Die Frauenfiguren in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm


Magisterarbeit, 2008

92 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Einführung in die Thematik
2.1 Zum Begriff „Märchen“
2.2 Ursprung der Märchen
2.3 Merkmale der Gattung „Märchen“

3 Über „Kinder- und Hausmärchen“
3.1 Das Volksmärchen
3.2 Die Märchensammlung der Brüder Grimm
3.3 Die Märchenfiguren

4 Typologie der Frauenfiguren in den Märchen der Brüder Grimm
4.1 Der passive Typ
4.2 Der aktive Typ
4.3 Der gemischte Typ
4.4 Die bösen Figuren
4.4.1 Herkunft und Bedeutung des Hexenbegriffs
4.4.2 Das Hexenbild in den KHM
4.4.3 Die Stiefmutter
4.5 Die guten Figuren
4.5.1 Die Frau als Heldin
4.5.2 Die Prinzessin

5 Vorüberlegung zur Basisinterpretation
5.1 Die Brüder Grimm
5.2 Einflusse auf die Entstehung der KHM
5.3 Überzeugungssystem
5.4 Die Märchenbeiträgerinnen
5.5 Grimms Märchen
5.6 Die Märchensammlung als Erziehungsbuch

6 Märcheninterpretation
6.1 KHM 50, Dornröschen
6.1.1 Inhaltsanalyse
6.1.2 Interpretation des KHM 50, Dornröschen
6.1.3 Analyse der Frauenfiguren
6.2 KHM 53, Schneewittchen
6.2.1 Inhaltsanalyse
6.2.2 Interpretation des KHM 53, Schneewittchen
6.2.3 Analyse der Frauenfiguren
6.3 KHM 15, Hänsel und Gretel
6.3.1 Inhaltsanalyse
6.3.2 Interpretation des KHM 15, Hänsel und Gretel
6.3.3 Analyse der Frauenfiguren

7 Die Frauenfiguren in den KHM
7.1 Das Märchen – Ein Spiegelbild der Wirklichkeit ?
7.2 Die Rolle der Frau um 1800 bis zur Mitte des 19. Jhs
7.3 Zum Frauenbild in den KHM der Brüder Grimm

8 Zusammenfassung

9 Literaturverzeichnis
9.1 Primärliteratur
9.2 Sekundärliteratur
9.3 Nachschlagwerke

1 Einleitung

„Nein, es sind rätselvolle Tatsachen, die Frauen – so wenig neu es ist, so wenig kann man ablassen, davor zu stehen und zu staunen“ – sagt der Dichter Spinell in Thomas Manns Novelle Tristan.“[1]

„Eine der kompliziertesten, unausdeutbarsten, aber zweifellos auch reizvollsten Erscheinungen auf dieser Welt ist die Frau.“[2]

Diese und andere Aussagen versuchen das Wesen der Frau zu beschreiben. Nicht nur die gesellschaftliche Sitte weist ihr einen bevorzugten Platz zu, sondern auch in der Kunst und der Literatur nimmt die Frau eine zentrale Stellung ein. Es ist kein Zufall, dass die weiblichen Gestalten auch im Märchen eine bedeutsame Rolle spielen.

Gegenstand der folgenden Arbeit sind die Frauenfiguren in den Kinder- und Hausmärchen (KHM) der Brüder Wilhelm und Jacob Grimm. Diese Märchen sind in höchstem Maße von und durch Frauen bestimmt gewesen. Nicht nur, weil die meisten Märchenhelden weiblich sind, sondern auch, weil die meisten Gewährspersonen der Brüder Grimm Frauen waren.

Diese Untersuchung soll herausfinden, welche Rolle die Frau in den Märchen spielte, wie sie dort präsentiert wurde und welche Verhaltensmuster, Charakterzüge und Probleme sie hatte. Die Entstehungsgeschichte und die Quellen der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm werden ebenfalls erläutert. Es wird primär eine Verbindung der Frauenfiguren in den KHM zu der Situation der Frau im 19. Jahrhundert hergestellt.

Dieser Arbeit liegen die Prinzipien der kognitiven Hermeneutik zugrunde. Laut dieser literaturwissenschaftlichen Methode wird die folgende Untersuchung in eine Basis- und eine Aufbauarbeit unterteilt.

Die methodisch gelenkte Textarbeit soll den Vorteil haben, dass sie neben einer Analyse auf der Basis von Inhalt und sprachlicher Gestaltung auch Informationen über die Entstehungsgeschichte der Texte liefert. Bei der gründlichen Untersuchung im Basisbereich wird darüber hinaus soziologisches, psychologisches und biographisches Wissen einbezogen. Dieser Teil gliedert sich wiederum in Basisanalyse und Basisinterpretation. In der Aufbauarbeit werden die Kinder- und Hausmärchen in einem historischen und ideengeschichtlichen Kontext eingeordnet und kontextbezogen erforscht.

Die von mir gewählte Vorgehensweise sieht so aus, dass in einem ersten Schritt eine Einführung in das Gebiet der Volkserzählungen, und insbesondere der Märchen, vorangestellt wird. Diese Gattung, ihre Geschichte innerhalb der einschlägigen Forschung und die typischen formellen Merkmale sollen dazu beschrieben werden. Die Untersuchung beschränkt sich auf die Fassung der Ausgabe letzter Hand von 1857. Dieser allgemeine Teil soll ein theoretisches Hintergrundwissen und einen inhaltlichen Rahmen für diese Arbeit schaffen.

Da das Märchen kulturgeschichtliche und psychologische Sachverhalte reflektiert, symbolisiert und interpretiert, ist auch das Bild der Frau im Märchen äußerst facettenreich. Deswegen werden in der Basisanalyse die Frauenfiguren in Gruppen eingeteilt und eine Typologie erstellt. Die Texte der Brüder Grimm sind durch Kontraste gekennzeichnet. Hier wеrden viele ambivalente Figuren dargestellt, die sich in gute und böse, aktive und passive Typen einteilen lassen.

Im Anschluss daran wird in der Basisinterpretation näher auf die ausgewählten Frauenmärchen Dornröschen, Hänsel und Gretel und Schneewittchen eingegangen. Diese Märchen wurden deswegen ausgewählt, weil deren weibliche Figuren gute Beispiele für die verschiedenen Gruppen der Basisanalyse sind. Sie stellen auch die Rolle der Frau in der Gesellschaft mit ihren sowohl positiven als auch negativen Seiten bildhaft dar und zeigen, wie Frauen in dieser Zeit sich anzupassen hatten. In diesem Teil der Arbeit werden nicht nur die moralischen Botschaften der Märchen aufgezeigt, sondern auch die Einflüsse auf die Entstehung der Texte beleuchtet und die Gründe für die Gestaltung der jeweiligen Frauenfiguren untersucht.

Die deskriptive Erfassung der Frauenfiguren in den Texten der Brüder Grimm soll dazu dienen, einen besseren Eindruck von der Frau im Märchen zu gewinnen.

In dem letzten Teil dieser Untersuchung wird ein besonderes Augenmerk auf die Einstellung der Kinder- und Hausmärchen gegenüber der Frau und ihrem Rollenverhalten gelegt. Die moralischen Vorstellungen, die durch diese Märchen vermittelt werden, sind vom Weltbild der jeweiligen Erzähler oder Erzählerinnen abhängig gewesen. Diese Texte sind nicht nur von den Märchenerzählern und -hörern, sondern auch von den kulturellen Ereignissen beeinflusst worden. Sie wurden von den Wertvorstellungen ihrer Zeit geprägt und an die Bedürfnisse des Lesepublikums angepasst. Ob und inwieweit sich das typische Frauenbild des 19. Jahrhunderts in der Gestaltung der Frauenfiguren dieser Märchen wiederspiegelt, sind ebenfalls Fragen, die in dieser Arbeit beantwortet werden. Die bedeutsamste Märchensammlung, die Kinder- und Hausmärchen, die durch die Brüder Grimm aufgezeichnet wurde, lässt sich historisch in die Epoche der Romantik einordnen. Die Geschlechterrollen und das Frauenideal dieser Zeit werden dargestellt und mit der sozialen Situation und dem typischen Verhaltensmuster der Frau im Märchen verglichen.

Die Texte verkörpern altes, überliefertes Gedankengut. Sie sind ihrem Wesen nach Volkserzählungen, die in ihrer mündlichen Überlieferung Spiegel ihrer Zeit sind. In den Märchen der Brüder Grimm wird damit auch ein relevantes Frauenbild entworfen, das zum Verständnis der sozialen Vergangenheit in hohem Maße beiträgt.

In der Schlussbetrachtung wird ein Resümee gezogen und eine Beantwortung aller behandelten Kernfragen geboten.

2 Einführung in die Thematik

2.1 Zum Begriff ʺMärchenʺ

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der literarischen Gattung Märchen. Als Einführung in die Thematik soll diese Gattung anhand ihres Ursprungs, ihres Verständnisses und ihrer Merkmale kurz erläutert werden.

Das Wort ʺMärchenʺ ist eine Verkleinerungsform des mittelhochdeutschen Begriffs maere und bedeutet so viel wie Gerücht, Erzählung oder Bericht. Unter maere wurden ursprünglich gesprochene, vorgetragene Erzähltexte unterschiedlicher Art verstanden. Im Spätmittelalter wurde das Wort enger gefasst und war die Bezeichnung für eine erfundene, unwahre Erzählung. Der Begriff "Märchen" unterlag einer Bedeutungsveränderung im Laufe der Zeit. Es gibt bisher in der Forschung zahlreiche Definitionsversuche. Im deutschen Sprachraum haben sich relativ feste Definitionen durchgesetzt.

Unter einem Märchen verstehen wir seit Herder und den Brüdern Grimm eine mit dichterischer Phantasie entworfene Erzählung besonders aus der Zauberwelt, eine nicht an die Bedingungen des wirklichen Lebens geknüpfte wunderbare Geschichte, die hoch und niedrig mit Vergnügen anhören, auch wenn sie diese unglaublich finden.[3]

Heute wird das Märchen definiert als eine phantasievolle, frei erfundene Prosaerzählung, die keinerlei wirkliche Begebenheiten als Grundlage hat. Es wird das Unglaubwürdige und Unwahrscheinliche im Gegensatz zu maere angesprochen. „Zauber, Wunder, Übernatürliches sind für das allgemeine Gefühl mit dem Begriff ›Märchen‹ verbunden.“[4] Die in den Märchen beschriebenen Ereignisse und Gestalten sind phantastisch und wunderbar im Sinne, dass sie im Widerspruch zu natürlichen Gegebenheiten stehen. „Das eigenste Wesen des Märchens ist das Wunder und der das Wunder bewirkende Zauber“[5]

Diese kinderfreundlichen Erzählungen involvieren auch bedeutungsvolle Erkenntnisse und Wahrheiten des Lebens. „Obwohl Märchen eine übernatürliche Welt mit wunderbaren, magischen und mythischen Aspekten darstellen, enthalten sie in ihrer tieferen Symbolik doch auch ganz durchschnittliche und normale Menschheitswerte.“[6] Sie leugnen nicht die Schwierigkeiten des realen Lebens, sondern zeigen auch Wege aus der Gefahr. Auf Figurenebene wird oftmals ein typisierender Kampf von Gut gegen Böse ausgetragen, wobei am Ende zumeist das Gute siegt. „Märchen geben ein Bild des Menschen und seiner Beziehung zur Welt.“[7] Diese Geschichten sind im Volk entstanden, frei erfunden, besitzen aber eine tiefgründige Thematik.

2.2 Ursprung des Märchens

Das Märchen ist eine der ältesten Überlieferungen der Menschheit überhaupt. Die phantasievollen Erzählungen finden sich zu allen Zeiten und bei allen Völkern dieser Welt.

Alte Kulturformen und Riten spiegeln sich in ihnen wider, Naturereignisse sind in manchen verarbeitet worden, geschichtliche Ereignisse, wie sie in den Sagen zu finden sind, lassen sich in manchen von ihnen erkennen, aber vor allem auch soziale und in deren Folge innerseelische Konflikte bilden das Material, aus denen sie gestaltet worden sind.[8]

Das genaue Alter des Märchens ist schwer zu bestimmen, „[…] da eine zeitliche Rückverfolgung wegen der fehlenden schriftlichen Überlieferung so gut wie ausgeschlossen sei“[9]. Die heute bekannten Vorformen des Märchens stammen aus dem Orient. Das älteste Märchenbuch ist die über 300 Stücke umfassende arabische Sammlung "Tausendundeine Nacht", die ins 10. Jh. zurückdatiert. In der Antike stellt das Märchen noch keine selbstständige Gattung dar, sondern ist Bestandteil anderer epischer Dichtungen. „Nach gelegentlich märchenhaften Zügen in literarischen Texten des Mittelalters nimmt die schriftliche Märchenüberlieferung erst seit dem sechzehnten Jahrhundert deutlich Gestalt an.“[10]

In Deutschland prägten insbesondere die Brüder Grimm den Begriff ʺMärchenʺ. Sie zuerst haben die Märchen ernst genommen und als Geschichtsquellen gesammelt und aufgeschrieben. Erst durch ihre Märchensammlung "Kinder- und Hausmärchen" (1812-15) erlangte das Märchen auch im europäischen Raum höchste Popularität. Auch die Märchenforschung hat ihren Ursprung in der Arbeit der Brüder Grimm. Im 19. Jahrhundert begann man über Herkunft, Ursprung und Deutung des Märchens nachzudenken. Das Erforschen seiner Funktion in der Gesellschaft und seiner Wesensart trat im 20. Jahrhundert in den Vordergrund. In der historischen Entwicklung des Märchens sieht man die Entwicklung von matriarchalischen Gesellschaftsformen bis zur frühbürgerlichen Emanzipation.

Die Ursprünge des Märchens liegen im Mythos und im Epos. „Jedes Märchen enthält sowohl folkloristische wie naturdeutende wie auch tiefenpsychologischen Anteile.“[11] Die phantastischen Erzählungen stellen Bilder innerseelischen Geschehens dar, indem sie das Persönliche mit dem Mythischen verbinden. „Gemeinsam allen Märchen sind die Überreste eines in die älteste Zeit hinauf reichenden Glaubens, der sich in bildlicher Auffassung übersinnlicher Dinge ausspricht.“[12]

Früher wurden die Märchen im Kreise der Erwachsenen erzählt und von Mund zu Mund, von Generation zu Generation übertragen. Heute werden sie als Kinderliteratur bezeichnet. „Daß Kinder von den Märchen stärker angesprochen werden als die Erwachsenen, hängt mit unserer psychischen Entwicklung im Laufe der Menschheitsgeschichte zusammen.“[13]

Die Fortentwicklung betrifft nicht nur die wirtschaftlichen Aspekte unserer Gesellschaft, sondern darüber hinaus auch die Art unseres Denkens. „In einer Welt, in der Einzelwissenschaften und die Technik der Entwicklung weit voraus sind und Moral, Gesittung und Kunst nicht folgen können, hat das Märchen keinen Platz mehr.“[14] Die phantasievollen Erzählungen, diese Jahrhunderte alte Tradition, leben aber heute noch weiter, und zwar als aktuelle Begleiter der kindlichen Entwicklung.

Ob das Märchen als Kindergeschichte oder als Erzählung für Erwachsene betrachtet wird, ist schließlich gleichgültig, denn zweifelsohne bieten die Märchen uns die Gelegenheit, ein besseres Verständnis von uns selbst sowie der Welt zu gewinnen.[15]

2.3 Merkmale der Gattung Märchen

Die Form des Märchens stellt eine eigene Gattung dar. In dieser Untersuchung wird näher auf ihre gattungsspezifischen Merkmale und erzähltheoretischen Charakteristika eingegangen.

Das Märchen ist eine Prosaerzählung in kurzer Form, die wunderbare Begebenheiten zum Gegenstand hat und keinen direkten Bezug auf historische Ereignisse, Personen oder Orte nimmt. Es unterscheidet sich von anderen Gattungen von Literatur und Geschichten, obwohl Überlappungen möglich sind.

„Das europäische Volksmärchen, von dem der moderne Begriff des Märchens abgezogen worden ist, teilt die Neigung Übernatürliches, Wunderhaftes in seinem Rahmen aufzunehmen, mit anderen Erzählgattungen, mit Sage, Legende, Mythos, Fabel.“[16] Bei dem Märchen und bei den anderen literarischen Formen besteht zwar die Vorliebe für das Unwirkliche, aber die außergewöhnlichen Sachen oder Figuren werden in den Texten auf verschiedene Art und Weise behandelt.

Die Ergriffenheit, Gebanntheit des Sagenerzählers und der in der Sage vorkommenden Gestalten unterscheiden sich von der Selbstverständlichkeit, mit der der Märchenerzähler das Ungewöhnliche, Wunderbare berichtet und die Märchenfigur ihm begegnet.[17]

Das Märchen ist frei erfunden und knüpft nicht an tatsächlich Vorgefallenes an, während die Sage „emotional, ethisch, sachlich, zeitlich und räumlich gebunden“[18] ist. Mythen handeln von Göttern, Menschen, Halbgöttern und haben sogar einige religiöse Elemente. Im Gegensatz dazu nehmen Märchen keinen Bezug auf religiöse oder historische Ereignisse. Das phantastische Element kommt in sprechenden Tieren, Gegenständen und Verwandlungen zum Ausdruck.

Die Form des Märchens ist durch eine klare Aufteilung und relativ einfache Struktur geprägt.

Inhaltlich steht meist ein Held im Mittelpunkt, der Auseinandersetzungen mit guten und bösen, natürlichen und übernatürlichen Kräften bestehen muss. „Der niemals individuell gezeichnete Held vertritt die natürliche Lebensordnung, die ihn trägt und stärkt.“[19] Die anderen Figuren sind auf diese Hauptperson in irgendeiner Art bezogen, als dessen Partner, Auftraggeber oder Helfer. In vielen Märchen tauchen phantastische Wesen wie Hexen, Zauberer, Zwerge, Elfen, Feen oder Fabeltiere wie Drachen und Einhörner auf. „Der Held und auch sein Widerpart, der Antiheld, sind in der Lage, mit allen Wesen, die ihnen begegnen, in Verbindung zu treten, seien es Menschen, Tiere, Pflanzen, Dinge, über- und unterirdische Wesen.“[20]

Die wichtigsten Personen werden zu Beginn des Märchens dargestellt. Sie sind gewöhnliche Menschen, die sich im Laufe der Geschichte zu einem wirklichen Helden oder zu einer Heldin entwickeln. Die Protagonisten sind „[...] nicht in erster Linie Individualitäten, Persönlichkeiten, Charaktere, sondern eben Figuren, Träger und Erleider des Geschehens“[21], deren Gefühle, Kämpfe und Schwächen nicht erklärt oder hinterfragt werden. „Dennoch wird im Märchen auch das Innere der Menschen sichtbar, aber eben nur sichtbar, also aufgrund der äußeren Erscheinung und Handlung nachvollziehbar.“[22]

Im Märchen ist es oft erforderlich, dass die Helden Hürden überwinden, wobei ihnen meist menschliche oder tierische Helfer zur Seite stehen. Die Handlung dreht sich zumeist um das Erfüllen von Aufgaben, Lüften von Geheimnissen oder die Rettung von Menschen. Übernatürliche Erscheinungen, wie z. B. Drachen, Riesen oder böse Hexen, zeigen die Art und die Schwierigkeit der Herausforderung an.

„Es fehlen im Märchen die Zwischentöne, die Schattierungen zwischen Schwarz und Weiß, Gut und Böse, die den Alltag ausmachen.“[23] Die Märchenfiguren vertreten als Archetypen menschliche Eigenschaften und stellen die Welt so dar, wie sie sein sollte. Sie zeigen sich innerhalb des Märchens meist in Form von zwei Gegenspielern, Alt und Jung, Held und Antiheld oder stark und schwach. Oft behandelt das Märchen den Gegensatz zwischen Gut und Böse, mit der Konsequenz, dass die Guten belohnt und die Bösen bestraft werden. Während des Ablaufs der Handlung können immer wieder magische oder übernatürliche Elemente auftauchen.

Dummheit, Faulheit, Wahrheit oder Konfliktsituationen sind meistens Themen im Märchen. Diese Prosaerzählungen vermitteln ein Spiegelbild der realen Welt. „Die Ausgangsmotive sind jedoch Geschehnisse des alltäglichen Lebens wie Erwachsenwerden, Werbung, Hochzeit und Mangelsituationen, also Einsamkeit, Armut, Verweisung, Kinderlosigkeit.“[24] Alles wird in einfacher Sprache, ohne tragischen Ton erzählt. Das Wunderbare sieht man mitten im Alltag und es wird als etwas Selbstverständliches dargestellt. „Niemand ›wundert‹ sich, wenn Tiere sprechen, Menschen in allerlei Steine, Blumen oder Tiere verzaubert werden oder nach schrecklichem Tode wiederauferstehen.“[25] Das Wunder gehört einfach zu dem Märchen, genauso wie die Tiere zu der Fabel.

In sprachlicher Hinsicht finden sich in den phantastischen Erzählungen viele Redensarten und Sprichwörter, die zum Ziel haben, die Leser oder die Hörer zu unterhalten oder zu belehren. Die Märchen schenken den Leuten nicht nur eine aufregende Erzählung, sondern auch „Unterhaltung und Existenzerhellung in einem“[26].

Die Märchen haben lange Zeit als mündliche Überlieferung gelebt und „sind ein Teil der Volksliteratur“[27] geworden. Märchen können je nach Erzähler unterschiedlich sein. Deutlich zu trennen ist das Kunstmärchen vom Volksmärchen.

Die Kunstmärchen werden von einem klar identifizierbaren Autor verfasst, aber bewusst durch diesen auch beeinflusst. „Der Schöpfer eines Kunstmärchens kann sich eng an ein vom Volksmärchen her vertrautes Schema halten oder völlig frei phantastische Wundergeschichten fabulieren - aber die Vorstellung des Übernatürlich-Wunderbaren oder zumindest des Unwirklichen bleibt mit dem Märchen verbunden.“[28] Als einer der bekanntesten Kunstmärchenautoren ist Hans Christian Andersen zu nennen. Einer der wesentlichen Initiatoren der Kunstmärchenproduktion in Deutschland war Johann Gottfried Herder.

Im Gegensatz zu Kunstmärchen ist das Volksmärchen als vorliterarische Form von mündlicher Weitergabe und von Volkstümlichkeit geprägt. Weitere erzähltheoretische und gattungsgeschichtliche Charakteristika von Volksmärchen werden in dem nächsten Teil dieser Untersuchung dargestellt.

3 Über „Kinder- und Hausmärchen“

3.1 Das Volksmärchen

„Zum Begriff des Volksmärchens gehört, daß es längere Zeit in mündlicher Tradition gelebt hat und durch sie mitgeformt worden ist.“[29] Die kurze Prosaerzählung aus freier Erfindung berichtet von phantastischen, wunderbaren Begebenheiten ohne zeitliche und räumliche Festlegung der Wirklichkeit. Das echte Volksmärchen, dem kein bestimmter Urheber zugeordnet werden kann, ist aus Erzählungen des Volkes hervorgegangen. In Deutschland wird mit dem Begriff Märchen in erster Linie die Volksmärchensammlung ʺKinder- und Hausmärchenʺ (1812) der Brüder Grimm assoziiert, in der nur ein Teil der damaligen Märchen aufgezeichnet werden konnte.

Bevor die Volksmärchen von Sammlern fixiert und redigiert wurden, war die mündliche Weitergabe für lange Zeit die ausschließliche. „[...] Volksmärchen von der Art, wie die Brüder Grimm und ihre Nachfahren sie aufgezeichnet haben“ sind „jahrhundertelang in Europa umgelaufen, von Mund zu Mund weitergegeben“[30] worden.

Die Volksmärchen leben heutzutage zur Freude der Kinder weiter. Diese Prosaerzählungen besitzen klare Strukturen, sind leicht verständlich und haben einen bildhaft anschaulichen Stil. Sie sind aber gar nicht „[…] so einfache und eindeutige Geschichten, wie es auf den ersten Blick scheinen mag“[31].

Aufgrund der mündlichen Erzähltradition besitzt das Volksmärchen keine konstante Form. Es tritt in zahlreichen und unterschiedlichen Varianten auf. Die Grundstruktur der Erzählung, Thema und Ablauf der Handlung werden in ihren charakteristischen Zügen beibehalten. Der Literaturwissenschaftler Max Lüthi nennt deswegen ein weiteres Charakteristikum des Märchens, nämlich: „Die Darstellung- und Erzählweise namentlich des europäischen Volksmärchens tendiert zur Linie“[32]. Es wird nur das Wichtigste in einer Geschichte optisch bildhaft geschildert, wobei ablenkende Beschreibungen ausgeblendet werden. Bei dem Volksmärchen besteht die Vorliebe für den einfachen Umriss und eine zielgerichtete Handlungslinie. Der Bau der Erzählung ist durch Festigkeit, Klarheit und Exaktheit charakterisiert. Es gibt keine Tiefengliederung, keine ausführliche Vorstellung der Personen und deren Umwelt. Das Märchen überzeugt durch eine klare Handlungsstruktur, die für ein leichtes Verständnis sorgt.

Die Figuren, die Orte, die Tiere, die Gegenstände, einfach alles in einem Volksmärchen ist verbindungslos dargestellt. Die Märchenhelden gehen immer alleine ihre Wege. „Sie sind weder an ihre Umwelt noch an ihre Vergangenheit noch an irgendwelche Seelentiefen oder seelischen Deformationen gebunden, sie sind von all diesem abgeschirmt, isoliert.“[33] Durch diese Isolation wird gerade möglich, alles mit allem zu verknüpfen, ohne dass sich der Märchenleser darüber wundern müsste. In der Erzählung werden nur bestimmte Momente und Personen dargestellt, die Bezug zum Geschehen haben. Die Märchenfiguren sind reine Handlungsträger, die ein klares Ziel verfolgen. „Der Stil des Märchens isoliert und verbindet, der Held des Märchens ist der Isolierte und eben deshalb universal Beziehungsfähige, potentiell Allverbundene.“[34]

Die Volksmärchen sind so abstrakt formuliert, dass die ganze Geschichte aus mehreren aneinandergereihten selbstständigen Gliedern besteht. Es gibt keine Gleichzeitigkeit und keinen Rückbezug auf frühere Episoden.

Man findet auch den so genannten Dreierrhythmus als beherrschendes Element in vielen Volksmärchen. Die Zahlen werden als Symbole mit einer magischen Bedeutung dargestellt, die den Märchenhelden Glück oder Pech bringen. „Die Dreizahl betrifft nicht nur Figuren und Requisiten: drei Drachen, drei Brüder, drei Prinzessinnen, drei Zaubermittel, sondern auch die Episoden.“[35] Die dreifache Wiederholung von Szenen und Sprüchen erleichtert die Merkfähigkeit einzelner Handlungsabläufe und Textpassagen.

Eine weitere Besonderheit der Gestaltung des Märchens, vor allem des Volksmärchens, ist seine Formelhaftigkeit. Es beginnt häufig mit bestimmten Eingangsformeln wie „Es war einmal […]“[36]. Diese drei Worte schaffen Einstieg in die Geschichte und zeigen deutlich, dass es keine feste Zeit und keinen festen Raum in der Handlung gibt. Der Schluss wird oft mit „[…] und wenn sie nicht gestorben sind leben sie noch heute“[37] formuliert. Diese typische Schlussformel impliziert, dass in der fiktiven Phantasiewelt des Märchens die Helden und Heldinnen für ihre guten Taten mit dauerhaftem Glück belohnt werden. Das Volksmärchen nimmt die Perspektive des Erfolg- und Glücklosen ein, der nach den ihm verwehrten Dingen strebt und diese schließlich am Ende der Geschichte auch erreicht.

Erst mit der Sammlung ʺKinder- und Hausmärchenʺ setzte die wissenschaftliche Erforschung des Märchens ein. Die Art, wie hier die Volkserzählungen aufgenommen und mitgeteilt wurden, hat nicht nur die Märchenforschung, sondern auch die Volkskunde als Wissenschaft begründet.

Volksmärchen in diesem Sinn sind individuell bearbeitete Erzählungen mit überkommenen Inhalten, Motiven und Symbolen, die in einfacher Sprache und nicht komplexer Struktur die soziale Wirklichkeit des Mangels durch die wunderbare Funktion der Glückserfüllung poetisch ausgleichen.[38]

3.2 Die Märchensammlung der Brüder Grimm

„Der Begriff Märchen ist in seiner heutigen Verwendung tatsächlich durch die Brüder Grimm konzipiert worden.“[39] Die fantastischen Prosaerzählungen wurden von Mund zu Mund und von Generation zu Generation weitergegeben. Sie entstanden in Zeiten, in denen sich die Menschen mit Singen, Spielen und dem Erzählen frei erfundener Geschichten unterhielten.

Die Sprachwissenschaftler Jacob (1785-1863) und Wilhelm Grimm (1786-1859) waren fasziniert von diesen Zeugnissen der Volksliteratur. Sie zeichneten die Märchen in mühevoller Kleinarbeit auf und „[…] künstlerisch stilisiert“[40]. Im Jahre 1812 wurde der erste Band der Sammlung ʺKinder- und Hausmärchenʺ veröffentlicht. Ende Dezember 1814 erschien der zweite Band der Märchen.

Die Grimms haben die überlieferten Bestände zu einer eigenständigen Kunstform gefügt, indem sie vor allem den poetischen und fiktiven Charakter des Erzählten hervorhoben und so nach romantischem Dichtungsverständnis das Mögliche als notwendiges Korrektiv des Wirklichen bewußtmachten.[41]

Nach den Brüdern Grimm beinhaltet der Begriff ʺVolksmärchenʺ die so genannten Tiermärchen, Schwänke und die eigentlichen Volksmärchen, die weiter in legendenartige Märchen, Zaubermärchen und Feenmärchen unterteilt werden.

Von den 211 Grimmschen ›Kinder- und Hausmärchen‹ der Ausgabe letzter Hand von 1857 sind nur etwa 60 dargestellt genuine Zaubermärchen, weil nur in ihnen typische und gattungskonstituierende Wunder vorkommen.[42]

Die Zaubermärchen, die Gegenstand dieser Untersuchung sind, gehören zu den bekanntesten und den beliebtesten, da sie auf sehr interessante Weise zauberisch Irreales mit Realem verbinden und von Wundern mit Selbstverständlichkeit erzählen. In der Märchensammlung findet man auch eine große Anzahl Legenden, Schwänke wie auch Fabeln. ʺDer Wolf und der Fuchsʺ, ʺDer Hase und der Igelʺ, ʺDer Wolf und der Menschʺ, sind nur einige der bekanntesten Tiergeschichten. „Mehrere von ihnen stehen im Buch auch dicht beieinander, was auf ihre Zusammengehörigkeit hinweist und sie dadurch auch als besondere Gattung kennzeichnet.“[43]

Der Titel der Sammlung ʺKinder- und Hausmärchenʺ spielt eine sehr wichtige Rolle. Schon darin kommt zum Ausdruck, dass diese Geschichten an alle Hausgenossen, sowohl an die Erwachsenen als auch an die Kinder, gerichtet werden. Die Grimms betonten so den erbaulichen Charakter der Märchen und erklärten dazu: „Kindermärchen werden erzählt, damit in ihrem reinen und milden Lichte die ersten Gedanken und Kräfte des Herzens aufwachen und wachsen; weil aber einen jeden ihre einfache Poesie erfreuen und ihre Wahrheit belehren kann, und weil sie beim Haus bleiben und forterben, werden sie auch Hausmärchen genannt“[44].

Die ʺKinder- und Hausmärchenʺ stellen die klassische Märchensammlung der Weltliteratur dar, sie zeichnen sich vor allem durch Reichtum an Erzählstoffen aus vielen Ländern und Epochen aus.

Grimms Märchen repräsentieren […] die höchst divergierenden Intentionen zweier nachschaffender Sammler und Bearbeiter und etwa 40 verschiedener Beiträger, 30 unterschiedlicher gedruckter oder handschriftlicher Quellen aus sechs Jahrhunderten und fast allen deutschen Sprachgebieten.[45]

Sie sind in über 160 Sprachen übersetzt worden und werden als das weltweit meistverbreitete und meistgelesene Buch der deutschen Kulturgeschichte bezeichnet.

3.3 Die Märchenfiguren

Obwohl die Märchen kurze Prosaerzählungen sind, schaffen sie in ihrer Art und Weise, die ganze Welt zu widerspiegeln. Sowohl die Menschen, die Tiere als auch die Natur, die Gegenstände und sogar das Wunderbare, das Übernatürliche finden ihren Platz in der phantastischen Geschichte. „Das Märchen ist ein Universum im kleinen – und da jede echte Dichtung ihre Eigenart schon in ihren einzelnen Teilen entfaltet, prägt sich die Neigung des Märchens, die Welt zu umfassen […].“[46]

Eindeutig ist es, dass im Mittelpunkt des Märchens der Mensch steht. Die männlichen und weiblichen Helden, die oft Schwierigkeiten zu bewältigen haben, werden nicht individuell gezeichnet, sondern „[…]in der Begegnung mit der Welt“[47]. Die Märchenfiguren sind durch eindeutige Gegensätze in ihren Eigenschaften charakterisiert, wie z. B. schön und hässlich, gut und böse, dumm und schlau. Aus diesen Gegensätzen ergibt sich oft ein Konflikt, der die Geschichte in Gang setzt.

Gegenstand dieser Arbeit sind die Frauenfiguren in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Es ist kein Zufall, dass man bei der Betrachtung dieser Erzählungen häufiger auf weibliche als auf männliche Gestalten stößt. Das Vorherrschen der Frauen in den Märchen wird auch dadurch erklärt, dass die Gewährsleute der Grimms vorwiegend Frauen waren. „Und heute lernen die Kinder die Märchen vor allem durch ihre Mütter, Großmütter, Tanten, Kindergärtnerinnen oder Lehrerinnen kennen.“[48] Es ist also ganz klar, dass die Frau nicht nur in vielen Märchen, sondern auch bei der Entstehung und Überlieferung der Geschichten die Hauptrolle spielt.

4. Typologie der Frauenfiguren in den Märchen der Brüder Grimm

In dem ersten Teil der Basisarbeit soll durch eine ausführliche Analyse und Darstellung bestimmter Märchen gezeigt werden, welche Rolle die Frau in den Erzählungen der Brüder Grimm spielt, über welche Fähigkeiten sie verfügt und welche Verhaltensmuster und Charakterzüge sie hat. Das Bild der Frau erscheint als sehr bunt und vielschichtig. Es gibt weibliche Gestalten in unterschiedlichen familiären Situationen, in verschiedenen sozialen Rollen und äußeren Erscheinungen. Um diese Untersuchung zu strukturieren und klarer zu machen, werden die Frauenfiguren in Gruppen eingeteilt und folgende Typologie erstellt:

Soziales Verhalten

1) Der passive Typ

- Paradoxe Passivität, Hilflosigkeit oder sogar Apathie zeichnen das Verhalten der weiblichen Figur aus.

2) Der aktive Typ

- Die typischen Geschlechterrollen-Erwartungen männlich/aktiv und weiblich/passiv werden durchbrochen.

- Die Frau ist tätig und handgreiflich bei der Bewältigung der Schwierigkeiten.

3) Der gemischte Typ

- Die am Anfang passiven Heldinnen verändern in bestimmten Situationen ihre Haltung.

Moralische Qualitäten

1) Die bösen Figuren

- Die Frau als Hexe oder Stiefmutter wird oft im negativen Sinn stilisiert.

- Die bösartigen Frauen sind als Nebenfiguren oder als Gegenspielerinnen dargestellt.

2) Die guten Figuren

- In den Märchen wird z. B. die Frau als Prinzessin kaum mit schlechten Charaktereigenschaften in Verbindung gebracht.

- Mut, Ausdauer, Tapferkeit, Opfer- und Hilfsbereitschaft sind anerkannte Fähigkeiten, die eine vorbildliche Heldin auszeichnen.

- Gute Gestalten treten auch als Helfer und Nebenfiguren in der Handlung auf.

4.1 Der passive Typ

Die Frauenbilder, die in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm dargestellt werden, umfassen widersprüchliche Erscheinungen wie das der schönen Prinzessin, der bösen Hexe, der unschuldigen Jungfrau oder der weisen Alten. „Alles in einem scheinen Märchen einige der bekannten Geschlechterstereotypen widerzuspiegeln […].“[49] Die Geschichten vermitteln deutlich, welche Rolle der Frau in dieser Zeit zugedacht war und welche weiblichen Eigenschaften in allen sozialen Schichten hoch geschätzt wurden.

Die Brüder Grimm waren sich mit vielen ihrer Zeitgenossen und Vorgänger einig, dass das Weiblichkeitsideal vor allem eine passive und schweigende Frau ist, die sich den Wünschen ihres Ehemannes unterwerfen muss. Während der Mann für seine Tapferkeit im Kampf oder für seine mutigen Rettungsaktionen belohnt wurde, war für die Frau dezentes und ruhiges Benehmen vorgeschrieben. „Es ist darum kein Zufall, daß am Ende des 20. Jahrhunderts aus sozialkritischer und insb. aus feministischer Sicht gerade die Frauenauffassung den Grimmschen Märchen die meiste Kritik eingebracht hat.“[50] Die Unterscheidung nach Geschlecht und die Rollenaufteilung in den Märchen herrschte zu den meisten Zeiten und „[…] es ist darauf verwiesen worden, die Rolle der Frau sei kaum aktiv und wenig emanzipiert“[51].

Man findet viele Beispiele für weibliche Gestalten, die im Märchen nur passive Titelheldinnen bleiben und keine Initiative ergreifen. „Da ist der passive Typ par excellence im Dornröschen gestaltet.“[52] Die neugierige Königstochter findet zwar alleine die gefährliche Spindel, aber die darauffolgenden Ereignisse sind von ihr nicht beeinflussbar. Sie fällt in tiefen Schlaf und schläft so hundert Jahre lang, bis ein unbekannter Prinz zu ihr kommt und sie durch seinen Kuss weckt. Dass sie beide danach heiraten, ist wieder für die Titelheldin keine freie Wahl. „Das exemplarische weibliche Rollenverhalten ist klar: Ein schönes Mädchen hat nicht zu agieren, sondern zu warten, bis der Richtige vorbeikommt.“[53] Die weiblichen Figuren im Märchen sollten einfach schön und geduldig sein. Das Gute wird sich durchsetzen, auch ohne deren Hilfe.

Auch Schneewittchen und Rotkäppchen kann man als passive Heldinnen bezeichnen. Sie gelangen zum glücklichen Ende, ohne etwas selber zu bewirken. Schneewittchen bleibt im gläsernen Sarg, bis ein Prinz sie findet. Auch Rotkäppchen wartet auf seine Rettung ohne eigenes Zutun im Wolfsbauch und hofft auf fremde Hilfe. „Auf diese Art und Weise wird weibliches Rollenverhalten festgelegt auf passives Schönsein.“[54]

Das Märchen spiegelt in seiner patriarchalischen bürgerlichen Darstellung die Geschlechterverhältnisse wider, wie sie in der Wirklichkeit tatsächlich waren. Die passive, leidende und hilflose Frau wird übertrieben idealisiert und in einer schönen Figur verkörpert.

Sogar die Heirat ist ein Vorgang bereits außerhalb der Entscheidungsmöglichkeit der Frau. „Märchen stellen real wie bildhaft dar, wie Frauen unterdrückt werden und wie sie sich unterdrücken lassen.“[55] In den gesellschaftlichen Lebenszusammenhängen wurde die weibliche Person zum Privateigentum, zu einer Trophäe für die Heldentaten des Mannes.

[...]


[1] Rölleke, Heinz: Die Märchen der Brüder Grimm. Quellen und Studien. Gesammelte Aufsätze. Band 50, Wissenschaftlicher Verlag, Trier 2000, S.196

[2] Vgl. ebd., S. 196

[3] Lüthi, Max: Märchen. Verlag J.B. Metzler, Stuttgart, Weimar, April 2004, S. 3

[4] Rölleke, Heinz: Zauber-Märchen – Märchen-Zauber. Vom Zauber im Volks- und Kunstmärchen. In: Zauber Märchen. Forschungsberichte aus der Welt der Märchen. Eugen Diederichs Verlag, München 1998, S. 9

[5] Vgl. ebd., S. 9

[6] Mieder, Wolfgang [Hrsg.]: Grimmige Märchen. Prosatexte von Ilse Aichinger bis Martin Walser. R.G. Fischer Verlag, Frankfurt 1986

[7] Lüthi, Max: So leben sie noch heute. Betrachtungen zum Volksmärchen. 2. durchgesehene Auflage, Vandenhoeck und Ruprecht Verlag, Göttingen 1976, S. 5

[8] Szonn, Gerhard: Die Weisheit unserer Märchen, VWB – Verlag für Wissenschaft und Bildung, Berlin 1993, S. 26

[9] Freund, Winfried: Deutsche Märchen. Eine Einführung. Wilhelm Fink Verlag, München 1996, S. 181

[10] Vgl. ebd., S. 181

[11] Szonn, Gerhard: Die Weisheit unserer Märchen, VWB – Verlag für Wissenschaft und Bildung, Berlin 1993, S. 26

[12] Vgl. ebd., S. 32

[13] Vgl. ebd., S. 33

[14] Kürthy, Tamàs: Dornröschens zweites Erwachen. Die Wirklichkeit in Mythen und Märchen. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1985, S. 74

[15] Mieder, Wolfgang [Hrsg.]: Grimmige Märchen. Prosatexte von Ilse Aichinger bis Martin Walser. R.G. Fischer Verlag, Frankfurt 1986, S. 8

[16] Lüthi, Max: Märchen. Verlag J.B. Metzler, Stuttgart, Weimar, April 2004, S. 6

[17] Vgl. ebd., S. 7

[18] Vgl. ebd., S. 8

[19] Freund, Winfried: Deutsche Märchen. Eine Einführung. Wilhelm Fink Verlag, München 1996, S. 183

[20] Kürthy, Tamàs: Dornröschens zweites Erwachen. Die Wirklichkeit in Mythen und Märchen. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1985, S. 69

[21] Lüthi, Max: Es war einmal. Vom Wesen des Volksmärchens. S. 113

[22] Kürthy, Tamàs: Dornröschens zweites Erwachen. Die Wirklichkeit in Mythen und Märchen. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1985, S. 70

[23] Kürthy, Tamàs: Dornröschens zweites Erwachen. Die Wirklichkeit in Mythen und Märchen. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1985, S. 70

[24] Vgl. ebd., S. 71

[25] Vgl. ebd., S. 68

[26] Vgl. ebd., S. 74

[27] Vgl. ebd., S. 66

[28] Lüthi, Max: Märchen. Verlag J.B. Metzler, Stuttgart, Weimar, April 2004, S. 5

[29] Lüthi, Max: Märchen. Verlag J.B. Metzler, Stuttgart, Weimar, April 2004, S. 5

[30] Lüthi, Max: So leben sie noch heute. Betrachtungen zum Volksmärchen. 2. durchgesehene Auflage, Vandenhoeck und Ruprecht Verlag, Göttingen 1976, S. 21

[31] Vgl. ebd., S. 7

[32] Lüthi, Max: Das Volksmärchen als Dichtung. Ästhetik und Anthropologie. 2. Auflage, Verlag Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 1990, S. 53

[33] Lüthi, Max: Das Volksmärchen als Dichtung. Ästhetik und Anthropologie. S. 55

[34] Lüthi, Max: Es war einmal. Vom Wesen des Volksmärchens. 5. durchgesehene Auflage, Vandenhoeck und Ruprecht Verlag, Göttingen 1977, S.114

[35] Lüthi, Max: Das Volksmärchen als Dichtung. Ästhetik und Anthropologie., S. 57

[36] Grimm, Brüder: Kinder- und Hausmärchen. Vollständige Ausgabe. 19. Auflage, Winkler Verlag, München 1999, S. 66

[37] Vgl. ebd., S. 291

[38] Freund, Winfried: Deutsche Märchen. Eine Einführung. Wilhelm Fink Verlag, München 1996, S. 183

[39] Müller, Elisabeth: Das Bild der Frau im Märchen. Analysen und erzieherische Betrachtungen. Profil-Verlag, München,1986, S. 17

[40] Hoffmann–Volz, Ursula/Grimm, Ludwig Emil [Hrsg.]: Märchenwelt der Brüder Grimm. Hrsg. Vom Hessendienst der Staatskanzlei, Druck: Klein und Glund, Wiesbaden 1985, S. 7

[41] Freund, Winfried: Deutsche Märchen. Eine Einführung. S. 7

[42] Rölleke, Heinz: Zauber-Märchen – Märchen-Zauber. Vom Zauber im Volks- und Kunstmärchen. In: Zauber Märchen. Forschungsberichte aus der Welt der Märchen. S. 9

[43] Szonn, Gerhard: Die Weisheit unserer Märchen. VWB-Verlag für Wissenschaft und Bildung, S. 48

[44] Nissen, Walter: Die Brüder Grimm und ihre Märchen. Vandenhoeck und Ruprecht Verlag, Göttingen, 1984, S. 58

[45] Rölleke, Heinz: Die Märchen der Brüder Grimm. Quellen und Studien. Gesammelte Aufsätze. S. 37

[46] Lüthi, Max: Es war einmal. Vom Wesen des Volksmärchens. S. 9

[47] Vgl. ebd., S. 105

[48] Lüthi, Max: Es war einmal. Vom Wesen des Volksmärchens. S. 103

[49] Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historische und vergleichenden Erzählforschung. Hrsg. von Kurt Ranke, Göttingen 1987, Band 5, Artikel: ʹFrauʹ, S. 110

[50] Röhrich, Lutz: Das Bild der Frau im Märchen und im Volkslied. In: Das selbstverständliche Wunder. Beiträge germanistischer Märchenforschung. Hrsg. von Wilhelm Solms, S. 86

[51] Vgl. ebd., S. 86

[52] Rölleke, Heinz: Die Märchen der Brüder Grimm. Quellen und Studien. Gesammelte Aufsätze. S. 204

[53] Röhrich, Lutz: Das Bild der Frau im Märchen und im Volkslied. In: Das selbstverständliche Wunder. Beiträge germanistischer Märchenforschung. Hrsg. von Wilhelm Solms, S. 86

[54] Vgl. ebd., S. 86

[55] Vgl. ebd., S. 87

Ende der Leseprobe aus 92 Seiten

Details

Titel
Die Frauenfiguren in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm
Hochschule
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf  (Philosophische Fakultät)
Note
2,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
92
Katalognummer
V117065
ISBN (eBook)
9783640187744
ISBN (Buch)
9783640189038
Dateigröße
3188 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Frauenfiguren, Kinder-, Hausmärchen, Brüder, Grimm
Arbeit zitieren
Michaela Dimova (Autor:in), 2008, Die Frauenfiguren in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/117065

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