Körper als Gegenstand in den Werken aktueller Künstlerinnen


Examensarbeit, 2008

98 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1... Einleitung

2.. Körper als soziokulturelle Zeichensysteme

3. Subjekt, Identität und Körper im interdisziplinären Diskurs
3.1 Zum Wandel der Subjektauffassung seit der 'Moderne' bis heute
3.2 Körperlichkeit und Identität in sozialen Interaktionsprozessen

4. Manipulation des Körpers im Kontext von Medialisierungsprozessen und neuen Technologien
4.1 Subjekt, Identität und Körper im Zeitalter der Medien- und Informationstechnologien
4.1.1 Zwischen Körperkult und Körperlosigkeit
4.2 Veränderte Körperwahrnehmung durch Körper- und Biotechnologie

5... Ästhetische Zugänge zum Körper in der zeitgenössischen Kunst
5.1 Kunstgeschichtliche Hintergründe zur Herausbildung der zeitgenössischen Körperkunst
5.1.1 Zur Verrückung der semantischen Dimension von Kunst im 20. Jahrhundert
5.1.2 Aktionsmalerei und frühe Körperaktionen
5.1.3 Performances von Künstlerinnen
5.2 Befreiungsakte des Körpers als Bedeutungsträger kollektiver Codes und sozialer Zwänge
5.2.1 Der 'fremde' Körper
5.3 Visionen zur Erschaffung von Körpern im Zeitalter neuer Technologien
5.3.1 Digitale Körpereingriffe
5.3.2 Der maßgeschneiderte, reproduzierbare Körper
5.3.3 Der fleischliche Körper
5.4 Körperspuren als Stellvertreter physischer Anwesenheit und körperlicher Befindlichkeiten
5.4.1 Abject Art
5.4.2 Reise in den Körper

6.. Schlussbemerkung

Literaturverzeichnis

Internetquellen

Abbildungsverzeichnis

1. Einleitung

Unserer bewussten und unbewussten Wahrnehmung und Beobachtung ist von allen Dingen am stärksten der menschliche Körper ausgesetzt. Die Beschaffenheit unserer Haut, unser Gewicht oder auch unsere Kondition und Leistungsfähigkeit stehen täglich auf dem Prüf­stand und unterliegen regelmäßigen Korrekturen, Neu- und Umgestaltungen. Es sind vor allem die kollektiven Ängste vor der biologischen Begrenztheit des Lebens bzw. vor der Verwundbarkeit und Vergänglichkeit des Körpers, welche im Menschen jenen Drang des sich ständigen Wandelns hervorrufen. Seit in den 1960er und 1970er Jahren neue künstle­rische Energien freigesetzt wurden[1], ist der menschliche Körper in der Kunst weltweit in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung gerückt, und dies nicht mehr nur als abgebildete Reproduktion in Form von Zeichnungen, Gemälden und plastischen Darstellungen. Erst­mals in der Kunstgeschichte übernimmt er die Funktion von „Leinwand, Pinsel, Rahmen und Plattform“[2] zur Umsetzung ästhetischer Strategien und ist zum favorisierten Gegen­stand in den Werken zahlreicher Künstlerinnen und Künstler geworden.

In ihren Ausführungen zum Begriff der zeitgenössischen Kunst stellt die Kunstkritikerin und Redakteurin Millet fest: „Kunst ist zeitgenössisch geworden, indem sie uns von unse­rem alltäglichen Leben erzählt“[3]. Koshalek geht bei dem Begriff 'Zeitgenössische Kunst' grob von der Kunst von 1940 bis „heute“ (1998) aus[4]. In der vorliegenden Arbeit soll je­doch, in Anlehnung an Millet, die Summe der verschiedenen Strömungen der 1960er Jahre als eine Kontinuität der avantgardistischen Intentionen des beginnenden 20. Jahrhunderts und somit als Auftakt der zeitgenössischen Kunst begriffen werden[5].

Die zunehmende Auseinandersetzung mit dem Körper in der Kunstproduktion stellt eine Reaktion auf gesellschaftliche und anthropologische Diskurse dar. Solche Ansätze sollen im ersten Teil dieser Arbeit aufgegriffen werden, um die zentralen Anliegen innerhalb der Körperkunst seit den 1960er Jahren nachzuzeichnen und zu begründen. Im zweiten Kapitel stellt sich zunächst aus kulturwissenschaftlicher Perspektive die Frage, aus welchen kon­kreten Anreizen heraus wir Menschen ständig Transformationsakte am Körper durchfüh­ren. Weiterhin sollen im dritten Kapitel philosophische, soziologische und psychologische Bezüge aufgegriffen werden, um zu untersuchen, in welchem Verhältnis heute der Körper zum Subjekt und zur Identität steht. Hier wird, unter Berücksichtigung des Körperbezuges, vor allem versucht, die kontroversen theoretischen Konzeptionen des Subjektbegriffs nachzuzeichnen sowie der Frage nach den aktuellen Möglichkeiten einer stabilen und ein­heitlichen Identität nachzugehen.

Jones zufolge waren insbesondere die mit dem Kapitalismus verknüpfte Unterwerfung des Körpers und die „für den Kalten Krieg typische Angst vor Gleichförmigkeit“[6] für seine plötzliche Inszenierung in der Kunst verantwortlich. Diesen Faktoren ist die zunehmende Präsenz des Körpers in den Medien und in der Gentechnologie hinzuzufügen. Im vierten Kapitel sollen daher Aspekte aus dem Bereich aktueller Informations-, Bio- und Körper­technologien aufgezeigt werden, welche die kollektiven Körperkonzepte des späten 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts in hohem Maße prägen. Nach einer Skizzierung der kunstgeschichtlichen Voraussetzungen für die Entwicklung der zeitgenössischen Körper­kunst werden im fünften Kapitel die ästhetischen Strategien von Künstlerinnen zum menschlichen Körper vorgestellt und in Hinblick auf aktuelle Körper-, Subjekt- und Identi­tätsauffassungen reflektiert.

Um die scheinbar uneingeschränkte Vielfalt an Werken einzugrenzen, in welchen der Kör­per zum Gegenstand der Kunst erhoben wird, sind ausschließlich Arbeiten von Künstlerin­nen als Schwerpunkte der Untersuchung herangezogen worden. Diese geschlechtsspezifi­sche Eingrenzung erfolgt hauptsächlich aus dem Grunde, dass nicht vom geschlechtsneut­ralen, 'menschlichen Körper' die Rede sein kann, sondern dieser, dem allgemeinen Ver­ständnis nach, immer entweder 'weiblich' oder 'männlich' ist. Diese Arbeit behandelt dar­über hinaus vorwiegend performative Akte zum Körper. Ästhetische Zugänge dieser Art bilden die Basis für Körperdiskussionen in der aktuellen Kunst und sind geradezu bezeich­nend für die Auseinandersetzung von Künstlerinnen mit dem Körper. Häufig verwenden sie ihre eigenen Körper als gestalterisches Ausdrucksmittel für performative Inszenierun­gen, in denen die Person im Vordergrund steht[7] und sich Kunst und Leben vereinen. Sol­che prozessorientierten Performancekunstwerke sind, Ohff zufolge, fragilen Charakters und richten sich vor allem an ein unvorbereitetes, unvoreingenommenes Publikum „mit genügend hoher Toleranzschwelle und Erlebnisbereitschaft“[8]. Somit ist das Publikum auch immer ein direkter oder indirekter Teil des Kunstwerkes, was in der vorliegenden Arbeit exemplarisch vermittelt wird. Über die performativen Bezüge zum konkreten Körper hin­aus, umfasst diese Arbeit auch Kunstbeispiele, in welchen abgebildete Körper den Inhalt der Werke einnehmen, so z. B. in den Werken der Künstlerinnen Cindy Sherman und Inez van Lamsweerde.

Im vorliegenden Rahmen können nicht alle bedeutenden Werke der Künstlerinnen, die den Körper thematisieren, erschöpfend behandelt werden. Daher greift diese Arbeit einige äs­thetische Zugänge schwerpunktmäßig auf und erwähnt andere lediglich am Rand. Die Bei­spiele beschränken sich auf Werke, in welchen der Körper auf der Grundlage von Selbst­versuchen und neuen Körperwahrnehmungen als allgemein akzeptierter und vertrauter Bedeutungsträger von Identität sowie auch im Verhältnis zum Subjekt hinterfragt wird. Es soll untersucht werden, wie sich zeitgenössische Künstlerinnen körperlich und subjektiv wahrnehmen und ob sie, nachdem weiblicher Kunst während der gesamten Geschichte der Kunst und des Kunstmarktes kaum Beachtung geschenkt worden war, im Laufe der Zeit konkrete Identitätsvorstellungen entwickelt haben. Mit Ausnahme der fragmentarischen Umsetzung des Körpers durch Künstlerinnen wie Kiki Smith und Mona Hatoum, die die Abwesenheit des Körpers, welchen wir als solchen begreifen oder akzeptieren, ins Blick­feld nehmen und ihn durch seine Substanzen oder durch Innenperspektiven repräsentieren, untersucht diese Arbeit zu einem überwiegenden Teil Werke, in welchen sich Künstlerin­nen nicht mit Fragmentierungen, sondern mit dem kompletten Subjekt befassen.

Da die Arbeit sich ausschließlich auf Arbeiten von Künstlerinnen beschränkt, wird der im Kontext aktueller künstlerischer Körperdiskussionen häufig thematisierte Aspekt der Au­tomatisierung des Körpers hier nicht behandelt. Es bleibt zu erwähnen, dass dieser Aspekt in der Kunst, mit Ausnahme der prothetischen Körpererweiterungen durch Rebecca Horn, vorwiegend männlich konnotiert ist und durch Künstler wie Stelarc[9] in die öffentliche Aufmerksamkeit geraten ist.

Zusammenfassend ist anzumerken, dass die vorliegende Arbeit vor allem verdeutlichen soll, inwiefern aktuelle Subjekt- und Identitätsauffassungen (Kapitel 3) sowie die Trends der neuen Informations-, Bio- und Körpertechnologien unserer Zeit (Kapitel 4) sich auf den Bereich Kunst übertragen und in welcher Weise Künstlerinnen sie für ihre Werke auf­greifen und behandeln. Solchen Fragestellungen soll zunächst eine kulturanthropologische Perspektive vorangestellt werden, um das grundlegende Verhältnis der Menschen zu ihren Körpern zu erfassen.

2. Körper als soziokulturelle Zeichensysteme

Sowohl in den Naturvölkern als auch in unseren zivilisierten Kulturen neigt der Mensch dazu, die Welt durch Kategoriebildungen (z. B. Alter, Geschlecht, Herkunft, Schönheit, Verhalten) zu ordnen und wiegt sich innerhalb kultureller symbolischer Ordnungen und deren Strategien zur Überwindung kollektiver Ängste in Sicherheit. Dabei sieht sich das Individuum stets mit der sozialen Erwartung konfrontiert, eine bestimmte gesellschaftliche Rolle einzunehmen und wird bei Normabweichungen vom Kollektiv ausgegrenzt. Das körperliche Erscheinungsbild eines Menschen oder auch das Wissen um bestimmte Phä­nomene des Körpers, welche einem Menschen nicht immer direkt anzusehen sind (z. B. Personen, die sich als HIV positiv, als schwul, als lesbisch oder als Vegetarier 'geoutet' haben), definiert das, was wir als Geschlecht, Rasse, sexuelle Ausrichtungen, Zugehörig­keit zu gesellschaftlichen Randgruppen, als Andersartigkeit oder auch als Bedrohung be­greifen.

Körperlichkeit dient seit den Anfängen der Menschheitsgeschichte bis zur Gegenwart als ein Moment kultureller (geschlechtlicher, sexueller, ethnischer, klassenspezifischer usw.) Identitätsstiftung und Gruppenzugehörigkeit sowie als Medium zur Kontaktaufnahme mit göttlichen Sphären. Um solche Funktionen und die jeweiligen Körperkonzepte zu erfüllen, genauer gesagt um sie zu verkörpern, muss der nackt geborene und dem sozialen Gefüge seiner Umwelt ausgesetzte Mensch den anfangs kulturell wertlosen, rein biologischen Körper grundlegend verändern. Folglich bemalt er ihn, verformt ihn, versieht ihn mit Nar­ben und Piercings, bedeckt ihn mit Lehm, tätowiert ihn, setzt ihn den Eingriffen plastischer Schönheitschirurgie aus oder korrigiert ihn mit Schminke, Kosmetik, Schmuck und geeig­neter oder erlaubter Kleidung. Thévoz nennt dieses für alle Menschen typische Phänomen
der Körperveränderung den „autoplastischen Trieb“ und betont, dass innerhalb aller auf der Welt existierenden Menschenkulturen „nur der bemalte“, mit anderen Worten der verän­derte Körper, „ein Körper ist“ [10]

Seit der Prähistorie habe der Mensch, Thévoz zufolge, dem Symbol Vorrang gegenüber der praktischen Notwendigkeit gegeben. Dies sei an der frühen Anwendung von Farbstoffen erkennbar, welche auf frühe Körperbemalungen hindeuten. Bereits die Neandertaler hätten, vermutlich um das ewige Leben der Toten zu sichern, die Gebeine der Verstorbenen mit rotem Ocker bemalt, das als blutfarbenes Symbol für Vitalität und Fruchtbarkeit unter den magischen, religiösen und kriegerischen Farben für Körperbemalungen bis heute dominiere (Abb. 01) [11].

Auch den Menschenabbildungen in den Höhlenmale­reien ist zu entnehmen, dass der menschliche Körper in der Prähistorie der erste Träger kultureller Zeichen war[12]: während Tierabbildungen in Höhlenmalereien meist realistisch und sorgfältig ausgearbeitet sind, er­scheinen Menschenabbildungen oft abstrahiert und umrissartig oder mit erweiterten physiognomischen Gesichtszügen, etwa mit verlängerten Profilen, was darauf schließen lässt, dass die abgebildeten Menschen Abb. 01 sich mit Masken von Gottheiten oder Tieren dekorier­ten. Zusammen mit Tonplastiken aus Grabbeigaben und anderen Fundstücken bezeugt dies, dass in den verschiedenen vor tausenden von Jah­ren existierenden Kulturen der Mensch „seinem eigenen Bild nicht einfach gleichgültig gegenüberstand, sondern dass er von der Idee geradezu besessen war, es zu verändern, zu retuschieren, zu entstellen - ganz im Gegensatz zum Bild der Tiere“[13]

Bei den Naturvölkern der afrikanischen, amerikanischen, australischen und polynesischen Kulturkreise gibt es auch heute noch Eingeborenenstämme, die Eingriffe am Körper prak­tizieren, welche verschiedene von der jeweiligen Kultur abhängige Botschaften zum Aus-druck bringen. Vielen Körperverzierungen ist gemeinsam, dass sie einen bestimmten ge­sellschaftlichen oder politischen Status dokumentieren, in welchen die betreffenden Perso­nen aufgenommen werden.

Häufig wird durch Bemalungen, Tätowierungen oder Narbenschmuck eine mit dem Alter erreichte persönli­che Lebensphase gekennzeichnet. Übergangsriten (Abb.02), welche Heranwachsende „vom Naturzustand in die Sphäre der Kultur“[14] wechseln lassen, sind in vielen Kulturen üblich. Bei den weiblichen so genannten 'Ini- tiandinnen' sind Übergangsriten zeitlich meist mit der ersten Menstruation oder der Beschneidung verbunden.

Eine besonders extreme Form der „Inkarnation der ge­meinschaftlichen Ordnung“[15] besteht in der von Thévoz als „spürbare und sichtbare Weiterführung der Be­schneidung“[16] charakterisierten Schönheitsnorm des Narbenschmucks. Eine Verzierung mit Narben wird bei Frauen einiger afrikanischer Kulturen anlässlich des Erreichens bestimmter Lebenszyklen vorgenommen: die Narbenmuster sind Zeichen für Weiblichkeit,Schönheit und Wohlstand. Sie symbolisieren Zugehö­rigkeit zu bestim-mten Alters-, Wohn- oder Verwandt­schaftsgruppen und signalisieren, ob Mädchen schon ih­re erste Menstruation hatten und ob Frauen bereits ihr erstes Kind geboren haben. Nach dem Abstillen des ersten Kindes kommen weitere Narbenmuster hinzu. Frauen mit vielen aufwändigen Narbenverzierungen (Abb. 03 und 04) sind beim anderen Geschlecht beson­ders begehrenswert und gelten als äußerst attraktiv. Fehlender Narbenschmuck bekundet hingegen einen niedrigen gesellschaftlichen Status, zumal sich nicht jede Frau die mühsa­men und regelmäßigen Eingriffe leisten kann.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 03

Narbenschmuck bei einer Kaleri-Frau in Nigeria

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 04

Narbenschmuck auf dem Rücken einer Nuba-Frau, die mindestens ein Kind geboren hat

In einigen Kulturen gilt die explizite Verstärkung bestimmter Merkmale als Schönheitsideal. Ein Bei­spiel hierfür ist die Überbetonung der Halslänge bei Frauen in Birma (Abb. 05)[17]. Würden diese Frauen die Messingreifen von ihrem Hals ablegen, so müssten sie sterben, da ihr Hals ihren Kopf nicht mehr halten könnte.

Als männliches Schönheitsideal gelten in vielen Dörfern Afrikas, vor allem in Kau, Nyaro und Fun­gor, aufwändig gestaltete Gesichts- und Körperbe­malungen (Abb. 06) und auffällige Frisuren. Die Nuba-Männer der Altersstufe 17-30 bemalen sich mit in der Region anzutreffendem Ocker und sym­bolisieren damit manchmal bestimmte Tierarten.

Oft bestehen die Bemalungen jedoch aus abstrakten Darstellungen. Sie werden auf eine sorgfältig aufge­tragene Ölgrundlage aus tierischem oder pflanzli­chem Fett aufgebracht.

Körperbemalungen, die als rituelles Symbol zu fei­erlichen Anlässen oder mythischen Zeremonien aufgetragen werden (Abb. 07), sind häufig mit kol­lektiven Ängsten verbunden, welche im „Zerfall des Körpers“, dem „Zerbrechen der Physiognomie“, dem „Reich der Triebe“ und der „Auflösung des Ichs“[18] bestehen. Durch die Interventionen in die Beschaffenheit des lebenden Körpers und durch die Bemalung von Schädeln versuchen viele Kulturen diese Ängste zu überwinden. Gesichts- oder Schä­delmasken mit dick aufgetragenen Farben, weißem

Ton, dick eingeriebener Erde, Kalkgemischen oder pulverisierter Holzkohle werden dabei „zu einem bedeutungsvollen Zeichen in einem wohl magi­schen oder mythologischen Sinn“[19].

Die Menschen in den westlichen Industrieländern versuchen ebenfalls ihren natürlichen Körper zu überwinden. Sie streben gleichermaßen nach einem immer 'vollkommeneren' Körper, halten jedoch eine radikale Abgrenzung zur Natur durch beson­ders auffällige Körperbemalungen infolge der weit­gehend erreichten Naturbeherrschung[20] nicht mehr für notwendig. Deshalb versuchen sie, anstelle von Abb· 07 auffälligen Körperbemalungen, die Natur mit Hilfe Gesicbtsbemalung eines Mendi (aus dem südlichen Hochland von Pa- der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel der Kör- vpermodifikation zu bezwingen, z. B. durch Schön­heitschirurgie und neue Körpertechnologien.

Das menschliche Streben besteht, Dinkla zufolge, in der „Loslösung [...] von der Natur, von der er sich zunehmend unabhängig macht, um sie distanziert als Objekt seiner Er­kenntnis zu betrachten“[21]. Die primäre Funktion von Eingriffen am menschlichen Körper liegt in allen Kulturen darin, das Individuum von den biologischen Bestimmungen zu dis­tanzieren, sei es um seine Kommunikation mit der „Welt der Götter“ zu gewährleisten, um seine Zugehörigkeit zum Kollektiv, der „Welt der anderen“[22], offen zu legen oder beides. Die rituellen Körperverzierungen von Eingeborenenstämmen sind uns nicht vertraut und fügen uns Unbehagen zu. Dies liegt an der, von Thévoz in Anlehnung an Freud angegebe­nen, folgenschweren „Verdrängung und Sublimierung der Triebe“[23], durch welche sich jede Kultur errichte und was in Form neurotischer Anzeichen spürbar werde.

Betrachten wir jedoch, angesichts der Massen­euphorie in Deutschland und in anderen Län­dern anlässlich der WM 2006 und der EM 2008, die kulturellen Gepflogenheiten beim Fußballsport und die mit dem Fußballspiel generell verbundenen Körperriten (Abb. 08), so stellen wir fest, dass auch hier, in einem 'erlaubten' Rahmen, exzessive und primitive Körperbemalungen und Maskeraden gepflegt werden. Diese erfüllen bestimmte Funktionen, die der Stiftung einer kulturellen (Gruppen-)

Identität dienen[24].

In den zunehmend überbevölkerten Städten mit einer rasanten Geschwindigkeit der Le­bensabläufe besteht das Bedürfnis vieler Menschen heute darin, ihre persönliche Identität und Individualität zu betonen[25], ohne sich jedoch vollkommen gegenüber dem Kollektiv abzugrenzen. Immer verbreiteter sind Mischformen zwischen Merkmalen, welche die Zu­gehörigkeit zu bestimmten Gruppen unterstreichen und solchen, welche durch künstlich hervorgehobene individuelle Gesichtszüge oder andere persönliche Körpermerkmale die Besonderheit der individuellen Persönlichkeit oder 'Schönheit' herausstellen sollen. Bei­spiele hierfür sind besondere Kleidungs- und Frisurvarianten, ausgefallene Farben einzel­ner Kleidungsstücke, ausgefallenes Make-up, Schnurrbärte, Ohrschmuck[26], Halsketten, Armbänder, Piercings und Tätowierungen[27]. Das andere Extrem, nämlich die uneinge­schränkte Darbietung von Gruppenzugehörigkeit mittels äußerer Merkmale, welche die Funktion kultureller Identitätsstiftung erfüllen, spiegelt sich in der Uniformität der Mit­glieder militärischer Gruppen oder sportlicher Vereinigungen wider[28].

Das auf kulturbedingten Normen basierende Schönheitsempfinden unterliegt in allen Kul­turen permanenten Verschiebungen und Wandlungen, welche sich auf die Lebensspanne jedes Individuums sowie auch auf kulturgeschichtliche Epochen beziehen, die das Kollek­tiv anbelangen[29]. Die von der Schönheitsindustrie heute angebotenen Methoden, wie etwa chirurgische Eingriffe, Aerobic, Laserbehandlungen zur Beseitigung affenähnlicher Kör­perbehaarung, Erfindungen gegen Kahlköpfigkeit, künstliche UV-Strahlen zur Bräunung der Haut, chemisch aufgehellte Haarsträhnen oder Ge­sichtsmasken, die mit immer hochwertigeren Sub­stanzen locken und eine jugendliche Haut verspre­chen (Abb. 09), sind nur einige Beispiele des westlichen Trends, die alters- oder müdigkeitsbe­dingten Veränderungen des von Natur aus man­gelhaften Körpers zu beseitigen. Es geht dabei stets darum, einen vollkommeneren Körper herzu­stellen, der dem Anspruch auf einen erwünschten gesellschaftlichen Status genügt.

Wilk bezeichnet gesunde Haut als einen „Mythos“, der mit allen Mitteln aufrechterhalten werde, da er in der „kulturwissenschaftliche[n] Tradition, die gesellschaftliche Stellung der Frau mit dem Leibe zu analogisieren“[30] stehe, und daher mit sozialer Anerkennung ver­bunden sei. Die Haut werde traditionell mit dem Selbst verbunden, welches sich darunter befinde, zugleich fungiere sie zunehmend als undurchlässige und vor äußeren Angriffen schützende Grenzfläche des Menschen, der sich hinter einer sozial codierten Hülle ver­schanze:

„die Dualität der Körperoberfläche als verschlossener Schutzschicht und permeabler Membran entscheidet sich zugunsten der Abschottung, in der die Haut das Ich symbolisch gegen äußere Übergriffe panzert und andererseits wie ein Gefängnis verschließt“[31].

Das weibliche Bekleidungs- Schmink- und Kosmetikverhalten ziele, so Thévoz, in den westlichen Zivilisationen vorwiegend darauf ab, eine diskret täuschende Unterstreichung der natürlichen Anatomie zu inszenieren, z. B. rote Wangen als erotisierendes Zeichen von Scham, rote Lippen als Zeichen von Gesundheit und Fruchtbarkeit oder glatte und gesunde Haut als Zeichen von Jugend: „was die zivilisierte Kosmetik von der wilden Kosmetik unterscheidet, ist nicht die Ablehnung autoplastischer Techniken, sondern die anmaßende Vorspiegelung von Natürlichkeit“[32]. Gemeint ist hier eine, von den Menschen erfundene, dezente 'Natürlichkeit', welche über der 'ersten' Haut, der den Menschen nach innen ab­grenzenden, möglichst glatten und nicht augenscheinlich hervortretenden Membran, eine 'zweite' Haut bildet. Die Erweiterung der 'ersten' Haut des Menschen durch eine 'zweite' (= Kleidung) und eine 'dritte' (= Wohnraum) thematisierte McLuhan im Jahr 1995[33]. Aus seinen Gedanken ist zu schließen, dass nicht bewusst steuerbare Körpervorgänge, die die Haut als die 'erste' Hülle des Menschen 'nach innen' durchlässig machen, z. B. Blut, Or­gane, körperliche und seelische Verletzungen, Schweiß oder andere Ausscheidungsproduk­te bis hin zum alternden Körper, Krankheit und Sterben, in unserer heutigen westlichen Gesellschaft zwar zur Kenntnis genommen, im alltäglichen, öffentlichen Leben aber zu­meist tabuisiert und verdrängt werden. Düchting spricht von einer „Fassadenästhetik“, welche mit Hilfe der Medien, der Werbung, der Freizeit und der digitalen Welten unsere Gesellschaft präge und am Ende des 20. Jahrhunderts einen 'Körperboom' geschaffen ha­be, in welchem die realen physischen Gegebenheiten verleugnet würden[34].

Psychologische Phänomene wie z. B. der Drang zur Selbstverletzung bei pubertierenden Mädchen[35], die sich erst durch das Ritzen ihrer Haut an Armen und Händen wieder selbst spüren, bezeugen, dass viele Menschen ihrem stummen und unterworfenen Körper voller gesellschaftlicher Einschreibungen eine autoaggressive Sprachform geben, welche sie of­fen gegen die gesellschaftliche Realität und ihre innere Ohnmacht protestieren lässt.

Die Mitte der 1970er Jahre in New York und London als Reaktion auf die idealistische und optimistische Hippie-Bewegung entstandene Punkszene ist ein Revolutionsversuch gegen gesellschaftlich festgelegte Instanzen und Muster. Die Punks ironisieren mit einer selbst zerstörerischen Manipulation ihrer Körper die westliche Trugwelt. Solche Gegenbewegun­gen verspotten neben allen gesellschaftlichen Instanzen und politischen oder ökologischen Themen auch die westlichen Schönheitsnormen, indem sie diese ironisierend und überspitzt zur Schau stellen (Abb. 10).

Doch die sozialen Einschreibungen in den menschlichen Kör­per und die anderen Ergebnisse der bürgerlichen Zivilisation erregen nicht bloß in solchen Subkulturen Protest. Spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts gilt die Kunst als Instanz, welche öffentlich Konventionen zerstört. Repräsentationsfor­men der Gesellschaft werden seitdem von Künstlerinnen und Künstlern unter die Lupe genommen, hinterfragt und de- konstruiert.

Doch welche kollektiven Auffassungen von Körper, Subjekt und Identität liegen zeitge­nössischen ästhetischen Strategien von Künstlerinnen zum Körper zugrunde? Um dies deutlich zu machen, soll den Ausführungen zur zeitgenössischen Körperkunst zunächst eine wissenschaftliche Grundlage vorangestellt werden. Somit beziehen sich die anschlie­ßenden Ausführungen auf die Debatte um den modernen und spätmodernen Subjektbegriff und auf zeitgenössische Theorien zum Verhältnis zwischen Subjekt, Identität und Körper.

3. Subjekt, Identität und Körper im interdisziplinären Diskurs

3.1 Zum Wandel der Subjektauffassung seit der 'Moderne' bis heute

Die Konstruktionen des neuzeitlichen Subjekts, folglich auch die kunstgeschichtlichen Thesen und die kunstkritischen Positionen der 'Moderne', stützen sich auf den ästhetischen Diskurs Kants. Als wichtigster philosophischer Denker der deutschen Aufklärung betonte er die Transzendenz des unabhängigen, auf Verstand basierenden Subjekts und erlöste es aus einer Welterklärung mit übersinnlichen und theologischen Bestimmungen. Gemäß der Anforderung der Aufklärung an den Menschen, sich aus seiner „selbst verschuldeten Un­mündigkeit“[36] zu befreien, setzten die philosophischen Diskurse der Moderne ein vom ge­sellschaftlichen Kontext unabhängiges Individuum bzw. ein Genie voraus, das sich bereits im 17. Jahrhundert in der durch Decartes mit der Methode des Zweifelns begründeten Phi-losophie vom Sein offenbart hatte. Das so genannte 'kartesianische Subjekt', bzw. das männlich geprägte, „körperlose Cogito"[37] („Ich denke, also bin ich") stand im Mittelpunkt moderner Subjektauffassungen:

„die Verdrängung des Körpers deutet darauf hin, dass die Anhänger der Moderne sich wei­gern, die Eingebundenheit sämtlicher kultureller Handlungen und Objekte in die Gesellschaft anzuerkennen, denn nur über den Körper ist das Subjekt konsequent mit seinem gesell­schaftlichen Umfeld verbunden"[38].

Die kontroverse aktuelle Diskussion um das Subjekt dreht sich darum, wie dieses konkret und im gesellschaftlichen Kontext zu bestimmen ist. Beer zufolge, der 2003 gemeinsam mit Grundmann die interdisziplinären Debatten um das Subjekt zusammenfassend nachzu­zeichnen versucht hat, hängt die gescheiterte neuzeitliche Konstruktion von einem souve­ränen Subjekt mit dessen zeitlichen Zusammenfall mit der modernen bürgerlichen Herr­schaftsordnung zusammen. Darin sei die ursprünglich proklamierte Befreiung eines auto­nomen Subjektes nur bestimmten Teilen der Gesellschaft vorbehalten geblieben. Dies habe zum Verlust eines eindeutig bestimmbaren und in sich schlüssigen, einheitlichen Subjekt­begriffs geführt, welcher in allen gesellschaftlichen Kontexten und für beide Geschlechter anwendbar wäre[39]:

„das transzendentale Ich, das ohnehin nicht zugänglich ist, bleibt auf diese Weise als erkennt­nisermöglichend unangefochten, trägt allerdings nicht dazu bei, einen Subjektbegriff zu gene­rieren, der unmittelbar Verwendung für die Sozialwissenschaften oder gesellschaftliche Kon­texte finden könnte"[40].

Bei seiner historischen Nachzeichnung der Subjektkonzeptionen spricht Keupp von einer 'Ersten Moderne', der Zeit ab der Aufklärung, der Industrialisierung und der anwachsen­den Bürokratisierung im 18. Jahrhundert, und einer 'Zweiten Moderne', der Zeit ab der Globalisierung seit Mitte/Ende des 20. Jahrhunderts. Er weist darauf hin, dass die Ausbil­dung einer selbstbezogenen und von sozialen Phänomenen abgekapselten, beständigen Individualität der 'Ersten Moderne' mit der Befreiung der bürgerlichen Gesellschaft von den Abhängigkeiten der feudalen und religiösen Ordnung des Mittelalters einhergegangen sei. Dem Wandel zu Beginn der 'Zweiten Moderne' sei ein Bruch mit wesentlichen institu­tionellen Normen zuzurechnen, welche dem Subjekt in der industriellen Moderne einen „egozentrierten Individualismus"[41] ermöglicht hätten und welche, Klinger zufolge, zugleich den alleinigen Anspruch des männlichen Geschlechtes legitimiert hätten, durch den Subjektbegriff vertreten zu sein[42]. Ehemals unangefochtene zentrale Strukturvorgaben, wie patriarchalisch geprägte Familienformen, Normal-Arbeitsverhältnisse, Karriereverläu­fe, Geschlechterrollen, Einheit, Kontinuität, Kohärenz, Entwicklungslogik und Fortschritt, hätten, Keupp zufolge, während des Übergangs von der 'Ersten Moderne' zur 'Zweiten Moderne', zunehmend an Substanz verloren, indem ihnen Konzepte wie Kontingenz, Dis­kontinuität, Fragmentierung, Bruch und Reflexivität gegenübergestellt worden seien. Dies habe die heute vorherrschenden Subjektkonzeptionen grundlegend verändert.

Die Integration der individuellen Freiheit in ihre materielle und soziale Umwelt durch Marx sowie durch Freuds Theorien vom Einfluss des Unbewussten auf das Verhalten des Subjekts veränderten schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Wahrnehmung von Körper, Geist und Verhalten. Im Anschluss an Marx und Freud verlor das von Keupp als 'domesti­ziert' bezeichnete, nach außen isolierte Subjekt zunehmend seine ursprünglich propagierte Souveränität, als dem auf Selbstbezogenheit und Beherrschung ausgerichteten (männli­chen) Ich die Grundsteine seiner Autonomie genommen wurden[43].

An der Psychoanalyse und der marxistischen Gesellschaftstheorie orientierte sich die von der Frankfurter Schule entwickelte Kritische Theorie[44], eine sozialphilosophische Denk­weise, welche Subjektivität als Produkt aus Natur und Gesellschaft auffasste[45] und die Ohnmacht des Subjekts hervorhob, sich in Anbetracht der gescheiterten Aufklärung und angesichts seiner gesellschaftlichen und psychischen Grundlagen zu emanzipieren. Die Arbeiten von Horkheimer, Adorno und Marcuse lieferten nicht nur wichtige Impulse für die Studentenbewegung der 1960er Jahre, sondern auch für die gegen Ende der 1960er Jahre entstandene Kritische Theorie des Subjekts mit Sozialisationstheoretikern wie Dah- mer, Horn und Lorenzer. Diese Autoren distanzierten sich von der Auffassung eines rein psychoanalytisch bestimmbaren Subjekts[46] und verlagerten die Perspektive auf die Soziali­sation des fortan an einen Leib gekoppelten Subjekts. Es gelang ihnen erstmals, Psycho­analyse und Sozialwissenschaft zu verknüpfen:„in sinnlichen Erinnerungsspuren von Interaktionserfahrungen wird ein körperliches Subjekt geformt [...]. Dieses Subjekt [...] macht Bekanntschaft mit der Härte der Normen, mit denen seine Gesellschaft seine Artikulationen regulieren will. Es steht also immerfort unter Anpassungszwang - genauso wie umgekehrt die Gesellschaft, die gerade durch seine Widerständigkeit sich herausgefordert sieht, es sich gefügig zu halten“[47].

Gegen Ende der 1960er Jahre entstand in Frankreich die postmoderne philosophische Denkrichtung des Poststrukturalismus, zu deren bedeutenden Vertretern Michel Foucault und Jacques Lacan gehören. Die Poststrukturalisten äußerten eine fundamentale Skepsis gegenüber der Möglichkeit eines aufgeklärten, d. h. selbst bestimmten und von der Gesell­schaft abgeschiedenen Individuums und stellten, in Anlehnung an Nietzsche, dem traditio­nell einheitlichen Subjektkonzept eine Ich-Auffassung gegenüber, welche von Kritikern oftmals als 'Tod des Subjekts'[48] und als Ende der subjektiven Verantwortung diskreditiert wurde.

Die Wesenszüge der Selbstfindung seien, Lacan zufolge, narzisstischer und egoistischer Art, gegenseitige Anerkennung werde lediglich durch den kollektiven Bewusstseinsakt der Sprache oder die symbolische Ordnung sozialer Systeme ermöglicht[49]. Jedoch lebe das eigennützige, „nach Einssein mit seinem scheinbaren Selbstbild strebende Subjekt“[50] in einem ständigen Abwehrkampf mit dem Du, das gemäß sozialdarwinistischer Prinzipien als eine Existenz- und Identitätsbedrohung empfunden werde. Damit führt Lacan Freuds Gedanken weiter, dem zufolge die unzerstörbare Neigung zur aggressiven Selbstsucht und Rivalität nicht durch ihr Instrument des Privateigentums und demnach nicht durch kapita­listische Gesellschaftsformen geschaffen worden sei[51]. Stattdessen stelle sie eine dem nar­zisstischen Menschen[52] angeborene Eigenschaft dar[53].

Das von Lacan entwickelte Spiegelstadium[54] besagt, dass der Mensch vom ersten Augen­blick der frühkindlichen visuellen Wahrnehmung seines eigenen Spiegelbildes an, ein be­
einträchtigtes Verhältnis zu seinem eigenen Ich entwickle, das von vergeblichen Identifika­tionsversuchen mit dem eigenen Abbild bzw. dem faszinierenden und scheiternden Ideal- Ich („Ich ist ein anderer“[55] ) und somit durch Selbstentfremdung gekennzeichnet sei. Auch Lefevbre wendet den Begriff der Selbstentfremdung auf den Menschen des 20. Jahrhun­derts an. Dieser lebe in einer dialektischen Beziehung zu sich selbst, da jedes der Produkte, welche er im Verlauf seiner Anstrengungen, die Natur zu beherrschen, hervorgebracht ha­be, (z. B. „die Ware, das Geld, das Kapital, der Staat, die Rechtsinstitutionen, die ökono­mischen und politischen Apparate [und] die Ideologien“[56] ) als eine jeweils außerhalb des Menschen liegende Wirklichkeit mit eigenen Gesetzen funktioniere und daher zu einer Lähmung der menschlichen Entwicklung und Selbstverwirklichung beitrage.

Busch kritisiert im Jahre 2006 die durch viele Autoren dargelegte Einschätzung, dass das durch Freud thematisierte Unbehagen der Menschen in der Kultur[57] nicht mehr auf den heutigen Menschen zutreffe: Freud habe sich nicht bloß auf die kulturell unterdrückten Sexualtriebe, sondern vor allem auch auf die seelischen Triebe bezogen, vor allem auf den „menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb“[58], welcher durch die kulturellen Zwänge, aber auch durch die kollektiven sozialen Ängste hervorgebracht werde. Dem ist hinzuzufügen, dass das durch Freud erkannte menschliche Unbehagen und das gegenseiti­ge Misstrauen sich angesichts der Furcht vor einer weltweiten Vernichtung noch weiter verstärkt haben. Dies resultiert aus den Folgen des Zweiten Weltkrieges, der Furcht vor dem Einsatz von Atombomben sowie aus den gegenwärtigen Diskussionen um den welt­weiten Terrorismus, den Klimawandel und die damit zusammenhängenden Naturkatastro­phen.

Die Beherrschung der Natur durch kulturelle Errungenschaften erscheint in Anbetracht der wissenschaftlichen und technischen Fortschritte (z. B. Häuserbau, Kanalbau usw.[59] ) im gegenwärtigen kollektiven Bewusstsein immer abwegiger. Busch zufolge führen die zu­nehmend verbreitete ethische Grundhaltung des Pazifismus, die moralische Distanzierung von den weltweit verbreiteten Vernichtungswaffen, die wachsende Kritik an den Unge­ rechtigkeiten des Globalisierungsprozesses[60] und an der Umweltschädigung sowie das zu­nehmende ökologische Verantwortungsbewusstsein zu einem stetig wachsenden Span­nungsverhältnis zwischen dem neuen Bedürfnis nach Einklang mit der Natur und dem menschlichen Urstreben nach Naturbezwingung.

Die breit gefächerten Debatten um die Dimensionen und das Konzept des Subjekts erstre­cken sich von der Auffassung einer vollständigen Auflösung des erkenntnistheoretisch und psychoanalytisch geprägten Ich bis hin zum vehementen Festhalten am Subjektbegriff der großen Denker der Moderne[61] und spiegelt die zeitgenössische Krise des Subjekts wider. Was die aktuellen verschiedenen Subjekttheorien gemein haben, ist, dass der Mensch erst in intersubjektiven, sozialisationsbedingten und erzieherischen Kontexten zum Subjekt[62] wird. Für die Entdeckung des Identitätsbegriffs in den Sozialwissenschaften hat vor allem die Psychoanalyse mit ihren Schriften zur Ich-Psychologie gesorgt[63]. Inwiefern die Wahr­nehmung von Körperlichkeit für die unterschiedlichen Identitätsauffassungen des Subjekts eine Rolle spielt, sollen die folgenden Ausführungen offen legen.

3.2 Körperlichkeit und Identität in sozialen Interaktionsprozessen

Neuere entwicklungs- und sozialpsychologische Ansätze, mit Vertretern wie Erikson, Mead, Piaget und Kohlberg, gehen davon aus, dass der einzelne Mensch sich aktiv mit seiner materiellen und seiner sozialen Umwelt auseinandersetzt. Anders als Freud begrei­fen sie das Kind als soziales Wesen, das ein aktives und auf seine Umwelt angewiesenes Selbst besitze. G. H. Mead betont beispielsweise die kindliche spielerische Übernahme konkreter Rollen Anderer, welche als Voraussetzung für die Übernahme allgemeiner Rol­len Anderer in Wettbewerbsspielen diene. Durch das Einnehmen konkreter und allgemei­ner Rollen sowie das Begreifen und die Reflexion eigener und fremder Erwartungen wür­den Interaktionen geschaffen und es werde die Ausbildung von Identität ermöglicht[64]. Kohlberg prägte die Theorie der Kognitiven Sozialisation bzw. Selbstsozialisation. Diese besagt, dass die Entwicklung von gesellschaftlichen Rollenbildern eine Folge der geistigen Einordnung des kindlichen Wissens, seiner eigenen Wahrnehmungen und seines Verständ­nisses der Wirklichkeit sei[65].

Krappmann zufolge bemühe sich das Individuum kontinuierlich um eine Balance zwischen der Befriedigung der eigenen Bedürfnisse und der Anerkennung durch Andere. Es müsse seine Identität, in einer sich unentwegt wandelnden Welt mit sich ändernden Normen und Mustern, ständig neu entwerfen und behaupten und sich dabei den gegensätzlichen Anfor­derungen und Bedürfnissen an sein Ich bewusst sein. Krappmann geht davon aus, dass „die psychische Struktur eines Individuums als die innere Reproduktion eines sozialen Sys- tems“[66] zu verstehen sei, welches nur ohne Repression auf menschliches Denken und Han­deln Chancen zur Wahrung einer Identität biete[67]. Die situationsspezifischen sozialen In­teraktionen bzw. das kommunikative Handeln im Sozialisationsprozess bestimmen demzu­folge die von der Biographie abhängige Ich-Identität, indem sie vom Individuum bean­spruchen, dass es sich in jeder Situation neu präsentiere, um als Interaktionspartner ange­nommen zu werden. Krappmann spricht von einer „Inkonsistenz der Normensysteme und den Widersprüchlichkeiten zwischen den Handlungskontexten in sozialen Systemen“[68] und klassifiziert diese als sozialstrukturelle Faktoren. Diese verursachen, so Krappmann, dass Identität nicht „als ein subjektives, im Belieben des Individuums stehendes Bestreben“ aufgefasst werden könne, sondern mit situationsspezifischem Verhalten in sozialen Inter­aktionen gleichzusetzen sei. Zwar würden sich immer mehr Menschen bemühen, durch bestimmte Merkmale ihrer Persönlichkeit eine besondere Note zu geben, welche sie von anderen unterscheide, jedoch könne, wie Krappmann 1969 herausgestellt hat, individuelle Besonderheit eines Menschen nie völlig losgelöst von den Auffassungen Anderer gesehen werden, da dem Menschen ohne die Akzeptanz durch Andere Isolation drohe[69]. Identität sei erst dann gegeben, wenn ein Mensch die Leistung und Anforderung erbringe, welche für die Teilhabe an Handlungs- und Kommunikationsmomenten von Anderen erwartet werde.

[...]


[1] Vgl. Noever, Peter (Hg.), Out of actions. Aktionismus (1998), S. 9.

[2] Warr, Tracey (Hg.), Kunst und Körper (2005), S. 11.

[3] Millet, Catherine, Zeitgenössische Kunst (2001), S. 18.

[4] Vgl. Noever, Peter (Hg.), Out of actions. Aktionismus (1998), S. 10.

[5] Vgl. Millet, Catherine.: Zeitgenössische Kunst (2001), S. 14.

[6] Jones, Amelia, in: Warr, Tracey (Hg.), Kunst und Körper (2005), S. 21.

[7] Vgl. Borzello, Frances, Wie Frauen sich sehen (1998), S. 168.

[8] Ohff, Heinz, „Gedanken über die Performance nach einer Sternstunde der Performance Art“, in: Künstlerhaus Betha­nien (Hg.), Performance - Eine andere Dimension (1983), S. 7.

[9] Vgl. hierzu beispielsweise Stelarcs künstliche dritte Hand, sowie seine Aufhängeaktionen an seiner eigenen, von Haken durchbohrten Haut, in: Stelarc, „Von Psycho- zu Cyberstrategien:Prothetik, Robotik und Tele-Existenz“, in: Kunstforum international, Die Zukunft des Körpers I, Bd. 132 (1995).

[10] Thévoz, Michel, Bemalte Körper (1984), S. 7.

[11] Vgl. Thévoz, Michel, Bemalte Körper (1984), S. 12 u. 56.

[12]

[13] Zur geografischen Verbreitung und rituellen Durchführung von Ziernarben, Tätowierungen und ähnlichen Eingriffen in den Körper s. a. a. O., S. 39ff. und 80ff; und Morris, Desmond, Körpersignale. Vom Scheitel bis zum Kinn, S. 68, 141, 159, 187, 217.

[14] Gröning, Karl, Geschmückte Haut (1997), S. 169.

[15] Thévoz, Michel, Bemalte Körper (1984), S. 61.

[16] A. a. O., S. 45.

[17] Vgl. Morris, Desmond, Körpersignale. Vom Scheitel bis zum Kinn, S. 217.

[18] Thévoz, Michel, Bemalte Körper (1984), S. 25.

[19] A. a. O., S. 14.

[20] Gegenteiliges wird vom Kollektiv heute gerne verdrängt und gerät erst bei Naturkatastrophen in Erinnerung und ins kollektive Bewusstsein, insbesondere dann, wenn das Unglück westliche, zivilisierte Industrieländer trifft.

[21] Dinkla, Söke, „Transformationen des Biologischen in der zeitgenössischen Kunst“, in: Stiftung Wilhelm Lehmbruck Museum (Hg.), Unter der Haut (2001), S. 23.

[22] Foucault, Michel, Die Heterotopien. Der utopische Körper (2005), S. 32.

[23] Thévoz, Michel, Bemalte Körper (1984), S. 30.

[24] Vgl. Gebauer, Gunter, „Fußball: Nationale Repräsentation durch Körper-Inszenierungen“ in: Körper-Inszenierungen (2000), S. 153 u. 154.

[25] Vgl. Morris, Desmond, Körpersignale. Vom Scheitel bis zum Kinn, S. 23.

[26] Zu den kulturellen Ursprüngen und verschiedenen symbolischen Bedeutungen des Ohrschmucks vgl. a. a. O., S. 140ff.

[27] Die Bezeichnung 'Tätowierung' stammt vermutlich vom tahitischen tatou, das 'verwunden bedeutet', wurde 1769 von Kapitän Cook in Europa eingeführt und tauchte anfänglich bei Matrosen, Soldaten und Sträflingen auf, die mit den primitiven Kulturen in Kontakt geraten waren. Heute sind kleinere Tätowierungen und Piercings in der Bevölkerung weit verbreitet und spiegeln nur noch bei Ganzkörpertätowierungen weiterhin die Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Randgruppen wider, vgl. Thévoz, Michel, Bemalte Körper (1984), S. 80 u. 81.

[28] Vgl. Morris, Desmond, Körpersignale. Vom Scheitel bis zum Kinn, S. 23.

[29] Zur Thematik der Schönheitsideale und ihrer historischen Entwicklung vgl. Gründl, Martin, in: Hauner, And rea/Reichart, Elke (Hg.), Bodytalk (2004), S. 16ff , und: Posch, Waltraud, Körper machen Leute. Der Kult um die Schönheit (1999), S. 37ff; s. hierzu auch: http://www.tagesspiegel.de/zeitung/Sonderthemen;art893,1896804 (07.02.2007).

[30] Wilk, Nicole M., Körpercodes. Die vielen Gesichter der Weiblichkeit in der Werbung (2002), S. 153.

[31] A. a. O., S. 152.

[32] Thévoz, Michel, Bemalte Körper (1984), S. 77; zum grenzüberschreitenden Schminkverhalten und dessen bewusstem Realitätsverlust im Theater und im Zirkus vgl. a. a. O., S. 86ff.

[33] Vgl. McLuhan, Marshall, Die magischen Kanäle. Understanding Media (1995), S. 186ff.

[34] Düchting, Susanne, „'Shit happens' : Körpersubstanzen in der Kunst seit den 60er Jahren“ (2000), S. 177.

[35] Vgl. Zell. Andrea, Valie Export. Inszenierung von Schmerz (2000), S. 90ff.

[36] Ausdruck Kants, zitiert nach Freud, Sigmund, Das Unbehagen in der Kultur (1953), S. 124., S. 11.

[37] Jones, Amelia, in: Warr, Tracey (Hg.), Kunst und Körper (2005), S. 20.

[38] Ebd.

[39] Beer, Rafael, „Das Subjekt zwischen Auflösung und Erfindung" (2004), S. 79.

[40] A. a. O., S. 86.

[41] Keupp, Heiner/Hohl, Joachim (Hg.), in: Subjektdiskurse im gesellschaftlichen Wandel (2006), S. 13.

[42] Vgl. Klinger, Cornelia, in: Subjektdiskurse im gesellschaftlichen Wandel (2006), S. 99ff.

[43] Vgl. Keupp, Heiner/Hohl, Joachim (Hg.), in: Subjektdiskurse im gesellschaftlichen Wandel (2006), S. 14 u. 15.

[44] Der Kritischen Theorie liegen die Schrift Traditionelle und kritische Theorie von Horkheimer aus dem Jahr 1937 sowie die 1944 von Horkheimer und Adorno veröffentlichte Essay-Sammlung Dialektik der Aufklärung zugrunde.

[45] Vgl. Keupp, Heiner/Hohl, Joachim (Hg.), Subjektdiskurse im gesellschaftlichen Wandel (2006), S. 22 u. 23.

[46] Zur Überwindung des freudschen biologistischen Triebmodells durch die materialistische Sozialisationstheorie Loren- zers vgl. Busch, Hans-Joachim, in: Keupp, Heiner/Hohl, Joachim (Hg.) Subjektdiskurse im gesellschaftlichen Wandel (2006), S. 212 ff.

[47] A. a. O., S. 211.

[48] Vgl. Pagel, Gerda, Jacques Lacan zur Einführung (1989), S. 33.

[49] Vgl. a. a. O., S. 41 u. 109ff.

[50] A. a. O., S. 34.

[51] Vgl. Freud, Sigmund, Unbehagen in der Kultur (1930), S. 151.

[52] Vgl. a. a. O., S. 156.

[53] Pagel zufolge sei diese Neigung im Denken Hitlers und in der faschistischen Ideologie aufzufinden und werden durch die medial vorgegebenen Feindbilder und Heldenvorbilder verstärkt, welche das Spannungsfeld zwischen Ablehnung und Anziehung sowie zwischen Herrschaft und Unterwerfung repräsentieren, in welchem sich der menschliche Körper befinde; vgl. Pagel, Gerda, Jacques Lacan zur Einführung (1989), S. 34.

[54] Zu Lacans Spiegeltheorie vgl. a. a. O., S. 27ff.

[55] S. a. a. O., S. 53.

[56] Vgl. Prokop, Dieter (Hg.), Henri Lefevbre. Kritik des Alltagslebens (1977), S. 172.

[57] Freud hat 1930 in seiner Abhandlung Unbehagen in der Kultur den psychischen Zustand des modernen Menschen seiner Zeit beschrieben, der mit den Schwierigkeiten leben musste, sein sowohl sexuelles als auch sein seelisches Triebleben mit der gesellschaftlichen Ordnung zu vereinbaren, s. Freud, Sigmund, Abriss der Psychoanalyse. Unbeha­gen in der Kultur (1930), S. 90-191.

[58] A. a. O., S. 190.

[59] A. a. O., S. 120 u. 121.

[60] Vgl. Busch, Hans-Joachim, in: Keupp, Heiner/Hohl, Joachim (Hg.) Subjektdiskurse im gesellschaftlichen Wandel (2006), 220.

[61] Vgl. hierzu den Ordnungsversuch Keupps und Hohls in ihrer Sammlung und kritischen Reflexion verschiedener sozial theoretischer Konzepte hinsichtlich der Beständigkeit oder Auflösung des modernen Subjektbegriffs, in: Keupp, Hei­ner/Hohl, Joachim (Hg.), Subjektdiskurse im gesellschaftlichen Wandel (2006), S. 23.

[62] Vgl. Grundmann, Matthias/Beer, Raphael (Hg.), Subjekttheorien interdisziplinär, S. 2.

[63] Vgl. Krappmann, Lothar, Soziologische Dimensionen der Identität, 8. Auflage (1993), S. 18-20.

[64] Vgl. Garz, Detlef, Sozialpsychologische Entwicklungstheorien (2006), S. 45ff.

[65] Vgl. Kohlbergs Analyse der Geschlechterrollen-Konzepte während der kindlichen, kognitiven Entwicklung in: Kohl­berg, Lawrence, Zur kognitiven Entwicklung des Kindes (1974), S. 334ff.

[66] Krappmann, Lothar, Soziologische Dimensionen der Identität, 8. Auflage (1993), S. 23.

[67] A. a. O., S. 31.

[68] A. a. O., S. 10.

[69] S. a. a. O., S. 7 u. 8.

Ende der Leseprobe aus 98 Seiten

Details

Titel
Körper als Gegenstand in den Werken aktueller Künstlerinnen
Hochschule
Universität Paderborn  (Kunst/Musik/Textil)
Note
1,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
98
Katalognummer
V117207
ISBN (eBook)
9783640191840
ISBN (Buch)
9783640191970
Dateigröße
2999 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Körper, Gegenstand, Werken, Künstlerinnen
Arbeit zitieren
Isabel Weinrich (Autor:in), 2008, Körper als Gegenstand in den Werken aktueller Künstlerinnen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/117207

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