Exaltiertes und ist nur ganz ausnahmsweise auf die gleiche Person gerichtet, obschon sie von Eifersuchtsregungen keineswegs frei ist. Während Gleichgültigkeit oder Abscheu gegen das andere Geschlecht besteht, sucht sie ihre Befriedigung manchmal durch bloßes Zusammensein oder den Anblick des gleichgeschlechtlichen Partners, sehr viel häufiger durch allerlei Reizungen der Geschlechtsteile. Abnorme Methoden der Befriedigung spielen natürlich eine viel größere Rolle als im normalen Sexualleben, Mischungen mit verschiedenen anderen Abweichungen, mit Fetischismus, Sadismus, Masochismus (...) sind nicht selten. (...) Intellekt und sittliche Gefühle sind ebenso verschieden entwickelt wie bei Normalgeschlechtigen. Es finden sich viele geistig hochstehende Menschen, oft mit besonders ausgeprägtem ästhetischem Empfinden, aber auch auffallend viele moralisch minderwertige und nervenkranke Personen unter den Homosexuellen. Bei Männern ist oft eine Neigung zu weiblichem Verhalten auf allen möglichen Gebieten vorhanden (...) bis zur vollständigen Frauenimitation (...) Die Abweichungen vom normalen Verhalten zeigen sich nicht selten schon von früher Jugend an. (...)

(Aus: Jedermanns Lexikon in zehn Bänden, 1930. Band 6, S. 169f.)

Die detaillierte Beschreibung zeigt, dass das Phänomen Homosexualität schon vor dem 2. Weltkrieg eifrig erforscht worden war und man sich offensichtlich um medizinische und psychologische Erklärungen bemühte, auch wenn diese zweifellos gewisse Trugschlüsse aufweisen. Dass das Phänomen aber überhaupt aus wissenschaftlicher Sicht beobachtet und nicht vornherein verurteilt wurde, war zum größten Teil Verdienst von Hirschfelds Sexualwissenschaftlichem Institut und des WhK . Höchstes Ziel des Komitees war die Abschaffung des Paragraphen 175 aus dem Strafgesetzbuch.

Homosexualität im Deutschen Kaiserreich unterlag einer gesellschaftlichen Doppelmoral: Offiziell war sie nach §175 StGB strafbar, inoffiziell existierte jedoch eine in größeren Städten weit entwickelte Subkultur mit einschlägigen Treffpunkten und Etablissements. Dass auch unter hohen Politikern und kirchlichen Würdenträgern gleichgeschlechtliche Neigungen weit verbreitet waren und trotz offiziell antischwuler Haltung ausgelebt wurden, galt als offenes Geheimnis, und die Androhung eines öffentlichen „Outings“ war für die WhK bereits zur Jahrhundertwende politisches Druckmittel (vgl. Donate 1993:23). Mit der Ausrufung der Weimarer Republik wurden die Bedingungen für Homosexuelle besser: Die Verfassung von 1919 brachte demokratische Grundrechte für alle und damit erstmals wirkliche Chancen für Schwule und Lesben, sich öffentlich zu organisieren. Interessensverbände unter dem Banner der Menschenrechte entstanden, zahlreiche Zeitschriften[32] und Groschenromane für „Männerfreunde“ und „Frauenfreundinnen“ erschienen auf dem freien Markt: Die junge Verfassung garantierte Presse- und Meinungsfreiheit, und strafbar war nach wie vor – nach §175 – nur der homosexuelle Akt selbst. Die Forderung nach der Aufhebung dieses Paragraphen wurde immer lauter und schaffte es schließlich 1929 tatsächlich bis in den deutschen Strafrechtsausschuss. Nach einer Abstimmung mit knapper Mehrheit im Oktober empfahl man Straffreiheit auf homosexuelle Handlungen unter Erwachsenen. Die darauf folgenden historischen Ereignisse verhinderten allerdings, dass es je zu einer Reichstagsabstimmung darüber kam.

2.5 NS-Deutschland: Schwule Stabsführer und Rosa Winkel

Beinahe wäre der Schwulenbewegung der 20er Jahre die Entschärfung des Paragraphen gelungen, hätte es die folgenschwere politische Wendung zum Nationalsozialismus nicht gegeben, die das Ende der Weimarer Republik besiegelte. Die NSDAP machte aus ihrer Haltung zum Thema Homosexualität von Anfang an kein Geheimnis. Das NS-Blatt Völkischer Beobachter nahm am 2. August 1930 eindeutig Stellung zur geplanten Reform des umstrittenen Paragraphen:

„Wir gratulieren zu diesem Erfolg, Herr Kahl [gemeint ist der Vorsitzende des Strafausschusses, der DVP-Abgeordnete Heinrich Kahl. Anm. d. Verf.] und Herr Hirschfeld! Aber glauben Sie ja nicht, daß wir Deutschen solche Gesetze auch nur einen Tag gelten lassen, wenn wir zur Macht gelangt sein werden.“[33]

Dennoch übte das NS-Regime mit seinen militärischen Einrichtungen, Uniformen und durchtrainierten Männern anfangs eine starke Anziehungskraft auf viele Schwule aus. Nicht von ungefähr kommt daher auch, dass sich auch einige Hochrangige der NS-Führungsebene zum eigenen Geschlecht hingezogen fühlten. Prominentestes Beispiel ist der Fall des SA-Stabschefs Otto Röhm[34], dessen Homosexualität dem Regime nach Machtantritt der NSDAP durchaus bekannt gewesen sein muss. Zunächst tolerierte bzw. ignorierte man die sexuelle Orientierung hoher NS-Stabsangehöriger. Tatsächlich war es die SPD, die den Nationalsozialisten zuerst Kollaboration mit „175ern“ und „schamlosesten Betrieb widernatürlicher Unzucht“ vorwarf: Im April 1931 prangerte sie in einer umfangreichen Zeitungskampagne der Münchner Post die „Heuchelei“ der Hitler-Partei an und legte die sexuelle Orientierung Röhms und einiger anderer seines Stabs offen. Nun konnte die NS-Führung den Widerspruch nicht länger halten, einerseits Homosexualität als „Werk von Juden und Marxisten aller Schattierungen“ zu verdammen und anderseits „Kriminelle“ nach §175 mit hohen Führungspositionen zu betrauen. Deutlich wurde mit der Kampagne allerdings auch die wahre Haltung der SPD zum Thema Homosexualität, mit der der WhK-Vorsitzende Hirschfeld sympathisierte, denn sie hatten ihm ihren Einsatz für die Abschaffung von §175 zugesichert. Nun aber zeigte sich, dass auch die sozialdemokratische Partei in der Legitimierung von Homosexualität eine Gefahr für „die moralische und körperliche Gesundheit der deutschen Jugend“[35] und in den Informationen des WhK lediglich ein politisches Druckmittel sah. Letzten Endes schürte die Kampagne sogar das „natürliche Volksempfinden“ gegen Homosexuelle und unterstützte damit die Argumente der Nazis. Diese verordneten bald nach ihrer Machtergreifung 1933 die staatlich überwachte Eheschließung für die Erhaltung der „Rassenreinheit“ und besiegelten damit das Schicksal der Homosexuellen. Im Mai stürmte die SA Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft und verwüstete Einrichtung und Dokumente. Das WhK löste sich auf, und Magnus Hirschfeld flüchtete ins Exil, wo er bald darauf starb.

In den folgenden Jahren verschlimmerte sich die Lage für Homosexuelle ebenso wie für die anderen „Staatsfeinde“ des Nazi-Regimes. Der Paragraph 175 wurde 1935 um Strafe auf „jede Unzucht zwischen Männern“ verschärft, begründet mit „vergeudeter Zeugungskraft“ (Donate 1993:25). Ein „Sonderdezernat Homosexualität“, später die geheime „Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und der Abreibung“, führte „Rosa Listen“, ab 1936 kam es zu offenen Razzien und Massenverhaftungen Homosexueller. Auch die Unzüchtigen in den eigenen Reihen galten nicht länger als tragbar, Röhm wurde schließlich verhaftet und beging im Gefängnis Selbstmord - mit einer Waffe, die auf ungeklärte Weise in seine Zelle gelangt war. Ab 1940 wurden dann die nach §175 Verurteilten nach verbüßter Gefängnisstrafe zwecks „wissenschaftlicher Erkenntnisse“ in die „Rosa Winkel“ der Konzentrationslager verlegt, wo ihnen ihre widernatürlichen Verhaltensweisen gewaltsam ausgetrieben werden sollten. Hier, auf der niedrigsten Stufe der KZ-Häftlingshierarchie, waren sie dem Spott und den Quälereien von SS und Mitgefangenen ausgeliefert. Viele, die dem nicht mit Notheirat oder Untertauchen entkommen konnten, wählten den Freitod. Es endete mit Folter, medizinischen Experimenten und Menschenversuchen an Schwulen in den KZs – sehr oft mit tödlichem Ausgang für die Opfer. Und obwohl lesbische Verhältnisse offiziell nicht strafbar waren, sind auch aus Frauen-KZs „rosa Winkel“ bekannt, in denen es besonders grausam zugegangen sein soll. Exakte quantitative Angaben sind nicht verfügbar; Lautmann (1977:308ff) schätzt die Zahl der in homosexuellen KZ-Häftlinge „in der Größenordnung von 100 000 (es können 5000, aber auch an die 12 000 gewesen sein)“.

2.5 Nach 1945: Kampf um den §175

Die Gründung der BRD beendete die Schreckensherrschaft der NS-Diktatur, nicht jedoch die rechtliche Diskriminierung von Homosexualität. In die Verfassung von 1949 wurde der §175 in seiner verschärften Fassung von 1935 übernommen. Das Bundesverfassungsgericht argumentierte 1957, es handele sich nicht um ein typisches NS-Gesetz, und schloss ehemalige homosexuelle KZ-Häftlinge von der materiellen Entschädigung für NS-Opfer aus. In der Prüderie der 50er und frühen 60er Jahre war für offen gelebte Sexualität, erst recht nicht zwischen Personen gleichen Geschlechts, kein Platz. Verfassungsrechtlich hatten sie das Recht, sich zu vereinigen und eigene Publikationen herauszugeben; in der Praxis wurden solche Illustrierten mit den Fotos erwachsener Männer in Badehose jedoch aus anderen Gründen, etwa wegen Verstoß „gegen das Schamgefühl“ oder „Unsittlichkeit“ der Bilder in Zusammenhang mit der Tendenz der Zeitschrift schnell wieder vom Markt verwiesen (vgl. Stümke 1989:137). Die Homosexuellen sahen sich daher weiterhin zu einem Doppelleben gezwungen, lebten ihre Neigungen im Untergrund und in nächtlichen Parks aus und wurden, wenn sie Pech hatten, bei der nächsten Razzia verhaftet. Donate (1993:27) vergleicht die Zahlen der Verurteilungen nach §175 in den 14 Jahren der Weimarer Republik mit dem entsprechenden Zeitraum ab 1953 und kommt auf 100 000 rechtskräftige Fälle in der Bundesrepublik – mehr als das Zehnfache gegenüber den Jahren zwischen 1918 und 1932. Während die DDR 1957 den Paragraphen für Fälle „geringer Gesellschaftsgefährlichkeit“ entschärfte (vgl. Kowalski 1987:18ff.), erreichte in der BRD die Verfolgung der Homosexuellen 1959 mit über 3 500 Verurteilungen einen traurigen Nachkriegshöhepunkt. Erst zehn Jahre später kam es unter der SPD/CDU-Regierung zu einer Sexualrechtsreform. Der Paragraph 175 wurde entschärft und das Verbot auf durch Erwachsene (über 18 Jahren) angeregten homosexuellen Verkehr mit Personen unter 21 Jahren beschränkt: Jungen Bürgern zwischen 18 und 21 Jahren wurde damit zwar Strafmündigkeit, aber kein freier Willen über ihr Intimleben zugestanden. 1973 beseitigte die SPD/FDP-Koalition diesen Widerspruch schließlich und erweiterte das Gesetz auf generelle Straffreiheit für Personen ab 18 Jahren. Erst am 31. Mai 1994 wurde der viel umkämpfte §175 endgültig aus dem bundesdeutschen Strafrecht gestrichen: Der Strafbestand des homosexuellen Kontakts mit Jugendlichen wurde dem heterosexuellem Jugendmissbrauch gleichgesetzt und gemeinsam mit diesem als §182 im Strafgesetzbuch verankert. Homosexualität war von nun an nicht länger ein strafbares Delikt, jedoch kämpften Schwulen und Lesben weiter um gesellschaftliche Anerkennung und Gleichberechtigung.

Der jüngste, seit der Abschaffung des Paragraphen 175 wohl bedeutendste Schritt in diese Richtung gelang der Homosexuellenbewegung und ihren Förderern in Deutschland im Jahr 2000: Am 10. November beschloss der Deutsche Bundestag das Gesetz zur Eingetragenen Lebenspartnerschaft. Es ermöglicht gleichgeschlechtlichen Paaren in Deutschland, vor offiziellen Behörden (meist dem Standesamt) das eigenständige Rechtsinstitut einer lebenslangen Partnerschaft eingehen. Sie erhalten damit Rechte und Verpflichtungen, die denen einer bürgerlichen Ehe sehr ähnlich sind: Sie können einen gemeinsamen Nachnamen annehmen, es gelten gegenseitige Unterhaltspflichten und –rechte, und ein „kleines Sorgerecht“ regelt das Mitspracherecht des Lebenspartners bei der Sorge um ein Kind, das einer der Partner mit in die Beziehung bringt. Es gelten Nachzugs- und Einbürgerungsrechte für ausländische Lebenspartner und gemeinsame Kranken- und Pflegeversicherung wie bei Ehepaaren. Lediglich auf ein Adoptionsrecht konnte man sich nicht einigen. Das Gesetz trat am 1. August 2001 in Kraft, trotz heftiger Proteste der Konservativen und mehreren Eilanträgen der Bundesländer Bayern und Sachsen beim Bundesverfassungsgericht, um die Einführung zu stoppen. Nach Schätzungen des Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD) wurden bis Mitte des Jahres 2003 bundesweit 6 000-7 000 gleichgeschlechtliche Eingetragene Partnerschaften eingegangen.[36]

Die moderne Schwulenbewegung

Treibende Kraft für die Reformen ab 1969 war der Druck der homosexuellen Emanzipationsgruppen, die sich weltweit im Zuge der allgemein aufrührerischen Stimmung Ende der 60er Jahre zu organisieren begannen. Im Juni 1968 hatten sich Betreiber und Besucher der Schwulenkneipen in der New Yorker Christopher Street gewaltsam gegen die brutale Behandlung durch die Polizei gewehrt. Die Bilder gingen um die Welt, und das Ereignis löste im ganzen westlichen Kulturkreis eine homosexuelle Emanzipationsbewegung aus. Der Christopher Street Day wird seither jährlich international als Feiertag der Schwulen- und Lesbenbewegung begangen. 1971 drehte der schwule Regisseur Rosa von Praunheim die Dokumentation Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt über den Lebensweg eines (fiktiven) jungen Schwulen, der auf der Suche nach seinem Glück in die Großstadt zieht, in der Hoffnung, seine Sexualität dort unbescholten ausleben zu können (mehr dazu vgl. Kap. 4 dieser Arbeit). Mit der detaillierten Darstellung des Intimlebens eines schwulen jungen Mannes brach Praunheim ein Tabu und prangerte als erster öffentlich die gesellschaftliche Situation an. Der Film wurde zur Ikone der Schwulenbewegung. Daraufhin gründeten sich in den größeren Städten Westdeutschlands Vereine und Interessensgruppen, die um die Gleichberechtigung für Homosexuelle kämpften. Zunehmend konnte man auch das relativ neue Massenmedium Fernsehen nutzen, um seine Forderungen bundesweit zu verbreiten. In den 80er Jahren erhielt das Thema Homosexualität, zunächst weitläufig totgeschwiegen, zögerlich, aber zunehmend Einzug in die Fernsehwelt – parallel zu und in Abhängigkeit von der gesellschaftlichen Entwicklung und der Situation, in der „der Homosexuelle“ lebte. Wie die verschiedenen Stufen dieses Weges aussahen, wird in Kapitel 4 aufgezeigt.

3. Theoretische Grundlagen

„Wie kann dem durchschnittlichen ... Fernsehzuschauer klar

sein, dass ihm ein verzerrtes Bild über Homosexualität vermittelt wird?“

(Beth 1977, S. 224)

In dieser Arbeit soll nachgezeichnet werden, wie das Thema Homosexualität von deutschen Unterhaltungssendungen aufgegriffen wurde und wird, wie sich dabei die Darstellung von Schwulen und Lesben im Fernsehen verändert hat und wie sie sich noch immer weiter entwickelt. Um diese Entwicklung zu erklären, muss zunächst eine theoretische Basis geschaffen werden. Geklärt werden soll insbesondere – sofern das möglich ist -, ob die Darstellung von Schwulen bzw. Lesben im deutschen Fernsehen tatsächlich die gesellschaftliche Situation widerspiegelt oder aber anderseits womöglich selbst Einfluss auf die Gesellschaft nimmt. Dazu werden verschiedene theoretische Ansätze unter diesem Aspekt betrachtet.

Als einer der ersten Wissenschaftler beschäftigte sich Ende der 70er Jahre Hanno Beth mit diesem Thema. Beth analysiert die Darstellung von Homosexualität in den Medien (1977:217f) und wirft dem „Diskriminierungsfeld Massenmedien“ vor, durch den Gebrauch von stereotypen Figuren und damit durch die Verbreitung von Klischees diese - seinerzeit für Homosexuelle sehr schwierige - Situation nicht nur zu verschlimmern, sondern mit zu verschulden. Er bezieht sich hierbei auf die Darstellung von Homosexualität in „zahllosen Filmen, Fernsehspielen, Trivialromanen und Zeitungsberichten“, also sowohl auf die Informations- als auch die seinerzeit gängigen Unterhaltungsmedien. Beth weist den Massenmedien eine bedeutende Rolle bei der Gestaltung der „herrschenden Ideologie“ zu, die er als „das tragende normative Wissenssystem einer Gesellschaft“ versteht: „Über die Veröffentlichung und Kommentierung von Moralnormen und Rollenschablonen“ würden Bilder geschaffen, die von einem Persönlichkeitsmerkmal wie „homosexuell“ auf ein soziales Rollenbild übertragen und dem Zuschauer vorgeführt würden. Im Vergleich etwa zum verbreiteten Bild des „braven Bürgers, fleißigen Arbeiters, guten Gatten“ kämen hierbei „der Homosexuelle“ und „die Lesbierin“, so Beth, ausgesprochen schlecht weg.

„Seit einigen Jahren ‚gibt’ es nun zwar Homosexualität auch in den Medien der Massenunterhaltung, aber ... fast stets in einer Konnotation von sozialer und psychischer Problematik. Homosexualität tritt nämlich jetzt im Zusammenhang mit folgenden Botschaften auf:

- Sie ist ein ‚Verdacht’, von dem sich jemand reinigen muss wie von dem Verdacht, ein Mörder oder Dieb zu sein.
- Unterdrückte Homosexualität macht die Figuren zu verkrampft-unsympathischen Erscheinungen.
- Homosexuelle sind krank und unglücklich.
- Sie verletzen als Monströsitäten die natürliche Ordnung (...).
- Sie sind gefährlich und nehmen ein böses Ende.“

(Beth 1977:219)

Diese Aussage ist insofern besonders bedeutend, als ein Zeitgenosse nicht nur die Darstellungsformen von Homosexualität im Fernsehen von 1977 präzise beschreibt, sondern den beginnenden Einzug des Themas Homosexualität in die Massenmedien konkret auf Mitte der 70er Jahre datiert. Zusammenfassend beklagt Beth, dass diese Darstellungen „ein ins Negative verzerrtes Wissen und Meinen über die Homosexuellen“ liefere. „Zwar läuft dieser Prozess der Rollenkonstitution nicht in der Form einer geplanten Kampagne ab, wohl aber zielen die Inhalte der Unterhaltungsmedien gemeinsam in die gleiche Richtung, so dass etwas vom Effekt der Reizanhäufung zustande kommen kann.“ (ebd.) Überträgt sich aber dieses (negative verzerrte) Bild tatsächlich direkt auf die Gesellschaft? Beth kommt zu dem Ergebnis, dass „Vorurteile gegen Minderheiten in der Massenkommunikation nicht erzeugt, jedenfalls nicht von Grund auf, wohl aber aufrechterhalten und fortgezeugt“ werden. „Wenn ... die Botschaft mit den Vorausurteilen des Publikums übereinstimmt, dann wird sie besonders effektiv wahrgenommen“ (S. 221). Ohne es beim Namen zu nennen, bezieht er sich hier offensichtlich auf das Involvementkonzept. Diese Medienwirkungstheorie aus den 60er Jahren war ursprünglich auf die Werbewirkungsforschung ausgerichtet. Sie führt den Einfluss, den mediale Aussagen auf den Zuschauer haben, zurück auf die Summe der bei ihm bereits vorhandenen Einstellungen. Übertragen auf das Beispiel Homosexualität würde das bedeuten, dass die massenmediale Darstellung die Einstellung des Zuschauers – und damit die Gesellschaft – durchaus positiv beeinflussen kann, sofern antihomosexuelle Vorurteile noch nicht zu stark ausgeprägt sind und die vermittelte Darstellung nicht zu weit von der vorhandenen Weltanschauung des Zuschauers abweicht. Die stereotype, sehr negative Darstellung jedoch, die Beth 1977 anprangert, musste demnach im Gegenteil eher dazu führen, dass sich in der (fernsehenden) Gesellschaft erste oder zusätzliche Vorurteile bilden konnten. Dabei sieht er beim Thema „Homosexualität“ eine besondere Chance für die Massenmedien, das öffentliche Bild noch positiv zu beeinflussen, denn er konstatiert für diese Art abweichenden Verhaltens ein gesellschaftliches „Wissensvakuum“ (S. 222), das es zu füllen gilt, bevor es durch negative Meinungen blockiert werde.

„Die Massenmedien bieten Ersatz für Vis-à-Vis-Situationen – im Fernsehen sogar einen täuschend ähnlichen Ersatz -, für Situationen also, in denen man sonst seine Meinung über andere Leute gewinnt oder überprüft. Die Medien liefern stellvertretend Erfahrungen über unzugängliche Situationen ... . Je interessanter der Gegenstand für den Rezipienten, je geringer seine Erfahrung dazu und je vager seine Einstellung sind, desto höher muss die Überzeugungskraft der Medien angesetzt werden.“

(Beth 1977:223)

Die Kunst liegt demnach darin, aus dem „Auseinanderklaffen von Anteilnahme und Informationsstand“ einen Nutzen für den Kommunikator zu ziehen, indem er Botschaften vermittelt, die helfen, eine Einstellungsänderung beim Publikum zu bewirken oder überhaupt erst eine Einstellung – und zwar eine positive – zum Thema Homosexualität zu formieren.

Bezogen auf unseren Untersuchungsgegenstand bedeutet das, dass gesellschaftliche Gruppen – wie etwa Homosexuelle, Behinderte und andere Minderheiten - durch vermehrte Aufmerksamkeit erregende Präsenz in den Medien die Chance erhielten, ihr Anliegen an die Gesellschaft öffentlichkeitswirksam vertreten - oder aber zertreten zu lassen.

Sozialisation durch Massenmedien

Bereits in den 60er Jahren hatte man die sozialisierende Funktion der Massenmedien erkannt. Der Soziologe Franz Ronneberger (1971:48) stellt fest: „Im Zusammenwirken und Zusammenspiel aller Medien als dem System Massenkommunikation wird permanent Sozialisation als Funktion hervorgebracht, bewirkt, erfüllt.“ Sozialisation meint in diesem Zusammenhang nach soziologischer Definition die Annahme der in seiner Gesellschaft geltenden Organisation und Ordnung durch ein Mitglied der Gesellschaft; dafür muss es die in seinem „System“ gültigen Normen und Werte anerkennen und verinnerlichen. Werden ihm diese Regeln nach klassischer Definition in erster Linie durch die anderen Gesellschaftsmitglieder, seine Mitmenschen, übermittelt, wird nach Ronneberger dieser Akt nun auch indirekt durch das „System Massenkommunikation“ übernommen. Er attestiert den Massenmedien damit eine enorme Verantwortung. Es sei die „öffentliche Aufgabe“ des Systems Massenkommunikation, zu sozialisieren, „indem es soziale Bedürfnisse von Einzelnen und Gruppen aufgreift, bewusst macht, artikuliert, ... an kompetente Stellen der Gesellschaft transmissioniert“ (Ronneberger 1971:45). Ist auch anzunehmen, dass der Autor sich zu diesem Zeitpunkt in erster Linie auf die sozialisierende Funktion der Informationsmedien bezieht, lässt sich diese Definition durchaus auch auf das Unterhaltungsfernsehen und - über die Jahre hinweg - bis in die heutige Zeit übertragen.

Sozialisation durch Massenkommunikation bedeute nicht nur die „Bestätigung bestehender Strukturen, Einstellungen und Rollen“, sondern diene insbesondere deren „Wandel im Hinblick auf veränderte Umweltbedingungen und Forderungen“ (S. 54). Über den Begriff des Sozialen Wandels bzw. darüber, wie Sozialer Wandel zustande kommt, gibt es verschiedene theoretische Ansätze, die an dieser Stelle nur angedeutet werden können. G.H. Mead (1968) spricht dem in seine Gesellschaft integrierten Individuum[37] (und zwar, nach seiner eigenen Definition, der einzigartigen, rollenunabhängigen Hälfte des Individuums, dem „I“), die Fähigkeit zu, trotz seiner Abhängigkeit von der Gesellschaft auch in die Gegenrichtung Einfluss nehmen und seinerseits zur Weiterentwicklung der Gesellschaft, sprich zum Sozialen Wandel beitragen zu können. Dies erfolgt über die Vermittlung von Symbolen, einen Prozess, den er als „symbolisch vermittelte Interaktion“ bezeichnet: Der Kommunikator sendet Symbole aus, die beim Rezipienten eine Reaktion oder zumindest Handlungsbereitschaft hervorrufen. Das Besondere ist hierbei, dass

– erstens „die Handlungsanfänge ... im Individuum, das sie ausführt, die gleiche Haltung sich selbst gegenüber auslösen wie in den anderen Individuen und dass

– zweitens dieses Einnehmen der Haltung der Anderen das Individuum in die Lage versetzt, sein weiteres Verhalten im Lichte dieser Haltung dem Ihrigen anzupassen“. (Preglau 1997:56, nach Mead 1968.)

Es handelt sich also nicht um einen Prozess einseitigen Beeinflussens, sondern um eine wechselseitige Wirkung auf beiden Seiten des Kommunikationsvorgangs. Würde man dieses Bild vom kommunizierenden Individuum nun auf das Fernsehen als massenkommunikatives Sprachrohr einer Gruppe von Individuen übertragen, erklärte sich die stetige Wechselbeziehung zwischen dem öffentlichen Bild einer Randgruppe und dem durch das Medium vermittelten Bild. Ronnebergers Argumentation lässt sich demnach so verstehen, dass auch die Medien, die ebensolche Symbole zur Kommunikation verwenden, in diesem Fall in die vergleichbare Position eines Individuums schlüpfen. Dieser Gedankengang erscheint durchaus nachvollziehbar, wenn man sich bewusst macht, dass auch „die Massenmedien“ von Individuen gemacht und gesteuert werden, die ihrerseits selbst soziale Rollen im Gesellschaftssystem wahrnehmen. Allerdings hat diese „Sozialisation durch Massenkommunikation“ auch ihre Grenzen: Zur Diskrepanz zwischen fiktiver und realer Welt kommt noch hinzu, dass der Fernsehzuschauer als passiver Beobachter nicht direkt auf die Konfrontation mit ungewöhnlichen gesellschaftlichen Tendenzen reagieren muss, solange diese nur auf dem Bildschirm stattfindet. Das ändert sich jedoch, wenn er mit „realen“ Homosexuellen zu tun bekommt: Eine Verhaltensweise für die spezifischen Umstände dieser realen Konfrontation kann die Fernsehwelt nur in den seltensten Fällen liefern, denn Schwule und Lesben sind untereinander ebenso unterschiedlich wie Heterosexuelle auch. Die Kluft zwischen dargestellter und wirklicher Realität kann auch die aufgeklärteste Darstellung nicht völlig überwinden.

Hanno Beth gesteht seiner zeitgenössischen Gesellschaft immerhin zu, die stereotypen Darstellungen der Massenmedien nicht vollständig als soziale Realität zu übernehmen. Er hält sie durchaus für bereit, sich zu einer humaneren Einstellung bewegen zu lassen, „wenn sie nur die Chance einer entspannten Interaktion erhielte und ihr nicht ständig via Massenmedien ein stereotypes Vorstellungsbild als angebliche Durchschnittsmeinung vorgespiegelt würde“ (1977:224). Das verzerrte Bild, das dem Zuschauer vermittelt wird, lässt diesem (mangels besseren Wissens durch eigene Erfahrungen) demnach gar keine andere Möglichkeit, als es als realitätsnah einzuschätzen; hier liegt nach Beth der Ansatzpunkt, um mit den weit verbreiteten Vorurteilen aufzuräumen.

Letztlich lässt sich aus heutiger Sicht schwerlich beurteilen, inwiefern Beth mit der Einschätzung seiner zeitgenössischen Fernsehlandschaft tatsächlich Recht hatte. Es scheint jedoch nachvollziehbar, dass eine überwiegend negativ verzerrte Darstellung von Homosexualität in den Massenmedien – wie sie zu diesem Zeitpunkt offenbar stattfand – die gängigen Vorurteile mitverschuldet, denen sich Schwule und Lesben bis heute stellen müssen. Darüber hinaus kann aus heutiger Sicht seine Einschätzung, dass eine weniger verzerrte Darstellung in den Massenmedien zu einer Einstellungsänderung beim Publikum und damit in der Gesellschaft führen würde, als erwiesen betrachtet werden. Offensichtlich hat eine sich verändernde, breiter gefächerte Darstellungsweise von Homosexualität insbesondere im Fernsehen, wie sie sich in den Jahren nach Erscheinen von Beths Aufsatz entwickelt hat, tatsächlich dazu geführt, dass das Publikum (das ebenfalls einem stetigen Wandel unterliegt) zu einer toleranteren Einstellung gekommen ist. Es ist dennoch zu vermeiden, daraus auf einen einseitigen, kausalen Vorgang zu schließen: Wahrscheinlicher ist, dass das (an der gesellschaftlichen Realität orientierten) Fernsehen und die (von den Medien beeinflusste) Gesellschaft in stetiger Wechselwirkung miteinander einem Wandel unterlegen sind, der sich in beiden widerspiegelt.

Damit wäre ein theoretischer Ansatz gefunden, um die Beziehung zwischen Mediendarstellung und gesellschaftlicher Realität zu erklären. Es lassen sich daraus Rückschlüsse ziehen, wie es zu der Entwicklung von einer absoluten Tabuisierung Anfang der 70er Jahre über die negativ stereotype Darstellung von Homosexualität, die Beth beklagt, bis zum alltäglichen Anblick von Homosexuellen im Fernsehen heute kam; wie diese Entwicklung aussah, wird in Kapitel 4 dieser Arbeit behandelt. Noch nicht erklärt wurde allerdings, wieso ein doch überwiegend heterosexuelles Publikum an der Darstellung von Homosexualität in Unterhaltungssendungen (also z.B. an Auftritten von schwulen Charakteren in Familienserien) offenbar Gefallen findet. Denn wie später aufgezeigt ist, ist der Anteil von Lesben und Schwulen im Unterhaltungsfernsehen im Laufe der Jahre erheblich gestiegen; es ist zu bezweifeln, dass hinter diesem Konzept seitens der Fernsehproduzenten lediglich das rein humane Motiv steckt, einer sozialen Minderheit die Chance zu geben, ihre Problematik mit massenmedialer Wirkung zu artikulieren. Warum aber schalten Heterosexuelle ein, um sich schwule und lesbische Charaktere im Fernsehen anzusehen und sich zwangsweise mit deren Problematik auseinander zu setzen, die sie persönlich wohl kaum betrifft?

Zuschauergratifikationen

Der Nutzenansatz geht davon aus, dass die Zuschauer das Fernsehangebot nicht passiv konsumieren, sondern aktiv handeln und aus ihrem Fernseh-Verhalten eine Befriedigung unterschiedlicher Bedürfnisse ziehen. Der offensichtliche Quotenerfolg von dargestellter Homosexualität im Unterhaltungsfernsehen ließe demnach darauf schließen, dass offenbar auch bei den nicht homosexuellen Zuschauern Bedürfnisse befriedigt werden. Diese „Gratifikationen“ können generell bei jedem Zuschauer unterschiedlich sein und müssen nicht zwangsweise aus den Inhalten der Sendungen gezogen werden. Sie werden folgendermaßen unterschieden[38]:

- 1. Ablenkung und Zeitvertreib. Der Zuschauer sieht fern, um seinem Alltag zu entfliehen und sich von seinen eigenen Problemen ablenken zu lassen. Das kann besonders gut gelingen, wenn die im Fernsehen vorgeführte Welt mit seiner eigenen so wenig wie möglich zu tun hat; so erklärt sich z.B. der Erfolg von Soap Operas wie „Verbotene Liebe“ (ARD), die überwiegend in den obersten Gesellschaftsschichten spielt, zu denen sich wohl die wenigstens der zahlreichen Zuschauer zählen können. Ein Homosexueller und die mit seiner Neigung zusammenhängenden Alltagsprobleme könnten also einem heterosexuellen Zuschauer hervorragend den nötigen Abstand zu seinen eigenen Problemen bieten.

- 2. Persönliche Beziehung. Unterhaltungssendungen bieten Fernsehzuschauern oftmals die Möglichkeit, eine „parasoziale Beziehung“ mit den agierenden Figuren einzugehen, d.h. sich mit einer fiktiven Gestalt persönlich verbunden zu fühlen. So kann etwa ein fiktiver Schwuler aus dem Fernsehen für jeden Zuschauer zu einem durchaus realen Bekannten werden, sofern er es zulässt. Insbesondere fiktionale Serienfiguren üben diesen Reiz auf echte Fans aus: Dadurch, dass sie Tag für Tag oder Woche für Woche eine Figur in allen möglichen Lebenslagen beobachten können, erhalten sie den Eindruck, an deren „Leben“ tatsächlich teilzuhaben. Darüber hinaus stellen gerade Fernsehserien oftmals Gesprächsstoff zur Verfügung, der wiederum die „echten“ sozialen Beziehungen zwischen Zuschauern fördern können.

- 3. Persönliche Identität. Medien können dem Zuschauer helfen, sich selbst besser kennen zu lernen: Besonders Unterhaltungssendungen wie Soap Operas und Familienserien bieten praktisch für jeden Zuschauer die Möglichkeit, eigene Erfahrungen, selbst erlebte Situationen wiederzuerkennen. Denn gerade diese Genres leben davon, möglichst viele und möglichst realitätsnahe Themen anzusprechen, vorzuführen und zu beleuchten. Dass mit dem zunehmenden Aufkommen dieser Art von Unterhaltungsserie auch das Thema Homosexualität relativ bald angesprochen wurde, überrascht nicht; insbesondere die Brisanz durch die lange Tabuisierung, die politische Diskussion um den Paragraphen 175 und die geteilten Meinungen in der Bevölkerung boten die Möglichkeit, nicht nur neue Inhalte zu präsentieren, sondern auch Aufmerksamkeit beim Publikum zu wecken. Identifikationsmöglichkeiten mit dem eigenen Leben bieten sich bei diesem Thema wohl in erster Linie für die Homosexuellen unter den Zuschauern, aber auch für Familie, Kollegen und Bekannte, die womöglich im wirklichen Leben mit der Thematik konfrontiert wurden und sich am Bildschirm mögliche Konstellationen und Handlungsalternativen vorleben lassen.

- 4. Kontrolle der Umwelt. Wenn der Zuschauer schon keine direkte Verbindung zwischen dem vorgeführten Geschehen und seinem eigenen Leben sehen kann, so kann doch auch das Unbekannte Reiz auf ihn ausüben. Selbst wenn der Serienzuschauer also persönlich nie einen Homosexuellen (wissentlich) kennen gelernt hat, kann es ihn doch interessieren, Informationen über seine Umwelt zu sammeln, die ihm vielleicht eines Tages von Nutzen sein könnte. Neugierde spielt hierbei sicher eine große Rolle: Gerade ein so intimes Thema wie Sexualität weckt ein oft morbides Interesse am Unbekannten – insbesondere, wenn, wie es im Verlauf der letzten 30 Jahre der Fall war, in der Öffentlichkeit zunehmend über ein Thema gesprochen wird, bei dem die wenigsten wirklich über direkte Erfahrungen verfügen.

Damit ließen sich im Nutzenansatz Erklärungen dafür finden, wieso sich das Thema Homosexualität so lange in den Unterhaltungssendungen halten konnte und es vermutlich noch eine ganze Weile wird. Die entscheidendsten sind dabei sicherlich die letzen beiden Punkte. Auch hierbei ergibt sich wieder eine Kettenreaktion aus wechselseitiger Wirkung: Als die ersten Serien in den 80er Jahren das aufkeimende Diskussionsthema Homosexualität aufgriffen und verarbeiteten, wurde das vielfach als Moralbruch empfunden und führte zu heftigen Reaktionen beim Publikum, bis hin zu persönlichen Drohungen an die Darsteller. Solche Reaktionen sind (glücklicherweise) längst zurückgegangen; mit der Zeit haben immer mehr Unterhaltungssendungen die Thematik verarbeitet und davon (in Form von guten Einschaltquoten und ergiebigem Stoff für ihre Drehbücher) profitiert. Die Zuschauer gewöhnten sich dabei zunehmend an solche Darstellungen, und je mehr „reale“ Gesellschaftsmitglieder – oftmals, sehr medienwirksam, Prominente – sich zu ihrer Homosexualität bekannten, desto weniger Wellen schlug es. Heute gibt es wohl kaum eine Unterhaltungssendung im deutschen Fernsehen, sei es Talkshow oder fiktionale Serie, die nicht in irgendeiner Form Homosexualität thematisiert hat – und längst fordert es kaum mehr Zuschauerpost heraus, wenn auf dem Bildschirm ein Kuss zwischen zwei Männern oder zwei Frauen gezeigt wird. Das Fernsehen hat damit auch eine sehr wichtige Funktion der sozialen Aufklärung übernommen und erfüllt.

Letztlich ist Folgendes festzuhalten: Das Massenmedium Fernsehen erfüllt in unserer Gesellschaft eine wichtige sozialisierende Funktion. Die Einstellung der Zuschauer zur Realität orientiert sich an der vermittelten Fernsehrealität – jedoch auch umgekehrt (Symbolischer Interaktionismus). Die Darstellung von Realität im Fernsehen ändert sich parallel zum sozialen Wandel, den sich verändernden Einstellungen bei der Bevölkerung. Dies muss schon deshalb geschehen, weil das Fernsehverhalten des Einzelnen sich auch an seiner eigenen sozialen Einstellung orientiert; weicht die vorgeführte Tendenz zu sehr von seinen eigenen Vorstellungen ab, wird er eher umschalten, bevor er seine soziale Einstellung ändert (Involvementkonzept). Zudem liegt es zunehmend im Interesse der Macher von Unterhaltungssendungen, aktuelle soziale Themen möglichst sensibel aufzugreifen, denn offensichtlich steigert das aus verschiedenen Gründen die Quote (Nutzenansatz).

[...]


[1] Süddeutsche Zeitung, 30.5.2000.

[2] Wie die später erläuterte Eigene Umfrage unter homosexuellen Männern und Frauen ergeben hat, bezeichnen diese sich selbst in der Mehrheit als „schwul“ oder „lesbisch“. Daher werden im Folgenden dieselben Begriffe ohne jegliche abwertende Intention verwendet.

[3] Im Folgenden als „Eigene Umfrage“ bezeichnet. Einzelheiten s. Kapitel 1.4.

[4] Vgl. etwa die Studie der SOFOS Bamberg 2000: Hier bezeichneten sich 86% der befragten Männer selbst als „schwul“ (Vaskovics/Buba 2001:35). Ähnliche Ergebnisse erzielte die Eigene Umfrage im Rahmen dieser Arbeit.

[5] Bei Vaskovics/Buba (2001:35) von 80% der befragten Frauen selbst gewählte Bezeichnung.

[6] Vgl. Meyers Taschenlexikon (Weiß 1999). Bd. 8, S. 2989.

[7] Hanno Beth spricht das „Diskriminierungsfeld Massenmedien“ an und bezeichnet das Bild, das die Medien von den Homosexuellen vermitteln, unter anderem als „ins Negative verzerrtes Wissen und Meinen“ (Beth 1977:219). In Hinblick auf die lange Zeit, die seit der Entstehung dieses Aufsatzes vergangen ist, stellt sich im Rahmen der vorliegenden Arbeit insbesondere die Aufgabe, diese Aussagen in Bezug auf die heutige Medienlandschaft zu überprüfen und zu aktualisieren. S. dazu ausführlich Kapitel 4.

[8] Abdruck des Originalbogens im Anhang, S. XXIIIff.

[9] Vgl. Anhang, Grafik 2.

[10] In: Robert v. Hippel: Deutsches Strafrecht, Berlin 1925, S. 345. Zitiert nach Bleibtreu-Ehrenberg 1975:340.

[11] Die Immunschwäche AIDS galt tatsächlich zu Beginn seiner Verbreitung, Anfang der 80er Jahre, zunächst als Seuche unter homosexuellen Männern. Inzwischen ist allerdings klar, dass diese und andere durch Geschlechtsverkehr übertragene Krankheiten sich nicht auf den homosexuellen Verkehr beschränken. Im Jahr 2002 waren nach Angabe der UN die Hälfte der weltweit 42 Millionen HIV-infizierten Erwachsenen weiblich. Vgl. „Frauen ziehen mit Männern gleich“, Fränkischer Tag, 27. November 2002.

[12] Vgl. „In flagranti ertappt“, Spiegel 14/1999.

[13] 1991 wurde in den österreichischen Alpen die rund 5000 Jahre alte Mumie eines Menschen aus der Jungsteinzeit entdeckt. Eine der zahlreichen Theorien, die sich seitdem um die Identität des Mannes ranken, besagt, gewisse Spermaspuren wiesen auf homosexuelle Kontakte vor seinem Tod hin. Sie konnte jedoch nie bestätigt werden.

[14] Vgl. Taylor (1997), S. 16f.

[15] Die folgenden historischen Zeitangaben stützen sich auf die den dtvWeltatlas zur Geschichte (Kinder/Hilgemann 1991).

[16] Historische Angaben zu Griechenland berufen sich hier auf die Internetquelle http://www.griechenlandinformation.de/gr_jahrh2.htm <27.7.2003>. Literarisches Zeugnis homosexueller Praxis im antiken Griechenland vgl. etwa „Das Gastmahl“ von Plato (geb. 427 v.Chr.).

[17] Dabei neigen Berichte aus dem schwul-lesbischen Lager zu der Darstellung, es sei eine Ehre für Söhne aus gutem Hause gewesen, ihr Lager mit Sokrates teilen zu dürfen (vgl. Homepage von Gayforum.de). Objektivere Sichtweisen berichten dagegen, der jeweils „passive“ Partner bei diesen Beziehungen sei „öffentlich als weibisch herabgesetzt“ worden (vgl. http://www.lindenstrasse.de, „Historie“).

[18] Homosexualität in der griechischen Mythologie nachgelesen bei http://www.androphile.org/DE/Culture/Griechenland/ <27.7.2003>.

[19] Der Begriff „Ganymed“ ist so in die deutsche Sprache eingegangen als Synonym für „junger Kellner, Diener“. Vgl. Duden 5 (2001), S. 272.

[20] Vgl. Duden 7 (2001), S. 916.

[21] Vgl. die Informationen zum Thema auf der Homepage http://www.g26.ch sowie http://www.gayforum.de/comeout/02239.shtml <27.7.2003>.

[22] Tacitus (98 n.Chr.): „De origine et moribus Germanorem.“ (Ursprung und Charakter der Germanen.) Zitiert nach Bleibtreu-Ehrenberg (1978), S. 17.

[23] Die Entstehungszeit der „Lex Julia de Adulteris“, die die Strafverschärfung auf Tod durch Enthauptung festlegt, wird auf etwa 17 v.Chr. geschätzt. Vgl. Bleibtreu-Ehrenberg (1978), S. 187f.

[24] Zitiert nach Bleibtreu-Ehrenberg (1978), S. 188.

[25] Der im deutschen Sprachgebrauch erhalten gebliebene Ausdruck „Sodomie“ bezeichnet nach der heute gängigen Definition „Geschlechtsverkehr von Menschen mit Tieren“ in Anlehnung an diese Bibelstelle. Ursprünglich wurde der Begriff aber auch auf „Päderastie“ angewendet. Vgl. Duden 7, S. 774.

[26] Die Textstellen berufen sich auf die 1984 revidierte Übersetzung der Lutherbibel, hrsg. von der Evangelischen Kirche in Deutschland. Statt Seitenangaben wurde die für Bibelzitate übliche Zitierweise nach den Büchern des Alten und Neuen Testaments gewählt.

[27] Zu den Parallelen zwischen Ketzerprozessen, Hexenwahn und der Verfolgung Homosexueller im Mittelalter vgl. ausführlich Bleibtreu-Ehrenberg 1975:253ff. Zu beispielhaften Einzelprozessen im Mittelalter vgl. ausführlich Brüster (1997), Kap. 3.1.

[28] Vgl. ausführlich Bleibtreu-Ehrenberg (1975), S. 297ff.

[29] Vgl. Stümke (1989), S. 11f.

[30] Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten von 1794, Teil 2, Titel 7, §1069. Zitiert nach Bleibtreu-Ehrenberg (1975), S. 310.

[31] Vgl. Praunheim, Rosa von (1997): Schwuler Mut. 100 Jahre Schwulenbewegung. TV-Dokumentation, Köln/Berlin 1997.

[32] Die Schwulenzeitschrift „Die Insel“ etwa erreichte im Jahr 1930 eine monatliche Rekordauflage von
150 000 Exemplaren. Vgl. Stümke (1989), S. 53ff.

[33] Zitiert nach Stümke (1989), S. 78.

[34] Die folgenden Zitate zur Röhm-Affäre berufen sich auf Stümke (1989), S. 83ff. Für weitere Details vgl. ausführlich dort.

[35] Münchner Post vom 22.6.1931, zitiert nach Stümke (1989), S. 88.

[36] Auskunft per Email von LSVD-Rechtsanwalt Manfred Bruns vom 19. Juli 2003. Genaue statistische Angaben liegen aufgrund der unterschiedlichen Zuständigkeiten in den Bundesländern nicht vor.

[37] Der amerikanische Soziologe George Herbert Mead (1863-1931) prägte den Begriff des „Symbolischen Interaktionismus“. Er definierte darin unter anderem den Terminus der „Identität“ des Individuums: Diese ist demnach unterteilt in zwei Phasen der Selbstbestimmung, „Me“ und „I“. Während sich das Individuum als „Me“ über die Gesellschaft und die Übernahme seiner eigenen verschiedenen Rollen darin identifiziert, bezieht sich „I“ auf das „Individuelle“ am Individuum, jenen Teil des Gesellschaftsmitglieds, der nicht aus einer bestimmten Rollenübernahme resultiert, sondern ihn von den anderen Individuen unterscheidet und abgrenzt. „Identität“ besteht demnach aus einem permanenten Wechselspiel zwischen diesen beiden Elementen. Vgl. ausführlich Preglau (1997) bzw. Mead (1968).

[38] Die medientheoretischen Grundlagen zum Nutzenansatz stützen sich auf die Zusammenfassung der Ausführungen von Denis McQuail nach Burkart (1998), S. 218ff.

Ende der Leseprobe aus 113 Seiten

Details

Titel
Die Darstellung von Homosexualität in deutschen TV-Unterhaltungssendungen
Hochschule
Otto-Friedrich-Universität Bamberg
Note
2,7
Autor
Jahr
2003
Seiten
113
Katalognummer
V117559
ISBN (eBook)
9783640217557
ISBN (Buch)
9783640217694
Dateigröße
14747 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Darstellung, Homosexualität, TV-Unterhaltungssendungen
Arbeit zitieren
Vanessa Jung (Autor:in), 2003, Die Darstellung von Homosexualität in deutschen TV-Unterhaltungssendungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/117559

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Die Darstellung von Homosexualität in deutschen TV-Unterhaltungssendungen



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden