Die Darstellung der Osterweiterung in der politikwissenschaftlichen Debatte: Rationalismus versus Konstruktivismus


Hausarbeit, 2008

16 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Osterweiterung in der politikwissenschaftlichen Debatte: Rationalismus versus Konstruktivismus
2.1 Die Bedeutung der Kosten im Erweiterungsprozess
2.2 Erweiterungskriterien
2.3 Die Entscheidung für eine Erweiterung

3. Eigenes Argument

4. Konklusion

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Erweiterungsprozesse ziehen sich wie ein roter Faden durch die nunmehr 50-jährige Geschichte der Europäischen Union. Mit der Osterweiterung am 1. Mai 2004 vollzog die EU durch eine Aufnahme zehn neuer Mitgliedsstaaten[1] die bis dahin größte Expansion. Der 1993 im Europäischen Rat in Kopenhagen gefasste Beschluss Beitrittsverhandlungen mit acht mittel- und osteuropäischen Ländern (im Weiteren MOEL) sowie Malta und Zypern aufzunehmen, stellte nicht nur die Politikwissenschaft vor ein Rätsel. Die Osterweiterung hatte sowohl weit reichende Auswirkungen auf die geografische und institutionelle Gestalt als auch auf die Politikfelder der EU. Gemessen am Pro-Kopf-Einkommen befanden sich die zehn Beitrittskandidaten unter dem der ärmsten Länder der EU-15. Folglich stellte ihre Aufnahme eine finanzielle Belastung für den Gemeinschaftshaushalt dar.[2] Viele Wissenschaftler beschäftigen sich seitdem mit der Frage nach Beweggründen der Mitgliedsstaaten 1993 der Osterweiterung zuzustimmen, obwohl die Beitrittskandidaten einen großen wirtschaftlichen Rückstand im Vergleich zur EU hatten. Innerhalb dieses wissenschaftlichen Diskurses sind zwei Tendenzen vorherrschend, die sich mit dieser Frage auseinandersetzen: Den Vertretern rationalistischer Theorien stehen die Verfechter des so genannten Konstruktivismus gegenüber.

Der liberale Intergouvernementalismus, der relevanteste rationalistische Ansatz zur Klärung großer regierungsspezifischer Entscheidungen in der EU, geht von Staaten als den wichtigsten Akteuren auf internationaler Ebene aus. Staatliches Verhalten und Handeln ist von einer Logik der Nutzenmaximierung bestimmt, d.h. Kosten und Nutzen einer ökonomischen Wechselbeziehung gelten als wichtigste Faktoren zur Beeinflussung staatlicher Präferenzen. Zunächst definiert die Regierung ihre Interessen und Präferenzen im eigenen Land, um diese später auf internationaler Ebene in Verhandlungen zwischen den Regierungen zu verwirklichen.[3]

Im Gegensatz zum rationalistischen Ansatz konzentriert sich der Konstruktivismus in der Deutung von internationalen Entscheidungsfindungsprozessen auf ideelle Faktoren und Sozialisierungsprozesse zwischen Regierungen. Nach Wendt sind Strukturen des internationalen Lebens in erster Linie ideell und nicht, wie beim Rationalismus, ausschließlich materiell bestimmt. Da gemeinsame Ideen, Werte und Normen die Interessen und Identitäten staatlicher Akteure in einem internationalen System beeinflussen, basieren auch Institutionen wie die Europäische Union auf diesen kollektiven Ideen.[4] Das Verhalten staatlicher Akteure ist in den Normen und Regeln eines institutionellen Gefüges eingebunden und richtet sich nach der Angemessenheit einer Handlung in einer bestimmten Situation.

Diese Arbeit knüpft an die Überlegungen zur Osterweiterung anhand rationalistischer und konstruktivistischer Theorien an und stellt die Frage, warum die Mitgliedsstaaten der Osterweiterung zustimmten, obwohl mit einer Erweiterung negative Effekte wie hohe wirtschaftliche, institutionelle als auch sicherheitspolitische Kosten verbunden waren. Außerdem ist zu ergründen, welcher theoretische Ansatz in Bezug auf die Fragestellung mehr Argumentationskraft besitzt. Dabei befasst sich die Arbeit weniger mit den eigentlichen Theorien, sondern versucht anhand der Fragestellung Sichtweisen, die auf den vorgestellten Konzepten basieren, gegenüberzustellen und zu vergleichen. Ebenso sieht es die Arbeit nicht vor, die Osterweiterungspräferenzen der einzelnen Mitgliedsstaaten zu betrachten, sondern geht von einer allgemeinen Meinungstendenz der Mitgliedsstaaten der EU-15 aus.

Die vorhandene Literatur signalisiert, dass scheinbar keine der beiden Theorien den Anspruch für sich erheben kann, die Osterweiterung ganzheitlich darzustellen. Daraus wird geschlossen, dass die Akteure bei der Erweiterungsentscheidung sowohl rationalistisch als auch konstruktivistisch gelenkt wurden. Um herauszufinden, welche Denkschule sich besser zur Erklärung der Osterweiterung eignet, werden die Argumente beider Seiten anhand dreier Beobachtungspunkte gegenübergestellt. Hierbei stehen all die Kriterien des folgenden Diskurses im Vordergrund, denen auch in den analysierten Texten eine hohe Relevanz zuteil wurde: der Bedeutung der Kosten im Erweiterungsprozess, den Erweiterungskriterien (mit Hauptaugenmerk auf die Kopenhagener Kriterien) und der Erweiterungsentscheidung, besonders im Europäischen Rat in Kopenhagen 1993.

2. Die Osterweiterung in der politikwissenschaftlichen Debatte: Rationalismus versus Konstruktivismus

Nach der einleitenden Erklärung zur Thematik der Osterweiterung sollen im Folgenden die bedeutenden Faktoren in wirtschaftlicher und EU-spezifischer Hinsicht dargestellt und rationalistische und konstruktivistische Argumente verglichen werden. Die Analyse wird zum Entschluss für die Aufnahme der genannten osteuropäischen Bewerberstaaten hinführen, der, wie sich herausstellen wird, ebenfalls durch unterschiedliche Prioritätensetzung die Argumentationsschwerpunkte beider wissenschaftlicher Untersuchungen darstellt.

2.1 Die Bedeutung der Kosten im Erweiterungsprozess

Von Anfang an war die Debatte um die Osterweiterung auch eine Auseinandersetzung mit den Kosten, die sowohl in wirtschaftlicher und institutioneller als auch sicherheitspolitischer Hinsicht auf die EU zukommen würden. Die Tatsache, dass die Erweiterung hohe finanzielle Belastungen für den EU-Haushalt zur Folge hatte, ist unumstritten. Richard E. Baldwin et al. sprachen in ihrer 1997 veröffentlichten Kosten-Nutzen-Analyse einer Osterweiterung von einem Nettoaufwand von ca. 8 Billionen ECU[5] für die Europäische Union.[6]

Der Konstruktivismus argumentiert, dass die kurzfristigen, hohen Kosten der Erweiterung nicht das Verhalten der Mitgliedsstaaten erklären könne, dieser zugestimmt zu haben. Gegen eine rationalistische Logik der Kosten-Nutzen-Maximierung spreche außerdem, dass die Kosten kein Grund waren, die Erweiterung zu stoppen. Es wird aus konstruktivistischer Sicht davon ausgegangen, dass kollektive Werte, Normen und Identitäten bzw. eine moralische Verpflichtung gegenüber den MOEL eine größere Relevanz im Integrationsprozess der MOEL besaßen. Am Beispiel der deutschen Ratspräsidentschaft ab 1999 verdeutlichten Katrin Fierke und Anja Wiener, dass eine Debatte um die Verteilung der Kosten unter den Mitgliedsstaaten allgegenwärtig war, aber gleichzeitig von einer Rhetorik der moralischen Verpflichtung der EU begleitet wurde. Den ehemaligen deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder beschäftigte die Frage, wer die Hauptlast der Kosten zu tragen habe. Mit seiner Aussage eine europäische Integration könne nur gelingen, wenn die Last der Erweiterung gleichmäßig unter den EU-Staaten verteilt würde, bekundete er seine Furcht, Deutschland müsse einen großen Teil der Kosten übernehmen. Im gleichen Monat des Jahres plädierte der zu dieser Zeit amtierende Außenminister Joschka Fischer für eine Integration der MOEL als eine von der europäischen Union zu tragende Verpflichtung.[7]

Der Rationalismus konzentriert sich im Gegensatz zum Konstruktivismus nicht nur auf die kurzfristige Betrachtung der Kosten, sondern bezieht in seine Überlegungen auch die längerfristigen Gewinne einer Osterweiterung ein. Er behauptet, die längerfristigen Gewinne überstiegen die Kosten einer Erweiterung und bestätigt somit das rationalistische Konzept des nutzenmaximierenden Akteurs mit festen Interessen und Zielen. Die langfristigen Gewinne einer Osterweiterung belaufen sich auf ca. 10 Billionen €.[8] Im Vergleich zu den genannten 8 Billionen ECU, übersteigen die zu erwartenden Gewinne die anfänglichen Kosten deutlich und könnten deshalb als positives Argument für eine Osterweiterung gesehen werden. Neben materiellen Erlösen müsse man zudem berücksichtigen, dass eine geopolitische Stabilisierung der unmittelbaren Nachbarschaft in Mittel- und Osteuropa die sicherheitspolitischen Kosten sinken ließe. Abgesehen von der Eindämmung von Konflikten, mache sich, Andrew Mo­ravcsik und Milada A. Vachudova zufolge, auch eine Zusammenarbeit in der Verringerung illegaler Migration bezahlt.[9] Hinzu kämen die Gewinne, die durch die 100 Millionen zusätzlichen Konsumenten nach einer Osterweiterung zu verbuchen wären.[10] Andernfalls würden einige ökonomische Kosten entfallen, da eine teilweise Liberalisierung des Industriehandels und der Landwirtschaft durch die Assoziierungsabkommen schon vor der Osterweiterung stattfand.[11]

2.2 Erweiterungskriterien

Mit der Formulierung der Kopenhagener Kriterien im Europäischen Rat vom 22. Juni 1993 wurden politische, wirtschaftliche und so genannte Acquis-Kriterien vereinbart und den assoziierten MOEL eine Beitrittsperspektive eröffnet. Rationalisten beurteilen die Kopenhagener Kriterien als eine Möglichkeit der Mitgliedsstaaten ihre spezifischen Interessen durchzusetzen. Dieser Auffassung folgend sind die Erweiterungskriterien das Ergebnis strategischer Verhandlungen zwischen den Mitgliedstaaten und Beitrittskandidaten, in denen die EU-15 ihre Interessen überproportional verwirklichen konnten. Moravcsik und Vachudova erkennen in den unverhältnismäßigen Zugeständnissen seitens der MOEL einen Grund, warum es zur Osterweiterung kam. Nach dem Modell der „asymmetrischen Interpendenz“ (Nye und Keohane) sahen sich die Beitrittskandidaten gezwungen, weit von ihren Interessen abzurücken, da sie größere wirtschaftliche und geopolitische Vorteile aus einer Erweiterung zogen.[12] Dass die MOEL von einer Osterweiterung mehr als die EU profitieren konnte, ließen die Vorraussagen der Entwicklung der Exportzahlen nach einer Osterweiterung erahnen. Durch die Liberalisierung des Marktes und die Entwicklung der Ökonomien der MOEL wurde eine Zunahme der Exporte der MOEL um mehr als 25% erwartet, wohingegen die EU durch eine Erweiterung nur von einem Anstieg ihrer Exporte um 1,5% ausgehen konnte.[13] Ein Beispiel für die Überrepräsentierung der Interessen und Prioritäten der EU waren der Beschluss, dass die MOEL geringere Subventionen aus dem Europäischen Agrarfonds erhalten würden als die Kandidaten vorangegangener Erweiterungsrunden und die Übergangsregelungen, wie die Bestimmungen zur Arbeitnehmerfreizügigkeit.[14]

Konstruktivistische Anschauungen stellen dem entgegen, dass die Kriterien sicherlich große Zugeständnisse seitens der Beitrittskandidaten forderten, jedoch keine unüberwindbaren Hürden darstellten, diese in einem angemessenen zeitlichen Rahmen durchzusetzen. Außerdem seien die politischen Kriterien im Erweiterungsprozess von größerer Bedeutung gewesen als die wirtschaftlichen oder Aquis-Kriterien.[15] Anhand von Betrachtungen zur Kandidatenauswahl stellt Schimmelfennig fest, dass Beitrittsverhandlungen am schnellsten mit den MOEL-Staaten aufgenommen wurden, die am schärfsten die liberaldemokratischen Grundnormen der EU vertraten. In einer Stellungnahme der Europäischen Kommission von 1997 lässt sich ablesen, dass u.a. Estland die wirtschaftlichen Kriterien nicht erfüllte und Slowenien noch deutlichen Aufholbedarf bei der Übernahme der Aquis-Kriterien hatte. Trotzdem gehörten beide Länder zur ersten Erweiterungsgruppe.[16]

Von einem konstruktivistischen Standpunkt betrachtet, waren die Kopenhagener Kriterien weniger ein Instrument der Nutzenmaximierung der Mitgliedsstaaten sondern ein Mittel zur Übertragung der kollektiven, europäischen Werte auf die Beitrittsstaaten. Nach Georgiana Ciceo sind die Kriterien Inbegriff der konstitutiven, Europa vereinenden Normen – die europäische Kultur und westliche Christenheit.[17] Mit dem Begriff „democratic conditionality“[18] wird der Prozess einer Implementierung europäischer liberaldemokratischer Grundsätze als Vorraussetzung zur Aufnahme der MOEL in die EU beschrieben. Nicht nur die Kopenhagener Kriterien sondern auch die ab 1998 von der Europäischen Kommission geforderten Jahresberichte der MOEL dienten demnach zur Orientierung sowohl für die Beitrittsstaaten als auch für die Mitgliedsstaaten. Europäische, finanzielle Hilfsprogramme sowie die 1994 auf dem Europäischen Rat in Essen beschlossene „Heranführungsstrategie“ dienten der Unterstützung der MOEL zur Erfüllung der geforderten Kriterien. Diese Strategie beinhaltete die Versendung von so genannten Assoziationspartnern in die nationalen und lokalen Verwaltungen der potentiellen Beitrittsländer, um sie bei der Angleichung der umfangreichen europäischen Rechtsvorschriften zu unterstützen. Die Aufgaben dieser Berater wurden in einem Weißbuch der Kommission mit dem Titel „Vorbereitung der assoziierten Staaten Mittel- und Osteuropas auf die Integration in den Binnenmarkt der Union“ konkretisiert, das dem Europäischen Rat 1995 in Cannes vorgelegt wurde.[19]

[...]


[1] Folgende Länder traten der EU 2004 bei: Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Slowenien, Malta und Zypern.

[2] Kreile 2004: 650.

[3] Moravcsik 1993: 480-482.

[4] Wendt 1987: 335-370.

[5] Die Europäische Währungseinheit ECU, von 1979 bis 1998 Rechnungseinheit der EG bzw. der späteren EU, wurde später vom Euro abgelöst.

[6] Baldwin et al. 1997: 159.

[7] Fierke/Wiener 1999: 733f.

[8] Moravcsik/Vachudova 2003: 50.

[9] Moravcsik/Vachudova 2003: 50.

[10] Baldwin et al. 1997: 127.

[11] Moravcsik/Vachudova 2003: 50.

[12] Keohane, Robert O./Nye, Joseph S. 1977: Power and Interdependence, Boston. Zitiert in Mo­ravcsik/Vachudova 2003: 44f.

[13] Baldwin et al. 1997: 139.

[14] Moravcsik/Vachudova 2003: 48.

[15] Die Aquis-Kriterien sind die Gruppe der Kopenhagener Kriterien die eine Übernahme des gemeinschaftlichen Besitzstandes (aquis communitaire) als Vorraussetzung für einen EU-Beitritt festlegen.

[16] Schimmelfennig 2003a: 563f.

[17] Ciceo 2005: 97.

[18] Wallace, Helen 2000: EU Enlargement: A Neglected Subject, in: Cowles, Maria Green/Smith, Michael (Hrsg.): The State of the European Union: Risks, Reform, Resistance, and Revival, Oxford, 149-163. Zitiert in Ciceo 2005: 100.

[19] Kreile 2004: 654.

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Die Darstellung der Osterweiterung in der politikwissenschaftlichen Debatte: Rationalismus versus Konstruktivismus
Hochschule
Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)  (Institut für Politikwissenschaft)
Veranstaltung
Die institutionelle Ordnung der Europäischen Union
Note
1,3
Autor
Jahr
2008
Seiten
16
Katalognummer
V116930
ISBN (eBook)
9783640187539
ISBN (Buch)
9783640188901
Dateigröße
415 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Darstellung, Osterweiterung, Debatte, Rationalismus, Konstruktivismus, Ordnung, Europäischen, Union
Arbeit zitieren
Manuela Paul (Autor:in), 2008, Die Darstellung der Osterweiterung in der politikwissenschaftlichen Debatte: Rationalismus versus Konstruktivismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/116930

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