Lina Morgenstern. "Social couragiert und frauenbewegt"

Ein Berliner Lebensbild


Essay, 2008

228 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Früh übt sich
Lebenseinstieg in Breslau
Als „junges Glück“ in Berlin

„Kommt lasst uns unseren Kindern leben!“
„Den jungen Keim zu pflegen“
Im Banne Fröbelscher Ideen
Bei „Vater Fröbel“ zu Besuch
An Fröbel orientierte Praxis

Volksküchen gegen kriegsbedingten Notstand
Nach- und Vorkriegszeit
Hilfe ja – Almosen nur bedingt
„Bürger Berlins!“
Gut’ Ding will Weile haben
Was für Kriegszeiten taugt,
Wenn Profit winkt -

Berliner Volksküchen - „Muster moderner Volksernährung“ ?
Hochherrschaftlicher Besuch
Was Volksküchen vermögen
„Männern fehlt der Blick in’s Kleine“
Wieder Zeit für Kinder ?

Volksküchen als Dauerbrenner
Soldatenspeisung 1870/
Hilfe den Verwundeten – Gnade dem „Feind“
Der Stammkundschaft stets zu Diensten
Freibier und Spenden
Berliner Hausfrauen – vereint gegen Not und Missstände
Ein Ruf aus Kassel
Preiswerter Einkauf für Mitglieder
Zum Umgang mit Dienstboten
Wider betrügerischen Handel

In die große Bewegung
Bekenntnis zum Allgemeinen Deutschen Hausfrauen-Verein
Zwei Anläufe
Sorge um „leichte Mädchen“
Für „Minorenne“ eine straffe Bleibe

Gut Kochen will gelernt sein
Kochen als Kunst und Wissenschaft
Ein Kochbuch als Lehrwerk und Kassenschlager
Theoretische Praxisuntersetzung
Ernährungslehre unter sozialer Sicht
Gegen Alkoholmissbrauch

Krise im Berliner Hausfrauen-Verein
Im Abwärtsgang
Nun erst recht – in Leipzig und Berlin
In der Talsohle
Wider falschen Leumund

Zur Frauenfrage
Frauen – nicht nur „Beiwerk des Haushalts“?
Um den Kern der Frauenfrage
Gegen konservative Attacken
Bildung als Königsweg?

Auf großer Fahrt
Gen Süden
Frühling in San Remo
Abschied von Italien und Heimkehr

Normales Vereinsleben?
Wenn das Schicksal zuschlägt
Die Kochschule in der Klemme
Um das Medizinstudium der Frau

Die „Deutsche Hausfrauenzeitung“ – Organ der Frauenwelt?
Für alle Fraueninteressen
Guter Rat und ernsthaft Belehrendes
Heiter Besinnliches

Der Frauenbewegung – ein „Jahrhundertwerk“?
Ein Buch für Frauen
Woraus sich Ziele herleiten
Wofür zu streiten wäre
Welch eine Dimension!
Deftiges von einer Andersdenkenden

Internationaler Frauenkongress – 1889 in Paris
Die Weltstadt lädt ein
Auf dem Kongress
Ausstellungen und Eiffelturm

Zwischen Hochgefühl und Trotz
Im sechzigsten Lebensjahr
Stiftungsfeste
Für Chicago
Zerwürfnisse bei höherem Zusammenschluss
An der Seite Bertha von Suttners

Noch ein internationaler Frauenkongress
1896 in Berlin
„Wer zählt die Völker – nennt die Namen?“
Der Kongress tagt
Nur keinen Streit vermeiden!
Gewogen und (nicht) zu leicht befunden?

Umsichtig und besinnlich bis zum Ende
Vorsitzende kamen und gingen
Rückzug und Vergessen?
Bilanz eines schaffensreichen Lebens
Über den Tod hinaus

Nachwort

Anhang
Anmerkungen
Literatur
Nachweis der Abbildungen
Personenregister

Vorwort

Lina Morgenstern - eine Frau des 19. Jahrhunderts. Zu Unrecht ist sie heute vielen unbekannt, obwohl sie doch einst in der Frauenbewegung eine nicht gerade bescheidene Rolle gespielt hat. Was mich angeht, so bin ich bereits als Schulkind mit ihr und einem ihrer Werke in Berührung gekommen. Denn meine Mutter hatte Linas „Illustriertes Kochbuch“ im Küchenschrank zu stehen. Sie hatte es in den zwanziger Jahren erworben, um ihren „Herrschaften“, bei denen sie „in Stellung“ war, auch als Köchin dienen zu können. Inzwischen waren das „Dritte Reich“ und der 2. Weltkrieg über uns gekommen. Nun holte sie bei Lina Morgenstern Ratschläge für ihr eigenes Hausfrauendasein; es galt, Mann, Kind und sich selbst zu bekochen, wie Lina es vorgab - sättigend, kräftigend und schmackhaft, aber dennoch billig sowie der Lebensmittellage zu Kriegs- und Nachkriegszeiten angepasst.

Als nach dem Krieg „Not am Mann“ war und sie sich wie viele Andere auch nach Essbarem umsah, wurde ich selbst des Öfteren beauflagt, den Vater nach dessen Tagesarbeit mit einer warmen Mahlzeit zu versorgen; dazu wurde auch mir besagtes Kochbuch eine willkommene Hilfe.

Ich vollendete meine Schul- und Studienzeiten sowie den Beruf. Lina Morgenstern geriet mir zeitweilig aus dem Blickfeld, nicht aber aus dem Sinn. Denn das Kochbuch ließ erahnen, dass mehr hinter der Autorin steckte. Später, im Ruhestand stehend, hatte ich Muße und neue Möglichkeiten. Nun nutzte ich die Zeit, um mich intensiv mit dem Leben der Lina Morgenstern zu beschäftigen. Und siehe – die Berliner Bibliotheken boten reichlich Material dazu. So las ich viele ihrer Werke, durchstöberte - so weit sie sie vom Krieg verschont geblieben waren - die zeitgenössischen Journale, in Sonderheit die „Vossische Zeitung“, die „ Deutsche Hausfrauenzeitung“ und die „Gartenlaube“ sowie manche Publikation über die damaligen Zeitumstände und die Literatur zur damaligen Frauenbewegung, wobei mir meine Frau als interessierte Partnerin hilfreich zur Seite stand. Uns beiden erschlossen sich auf diese Weise ein interessantes Frauenleben in einer bewegten Zeit sowie ein reichhaltiges Lebenswerk. Dafür sind wir Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, vor allem der Einrichtungen des Preußischen Kulturbesitzes, der Humboldt-Universität, des Landes Berlin und des Kunstmuseums, zu herzlichem Dank verpflichtet.

Um Lina Morgenstern war es stets ruhelos und widersprüchlich. Vieles hat sie bewegt, durchlitten und hinnehmen müssen – Erfolg und Niedergang, Glück im Unglück. Für das, was sie tat und dachte, wurde sie geachtet und geschmäht, umgaben sie Liebe und Missgunst, ging sie über Höhen und durch Tiefen. All dies ertrug sie, wissend, dass Gleiches eben immer auch Ungleiches ist.. „Suppenlina“, wie man sie anfangs nannte, klang ihr ebenso ehrenvoll wie der spätere Titel „Mutter der Volksküchen“.

Zur Frauenbewegung kam sie nicht wie die berühmte „Jungfrau zum Kind“, sondern durch fleißige Arbeit – kombiniert mit eifrigem Lernen. Sie entwickelte vor allem Sinn für Praktisches und Effektvolles. Wenn andere noch Strategien ertüftelten, übte sie sich längst in real auszuübender Kindererziehung. und emsiger Wohltätigkeit. So wurde sie in Berlin zur Institution, was ihr auch wohl bewusst war; gern erstrahlte sie in günstigem Licht. Allzu viel Bescheidenheit war ihr zuwider. Als Geschäftsfrau vermochte sie sich gut zu verkaufen.

Will man sie einem Beruf zuordnen, bekäme man Schwierigkeiten. Sie war vieles nach einander und gleichzeitig - Ehefrau, Mutter und Erzieherin; Köchin, Lehrerin und Chefin, am liebsten resolute Vorreiterin und rettender Engel in der Not.

Als Journalistin und Schriftstellerin nutzte sie vielfältig Sprache als Verständigungs-, Belehrungs- und Werbemittel - in mündlicher und schriftlicher Form, in Prosa, mitunter auch in Poesie; man musste sich ja nicht gleich an Goethe messen wollen!

Sie hielt nichts davon, darbende Mitmenschen auf bessere Zeiten zu vertrösten. Bei Not musste möglichst rasch geholfen werden. Für Ideale konnte man trotzdem eintreten. Unermüdlich wirkte sie in all den Vereinen, denen sie angehörte, bald auch in der allgemeinen Frauenbewegung, Später folgte sie sogar den Friedenskräften um Bertha von Suttner und Ludwig Quidde.

Ihre Hilfstätigkeit war breit gefächert. Sie galt Männern wie Frauen, Bedürftigen ihres Standes und aus Arbeiterkreisen, Mädchen aus gutem und weniger gutem Zuhause. Sie klammerte auch jene nicht aus, die gemeinhin als „verworfen“ verachtet wurden. Unter ihrer Regie ballte sich gesellschaftliches Engagement, wuchsen kluge Köpfe und Organisationstalente heran. So tolerant und kompromissbereit sie sein konnte – Verantwortung tragend, war sie unnachgiebig auf strenge Pflichterfüllung bedacht. Dafür, dass niemand hungern sollte, stand sie mit ihrem Mann oft genug mit dem eigenen Vermögen ein. Was halfs, man ging so schnell nicht unter.

Wenn es ihr auf Spenden ankam, war sie nicht wählerisch. Sie nahm von allen, die ihr freundlich gesinnt waren, ganz gleich, woher sie kamen, wess’ Standes und Kindes sie waren und egal auch, welcher Religion sie angehörten. Sie nahm von Bankiers, Beamten und Baronen, von Gelehrten, Meistern und Unternehmern. Es ging auch zu ihrer Zeit, im 19. Jahrhundert, nichts ohne Sponsoren – diese liefern seit jeher Leckerli – heute in oft saurer Suppe freier Marktwirtschaft.

Viel ließ sie sich von Augusta – Preußens Königin und Deutscher Kaiserin - herüberreichen. Wollte man sie darob als hohenzollernhörig oder kaisertreu schelten, täte man ihr zutiefst unrecht. Der Augustakult tat ihrem Eintreten für parlamentarisch-demokratischen Fortschritt keinen Abbruch. Weshalb hätte sie sonst in Berlin den ersten deutschen internationalen Frauenkongress veranstaltet – gemeinschaftlich mit Minna Cauer und in hart-trautem Clinch mit Clara Zetkin?

In Allem konnte sie konservativ und liberal in Einem sein. Strenge Sittlichkeit und sogar Prüderie in der Erziehung schlossen bei ihr freimütige, auch sexuelle Aufklärung keineswegs aus. Was sollten ihr da Weihnachtsmann und Klapperstorch? Sollte jeder wissen, worauf er sich im Leben einzulassen hatte!

Stets eigenen Eingebungen folgend, ließ sie sich weder in die rechte noch in die linke Ecke drängen (obgleich sie zuweilen der linken recht nahe kam). In der Frauenbewegung geriet sie dabei oft zwischen die Fronten. Trotzdem blieb ihr der Glaube, dass nur mittels anerkannter Leistung das erstrebte Ziel erreichbar sei. Mit August Bebel teilte sie das Vertrauen in Bildung und Wissen als Instrumente humanistisch gebrauchter Macht.

Mag vieles von dem, was sie dachte und tat, illusionär gewesen und unter heutiger Sicht vielleicht sogar kleinbürgerlich-bieder - um nicht zu sagen antiquiert - anmuten. Doch ohne Illusionen und Utopien mögen Menschen auf Dauer nicht sein, und ohne überlieferte Erfahrung erklimmt man selten unbekannte Höhen. Und Hand aufs Herz! Allzu weit sind wohl heutige Zustände von solchen des 19. Jahrhunderts gar nicht entfernt. Uns regieren heutzutage zwar weder Kaiser noch Könige, aber Probleme, die damals bewegten, drücken immer noch oder schon wieder, manche vielleicht noch schärfer - obwohl (oder weil?) sich Manches gewendet beziehungsweise gewandelt hat.

Aus Anlass ihres Todestages, der sich am 16. Dezember 2009 zum hundertsten Male jährt, will ich mit meinem Buch dazu beitragen, dass man sie fürderhin nicht so leicht wieder vergisst, wie dies schon des Öfteren, vor allem und bewusst in der NS-Zeit, geschehen ist.

Das ihr gewidmete Büchlein von Heinz Knobloch liegt schon zwölf Jahre zurück, in Schriften von Uta Günther, Maja Fassmann und Annette Kuhn wird sie kurz erwähnt. Ansonsten bleibt sie zumeist lexikalischen Einträgen überlassen, wenn man davon absieht, dass in Berlin eine Schule ihren Namen trägt.

Ich habe mich bemüht, auf die Vielseitigkeit und Vielfalt ihres Wirkens einzugehen und ihr Leben als Ganzes zu erfassen, dabei Schwierigkeiten, Probleme und Rückschläge aber auch Erfolge nicht auszuklammern.

Von Lina Morgensterns Erfahrungen kann man meines Erachtens auch heute noch manche Anregung zur Gestaltung gesellschaftlichen Lebens gewinnen.

Berlin, September 2008 Reinhold Kruppa

Früh übt sich…

Lebenseinstieg in Breslau

Wie viele Berlinerinnen und Berliner ihrer Zeit war Lina Morgenstern eine Zugereiste, und wie für das 19. Jahrhundert typisch, kam sie aus Schlesien. Die meisten davon fühlten sich zu Zeiten der Industrialisierung durch die aufstrebende preußische Hauptstadt angezogen. Dort hofften sie auf Arbeit, Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben – sie wollten „dabei sein“ und sich beweisen.

Für Lina sollten sich in der Großstadt viele ihrer Hoffnungen erfüllen. Denn im Unterschied zu Hunderten anderer Zugezogener hatte sie es nicht nötig gehabt, auf Stellungsuche zu gehen, um fremden „Herrschaften“ zu dienen. Denn sie entstammte einer jüdischen Familie, die als fleißig und wohlhabend galt und die es sich leisten konnte, ihren Töchtern jeweils eine ihrem Stande gemäße Mitgift zu gewähren. Und sie war, als sie nach Berlin kam, bereits verheiratet.

Linas Geburtsstunde hatte am 25. November 1830 in Breslau geschlagen, und in dieser Stadt durchlebte sie gemeinsam mit mehreren Geschwistern eine sorgenfreie Kindheit. Dieser Aussage steht aber nicht entgegen, dass ihr eine recht strenge Erziehung zuteil wurde. Denn in ihrem Vaterhaus haben – wie sie später schrieb - „sittlicher Ernst, das strengste Pflichtgefühl und die reinste Menschlichkeit geherrscht“. Sie und ihre Geschwister seien zu „Sittlichkeit, Selbstbestimmung und Berufstreue angehalten worden“. /1/

Von ihrem Vater, dem Fabrikanten und Kaufmann Albert Bauer, hieß es, er sei m Umgange mit seiner Familie, mit Freunden, und Bekannten, aber auch Fremden gegenüber jovial und heiter gewesen. Seine Frau Fanny, geborene Adler, stammte aus Krakau, der damals von Österreich besetzten ehemaligen polnischen Hauptstadt. Sie wurde weit hin als ein Vorbild echt weiblicher Würde und aufopferungsvoller Menschenliebe gepriesen. Ein angenehmes Wesen habe sie ausgezeichnet. Nie soll sie aufgehört haben, von den schönen Dingen des Lebens, in Sonderheit von Wissenschaften und Kunst, zu lernen. Bis ins hohe Alter hinein schätzten selbst Männer ihr Urteil als selbständig und scharf. Für Lina war die Mutter das Vorbild einer sittenreichen und edlen Frau. /2/

Lebhaft, wie Lina als war, tollte sie oft mit anderen Kindern in den Gassen der Altstadt umher. Des Sommers sah sie gern den Schwänen nach, die still und gravitätisch auf dem klaren Wasser der Oder dahinglitten. Wie sehr konnte sie sich auf den Promenaden über die sorgfältig angelegten Blumenteppiche erfreuen. Exotische Pflanzen und akklimatisierte Ziersträucher mochte sie über alles. Oft bestieg sie mit Eltern, Schwestern und Freundinnen die Liebighöhe, die auf einer der früheren Bastionen angelegt war. Hier bot sich ihr zu jeder Jahreszeit ein köstlicher Rundblick über den Westen der Stadt. Von der Ziegelbastion im Osten genoss man den Blick auf die Dominsel mit ihren vielen Kirchen, aber auch auf die vielen Schiffe, die auf dem Strom entlang zogen. Im Winter dagegen bewunderte sie die Sprints und Eskapaden der Schlittschuhläufer. Jedoch ist nicht überliefert, inwiefern sie sich auch selbst sportlich betätigte. /3/

Mit sechs Jahren wurde Lina in die Höhere Töchterschule aufgenommen. Da sie begabt war, fiel ihr das Lernen nicht allzu schwer. Dafür fand sie den Unterricht anfangs oft langweilig und war in der ersten Zeit nicht besonders fleißig. Dagegen neigte sie wie manche ihrer Mitschülerinnen zu sentimentaler Träumerei. Unter jungen Mädchen waren damals das Verseschmieden und Klavierspielen stark in Mode. Lina versuchte sich in beidem, ohne jedoch besonders herauszuragen. Doch da sie immerhin gut bei Stimme war, durfte sie in der Breslauer Singakademie mitwirken.

Die Neigung zu Sentimentalem und zu schulischer Unlust schwand, als sie in die oberen Klassen kam; dort war der Unterricht um Etliches interessanter. Zwei gelehrte Rabbiner führten die Schülerinnen in Religion, Literatur und Geschichte des Judentums ein. Die Eltern wünschten, für ihre Tochter eine gediegene Bildung und vor allem die Festigung ihrer humanistischen Gesinnung. Mit nie erlahmendem Eifer verschlang Lina nun alles, was ihr aus Literatur und Geschichte in die Finger kam. In beidem sowie auch in den naturwissenschaftlichen Fächern zählte sie bald zu den Besten.

Von den Schriftstellerinnen hatten es ihr besonders Rahel Varnhagen von Ense (1771 – 1833), Dorothea Mendelssohn (1769 – 1839) und Henriette Herz (1785 – 1859) angetan. Immer wieder griff sie auch zu den Traktaten der Bettina von Arnim, an denen sie vor allem deren freigeistiges politisches Engagement bewunderte. Eines Tages bekam sie die Streitschrift in die Hände, in der Bettina vom hannoverschen König Ernst August I. (reg. 1837 – 1851) die Aufhebung des Berufsverbots gegen die „Göttinger Sieben“ gefordert hatte. Diese Professoren, der Staatsrechtler Wilhelm Eduard Albrecht, der Historiker Friedrich Christoph Dahlmann, der Orientalist Heinrich Ewald, die Germanistenbrüder Jacob und Wilhelm Grimm, der Literaturhistoriker Georg Gottfried Gervinus sowie der Physiker Wilhelm Eduard Weber hatten ihrerseits vergebens gegen die von ihm 1837 verfügte Aufhebung der liberalen Verfassung seines Königreiches protestiert. Lina war fest davon überzeugt dass Bettina mit ihrer Schrift den König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen (reg. 1840 – 1861) bewogen hatte, seine Landeskinder freizubekommen – er hatte die Dahlmann und Gebrüder Grimm an die Universität Bonn beziehungsweise die Akademie der Wissenschaften zu Berlin berufen.. /4/

1843 war Bettina von Arnim ein weiteres Mal politisch aktiv geworden. In einer weiteren Schrift dahingehend hatte sie sich dahingehen geäußert, dass es der Obrigkeit zukäme, für das Wohl seiner Untertanen, die in oft beispiellosem Elend lebten, zu sorgen. Ebenso gefiel der jungen Breslauerin die Art und Weise, mit der es Bettina verstanden hatte, ihre Schrift an der Zensur vorbei zu schleusen um eine breite Leserschaft zu erreichen.; sie hatte sie direkt dem König gewidmet hatte. Unter dem Titel „Dies Buch gehört dem König“ war sie für die Behörden tabuisiert. /5/

1844 hatte sich Bettina von Arnim in aller Öffentlichkeit mit den aufständischen schlesischen Webern solidarisiert. Sie hatte es für ihre Pflicht gehalten, die Armen im Glauben an den Wert der menschlichen Seele zu bestärken, damit diese, wie sie schrieb, „sich ermannen und dem Schicksal trotzen können“./4/ Als darauf dann noch derselbe König verlauten ließ, er wolle im Berliner Lustgarten einen Dom errichten, empfahl sie ihm, stattdessen lieber die Lasten der Armen lindern zu lassen.

Durch das Beispiel Bettinas und die väterliche Erziehung wurde Lina zu tieferem Eindringen in die Geschichte angeregt. Daraus wiederum ergab sich in ihrem Fühlen und Denken eine stärkere Hinwendung zu aufklärerischer Liberalität, Offenheit und Toleranz, was sich dann in stärkerer Opposition gegen politisch motivierte geistige Bevormundung offenbarte.

Doch für Freigeistiges konnte man sich nichts kaufen, und um so mehr lag den Eltern an der Entwicklung des Sinns ihrer Töchter für Wirtschaftlichkeit und familiäre Verantwortung. Sie achteten auf strenge Zeiteinteilung und bezogen die Mädchen konsequent in die häuslichen Arbeiten ein. So absolvierte Lina mit ihren Schwestern immer eine Woche lang den „Haushaltsdienst“, der sich auf alle Arbeiten in der Küche, am Nähtisch und im Waschkeller erstreckte. Die Mutter kontrollierte streng. Für das Musizieren mussten die frühen Morgenstunden genügen. Nur die Abende waren der Lektüre und kleinen schriftstellerischen Arbeiten vorbehalten, mitunter musste oft genug sogar die Nacht herhalten.

In dieser Atmosphäre erlebte Lina die aufrührerischen Stürme um das Jahr 1848. Schon zwei Jahre zuvor war das nicht allzu ferne Krakau zweimal zum Zentrum spontaner polnischer Aufstände geworden; nach deren Niederschlagung strömten viele Flüchtlingszüge nach und durch Schlesien.

Lina war immer zu finden, wo es auf Hilfe ankam. Im März 1847 wurde es auch in Breslau unruhig. Handwerker erhoben sich gegen zunehmende Teuerung und Verelendung. Manchem Lehrbuben in Vaters Fabrik mochte Lina eine Kleinigkeit zugesteckt haben.

Dann kam es im Frühjahr 1848 in Berlin zu Barrikadenkämpfen. Jeder Tag brachte nun aufregende Neuigkeiten – mal gute, mal schlechte. Verschreckt musste der König nachgeben und eine bürgerliche Regierungsmannschaft berufen - das von Camphausen geführte Kabinett. Die „Schlesische Chronik“ durfte nun offen freiheitliches Gedankengut verbreiten. Als ein neues demokratisches Blatt erschien die „Allgemeine Oder-Zeitung“, die aufmunternd von den Vorgängen im Königreich berichtete.

Mit Freuden erfuhr Lina, dass ihr Idol, Bettina von Arnim, jetzt vom König verlangte, doch einen Schritt weiterzugehen und ein Ministerium der Linken einzusetzen. Er selber solle sich zum Kaiser eines geeinten Vaterlandes ausrufen lassen – „vom Volk auf den Schild gehoben als Befreier, als Träger einer neuen Zeit, handelnd in der Sonnenbahn des Ruhmes“. Das war wohl das Letzte, was man von ihm verlangen konnte. Einer Antwort blieb er selbstverständlich schuldig.

Hautnah erlebten die Breslauer das Aufbegehren der Bauern gegen feudale Ausbeutung. Jetzt war die ganze Gegend - vom Riesengebirge herab bis ins Tal links und rechts der Oder - in Aufruhr. Nun wollten auch sie im Kampf um Freiheit und ein bisschen Mehr an Gerechtigkeit dabei sein. Das traf auch auf Lina zu, die – nun siebzehneinhalb Jahre alt - freimütig bekannte:

„Wir stehen vor dem Titelblatt einer großen Zeit, deren Segen wir wünschen, deren Sorgen wir tragen, deren Herbe wir ahnen.“ Nun müsse es darum gehen, “die Ungleichheiten des Lebens nach Kräften zu ebnen, die Gegensätze zu vermitteln und bessere Zustände herbeizuführen.“ /6/

Aus ihrer sich gleichzeitig ausprägenden pietistischen Einstellung reifte ihr Drang zur Wohltätigkeit, der fortan für ihr ganzes Leben bestimmend blieb. Die Schulklasse war ihr erstes Übungsfeld. Unterstützt von Mitschülerinnen begründete die inzwischen Achtzehnjährige einen „Pfennigverein für arme Schüler“. Groß waren dessen Wirkungen sicherlich nicht, aber immerhin, er half mit, Bedürftigen einen erfolgreichen Schulbesuch zu ermöglichen. Dies spornte an, gab Auftrieb und der Verein blieb bestehen. Noch lange nach Linas Schulabgang. setzte er seine Bestrebungen fort.

Als 1849 die revolutionäre Welle abebbte, begann auch für Lina ganz persönlich ein neuer Lebensabschnitt. Das hing besonders mit der Niederlage der polnischen Aufstände zusammen. Den Kämpfern war es nicht gelungen, Polens Unabhängigkeit wieder herzustellen – ihr Vaterland blieb weiterhin zwischen Österreich, Preußen und Russland geteilt. War die Niederlage vielen Menschen zum Verhängnis geworden, brachte sie für Lina das persönliche Glück. Die Flüchtlingsströme schwollen nun erst richtig an; Hunderte von Menschen – unter ihnen der jüdische Kaufmann Theodor Morgenstern – kamen nach und durch Schlesien, um hier, in Preußen, sicheres Asyl zu finden.

Doch nicht alle Auswanderer zogen gen Westen weiter. Morgenstern, der bei Bauers Unterschlupf fand, blieb. Bei Lina erfuhr er mehr als stille Zuneigung. Beinahe auf dem sprichwörtlichen ersten Blick gewann Lina den um drei Jahre Älteren lieb. Vielleicht sah sie in ihm auch den Typ des polnischen Revolutionärs, den sie nach Jungmädchenart zu bewunderte. Die Eltern hatten nichts gegen ihn und den Glücksrausch ihrer Tochter einzuwenden, zumal sich Theodor auch als umsichtig, fleißig und sparsam erwies, was in den damaligen Kreisen von Geschäftsleuten als hervorzuhebende Tugend hoch im Kurs stand.

Nach wenigen Jahren war Lina erwachsen genug und sich ihrer Aussteuer sicher. Theodor hatte durch allerlei Handel wieder ein kleines Vermögen angesammelt. Im Jahre 1854 heirateten sie, und nach der Hochzeit erfolgte ihr Umzug nach Berlin.. Dort hofften sie auf Selbständigkeit und auf weiterhin viel Glück – aber auch auf Anschluss an das pulsierende Leben der Hauptstadt.

Als „junges Glück“ in Berlin

Theodors Geld reichte für den Aufbau eines kleinen Immobilienhandels. Allerdings hatte er auch für Freunde, die ebenso wie er aus Polen kamen, Bürgschaften übernommen. Ihnen wollte er beim Start in eine neue Existenz behilflich sein. So musste das Paar von Anfang an sparsam wirtschaften. Im Stadtzentrum bezogen sie eine bescheidene Wohnung. Rasch stellte sich gewünschter Familienzuwachs ein. Relativ kurz hintereinander gebar Lina die Kinder – im Mai 1855 Clara und ein Jahr später Michael; Olga wurde am 19. November 1959 geboren, ihr folgten in den nächsten Jahren Martha und Philipp.

Ende der fünfziger Jahre gerieten die Morgensterns in den Strudel einer Wirtschaftskrise. Theodors Freunde gingen Pleite, und er musste für sie geradestehen. Die noch junge Ehe hatte somit eine erste ernste Probe zu bestehen. Für Lina zahlte sich aus, dass sie im Elternhaus konsequent gefordert worden war. Was sie gelernt hatte, sollte sich nun unter den Bedingungen des tagtäglichen Lebens bewähren. In Goethe’schem Sinne wurde ihr zur Maxime, was man damals unter Rollenverteilung verstand. Also schrieb sie:

„Die Frau hat hauptsächlich die Aufgabe, das Feuer der Liebe in der Ehe zu nähren; sie ist nicht allein die Priesterin des Hauses und dies hört auf, ein Tempel der Einigkeit zu sein, wenn der Mann erst Veranlassung findet, außerhalb seines Hauses Genuss und Freude zu suchen. Es gilt also, ihm das Haus angenehm zu machen, um ihn dauernd an dasselbe zu fesseln, ihm darin die wahre Heimat zu bieten, aus denen er aus den Stürmen stets an das Herz seines Weibes zu fliehen vermag…“. /7/

Vor allem vermied es Lina, in Schulden zu geraten, denn dann müsse man neben dem Geborgten auch noch Zinsen und Zinseszinsen zahlen, wodurch die Nachteile für den Familienhaushalt weiter anwachsen würden. Sie hatte erkannt, wie wichtig wirtschaftliche Berechnungen und Rechnungsabschlüsse waren und schrieb – zunächst sich selbst – ins Stammbuch:

„Das Unglück und Elend unserer Kaufleute, Gewerbetreibenden und Arbeiter rührt meist davon her, dass sie die Bedeutung der Berechnung nicht verstehen. Freilich nützt ihnen eine solche nur, wo die Bedürfnisse der Familie von den Einnahmen bestritten werden können und man imstand ist, einen Sparpfennig für außergewöhnliche Fälle zurückzulegen. Es ist dies immer schwierig für alle Diejenigen, welche vom Ertrag ihrer Arbeit, nicht von den Zinsen ihres Kapitals leben.“ /8/

Um sparen zu können, kaufte sie zwar nicht immer billig, aber durchaus preiswert ein. Sie lernte es, Lebensmittel vielseitig und rationell zu verwerten. Aus Wenigem verstand sie, Gutes zu bereiten; alles sollte nahrhaft sein und schmecken. Gemüse, vor allem Hülsenfrüchte, aber auch Obst standen bei ihr hoch im Kurs.

Ihre Art des Wirtschaftens ließ ihr rasch den Nutzen exakter Haushaltsführung erkennen. In einem „Wirtschaftsbuch“ vermerkte sie alle laufenden Ausgaben für Nahrung, Kleidung und Sonstiges. Ein „Haushaltsbuch“ führte sie zur Planung der vorhersehbaren Kosten für Miete, Steuern, Feuerung und dergleichen, aber auch für Neuanschaffungen, wie Möbel, sowie für Arznei und Reparaturen. Einnahmen und Kosten wog sie sorgfältig gegeneinander ab, und gemeinsam mit Mann und Kindern verständigte sie sich über Notwendiges und Wünsche. Es stand außer Frage, dass Geburts- und Festtagsgeschenke nicht allzu üppig ausfielen. Spielsachen wurden von den größeren Kindern für die jüngeren gebastelt. Märchen und Geschichten wurden selbst erdacht, aufgeschrieben und illustriert und manche davon zu besonderen Anlässen in der Familie aufgeführt.

Um zur Aufbesserung des Familienbudgets beizutragen, versuchte sich Lina als Schriftstellerin. Für Geschichten, die ihren eigenen Kindern gefielen, fanden sich Verleger. Ihr erstes Büchlein – „Die Storchstraße – 100 Bilder aus der Kinderwelt in Erzählungen und Liedern“ – kam 1861 in ihrer Heimatstadt heraus. Es war rasch vergriffen, so dass weitere Auflagen lohnenswert schienen. Den Auftakt dazu bildete eine Sammlung von 101 Gedichten und Liedern – wieder „aus der Kinderwelt“. Dieser schloss sich der Titel „Die kleinen Menschen“ an und kam 1962 sowie 1870 in Berlin auf den Markt. Mitte der sechziger Jahre erschienen ihre erste längere Erzählung für Kinder – „Das Bienenkäthchen“ und die Märchensammlung „In der Dämmerung“. Bis Ende desselben Jahrzehnts hatte sich Lina Morgenstern in Berlin und über die Grenzen der Stadt hinaus als Kinderbuchautorin schon einen guten Namen gemacht. Das Schreiben war ihr damit quasi zum Beruf geworden. Aber wie bereits in den eigenen Kinderjahren musste die Zeit für das Geistige von der häuslichen Arbeit abgezwackt werden.

Als Beispiel mag folgende Episode gelten: Wieder einmal wurde sie von mühseliger Hausarbeit gefordert. Unerwartet wurde sie von einem Herrn aufgesucht, der von einer absonderlichen Idee besessen war, für den Berliner Tiergarten einen „hohen Turm“ zu projektieren. Vor kurzem habe er einen wissenschaftlich orientierten Artikel von ihr gelesen und deshalb hielt er sie für kompetent, ihn zu dieser Absicht zu beraten. Wie das Gespräch verlief, schilderte sie in einem späteren Aufsatz wie folgt:

„Es war am Tage einer Gedenkfeier, nämlich des 300. Geburtstages von Galileo Galilei, am 18. Februar 1864. Bei mir in der Häuslichkeit war ein recht prosaischer Tag, nämlich ‚große Wäsche’, die Dienerin mit der Hausfrau im Keller - so musste ich selbst ‚Mädchen für Alles’ sein und war gerade dabei, das Mittagsmahl zu bereiten, wobei meine Kinder mich umtrippelten und da sie so gerne Mama helfen wollten, jedes seine kleine Arbeit zuerteilt erhielt, da klingelt’s. ‚Das ist Papa!’ riefen die Kleinen und stürmten mir nach, als ich zu öffnen ging. – Ein fremder, großer breitschultriger Herr steht vor mir und fragt nach Fräulein Morgenstern. ‚Fräulein?’ sage ich, das ist mein Töchterchen:’ – ‚Ah.,’ antwortete er, ‚ich möchte die Dame sprechen, welche die Biographie Galileo Galileis geschrieben hat!’ – ‚Das bin ich!’ war meine Erwiderung. Er prallte zurück: ‚Sie, gnädige Frau? Ist es möglich? Und ich finde sie in der Wirtschaftsschürze, umringt von Ihren Kindern! Gestatten Sie, dass ich Ihnen aus Bewunderung die Hand küsse!’ /9/

Morgensterns neue Heimat: Berlin

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Der Wasserturm auf dem Windmühlenberg und Panorama nach Süden

Nach einer Lithographie von Th. Dettmers und W. Knoll, um 1853

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Vom Turm des Französischen Doms – Panorama nach Ost

Nach einer getönten Lithographie von F, A. Borchel, um 1860

„Kommt lasst uns unseren Kindern leben“

„Den jungen Keim zu pflegen…“

So sorgsam, wie mit ihren Materialien ging Lina bald auch mit ihrer Zeit um. Alles suchte sie so rationell wie möglich zu erledigen, denn ihren Kindern, denen ihre ganze mütterliche Hingabe galt, wollte sie möglichst viel Zuwendung bieten. Dieser Wunsch entsprach schon weniger jüdischer Tradition als viel mehr sich vertiefender Einsicht in den damaligen Wandel des Rollenverständnisses zwischen Mann und Frau. In vielen Familien – und so auch bei den Morgensterns – war der Mann als Haupternährer darauf angewiesen, außer Haus zu arbeiten - in der Fabrik, im Büro, im Geschäft oder anderswo. Um die Erziehung seiner Kinder, auch seiner Söhne, konnte er sich kaum noch kümmern. Infolge dessen, so erkannte sine Frau, müsste sich in der Familie einiges ändern. Der „Beruf des Weibes“ erhalte nun neue Akzente, denn die Mutter habe nicht mehr nur die Küche, den Haushalt und den Putz zu besorgen, sondern müsse ab jetzt darüber hinaus den Vater bei der Erziehung der Kinder, auch der Knaben, nicht nur helfen, sondern vielmehr voll vertreten, wenn nicht sogar ganz ersetzen.

Dazu sah sie sah sie sich nach ratgeberischer Literatur um und stieß auf eine Fülle an Materialien zu verschiedenen Sachverhalten Zunächst nahm sie sich einen Beitrag von Professor Franz von Holtzendorff (1804 – 1871) vor. Dieser war den sie interessierenden Problemen als Jurist angegangen und hatte sich zur Frauenfrage folgendermaßen geäußert:

„In demselben Maße, als das männliche Geschlecht durch die fortschreitende Arbeitsteilung zur Einseitigkeit der Berufsbildung fortgetrieben, durch immer größere Arbeitsleistungen und Arbeitsanforderungen dem emsigen Verkehr mit dem heranwachsenden Geschlecht entfremdet wird, erhört sich die Kulturmission des weiblichen Geschlechts in der Familie. Die Frauen haben die höchst schwierige Aufgabe, die realen Berufsinteressen mit den ideellen Gütern der Menschheit auf dem Gebiete der Erziehung zu vermitteln. Sie haben den abnehmenden Einfluss der väterlichen Gewalt durch freie Einwirkungen auf die Neigungen des jun- gen Geschlechts zu ersetzen. Sie haben die schwächsten Anfänge der im Kinde emporkeimenden Anlagen zu entdecken, zu pflegen und zu schützen. Sie haben die unscheinbarsten Dinge zu ordnen, für die täglich wiederkehrenden Bedürfnisse des physischen Lebens Sorge zu tragen. Das Niedrigste und Höchste durchdringen sich in ihrem Berufe.“ /1/

Als Nächstes nahm sich Lina den damals bekannt gewordenen Schweizer Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi (1746 -1827) vor, der wohl als Erster angeregt hatte, die Bildung des Volkes in die Hände der Mütter zu legen. /2/

Sogar Napoleon I. (Kaiser der Franzosen 1804 - 1815) stimmte einem solchen Ansinnen zu; mahnte aber, das Problem der Kindererziehung nicht dem Selbstlauf zu überlassen; er forderte sogleich, man müsse sich dazu vordringlich um die Bildung der Mütter sorgen. Auch die Veröffentlichungen des Pädagogen Friedrich Fröbel (1782 – 1852) bereicherten Linas Lektüre, nachdem sie an seinem Appell „Kommt, lasst uns unseren Kindern leben!“ Gefallen gefunden hatte. /3/

Lina bewegte all diese Ideen in ihrem Geiste und schwor sich, ihren Kindern dementsprechend eine liebevolle Betreuerin zu sein. Dies schloss für sie die Sorge um die Gesundheit und das Wohlergehen aller Familienangehörigen ein. Ihre Haltung zu alledem verlieh sie in einem späteren Gedicht emotionalen Ausdruck:

„Den jungen Keim zu pflegen und zu warten,

Den Gott in seinem Ebenbilde schuf!

Ihn einzuführen in den Lebensgarten,

Den Pflegesinn, den Gott in der Natur

Als Lebenstrieb und Lebenskraft verbreitet,

Der sich uns offenbart im Blümlein auf der Flur,

In jeder Knospe, die der Baum bereitet,

Der Lebenssinn tut sich im Weibe kund,

Die Menschenblüte herrlich zu entfalten!

Die Liebe ist des Daseins Ziel und Grund,

Nur ihr entkeimen sittliche Gewalten.“ /4/

Lina ging vor allem davon aus, dass die planvolle Erziehung bereits mit der Geburt des Kindes beginnen müsse. Möglichkeiten, danach zu handeln, probierte sie sogleich mit ihren Kindern und diskutierte dann darüber gern mit einem interessierten Publikum. Der Mutter obliege es, die Entwicklung des Kindes zu gewährleisten und äußere Hemmnisse davon fernzuhalten. Lebensbedürfnisse müssten durch Pünktlichkeit gesichert werden, und schließlich sei alles zu tun, damit das Heranwachsende gehen und sehen lernt. Denn so, wie die Mutter das Kind sehen lehrt, wird es die Dinge später beurteilen, und wie die Mutter ihre Empfindungen weitergibt, werde sich auch die Gefühlswelt des Kindes ausbilden. Zur Bewertung dessen schrieb sie:

„Das ist es, was jede Beschäftigung mit dem Kinde so wichtig macht, dass die Mutter mit zärtlicher Sorgfalt alle seine Bedürfnisse überwachen lässt, die man sonst gern flüchtig den Sinnen entzieht, dass selbst das scheinbar Geringe nicht bloß des Kindes Gegenwart bewirkt, sondern für seine ganze Zukunft wichtig werden kann.“ /5/

Je weiter sich Lina Morgenstern in die Schriften zeitgenössischer Pädagogen vertiefte, umso eindringlicher wurde sie sich der Kindererziehung als einer recht vielseitigen und komplexen Angelegenheit bewusst. – als ein Miteinander von körperlicher und seelischer Ausbildung, als eine Schulung von Kenntnis, Können und Wollen, von Gefühl und Verstand. So sehr sie Gewalt in der Erziehung ablehnte, so wenig hielt sie von dem, was man heute als antiautoritär bezeichnen würde. Sie empfahl achtzugeben, dass sich in Seele und Körper des Kindes keine schlechten Triebe einnisten und mahnte:

„Wie oft wird mit sorgloser Hand ein Spielzeug gereicht, das in seiner Anwendung verderblich wirkt; mit wie sorglosem Sinn wird das Kind Wärterinnen, Erzieherinnen und Spielgefährten überlassen, ohne dass die Mutter darauf achtet, welche schlechten Gewohnheiten und Triebe sich von diesen auf ihr Kind übertragen. Es gilt, jeden Reiz des Bösen dem Kind in diesem zarten Alter, wo es weich wie Wachs ist, aus dem Wege zu räumen.“ /6/

Dazu riet sie:

„Also beachte jeden Keim in deinem Kinde, jeden Fehler, zu dem es Anlage zeigt, erforsche, woher es seine schlechten Worte, seine unstatthaften Bewegungen, seine Launenhaftigkeit oder Klatschsucht hat – und entferne die Elemente, von denen du fürchtest, dass sie schlechten Einfluss auf sie haben.“ /7/

Zu den schlechten Keimen zählte Lina Morgenstern über das Bekannte hinaus besonders Naschhaftigkeit sowie Putz und Herrschsucht. Sollte das Kind „genäschig“ sein, vermeide man, ihm oft „Gaumenkitzel“ zu bereiten. Man dulde auch nicht, „dass es von den Tanten bald einen Bonbon, bald Schokolade und andere Näschereien außer den Mahlzeiten erhalte“. Stattdessen biete man ihm kräftigende Kost – „und führe es nicht zum Konditor, wo sein Auge all die Süßigkeiten mit Begierde verschlingt“.

Der Putzsucht sei mit einfacher Kleidung zu begegnen. Die Mutter müsse zu erkennen geben, dass sie selbst keinen Wert auf Flitter legt. Bei aufkommender Herrschsucht solle die Mutter für Umgang mit anderen Kindern dafür sorgen, dass das eigene sich einzuordnen lerne.

Auch bei der sittlichen Erziehung ging Lina Morgenstern nicht über konservativ zu beurteilende, aber damals aus der Zeit heraus vielleicht verständliche Auffassungen ihrer Zeit hinaus. Sie hielt es für höchst verderblich, „kleine Mädchen und Buben ohne Aufsicht zusammen zu lassen“. Denn wenn bei ihnen das Schamgefühl aufhöre und sie sich „in sinnlichen Spielen und Spielereien mit dem eigenen Körper gefallen, würde ihre geistige und körperliche Gesundheit im höchsten Grade gefährdet.“. /8/

Auf das Problem der Klatschsucht zurückkommend, riet Lina Morgenstern, einem Kind, das entsprechend auftritt, klarzumachen, dass auf sein Gerede kein Wert gelegt werde. Dazu führte sie aus:

„Begegne deinen Kindern mit Vertrauen und erwarte, dass sie offenherzig dir alles erzählen, was ihnen begegnet, aber hüte dich, sie über andere auszuhorchen, das gibt dann selbst Veranlassung, dass sie verkleinern, verleumden oder gar die Unwahrheit reden. Nichts bestrafe so sehr wie die Lüge! Die Phantasie eines Kindes kann leicht irreführen, und es hat von vielem eine andere Anschauung als der Erwachsene; aber sobald es bewusst die Unwahrheit spricht, verdient es die ernsthafteste Bestrafung oder Zurechtweisung.“ /9/

Nicht zuletzt müsse bei Heranwachsenden auch Leichtsinn bekämpft werden; noch besser sei es, ihn gar nicht erst aufkommen zu lassen. Meist bestünde er darin, dass Geld ohne Berechnung ausgegeben wird. Wenn die Mittel zur Befriedigung der Gelüste nicht ausreichen, würden Schulden gemacht. Vom Schuldenmachen und Schuldenhaben zur Veruntreuung sei der Weg nicht weit. Auf diese Weise sei schon mancher einst hoffnungsvolle Sprössling zum Verbrecher geworden, und dann wäre verständlicherweise der Gram der Eltern groß gewesen.

Wo Leichtsinn auftritt, seien meistens die Erwachsenen schuld. Sie gäben ihren Kindern ein schlechtes Vorbild oder gestatteten ihnen falschen Umgang. Mancher wäre vielleicht nicht auf die falsche Bahn geraten, wenn ihm die Eltern als Kind frühzeitig an Sparsam- und Genügsamkeit gewöhnt hätten. Deshalb solle jeder bei Zeiten angehalten werden, sich einen Genuss zu versagen, sich an das Haushalten mit den gegebenen Mitteln zu gewöhnen und Eigentum anderer Leute wie das eigene zu schonen. Wer es schafft, nicht jedem augenblicklichen Verlangen nachzujagen, der werde später nicht leichtsinnig verschwenden, um gewissenlos seine Zukunft und die seiner Angehörigen aufs Spiel zu setzen. /10/

Wie andere Pädagogen wollte auch Lina Morgenstern auf Strafen und Zurechtweisungen prinzipiell nicht verzichten, „solange die Menschen nicht als Engel geboren werden“. Allerdings sei mit diesen Erziehungsmitteln recht bedachtsam umzugehen. Nie sollten Strafen das Ehrgefühl des Kindes töten. Als Schauspiele vor anderen aufgeführt, .würden sie nicht heilen, sondern alles nur verschlimmern. Dazu schrieb sie weiter:

„Wenn Kinder so verdorben sind, dass sie kein Schamgefühl vor der Strafe haben, können wir annehmen, dass sie unvernünftig bestraft worden sind. Mahnung und Strafe tun – unter vier Augen – die beste Wirkung.“ /11/

Um überhaupt erfolgreich erziehen zu können, müsse man sich in erster Linie am Schönen und Guten orientieren. Jedes Anschauen des Schlechten allein mindere den Abscheu und beeinflusse das Kind negativ.

Welche Wirkung eine richtige Kombination von Erziehungsmethoden haben könnte, demonstrierte Lina Morgenstern in ihrer Geschichte vom Bienenkäthchen. Da geht es um ein kleines Mädchen, das die Schule geschwänzt hatte und von seiner Mutter zur Strafe in den Wald geschickt wurde, um Beeren zu sammeln. Als es müde geworden war, setzte es sich unter einen Baum, wo es alsbald einschlief, von fleißigen Ameisen und emsigen Bienen träumte und durch deren Beispiel es geläutert wurde. Besserung gelobend versprach es am Ende, der Mutter ab jetzt immerfort zu gehorchen. Ob Lina Morgenstern hier nicht doch auf den Zufall baute, sei dahingestellt. /12/

Durch ihre Schriften bekannt geworden, wurde Lina Morgenstern bald vielfach um weiteren Rat ersucht. Immer öfter wurde sie zu Vortrags- und Unterhaltungsrunden eingeladen. Was wunder, dass sie sich in diesem Trend gefiel. Wo es um Kindererziehung ging, mochte sie nun nicht mehr fehlen. Bald wurde ihr jedoch bewusst, dass ihre Maximen nur schwer umzusetzen waren. Vielen Müttern mangelte es dazu an notwendigem Wissen, aber auch an pädagogischem Geschick. Außerdem waren manche von ihnen selbst nicht erzogen.

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Im Banne Fröbelscher Idee n

Bei Frauen aus ärmeren Kreisen kam hinzu, dass sie für die Erziehung ihrer Kinder zu wenig Zeit hatten. Da die Einkommen ihrer Ehemänner gerade ausreichten, um das Überleben der Familien leidlich zu sichern, mussten die Frauen und oft genug auch die Kinder „dazuverdienen“ – entweder am Band in der Fabrik oder daheim, selbstverständlich im Akkord. Kinder, die noch zu Hause blieben, standen den arbeitenden Eltern oder ihren größeren Geschwistern dann meistens im Wege. Auf ihre Fragen, egal, worauf diese zielten, erhielten sie nur selten vernünftige Antworten. So waren sie mit ihren Problemen fast immer allein. Besonders schlimm war es für sie, wenn der Vater Alkohol trank. Oftmals setzte es Prügel – manchmal schon bei geringsten Anlässen.

Lina Morgenstern erahnte sehr früh die sozial-ökonomischen Ursachen solcherart Missstände, die zu verändern ihr nicht möglich schien.

In mittleren und gehobenen Kreisen waren die Kinder zumeist dem „Personal“ überantwortet. Arg sei es gewesen, wenn dieses von Erziehung wenig oder erst recht nichts verstand. Dann durften sich die Kinder entweder alles erlauben, oder wurden bei jeder kleinen Unart gescholten oder geschlagen.

Während Lina Morgenstern darüber nachsann, wie trotz vielfältiger Widrigkeiten geholfen werden könnte, lernte sie die Pädagogin Bertha von Marenholtz-Bühlow (1810 – 1893) kennen. Diese sozial engagierte Baronin hatte 1851 versucht, einen Volkskindergarten zu begründen, wie ihn der Pädagoge Friedrich Fröbel (1782 – 1851) im thüringischen Marienthal ins Leben gerufen hatte. Der allseits bekannte Erziehungsforscher Adolf Diesterweg (1782 – 1866) hatte damals die Eröffnungsrede gehalten. Doch schon nach vier Tagen war das Unternehmen vom preußischen Kultusminister, Herrn von Raumer, den selbst Prinz Wilhelm als „ultrareaktionär“ empfand, verboten worden. Zur Begründung des „Ministerial-Restrikts“ hatte es geheißen:

„Wie aus der Broschüre ‚Hochschulen für Mädchen und Kindergärten usw.’, von Karl Fröbel erhellt, bilden die Kindergärten einen Teil des Fröbelschen sozialistischen Gebietes, das auf Heranbildung der Jugend zum Atheismus berechnet ist. Schulen usw., welche nach Fröbels Grundsätzen errichtet werden sollen, können daher nicht geduldet werden.“ /13/

Fröbel und Diesterweg machten die Behörde darauf aufmerksam, dass diese Friedrich mit dessen Neffen Karl – einem dazumal in Hamburg tätigen sozialistischen Pädagogen – verwechselt hatte. Doch nichts half – Fröbel war Fröbel, egal ob Friedrich oder Karl. Das Verbot wurde nicht zurückgenommen, und Friedrich Fröbel blieb aus Preußen verbannt. Dafür genoss er das Wohlwollen des sächsisch-weimarischen Staatsministers. Auch dieser wollte, dass sich möglichst viele Frauen an dessen progressiven Ideen begeistern mögen. Auf einer Veranstaltung in Liebenstein unterstützte er Friedrich Fröbels Appell, allerorten Erziehungsvereine zur Förderung der Kindergärten zu gründen und wirksam werden zu lassen.

In Fröbels Fußtapfen fand Lina die Baronin Bertha von Marenholtz-Bühlow. Diese war dem Rufe Fröbels von Anfang an gefolgt und reiste noch immer werbend durch halb Europa. Oftmals kam sie nach Paris, wo sie im Verlaufe dreier Jahre mehr als hundert Vorträge hielt. Das Echo auf ihre Agitation blieb aber auch dort zwiespältig. Arbeiterfrauen glaubten ihre Kinder bei Verwandten auf dem Lande seit jeher besser – vielleicht auch wohlfeiler – aufgehoben. Was sollte ihnen da die Marenholtz’sche Problemsicht? Hingegen zeigten sich die Männer gewöhnlich aufgeschlossener. Manche hingen noch den Auffassungen des utopischen Sozialisten Charles Fourier (1772 -1837) an und meinten, dass eine geregelte Erziehung in den ersten Lebensjahren überaus wichtig sei, und eben deshalb dürfe man die Kinder nicht irgendwelchen Omas oder Tanten überlassen. Handwerker folgten den Vorträgen mit Begeisterung und Verständnis. Sie erkannten, dass die Beschäftigungen in den Kindergärten als Vorbereitung auf die Lebensarbeit durchaus nützlich sein könnten.

Getragen von vielen Zuhörern wandte sich die Baronin mit Petitionen an Kaiserin Eugenie, die Gattin Napoleons III. und den Kardinal von Tours. Immerhin erreichte sie, dass das französische Unterrichtsministerium beauftragt wurde, die Fröbelschen Ideen in einigen Anstalten zu erproben. Eine speziell gebildete Kommission machte sich alsbald ans Werk. Das Ergebnis ihrer Ermittlungen muss wohl positiv ausgefallen sein, denn sie empfahl, wie es hieß, „die Kindergartenmethode in den bestehenden Anstalten offiziell einzuführen und nach Möglichkeit Kindergärten mit Elementarschulen zu verbinden“./14/ Seitdem war die Kindergartenbewegung in Frankreich, Belgien und auch Holland vorangekommen. Unterstützt wurde sie auch von Pierre Proudhon (1804 – 1865), einem weiteren französischen sozialistischen Utopisten.

Bis Ende der fünfziger Jahre entstand auch in Berlin ein kleiner Privatverein, der sich die Einrichtung Fröbel’scher Volkskindergärten zum Ziel setze. Als ein erster Erfolg galt ein Spielplatz, der auf Anregung der Gräfin Prohaska eingerichtet wurde. Der Platz befand sich vor dem Rosenthaler Tor und bot die Möglichkeit zu Bewegungsspielen. Doch bald ging der Gräfin das Geld aus und die Einrichtung musste aufgegeben werden.

1859 stellte sich auch die Baronin von Marenholtz-Bühlow wieder in Berlin ein, und Lina Morgenstern versäumte keinen ihrer zahlreichen Vorträge. Bald kam es auf Initiative beider Frauen zur Gründung des dann lange bestehenden Vereins zur Beförderung der Volkskindergärten. Ab nun traf man sich regelmäßig – beinahe täglich - in der Morgenstern’schen Wohnung, um die Vorbereitungen für die konkrete Vereinsarbeit zu besprechen. Gern erinnerte sich Lina Morgenstern dieser sie motivierender Treffs. Ihre Eindrücke schildernd, schrieb sie:

„Ein neues geistiges Leben regte sich in diesem Kreise, in dem der Name des großen Kindergärtners zum ersten Male ertönte und vielen Frauen, die früher über ihren Beruf nur unklare Vorstellungen hatten, wurde es jetzt klar, wie umfassend, weltbewegend und vielseitig der Mutterberuf sei.

Frau von Marenholtz hatte aber auch eine bewunderungswerte Beharrlichkeit in ihre Anregungen offenbart, und wo ihr scharfer Blick ein aufrichtiges Entgegenkommen und Interesse für die Sache fand, da ruhte sie nicht, diese Seele zu gewinnen, ging in die Privathäuser und belehrte ohne zu ermüden. Auch ich empfing von ihr die ersten Belehrungen, sie hatte mich bei einer der Versammlungen in der Diskussion entdeckt, und nun kam sie fast allabendlich zu mir, um mich oft bis zur späten Nachtstunde in ihrer geistreichen Weise von dem Fröbel’schen System zu unterhalten.“ /15/

Hoch geehrt fühlte sich Lina Morgenstern, als ihr die Baronin bald schon nach Fröbels Tod Einsicht in dessen Hinterlassenschaften ermöglichte. Nun konnte sie erfassen, wie der Meister über die Frauenfrage dachte und welche Rolle er ihr im sozialen Leben zugedacht hatte. Seine Hauptaufmerksamkeit muss er wohl auf die Familie gerichtet haben. Diese charakterisierte er als den Boden, auf welchem die Pflicht, der sittliche Ernst, die Entschiedenheit des Tuns mit der Klarheit des Wollens in die zarte Seele des Kindes gepflanzt wird. Die Frauenfrage – so schrieb Lina, sei von Friedrich Fröbel „als das Bewusstwerden der Frau von ihrer menschlichen Stellung im Leben“ aufgenommen und voll erfasst worden.

Mit voller Zustimmung nahm sie Fröbels Forderungen an die Mütter zur Kenntnis. Diese müssten, wollten sie den Männern als Gefährtinnen und Gehilfinnen ebenbürtig sein und die Kinder zu vollwertigen Menschen erziehen, selbst befähigt und angeleitet werden. Nur unter dieser Voraussetzung wären sie imstande, die Kindesnatur zu verstehen, um dafür sorgen zu können, dass sich die Kinder durch angemessene Pflege, Gewöhnung und konsequente Erziehung optimal entwickeln. Um dies zu erreichen, müssten die Mütter auch stets von den weltbewegenden Fragen Kenntnis nehmen. Sie bräuchten „Verständnis für die kulturgeschichtlichen Entwicklungen, denn das Kind, das zu erziehen wäre, stehe „mitten in der Gesellschaft als ihr Glied und ein zur Selbstbestimmung sich bildendes Individuum.“

Nicht zuletzt schien es ihr auch wichtig, was Fröbel über die Frauen im Allgemeinen und über die „Jungfrauen“ gesagt hatte. Letztere dürfte man auf keinem Fall vergessen oder vernachlässigen. Besonders für sie gelte es, „sie aus ihrem ‚Schlendrian’ zu reißen und sie für die heilige, weittragende Aufgabe des Erziehungswerkes zu begeistern“. De Kindergärten sollten – vorausgesetzt, sie werden von wohlausgebildeten Erzieherinnen geleitet – Pflanzstätten „nicht nur für das Kind, sondern auch für die Jungfrau“ sein. In erster Linie als Hilfe für Mütter gedacht, die durch eigene Fabrik- oder Heimarbeit zum Lebensunterhalt der Familie beitragen müssten, sollten sie gleichzeitig Töchtern bemittelter Familien die Möglichkeit geben, sich auf ihren „mütterlichen“ Beruf“ vorzubereiten.

Dass Fröbel mit solchen Forderungen weit über das zu seiner Zeit Machbare hinausgegangen war, schien sie übersehen zu haben. Vielleicht hielt sie sie auch für Ziele, die durch die Frauenbewegung zu befördern gewesen wären.

Tief bewegt und inspiriert, verfasste Lina Morgenstern ihr erstes größeres Lehrbuch. Sie nannte es „Das Paradies der Kindheit“ und brachte es 1861 in Berlin heraus. Als Handbuch stellte sie Fröbels Lehre und die Grundgedanken seines Systems dar. Zugleich aber enthielt es Anregungen, wie die von Fröbel zusammengestellten Spiele

und Beschäftigungen für das Vorschulkind theoretisch erklärt und in der Praxis umgesetzt werden sollten. Das Buch erlebte noch viele Auflagen. Es gilt als die erste zusammenhängende Darstellung der Lehren Friedrich Fröbels in deutscher Sprache.

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Bei „Vater Fröbel“ zu Besuch

Wie es in der Fröbelschen Einrichtung tatsächlich zugegangen sein könnte, erfuhr Lina Morgenstern größtenteils nur vom Hörensagen, beziehungsweise aus Erzählungen von Absolventen. Prinzipiell hatte er kaum Schriftliches hinterlassen. Dennoch versuchte sie in einem Buch kundzutun, wie der Tagesablauf etwa gestaltet worden war. Manches mag auch der Verbindung von Erfahrenem mit einem gehörigen Schuss Phantasie geschuldet gewesen sein. Tatsächliche Abläufe lassen in all ihren Einzelheiten sich kaum rekonstruieren.

Der erste Versuch war ihr Buch „Die Storchstraße“ Es vermittelt ein recht anschauliches Bild, dessen Inhalt hier nur knapp skizziert werden kann. /16/

Die Geschichte macht uns mit einem kleinen Jungen namens Hugo bekannt. Sie schildert, wie er gerade in die Anstalt aufgenommen wird und seinen ersten Vormittag im Kindergarten verbringt.

Zunächst erschien Friedrich Fröbel als ein guter alter Mann mit langem, schütterem, grauen Haar. Er ging mit einem abgeschabten braunen Überrock einher. Sein Haus war zum Sammelpunkt für alle artigen Kinder geworden, ebenso wie der große Hof und der Garten. Das Tor war allerdings verschlossen. Nun kommt der Junge direkt ins Blickfeld:

„Er hatte die ganze Nacht von den Wunderdingen geträumt, die dort zu sehen sein sollten, und konnte die Zeit kaum erwarten, dass die Mutter ihm am anderen Morgen die Hand gab, um ihn in das Häuschen hinüber zu führen. Eine freundliche Frau öffnete ihnen die Haustür und geleitete sie über den Flur in einen großen Saal. Hier saß Vater Fröbel inmitten von vielen kleinen Knaben und Mädchen. Die einen hatten Baukästen und bauten, die anderen legten mit Holzstäbchen Figuren. Einige flochten mit bunten Papierstreifen, andere machten auf Schiefertafeln Striche, noch andere kneteten aus Ton kleine Töpfe und Teller, kurz alle beschäftigten sich und waren dabei sehr heiter und glücklich“. Nach Hugos Begrüßung rief Vater Fröbel zum Frühstück.“ /17/

Hugo, ein Freund von guten Speisen, war froher Erwartung. Aber es kam ganz anders:

„Er erstaunte also sehr, als die Dienerin zwei große Körbe brachte, die mit Gras, Kraut, Gerste, Fleisch, Vogelfutter und solchen Dingen gefüllt waren, die unter die Kinder verteilt wurden. ‚Das wird ein sonderbares Frühstück werden!’ dachte Hugo und folgte den anderen Kindern nach dem Hofe.“/18/

Hugo erlebte, was jedes Kind beim Füttern der Tiere zu tun hatte: Marie streute den Hennen Körner aus, Agnes und Bertha versorgten Enten und Gänse, die entsetzlich schnatterten und lärmten. Michael erklomm das Taubenhaus, Hans und Paul begaben sich mit Gras und Kraut zu einem weißen und zu einem schwarzen Kaninchen, die in ihrem Holzverschlag schon ungeduldig ihrer Mahlzeit harrten. Die Katzen bekamen von Pauline nur Milch, denn sie sollten sich ihre Nahrung selber suchen. und fleißig Mäuse fangen, derer es wohl viele gegeben habe. Lina und Gertrud, die ältesten Kinder, fütterten den Papagei, der gleich zubiss, wenn man sich ihm unvorsichtig näherte. An ihm sollten die Kinder auch lernen, dass man erst denken müsse und dann reden dürfe, um nicht gedankenlos darauf los zu schwatzen.

Nach der Tierfütterung war Gartenarbeit angesagt. Die Kinder erhielten kleine Harken, Schaufeln und Gießkannen und andere Geräte.

Hugo sah, dass jedem Kind ein kleines Beet angewiesen wurde, wo sie Bohnen, Erbsen und Blumen hineingepflanzt hatten. Die einen begossen die jungen Pflanzen, andere lockerten die Erde, um neuen Samen hineinzustreuen, noch andere banden die Bohnenranken an Stäben hinauf, die sie in die Erde steckten. Die größeren Kinder halfen den kleineren, und es war eine wahre Freude, diesem geschäftigen Treiben zuzusehen. Dabei sangen sie Lieder vom Garten und den Blumen und plauderten untereinander, während dessen sie sich die kleinen Erzeugnisse - Blumen und Früchte - zeigten, die dank ihres fleißigen Mühens gewachsen beziehungsweise gereift waren. Auch der kleine Hugo erhielt eine Schaufel und war dann so emsig und froh beschäftigt die Erde aufzuwerfen, dass seine Mutter, die wieder eingetreten war, sich herzlich darüber freute. /19/

Nach getaner Arbeit folgten die Kinder Fröbels Vorschlag, spazieren zu gehen. Immer zu zweit, schritten sie ihm hinterdrein, hoben hier ein Blatt, da einen Stein und dort einen Käfer auf, um sich das Gefundene benennen und beschreiben zu lassen.. Zum Abschluss ruhten alle auf den Bänken aus, Vater Fröbel erzählte den Kindern eine Geschichte und sang mit ihnen gemeinsam ein Lied.

Zu Mittag wurden die Kinder von ihren Müttern abgeholt. Dem kleinen Hugo sei es gewesen, als sei er in eine neue Welt gekommen.

An Fröbel orientierte Praxis

Kaum zur Vorsitzenden des Vereins für Volkskindergärten gewählt, ging Lina Morgenstern an die Arbeit. Mit der Finanzierung lag es noch im Argen, aber allmählich gingen Spenden ein. Wohlwollend unterstützte auch der damals sehr bekannte Berliner Pädagoge Adolf Lette das Unternehmen (er begründete 1866 einen selbst einen Verein, der sich der Fortbildung weiblicher Jugendlicher widmete und sich nach Lette benannte Verein besteht noch heute. Allerdings musste die Legalität des Vereins und seiner geplanten Einrichtungen noch erkämpft werden, da das Raumer’sche Verbot zwar vielfach kritisiert, aber immer noch Bestand hatte. Aber mit dem Hinweis, dass ja schon zwei Kindergärten, allerdings für Sprösslinge wohlhabender Eltern, existierten, ließ sich der neue, liberal denkende Minister, Herr von Bethmann-Holweg, endlich erweichen, dem Drängen des Vereins stattzugeben. /20/

Nun stand der neuerlichen Eröffnung eines Volkskindergartens in Berlin nichts mehr im Wege. Schülerinnen Fröbels wurden als Erzieherinnen gewonnen, und zusammen mit ihnen sorgte Lina auch gleich für ein entsprechendes Ausbildungsseminar. Mütter meldeten ihre Kinder an und machten sich in den abendlichen Veranstaltungen mit Fröbels Erziehungsmaximen vertraut. Die vom Meister als höchstes Ziel erstrebte freie Selbstbestimmung – so lehrte Lina Morgenstern – könne nur durch die Entfaltung aller im Kinde ruhenden Fähigkeiten zum kräftigen Wollen, selbständigen Urteilen und selbsttätigen Wirken erreiht werden. /21/

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In einem Berliner Volkskindergarten

Formalismus lehnte sie strikt ab. Ihr war es zuwider, wenn Kinder Sprüche nachplapperten, deren Sinn sie noch nicht verstehen konnten. Mit selbstgefertigten Anschauungsmitteln schulte sie Sinne, Beobachtungsfähigkeit und Denken Die Kinder sollten sich vielfältig beschäftigen - mit Ball, Kugel, Würfel und Walze, mit Papier, Holz, Stoff und Anderem mehr. Sie sollten Gegenstände zerlegen und wieder zusammenfügen. Sie lernten zeichnen, ausstechen, ausnähen, flechten und modellieren. Über das Selbsttun sollten die Kinder selbständig, ja sogar zum Erfinden, befähigt werden. In der ihrem Handbuch gab Lina Morgenstern dafür die Begründung:

„Die Kinder frühzeitig mit den Zusammenstellungen und Veränderungen der Grundformen bekanntzumachen, dabei verständlich und fasslich vorzugehen, dies sind die Grundformen, welche als Urformen für die gesamte Körperwelt gelten und für alles, was von Menschenhand gefertigt wird. Die frühe Anscheuung und Beschäftigung mit denselben erleichtert das spätere Verständnis der Körper in ihrer Mannigfaltigkeit. Das Kind lernt spielend die Gegenstände scharf zu betrachten und zu durchdringen… Auf Erfahrung soll das Denken des Kindes beruhen, und denkend soll es

von vornherein jede Erfahrung in sich aufnehmen.“ /22/

Weiteren Hinweisen Fröbels folgend, wurde beim Spiel viel gesprochen und gesungen. Denn, so wurde erläutert:

„Töne erwecken das Gemüt, das Wort gibt ihm die Deutung, der Rhythmus leitet seine Bewegungen zu natürlicher Anmut und der Gesang bildet sein Gehör, seinen Taktsinn, das Gefühl für eine gehobene Stimmung, für das ‚Seelenvolle’.“/23/

In der zweiten Auflage ihres Handbuches ließ Lina Morgenstern erkennen, dass sie nicht alles, was der Meister propagiert hatte, buchstabengetreu übernahm. Manches dachte sie weiter – besonders wenn sie die Kinder daran gewöhnen wollte, Schwierigkeiten in bestimmten Situationen selbstständig zu überwinden. Wie sie dabei über Fröbel hinausgeht, verdeutlichte sie an einem täglich vorkommenden Beispiel: Wie soll man sich einem Kind gegenüber verhalten, wenn es beim Spielen hingefallen ist?

In Originalversen gibt sie Dem schließt die eigene Version an:

zunächst Fröbels Vorgehen

wieder: „Hoppla auf und Hoppla nieder

Heb dich Kindlein, neig dich wieder,

„Bautz, da fällt mein Kindchen nieder, Fürchte nichts, ich halt dich fest!

Mutterliebe hebt es wieder Wie das Vöglein in dem Nest,

Und mein holdes Kindchen lacht! Sicher, traulich, liebenswarm,

Denn der Mutter Auge wacht, Ruhst du in der Mutter Arm!

Dass es sich nicht tue wehe, Lache. Süßes Holdchen, lache,

Dir zur Freude ‚Bautz’ ich mache! Auf und nieder, heb dich wieder

Nur zur Lust es ihm geschehe.“ Fürchte nichts, mein liebes Kind,

Sieh, mein Arm stützt dich geschwind.“ /24/

Die Beschäftigungen vollzogen sich in kleinen Gruppen, denn die Kinder sollten nicht nur als Einzelwesen, sondern auch als Glieder der Gesellschaft früh das gemeinsame Leben und Wirken mit Anderen kennen und schätzen lernen. Denn, so wurde begründet:

„Der Mensch ist ein geselliges Wesen von Geburt an. Das Kind kann ohne Hilfe und Gesellschaft Erwachsener nicht gedacht werden, aber wenn es erst soweit geführt ist, dass es sich frei bewegen, selbst handeln und zusammenhängend sprechen kann, dann fordert es die Gesellschaft von Altersgenossen zu gemeinsamem Spiel.“ /25/

Auch zu Hause müsse man deshalb - so räumte Lina Morgenstern ein – die Kinder mehrerer Familien unter der Obhut einer Spielführerin mehrere Stunden täglich zusammenführen, was nicht immer problemlos geschieht. Doch dürfe hier wie im Kindergarten die Anzahl der Kinder in den Gruppen nicht zu groß ein, sonst könne das einzelne Kind nicht genügend berücksichtigt werden.

Für die „Veredelung des Gemüts“ galt der „Verkehr der Kinder mit der Natur“ beziehungsweise „deren freie Betätigung in ihr“ als besonders wichtig. Denn nirgendwo fände sich sonst „bessere und wohltuendere Nahrung“, um Körper, Gemüt und Geist zu kräftigen.. Hier könnten die Kinder die Dinge beobachten, in ihrer Entwicklung verfolgen und sich an der Vielfalt der Erscheinungen in der Pflanzen- und Tierwelt erfreuen. /25/ Folglich wurden alle Kinder in die Garten- und Tierpflege einbezogen, und bei Spiel und Arbeit lernten sie, Gewächse an Farben, Formen und Düften zu unterscheiden. So wurden sie zugleich für die Arbeit des Lebens gehörig vorbereitet.

Schon durch ihre Anfangserfolge erregten die Volkskindergärten allmählich öffentliches Interesse. Immer mehr Frauen überzeugten sich von deren Nützlichkeit und bemühten sich, Manches in der häuslichen Erziehung zu verändern. Im Verein ausgebildete und erprobte Erzieherinnen und Wärterinnen waren auch in den Familien bald sehr willkommen. Sahen doch diese in ihrer Tätigkeit nicht so sehr den Erwerb, sondern mehr die Berufung!

Für Lina Morgenstern waren diese Jahre eine wichtige Lehrzeit. Sie wurde pädagogisch bewusster und geschickter, und zugleich übte sie Tätigkeiten aus, die den meisten Frauen noch fremd waren: Sie leitete einen Verein und genoss es, auch außerhalb ihrer Familie ernst genommen zu werden.

Als beglückend empfand sie es, dass sie Mädchen und junge Frauen „in der köstlichen Wissenschaft der jungen Mutter“ unterrichten durfte, denn der Einfluss der Mutter auf das Kind war nach ihrem Dafürhalten von immenser Bedeutung.

Sie verstand auszustrahlen, und so begann in ihr und unter ihrem Bekannten das Vorurteil zu schwinden, dass der Wirkungskreis der Frau ein beschränkter sei, und allmählich wurden die Anschauungen über denselben als beschränkt empfunden.

Gewiss neigten Frauen, – so Lina Morgenstern - denen eine Ausbildung versagt blieb, dazu, sich in Einzelheiten zu verlieren. Wie oft sei daraus gefolgert worden, sie wären nicht fähig, das Kleine im Zusammenhang mit dem Großen zu sehen. Im Kinde würden Mütter nicht zugleich den ganzen Menschen und seine Bedeutung erfassen. Das Kind sei ihnen nur in seinen aktuellen Beziehungen zu den Eltern und zu der übrigen Umgebung offenbar. Auch wären sie zu oft auf rasche Ergebnisse aus gewesen und hätten kein Verständnis dafür gehabt, dass Resultate immer erst angebahnt werden müssen, wobei es gelte, „den Boden der kindlichen Empfänglichkeit urbar zu machen.“

Nun würden sie lernen, dass der Mensch sich nur allmählich entwickeln könne und müsse, „was er seiner besseren Natur nach werden soll, wenn Lichtstrahlen mütterlicher Liebe und Erkenntnis in seine Seele leuchten, gerade wie die Sonne den Keim aus dem Boden lockt“. /27/

Erzieherisches – so riet sie – dürfe sich daher nicht an Augenblickserfolgen berauschen, sondern müssten Langfristiges anstreben, denn:

„Geduld und Liebe sind die Wurzeln einer guten Erziehung und bereiten der Kindheit das Paradies...“ /28/

Leider kam es mit Bertha von Marenholtz-Bühlow bald zum Bruch. Lina Morgenstern hatte gefragt, ob der Begriff „Volkskindergarten“ eigentlich richtig gewählt worden sei, denn schließlich wolle man doch niemand ausgrenzen! Eine solche Frage fand die Baronin unangebracht. Sie überwarf sich mit ihrer bisherigen Freundin und gründete einen eigenen Verein. Frau Morgenstern hätte sich gern wieder mit ihr versöhnt, aber alle diesbezüglichen Angebote wurden brüsk abgelehnt, und so gerieten beide Vereine bald einander in Konkurrenz. Frau Morgen-

stern machte den neuen Verein dafür verantwortlich, dass die Kindergärten und die Sache Fröbels in Berlin für lange Zeit zurückblieben.

Die Baronin zog sich nach Dresden zurück, wo sie weiter im Sinne Fröbel’scher Kindergartenerziehung wirkte. In Leipzig tat Henriette Goldschmidt, die aus dem polnischen Krotoschin stammte und mit einem Rabbiner verheiratet war, in ähnlicher Weise. Sie hatte sich autodidaktisch für den Lehrberuf qualifiziert. Nachdem Frau von Marenholtz-Bühlow nach Dresden gegangen war, fanden sich die beiden Berliner Vereine wieder zu einander.

Angemerkt sei jedoch, dass die preußische Regierung trotz nachgewiesener Erfolge der Kindergartenbewegung weiterhin skeptisch blieb. Noch 1885 sperrte sie sich gegen die Einführung einer staatlichen Prüfung für Kindergärtnerinnen. /28/ Frauen sollten durchaus nicht für eine eigenständige Berufstätigkeit frei werden – eine Auffassung, die sich erst änderte, als Frauen zunehmend als billige Arbeitskräfte in Industrie und Gewerbe gebraucht wurden.

Doch vorerst sah sich Lina Morgenstern sah sich Lina Morgenstern vor neue und völlig andere Herausfolgerungen gestellt.

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Lokal des Vereins der Berliner Volksküchen von 1866: Noch ziemlich am Anfang

Volksküchen gegen kriegsbedingten Notstand

Nach- und Vorkriegszeit 1866

Die Zeit, da sich Lina Morgenstern voll der Familie und den Volkskindergärten widmen konnte, ging allzu schnell vorüber. Wie vielen Menschen machten auch ihr eine anhaltende Wirtschaftskrise und das zweimalige Aufkommen von Kriegsgefahr einen dicken Strich durch ihre Lebensplanung. Hatte man 1864 vom Krieg gegen Dänemark zwar noch relativ wenig verspürt, so änderte sich dies bereits kurz nach dem Sieg, den Preußen im Bündnis mit Österreich erfochten hatte. Die beiden Siegermächte übten jetzt Besatzerrechte aus – Schleswig-Holstein war also geteilt – und zwar so, dass Österreichs Kontingente immer durch preußisch besetzte Gebiete ziehen mussten. Es kam, wie von Bismarck – aus welchen Gründen auch immer - beabsichtigt - zu ernsten Streitigkeiten, die sich bis zum Frühjahr 1866 zu einer regelrechten Krise zwischen beiden Mächten zuspitzten. Es war abzusehen, dass der erneut kalkulierte Waffengang nicht mehr lange auf sich warten lassen würde.

Dafür wusste sich die preußische Heerführung um Moltke und Roon gut gerüstet. Sie war in der Lage, die Truppenbewegungen des Gegners von und nach Holstein, zu stören, wenn nicht gar abzuschneiden. und für die eigenen Truppentransporte das inzwischen gut ausgebaute Schienennetz der Staatsbahn zu nutzen

Unter diesen Umständen blieben der rührigen Frau Morgenstern und ihren Helferinnen wenig Zeit, sich um ihren Volkskindergarten und die Schulung des pädagogischen Personals zu kümmern. Eine Wirtschaftskrise und weiter anhaltende Kriegsgefahr machten den Menschen und uns so auch ihrer Familie das Leben schwer.

Schon als im Frühjahr des Jahres setzten die Kriegsvorbereitungen ein, die Berlin und andere große Städte drastisch zu spüren bekamen. Die drei Armeekorps, die sich in Böhmen zur Entscheidungsschlacht gegen Österreich und dessen süddeutsche Verbündeten vereinigen sollten, wurden fast ausnahmslos per Bahn nach Süden befördert, und als König Wilhelm I. diesem Ereignis entgegenfuhr, benötigten er und sein Gefolge nicht weniger als sechs Eisenbahnzüge.

Die generalstabsmäßig gelenkten Truppenaufmärsche verliefen so exakt, dass die Bahn für die Abwicklung ziviler Belange kaum noch zur Verfügung stand. Von einem Tag zum anderen war Berlin von seinem Umland und von außerpreußischen Handelspartnern abgeschnitten. Lebensmittel und andere Gegenstände des täglichen Gebrauchs verknappten und verteuerten sich. Die Magistrate hatten nur noch den Mangel zu verwalten. Handwerkern und Industrieunternehmern fehlte es an Roh- und Heizstoffen. Sie hatten kaum noch etwas zum Produzieren. Kaufleute langweilten sich in ihren Läden vor nur spärlich belegten Regalen. Mehr als zehntausend Menschen vergrößerten das schon bestehende Arbeitslosenheer. Für sie wurde Lebensnotwendiges schier unerschwinglich.

Lina Morgenstern war nicht die Einzige, der dieses Problem in seiner ganzen Tragweite relativ früh bewusst wurde. Familie und Gemeinwesen schienen vielen in ihren Grundfesten erschüttert. Vor große Herausforderungen gestellt, sannen sie auf Abhilfe. Vor allem überlegten sie, wie man einer sich abzeichnenden Hungersnot begegnen könnte. Denn was sollte werden, wenn Menschen, in immer größeres Elend geratend, sich zu Verzweiflungstaten hinreißen ließen? /1/

Von der Ernährung des Volkes, so unterstrich Lina Morgenstern unentwegt, hänge der Gesundheitszustand aller Gesellschaftskreise ab, und deshalb müssten Behörden und Wohlfahrtseinrichtungen dieser Frage in Notzeiten größere Beachtung als sonst schenken. Nicht auszudenken wäre es, wenn Proletarier sich zusammenfinden und zu einer gefürchteten Masse hin entwickeln würden; wie leicht würden sich in kritischer Zeit solche Zusammenschlüsse zu gefährlichen Aktionen verleiten lassen. Schwankend und ohne das Verständnis politischer Ziele zu besitzen, würden sie der Verführung einzelner Persönlichkeiten erliegen und als einzigen Zweck nur die Verbesserung ihrer unglücklichen Lage im Auge haben – und sei es mit Gewalt. /2/

Sie vertrat die Auffassung, dass Revolutionen die Lage des Arbeiters, den sie für das wesentlichste Glied der Gesellschaft, in der sie lebte, hielt, keineswegs verbessern würden. Die Lage des Arbeiters sei in erster Linie „eine Magenfrage“, und diese könne nur durch soziale Hilfe gebessert werden. Deshalb obliege es der Gesellschaft, die ungerechte Stellung auszugleichen, in der sich der Arbeiter schicksalhaft befand. Vor allem gelte es, „dem redlich strebenden, unbemittelten Arbeiter die Befriedigung der notwendigsten Lebensbedürfnisse zur Erhaltung von Gesundheit und Leistungsfähigkeit zu verschaffen und den Arbeitsunfähigen, Kranken und Gesunkenen zu stützen, ihn nicht inmitten einer Gesellschaft verhungern und untergehen zu lassen, in welcher so viel des Überflusses“ vorhanden sei. /3/

Jedenfalls versprach Lina Morgenstern, in der aufkommenden Notzeit das Ihrige tun zu wollen, damit die Ärmeren ruhig gestellt würden. Gerade darin sah sie ihre Möglichkeit, zur Rettung der Gesellschaft vor drohendem Chaos beizutragen. Um sich dieser Aufgabe mit ganzer Kraft widmen zu können, gab sie – obwohl gerade erst gewählt – den Vorsitz im Fröbel-Verein wieder auf, hütete jedoch die Beziehungen, die sie brauchte, um neue Ideen diskutieren zu können und diesen, wenn möglich, auch Taten folgen zu lassen.

Hilfe ja – Almosen nur bedingt

Jemandem, der Neues plant, hilft oft ein gezielter Blick in die Geschichte. Damals brauchte Lina Morgenstern nicht allzu weit zurückzugehen. Seit ihrer Kindheit kannte sie Bestrebungen, große Massen armer Menschen mit billig hergestellten Speisen über schlechte Zeiten hinwegzuhelfen.

Sie entsann sich, schon einmal schon von „Rumfordsuppen“ gehört zu haben und beschloss, dieser Sache auf den Grund zu gehen. Aus Zeitschriften fand sie heraus, dass besagter Begriff auf einen amerikanischen Wissenschaftler namens Benjamin Thomson (1753 – 1814) zurückging. Dieser hatte sich zu Anfang des 19. Jahrhunderts Gedanken darüber gemacht, wie man die Ernährung von Menschen verbessern könnte, die in Not und Armut lebten. In den Vereinigten Staaten von Amerika wurden seine Ideen bei der Versorgung der in Kasernen, Gefängnissen, Arbeits- und Armenhäusern Untergebrachten verschiedentlich verwirklicht. Auch in England wurde man auf ihn aufmerksam. Und der König adelte ihn wegen seiner Bemühungen sogar. Seine Produkte wurden rasch als „Rumfordsuppen“ europaweit bekannt. In Deutschland stießen seine Vorschläge insbesondere beim seinerzeitigen Kurfürsten Carl Theodor (1724 – 1799) von der Pfalz (ab 1742) und auch von Bayern (ab 1777) auf Interesse. Seinen Empfehlungen folgend, hatte man in beiden Ländern und dann auch in Berlin während der Kriegszeiten bis 1818 und 1847/49 Armenküchen betrieben, um die Not der Betroffenen auf geeignete Weise zu lindern. /4/

Warum, so fragte sich Lina Morgenstern, sollten Rumfords Ratschläge, da eine erneute Krise drohte, nicht wiederum verwertbar sein? Ihr gefiel besonders, dass die Speisen billig und somit bezahlbar sein sollten. Offen blieb jedoch die Frage, wie die Preise zu stützen wären. Ebenso gefiel ihr, dass vor allem nahrhafte Rohstoffe, wie Erbsen und Bohnen – zusammen mit Kartoffeln – verarbeitet wurden. Aber dass die von Thomson kreierten Suppen in Deutschland recht abfällig beurteilt worden waren, gab ihr zu denken. Berichten aus Armenhäusern war zu entnehmen, dass dort „weniger auf die Menge fester Nahrungsstoffe, als auf die Mischung, sowie das gehörige Quantum Wasser und die Behandlung des Feuers“ Wert gelegte wurde. Abfällig war oftmals von „Wassersuppen“ die Rede. Wenn man schon Notleidende billig speisen lassen wolle, dann müsse die Nahrung gut, kräftig und sättigend sein.

Aber sie hatte noch eine andere Quelle entdeckt, die für sie nützlich sein könnte. Da gab es in Linden bei Hannover den Maschinenfabrikanten Georg Egestorff (1802 – 1868). Dieser war dadurch bekannt geworden, dass er für eine ausreichende, aber trotzdem billige Speisung seiner ca. 2 000 Arbeiter sorgte. Seit 1855 versorgte er sie aus werkseigenen Küchen täglich für 12 Pfennige mit einem reichhaltiges, zwei volle Suppenteller enthaltenem, kräftigendem Mittagsmahl. Frau Morgenstern trat sogleich mit Herrn Egestorff in Verbindung und ließ sich von ihm die Anstaltsstatuten übersenden. Denen entnahm sie, dass durch die Beköstigung der Werkangehörigen deren Frauen der Mühe, selbst zu kochen, enthoben waren. Das bedeutete mehr Zeit – auch für die Beschäftigung mit den Kindern. /5/

Mit ihrer Freundin Bertha, der Frau des damals recht beliebten Mariendorfer Predigers Richter, beriet Lina Morgenstern, ob sich solche Speiseanstalten, wie sie Egestorff betrieb, nicht auch hier, in Berlin, einrichten ließen. Man könnte sie eventuell „Volksküchen“ nennen. Bedürftigen müsste – ähnlich wie in Linden – „eine reichhaltige, nahrhafte und wohlschmeckende Kost“ geboten werden. Auf gar keinen Fall dürfte es billige „Wassersuppen“ geben. Aber im Unterschied zu Egestorf wollte man sich nicht auf eine bestimmte soziale Gruppe beschränken. Ihre Volksküchen sollten für alle Berliner da sein, die sich in Not befanden oder in Not zu geraten drohten. Ohne dass auf Standesunterschiede Rücksicht zu nehmen war, sollten die Volksküchen jedem Bedürftigen einmal täglich eine warme Mahlzeit bieten. /6/

Um das Unternehmen dennoch rentabel zu halten, erwogen die beiden Frauen, weitere Interessentinnen für die Mitarbeit zu gewinnen. Dies müsste jedoch ehrenamtlich geschehen, denn Gehälter waren nicht drin. Denn im Gegensatz zu Egestorff besaß man weder Fabriken noch anderweitiges Kapital. Dennoch würde sich für die Betreffenden der freiwillige Einsatz lohnen, wenn auch langfristig und stärker ideell. Immerhin würden die Frauen „aus der Hauswirtschaft in die Volkswirtschaft treten“, was für sie einem gewissen sozialen Aufstieg gleichkäme. Erfahrungen aus der Fröbelbewegung bestärkten Lina Morgenstern. Darüber hinaus bedachte sie aber auch den Status und die Gefühle ihrer zukünftigen Kunden. Immer wieder betonte sie, dass man dieselben nicht als Bettler behandeln dürfe, denn dies würde sie in ihrem Selbstwertgefühl zutiefst verletzen. Jeder sollte es als wohltuend empfinden, wenn er immer noch selbst, mittels eigener Arbeit, für seine Ernährung aufzukommen vermochte. Einerseits sollte man in den Volksküchen daher nichts verschenken, und andererseits musste das Essen trotzdem für viele bezahlbar bleiben.

Lina Morgenstern und Bertha Richter gingen in ihren Gedanken hierzu schon beträchtlich über traditionelle Wohltätigkeit hinaus. Auf Almosen sollte weitgehend verzichtet werden.. Beide wussten aber auch, dass „weitgehend“ nicht mit „total“ verwechselt werden durfte. Wer absolut nicht imstande war, für seine Mahlzeit aufzukommen, musste alimentiert werden. Denen wollten sie - wie bisher anderswo auch - aus Spendenmitteln helfen. Es blieb also nicht aus, dass Volksküchen zum Teil auch zu einer „Wohltat für Almosenempfänger“ werden würden. Um missbräuchlicher Nutzung vorzubeugen, sollten „Gemeinde, Vereine sowie private Wohltäter ihre Gaben für unverschuldet Notleidende als Anweisung auf freie Kost in den Volksküchen (in Form von kostenlosen Essenmarken) austeilen“. /7/

Nicht zuletzt beabsichtigten beide Frauen, den Volksküchen auch eine sozial-erziehende Funktion zuzuerkennen. Die Art und Weise ihrer Speisenzubereitung sollte einer möglichst rationellen Verwertung der Nahrungsmittel und zugleich auch der Herstellung einer naturgemäßen, der Gesundheit förderlichen und abwechslungsreichen Kost als Vorbild dienen.

„Bürger Berlins!“

Die Aussprachen mit Bertha Richter hatten Lina Morgenstern in der Gewissheit bestärkt, dass Eile geboten war. Schon im Juni wurde in ganz Preußen mobilgemacht, und auch die beiderseits aufgerüsteten Gegner vermeldeten verstärkte Truppenbewegungen.

Um ihr Vorhaben verwirklichen zu können, hielt Frau Morgenstern nach einflussreichen und willigen Sponsoren und Helfern Umschau. Sie brauchte schnellstens Geld und geeignete Räumlichkeiten. /8/

Zunächst suchte sie den stadtbekannten Eisenbahndirektor Joseph Lehmann auf. Sie wollte ihn dafür erwärmen, einen von ihr verfassten Aufruf zu einer erforderlichen Vereinsgründung zu unterschreiben, denn nach den geltenden war eine Frau nicht befugt, zur Gründung eines Vereins aufzurufen, geschweige denn, diesem auch noch vorzustehen. Noch herrschte in dieser Frage tiefstes Patriarchat. Immer mussten Männer dazu herhalten, mit solcherlei Vorhaben betraut zu werden. Herr Lehmann war zwar Mann, fühlte sich aber nicht kompetent genug und verwies sie an die damals einflussreiche „Vossische Zeitung“. Lina Morgenstern bezweifelte, dass sich dieses Blatt auf ihr Ansinnen einlassen würde, sprach aber dennoch bei Herrn Dr. Otto Lindner, einem ihrer führenden Redakteure, vor. Er fand das Projekt der Frauen „immerhin grandios“, sich selber aber auch nicht kompetent, dazu müssten noch ganz andere Größen gewonnen werden. Den Aufruf wolle er erst veröffentlichen, wenn ihm die Unterstützung „prominenter Herren“ sicher wäre. Dass vorerst „nur“ Lina unterschrieben hatte, rührte ihn nicht – sie war ja nur … - s. o.

Prominent waren wohl viele. Lina. ließ kaum jemanden aus. Aber erst bei Karl Twesten, dem Präsidenten des Stadtgerichts, kam sie zum Zuge. Dass dieser gleich und vorbehaltlos unterschrieb, glaubte er seinem Ruf als Mitglied der liberalen Fortschrittspartei schuldig zu sein; er war Abgeordneter im preußischen Landtag und hoffte wohl trotz des Drei-Klassen-Wahlrechts auf eine mögliche Wiederwahl. Nachdem sich dann auch noch der Arzt Professor Rudolf Virchow und Präsident Adolf Lette für ihr Projekt verwendeten, war das Eis gebrochen und Lina hoch erfreut. Nun gab es kein Halten mehr.

Eine kleine Gruppe von Enthusiasten fand sich bei Morgensterns in der Leipziger Straße zu einer Vorbesprechung ein. Virchow drängte auf Eile, Lette und Twesten gaben dem Aufruf den letzten Schliff und mahnten, schleunigst das benötigte Grundkapital zusammenzutragen. Rasch wurden Statut und Sammellisten entworfen und in Umlauf gesetzt. Von einem pensionierten Beamten, Herrn von Hennig, geleitet, wurde die Gruppe als „provisorischer Centralvorstand“ tätig. /9/

Dem Aufruf schlossen sich binnen weniger Tage der Fabrikant Dr. Werner Siemens, der Rechtswissenschaftler Professor Franz von Holtzendorff, der Verleger Franz Duncker, der Schriftsteller Dr. Max Ring und der Druckereibesitzer Max Krause an.. Vor so viel Prominenz kapitulierte Dr. Lindner und ließ den Aufruf samt Einladung zur Bürgerversammlung erscheinen. In ihm hieß es:

„Bürger Berlins!! ...Infolge des drohenden Krieges sind viele Einwohner, welche dem Arbeiter- und kleinem Gewerbestande angehören, in unverschuldete Not geraten. Zur Stockung im Erwerb ist eine Teuerung der notwendigsten Lebensmittel hinzugetreten. Der Druck dieser Verhältnisse dürfte zweckmäßig dadurch zu mildern sein, dass man auf genossenschaftlichem Wege den einzelnen Haushaltungen den Einkauf und die Zubereitung der Nahrungsmittel zum Engros-Preise ermöglicht.

Die unterzeichneten Männer und Frauen haben sich deshalb zu einem Comite für Errichtung von Volksküchen vereinigt, in denen Jedem ohne Unterschied Speisen zum Selbstkostenpreise verabreicht werden sollen. Unsere Aufgabe wird zunächst in der Beschaffung der nötigen Geldmittel bestehen, um den für die einzelnen Stadtteile sich bildenden Comites das zur Errichtung der Volksküchen erforderliche Kapital zur Verfügung zu stellen. Sie glauben, dass es nur dieser wenigen Worte bedarf, um den Gemeinsinn unserer Mitbürger für die thätige Unterstützung unseres Unternehmens anzuregen.“ /10/

Am 13. Juni – also einen Tag, bevor Österreich und andere nichtpreußische Staaten des Deutschen Bundes gegen Preußen mobilmachten und Preußen den Deutschen Bund verließ – fand die Versammlung unter reger Beteiligung im Englischen Garten statt. /11/ Herr von Hennig referierte und warb um tatkräftige Unterstützung. Der Fabrikant Jaques Meyer erläuterte Fragen des praktischen Vorgehens. Man plane, in jedem der zehn Stadtbezirke eine Volksküche einzurichten – und zwar immer „dort, wo außer brodlosen Arbeitern auch Handwerker wohnen“.

Viele stimmten lebhaft zu, doch Skeptiker meinten, gegen kapitalistische Konkurrenz werde man nichts Rechtes zuwege bringen. Ein Assessor – namens Eugen Richter - war für Konsumküchen, die auch von Handwerkern angenommen werden würden. Die Furcht vor Einrichtungen, deren Produkte der Ruf von Rumford-Suppen anhaftete, war wohl noch immer gegenwärtig. Auch dies sei – so meinten andere – riskant und würde zu viel Aufwand erfordern.

Schließlich wurden moralisch klingende Bedenken laut: Die Frauen sollten für ihre Familien selber kochen und nicht den „lieben langen Vormittag ledig gehen und dann den Topf unter den Arm nehmen und Essen holen“.

Leidenschaftlich verteidigte Frau Morgenstern ihr Vorhaben. Sie wolle Hilfe zur Selbsthilfe für Familien aus allen Gesellschaftsklassen, die – unter den Zeitverhältnissen leidend – so verarmt seien, „dass ihnen die allerhärteste Einschränkung geboten wird, ohne dass sie sich aufgeben und als Almosenempfänger herausstellen dürfen“: Hinzukäme, dass sich viele solcher Familien jetzt auch noch wegen der ausgebrochenen Cholera Sorge um ihre Existenz machen müssten“.

Nach zum Teil recht hitzigen Debatten wurde das Vorhaben befürwortet. Um mit der Arbeit beginnen zu können, wurde ein engerer Ausschuss gebildet; dem neben Lina Morgenstern noch zwei weitere Frauen beitraten - nämlich Johanna Lehmann und Agnes Augustin. Für Lina Morgenstern tat sich somit eine Karriere als Managerin auf. Herr von Hennig wurde als Vereinsvorsitzender bestätigt, Jaques Meyer, und Commerzienrat Jürst gingen aus der Wahl als Beisitzer hervor. Stadtrat Soldtmann fungierte als Schatzmeister und der Assessor als Schriftführer. Aus Spendenmitteln waren zirka 4360 Taler eingegangen. Da man für den Anschub eine Summe zwischen 13 000 und 14 000 Taler veranschlagt hatte, bat der Vorstand um mehr. /12/

Gut’ Ding will Weile haben

Zunächst machte man im Vorstand Pläne. Man tat kund, in jeder der einzurichtenden Küchen 1 000 bis 1 200 Portionen zu je einem preußischen Quart (damals übliches Raummaß = 87,33 Prozent eines Liters) verabfolgen zu wollen.. Zum Preise von knapp zwei Silbergroschen sollte jede Portion ausreichend Kartoffeln, Gemüse und Fleisch enthalten. /13/

Weitere Spenden gingen ein, und Frauen verschiedenen Standes meldeten sich zur Mitarbeit. Manche von ihnen, wie Marie Gubitz, waren der Frau Morgenstern schon aus den Fröbelverein vertraut.

Schwierig war es, geeignete Räume zu finden. Herr Meyer begann, ein Küchenlokal auf seinem eigenen Fabrikgelände in der Köpenicker Straße einzurichten. Die Herren Soldtmann, Richter und von Hennig versuchten in der Brunnenstraße ihr Glück. Von Dr. Krausnick, einem ehemaligen Oberbürgermeister, der sich noch für die Armenpflege zuständig war, erhoffte man sich die Erlaubnis, einstweilen die im Sommer geschlossenen Armenspeiselokale nutzen zu dürfen.

Unterdes hatte Preußens Heer das Königtum Hannover besiegt, und in Böhmen bahnte sich gar die Entscheidung an. Drei Heeressäulen marschierten getrennt gen Süden. Vereint wollten sie unweit von Königsgrätz die gegnerischen österreichischen und süddeutschen Truppen schlagen, was ihnen – für welchen Preis auch immer - sogar gelang. Listenweise meldeten die Zeitungen Gefallene und Verwundete. Nicht nur hunderte Berliner Familien verloren ihre Ernährer, und die Not schwoll allgemein von Tag zu Tag an.

Doch Volksküchen kamen immer noch nicht zustande. Als die Herren des Ausschusses resignierten, wurde es der Frau Morgenstern zu bunt. Am 4. Juli erbat sie sich von Hennig 200 Taler Vorschuss und erklärte, binnen dreier Tage die erste Volksküche eröffnen zu wollen. Von Hennig sah dies ziemlich skeptisch und zögerte: „Was drei Männer bis jetzt nicht vermochten, wird eine Frau in drei Tagen nicht vollbringen.“ Da Lina nicht locker ließ, erteilte er als ihr Chef notgedrungen die Vollmacht. /14/

Adolf Lette wurde gebeten, sich für den Einzug in die zurzeit leer stehenden Militärküchen auf dem Anhalter Bahnhof stark zu machen. Ihren Mann schickte Lina nach Potsdam, wo sich Dr. Krausnick auf seinem Urlaubssitz befand. .Nach längerem und gutem Zureden gab dieser das Armenspeiselokal in der Charlottenstraße frei, was vom Komitee als ein erster wichtiger Erfolg verbucht wurde.

Endlich konnte die praktische Arbeit beginnen, und Lina Morgenstern legte ein kaum zu übertreffendes Organisationstalent an den Tag. Höchst persönlich kaufte sie ein, bestellte Lieferanten und warb Arbeitskräfte an. Zusammen mit Marie Gubitz, die immer zur Stelle war, wenn es – egal wo - schwierig wurde, übernahm sie das Armenspeiselokal, wobei sie sich gegen den schwerhörigen Verwalter durchsetzen musste..

Theodor Morgenstern bereitete in Tag- und Nachtarbeit das Markensystem vor. Man wollte nicht zu viel bevorraten und die Essenausgabe sollte von der Kassierung getrennt betrieben werden. Damen – zumeist aus „besserer Gesellschaft“ – fanden sich ein und bildeten eine Art Ehrenkomitee; sie hatten den Auftrag, die Küchenlokale umschichtig zu beaufsichtigen.

Am 7. Juli – die Zeitungen veröffentlichten die Namen der bei Königsgrätz Gefallenen, Verwundeten und Vermissten - war das Lokal der Berliner Armenspeisung – Charlottenstraße 87 – gereinigt und hergerichtet. Es wurde auf Probe gekocht. Alle einundzwanzig „Ehrendamen“ waren erschienen, nicht aber die Herren des Ausschusses. Assistiert von Frau Gubitz übernahm Lina Morgenstern die Leitung.

Zwei Tage später, also am 9. Juli, wurde die Küche offiziell für Speisende eröffnet. Damit hatte die tatsächliche Geburtsstunde der Berliner Volksküchen geschlagen. Kaum ein Geschichtsbuch erinnert an dieses nicht nur für die Frauenbewegung in Deutschland historisch bedeutsamen Ereignisses. Zirka 180 Quart zu je 1,5 bis 2 Silbergroschen wurden ausgeteilt. Das war für den Anfang schon ganz gut, und so sollte es weitergehen.. Zweimal in der Woche gab es frisches Gemüse und Kartoffeln, einmal Brühkartoffeln, ein anderes Mal Zuspeise von Mehl und dreimal Hülsenfrüchte mit Fleisch.

Doch der hoffnungsvolle Anfang wurde von Missgunst überschattet. Die Herren des Vorstandes fühlten sich beschämt, bockten und legten allesamt ihre Ämter nieder. Die Frauen wären ihnen, wie sie sagten, viel zu energisch und forsch und vor allem übereilt und nicht genügend sorgfältig vorbereitet ans Werk gegangen. Mochten sie doch nun sehen, wie sie ohne männlichen Beistand zurechtkämen! Ätsch! /15/

Die Frauen jedoch ließen sich nicht beirren und erhielten weiteren Zulauf. Unter den verbliebenen Männern wählte man auf einer rasch einberufenen Generalversammlung Herrn Mankiewicz zum Vorsitzenden, Commerzienrat Jürst zum Schatzmeister und Dr. Schwerin zum Schriftführer. Auch Dr. Lindner, der seine anfängliche Skepsis überwunden hatte, blieb dem Volksküchenverein treu; und alle hatten reichlich zu tun. Zusammen mit Theodor Morgenstern und Herrn Sonnemann warteten sie täglich mit den angekündigten Mengen auf. Binnen einer Woche kam eine zweite Küche hinzu, und werbend lobte die „Vossische Zeitung“:

„Die Speisen werden durchaus als schmackhaft, kräftig und auch als reichlich befunden.“ Vorbehalte begännen zu schwinden, „so dass selbst Haushaltungen aus der gebildeteren Klasse, welche es zumal in der letzten Zeit eben nicht übrig haben, aus derselben holen zu lassen beginnen. Es ist zu wünschen, dass bald auch anderswo mit der Herrichtung von Volksküchen, welche verheißen wurden, zum Beispiel in der stark von der Cholera heimgesuchten Louisenstadt, welche eine zahlreiche unbemittelte Bevölkerung besitzt, vorangegangen werde.“ /16/

Was für Kriegszeiten taugt,…

Nach dem Sieg über Österreich und seine Verbündeten begann sich die Marktlage in Berlin und anderswo in preußischen Gefilden wieder zu stabilisieren. Da in den Volksküchen der Umsatz nun sank, stritten sich die Vereinsgrößen um deren Fortbestand. Fast 800 Taler schlugen als Minus zu Buche. Herr Mankiewicz als Vorsitzender empfahl, „in Anbetracht, dass die Volksküchen eine bedeutende Verminderung der Consumenten erfahren hätten und daher größeren Zuschuss beanspruchten, dieselben zu schließen, eventuell eine Küche versuchsweise bestehen zu lassen“. Doch Dr. Lindner, Dr. Ring, Assessor Lehfeldt und Gustav Schauer widersetzten sich. Von Lina Morgenstern angestachelt, beantragten sie,

„in Anbetracht, dass ein dreimonatiger Verbrauch in abnormen Verhältnissen nicht maßgebend sei, müssen weitere Versuche, die Volksküche als dauernde soziale Wohltat zu erhalten, angestellt werden.“ /17/

Lina Morgenstern sah in vielen Familien Not und Elend noch lange nicht überwunden. Den Krieg hielt sie nicht mehr für die alleinige Quelle der anhaltenden Armut. War ihr vielleicht das Verhalten von Mankiewiecz ein Fingerzeig? Für ihr Werk erblickte sie nun sehr wohl eine notwendige Perspektive. Wie freute sie sich, dass sie in ihrem Manne und in Dr. Lindner, der zeitweilig den Vorsitz des Vereins übernommen hatte, ehrliche und tatkräftige Helfer gefunden hatte. In vierzehntägigem Wechsel tagten der Zentralvorstand und die Vorstände der vier Küchen, Alle Probleme wurden sachlich und ruhig diskutiert.

Anfangs sprach sich Lina Morgenstern gegen Vorschläge aus, den Küchen Speisesäle anzuschließen. Das sei – so meinten einige Herren – attraktiver. Ihr aber schien es besser, dass die Speisen abgeholt und zu Hause verzehrt wurden. Sie fürchtete, „das gemischte Publikum der untersten Klassen nicht zügeln“ zu können, und dann würde das Unternehmen in Berlin in Misskredit geraten. Außerdem dürfte man keine Lokale mit Sälen für 500 bis 800 Personen finden. Hauptsächlich ging es ihr jedoch um weitaus mehr – wie sie des Öfteren betonte - um „Ethik und Tradition“:

„Des Deutschen Heimat, seine Gesittung, sein innerer Halt, sein ganzes Glück liegt in der Familie. Wenn jedes Mitglied derselben auch mühselig zur Erhaltung des Lebens arbeiten muss, - so gibt es eine Zuflucht, eine Genugtuung, einen Einigungspunkt selbst für den Ärmsten – es ist die Zusammenkunft der Familienmitglieder nach vollbrachter Arbeit am eigenen Herd! Diese heilige Stätte wollen wir unseren Arbeitern wahren, wir wollen ihnen helfen, die Familien zu erhalten.“/18/

Doch Tatsachen widerlegten sie. Frauen zogen es vor, ihre Männer zu den Volksküchen zu begleiten. Sie mochten das Essen eben nicht zu Hause aufwärmen. Und für die Männer waren die Pausen viel zu kurz, um mittags auch noch nach Hause gehen zu können; und beim Essen stehen zu müssen, war ihnen eben auch nicht recht.

Frau Morgenstern gab nach, bat sich aber aus, Männlein und. Weiblein „aus moralischen Gründen“ getrennt voneinander speisen zu lassen.. Dies wiederum scheiterte, weil die verfügbaren Räume nicht teilbar waren. Notgedrungen stimmte Lina schließlich den Vorschlägen ihres Mannes und Dr. Lindners zur Reorganisation des Speisens zu. Deren Nützlichkeit wurde ihr offenbar, als sie mit der ersten Volksküche Räume in der Kochstraße bezog. Der dortige Speisesaal verfügte über 80 Plätze, und bei zweistündiger Öffnungszeit konnten hier täglich 350 bis 400 Personen speisen. Nun wurde das Lokal der Armenspeisung an Dr. Krausnick zurückgegeben.

Die Neuerung schlug ein, der Zulauf wurde größer. Es kamen Handwerker, niedere Beamte, Soldaten, Ladengehilfen, Dienstmädchen, Studenten, Frauen und Mädchen aus Geschäften, Büros und Fabriken, Lehrerinnen, ganze Familien mit Kindern sowie Kinder allein. Ein Baron, Herr von Falken blieb der Küche 24 Jahre ein treuer Gast. /19/

Die Räume der Küche waren hell und freundlich ausstaffiert, und an den Wänden hatte Frau Morgenstern allerhand sinnige Sprüche anbringen lassen, wie:

- „Benutze Deine Kraft, man lebt nur, wenn man schafft.“
- „Viel verthun und wenig erwerben, führt Dich sicher ins Verderben.“
- „Bewahre Dir ein eigenes Urteil,

und stimme aus Feigheit niemals ein,

wenn auch die Menschen Dich umschrei’n.

Dann wirst Du Thorheit nicht bereu’n“. /20/

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

In einer der ersten Volksküchen: Wohl immer noch Geschlechtertrennung

Doch zum Lesen war kaum Zeit. Schilder mahnten in militärischer Kürze – nicht umsonst war hier Preußen:

- „Kopfbedeckung ab!“, „Keine laute Unterhaltung!“

- „Nicht rauchen!“, „Nach dem Essen kein Aufenthalt!“ /21/

Die Küche kam bis zum Frühjahr 1867 ihrem statutenmäßig vorgegebenen Ziel nahe und konnte der Hauptkasse den Kapitalvorschuss zurückerstatten. Für die dritte Küche wurden am Hackeschen Markt ähnlich gute Bedingungen geschaffen. Lina Morgenstern leitete sie persönlich, bis auch hier alles nach ihren Vorstellungen ablief. Zwei andere Einrichtungen wurden dafür geschlossen. /22/

Wenn Profit winkt

Als Lina Morgenstern im Herbst 1867 von einer Kur zurückkehrte, schien alles verloren. Wieder war es zu Misshelligkeiten gekommen, ohne dass dafür einsichtige Gründe vorlagen. Denn geleitet von tüchtigen Frauen und Männern erfreuten sich die Volksküchen schon eines guten Rufes. Jede versorgte im Schnitt 500 Gäste, und der Verein begann insgesamt rentabel zu arbeiten; trotz der billigen Preise - allmählich „rechnete“ er sich. /23/ Für die vierte Volksküche, die am 1. Oktober in der Landsberger Allee 65 eröffnet worden war, zahlte sich aus, dass das Zentralbüro auf Linas Ersuchen einen Buchhalter eingestellt hatte. Als „besoldeter Beamter“ (nach heutigem Sprachgebrauch „Angestellter“) besorgte er gewissenhaft die geschäftsmäßige Führung der Bücher und der Kasse. Seine Arbeit fand Beachtung, und bald besaß der Vorstand einen Überblick über die Gesamttätigkeit – auch der anderen Küchen. Genau in diesem Umstand erwuchs erneut ein Problem. Als sich abzeichnete, dass mit dem Überschuss frühere Verluste auszugleichen waren, witterten wieder einige der Herren, unter ihnen Jürst als Stellvertretender Vorsitzender, das große Geschäft. Der nächsten Generalversammlung schlugen sie vor, den Verein in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln. Wer Interesse hätte, könnte dann kraft seiner Beiträge Teilhaber werden. Von den Frauen müsste man sich dann allerdings trennen, denn sie wären für den Aufsichtsrat wohl „nicht geeignet“. Sogar die „Ehrendamen“ hielt man nicht mehr für „wünschenswert“, und entsprechend müsste das Statut verändert werden.

Entgegen ihren Erwartungen stießen die Herren jedoch auf entschiedenen Widerstand. Die Frauen, die die Volksküchenbewegung in kurzer Zeit überhaupt erst in Gang gebracht und dann über schwieriges Terrain geführt hatten, fühlten sich aufs Äußerste brüskiert. Es war ja wohl in erster Linie ihr Verdienst; wenn jetzt schwarze Zahlen geschrieben wurden. Lautstark machte Frau Morgenstern ihrer Empörung Luft:

„Die Frauen, die Träger des ganzen Unternehmens, die mit bewunderungswürdiger Zähigkeit und Ausdauer bisher ihre freiwilligen Pflichten ausgeübt hatten und die dazu beitrugen, dass in den Küchen keine Unterschleife von Seiten des Personals stattfinden konnte, die Frauen, durch deren tägliche Anwesenheit die Volksküchen allein ihren bedeutungsvollen, sittlichen, sozial-wohltätigen Charakter angenommen hatten, sie wollte man ausschließen.“ /24/

Die Frauen fanden kraftvolle Unterstützung. Als sie forderten, die Volksküchen „als ein jeder Geldspeculation fernes Institut der Humanität“ zu erhalten, standen ihnen Männer, wie Joseph Lehmann und Prof. Franz von Holtzentorff, treu zur Seite. Spontan nahm Lehmann die Wahl zum Vorsitzenden an. Pünktlich, gewissenhaft und behutsam leitete er fortan die Sitzungen, von denen er keine einzige versäumte und auf die er sich stets aufs Sorgfältigste vorbereitete. Niemals griff er hindernd in die Arbeiten der Anderen ein. Jeder, „der sein freiwilliges Amt mit treuer Hingabe verwaltete“’, genoss sein Vertrauen und konnte ruhig gewähren, „wenn das selbständige Vorgehen zum Besten des Ganzen sich nur in den statutenmäßigen Grenzen bewege“.

Wo es Lehmann möglich war, suchte er die Ideen und Erfahrungen der Volksküchenbewegung in der Öffentlichkeit zu verbreiten. Auch von Holtzentorff ließ sich nicht lange bitten, als ihm die Frauen das Amt des Stellvertretenden Vorsitzenden antrugen. Vehement sprachen sich zudem auch Max Ring und Carl Heinitz dafür aus, das bewährte Konzept auch fürderhin zu wahren und die Frauen wie bisher an der Leitung des Unternehmens zu beteiligen. Eine Kommission, der Professor Virchow und Staatsanwalt Schröder beitraten, wurde beauftragt, das Statut unter diesem Aspekt zu präzisieren.

Ein neu eingestellter Bürovorsteher machte sich um die Bücher und um einen sicher geregelten Geschäftsgang verdient. Auch Theodor Morgenstern stieg stärker ein. Als technischer Leiter kümmerte er sich um die Einrichtung jeder neuen Küche und wies den jeweils verantwortlichen Lokalvorstand ein. Aber Mankiewicz, Jürst und bald auch Schröder versuchten nun außerhalb des Vereins kommerziell tätig zu werden. Um sich von den Abtrünnigen sichtbar abzuheben, gab Lina Morgenstern ihrem Unternehmen eingedenk seiner jungen Tradition den Namen „Verein der Berliner Volkslüchen von 1866.“ /25/

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Berliner Volksküchen – „Muster moderner Volksernährung“ ?

Hochherrschaftlicher Besuch

Die im Herbst 1867 vollzogene Reorganisierung des Berliner Volksküchenvereins kam faktisch einer Neugründung gleich. Sie bestärkte all Diejenigen, die seiner Idee treu blieben, und mobilisierte weitere Kräfte.

Schon am 1. Dezember wurde in der Kommandantenstraße ein fünftes Küchenlokal eingeweiht. Herr Sonnemann, nunmehr Schriftführer des Vereins, leitete sie gemeinsam mit Frau Abarbanell.

Weitere Filialen eröffnete man im Februar 1868 in der Grünstraße, in der Invalidenstraße, Am Grünen Weg, wenig später in der Friedrichstraße und in der Linienstraße. Eine 10. Volksküche arbeitete ab Oktober 1868 am Oranienplatz/Ecke Elisabethufer. Mit zwei Gründungen im Jahre 1869 war dann einstweilen Schluss. /1/

Zur Einweihung der Volksküche in der Invalidenstraße durfte der Vorstand erstmals die Königin begrüßen. Von Augusta war bekannt, dass sie im Unterschied zu ihrem Gemahl über Sinn für die Realitäten des Lebens verfügte. Das war nicht allzu verwunderlich, denn sie entstammte dem Weimarer Fürstenhof und hatte eine von Goethe beeinflusste humanistische Erziehung genossen. Trotzdem überraschte die Ankündigung ihres Besuches, der allerdings keinem ungelegen kam, denn Fürsprache von ganz oben, Publicity, Protege und Geld waren selbstredend immer willkommen, und so nahmen Lina Morgenstern, Vorstand und Personal den nicht zu umgehenden Aufwand freudig auf sich. /2/

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Königin Augusta zu Besuch

Sachlich informierte nach dem erfolgten Besuch die „Vossische Zeitung“ über den hohen Besuch:

„Ihre Majestät die Königin wohnte am 2. Februar der Eröffnung der sechsten Volksküche in der Invalidenstraße 66 n bei. Die hohe Frau wurde beim Eintritt in das festlich dekorierte Lokal vom Vorstande des 1866 begründeten Vereins empfangen und erwiderte die Anrede des Vorsitzenden, Direktor Joseph Lehmann in huldreichster Weise. Hierauf ließ Ihre Majestät die Speisen des Tages von den Damen reichen und sprach sich, nachdem sie davon genossen, in sehr lobender Weise aus. Geleitet von der Gründerin, Frau Morgenstern, besichtigte die Königin die Küchen und Speiseräume und genehmigte schließlich die Bitte des Vortandes, die Protektion das Vereins zu übernehmen.“/3/

Mehr als Huld und Publicity waren fürs Erste wohl nicht zu erwarten. Dennoch waren Lina Morgenstern und der Vorstandangenehm berührt, als die Königin nicht lange danach zur Eröffnung einer der nächsten Küchen erschien, worüber wieder wohlwollend berichtet wurde:

„Ihre Majestät die Königin wohnten am 18. dieses Monats auch der Eröffnung der in der Straße ‚der grüne Weg’ errichteten Volksküche bei. Der 2. Vorsitzende des Vereins der Volksküchen, Prof. von Holtzentorff, empfing die hohe Frau mit einer Anrede, in welcher er sich über die Aufgabe der Volksküchen und ihre bisherigen Leistungen aussprach, worauf ein Lebehoch auf die hohe Protektorin des Vereins sich anschloss, das der erste Vorsitzende, Direktor Joseph Lehmann ausbrachte. Ihre Majestät nahm sodann die Einrichtung der neuen Volksküche in Augenschein und sprach den anwesenden Vorsteherinnen und Aufsichtsdamen ihre Zufriedenheit mit dieser Einrichtung sowohl als mit den Speisen des Tages aus, die der hohen Frau präsentiert worden waren.“ /4/

Majestät ließ es diesmal nicht beim Dankeschön bewenden, sondern übergab auch ein Geldgeschenk. Als sie am 8. April zur Einweihung auch der 8., in der Friedrichstraße gelegenen Volksküche kam, kündigte sie weitere Spenden an, die sie für die Speisung Notleidender und für Prämierungen im Personal verwendet wissen wollte.

Näheres erfuhr Lina Morgenstern tags darauf, als sie auf Augustas Anweisung von der Kammerdienerin, der Gräfin Hacke, im Schloss empfangen wurde. Die Gräfin ließ durchblicken, wie zufrieden die Königin über die Volksküchen gewesen war und wie sie sich die Prämiierungen gedacht hatte. Wer drei, fünf oder gar zehn Jahre treu und zuverlässig in einer Volksküche gearbeitet hatte, sei in „hochlöblichem Namen“ mit Goldstück, goldenem Kreuz und oxidierter Brosche auszuzeichnen. Letztere sollte die Inschrift „Für treue Dienste“ und ein „A“ im Relief zieren. /5/

Was Volksküchen vermögen

Doch bei der Audienz im Schloss stellte sich bald heraus, dass die Stiftung von Auszeichnungen nicht der alleinige und wohl auch nicht der vordringlichste Grund für die Einladung war. Vielmehr war es eher der majestätische Wunsch, dass Lina Morgenstern ihre Ideen und Erfahrungen recht bald zu Papier und damit einer möglichst breiten Öffentlichkeit zur Kenntnis bringen möge. In Ost- und Westpreußen herrsche Hungersnot, und da kämen den Behörden die Morgen- stern’schen Pläne und Erkenntnisse gerade recht. Selbst im Ausland könnten ihre Anregungen und Hinweise gefragt sein. Zudem müsse man auch an die Verpflegung in den Kasernen und Gefängnissen denken, wo ja schließlich auch Volk lebe würde. /6/

Augusta hatte also – wie es sich für eine Monarchin geziemte, ihr soziales Herz entdeckt und wollte nun durch entsprechende Wohltaten auf sich aufmerksam machen. Andere hohe Frauen, wie vielleicht die Herzogin Alice von Hessen, nahm sie sich zum Vorbild. Möglicherweise war sie auch darauf bedacht, den Ruf der preußischen Monarchie zu verbessern, der im letzen halben Jahrhundert allerhand Schaden genommen hatte. Man erinnere sich in diesem Zusammenhang vor allem daran, wie ihr Gemahl 1849, damals noch „Prinz von Preußen“, die badisch-pfälzischen Revolutionstruppen hatte niedermetzeln lassen, wonach er bekanntlich als „Kartätschenprinz“ zeitweilig in die Geschichte einging.. Vor allem aber hatten die Kriege Preußens – zunächst gegen Dänemark und dann gegen die süddeutschen Länder - sich nicht gerade förderlich auf sein Image ausgewirkt.

Lina Morgenstern focht dies alles nicht an. Freudig und pflichtgemäß nahm sie die Bitten der Königin an und setzte sich, kaum wieder zu Hause, ans Werk. In relativ kurzer Zeit verfasste sie ihre erste Broschüre über die Volksküchen, der sie etliche Artikel in mehreren Zeitschriften und eine Reihe von Vorträgen folgen ließ; Augusta sorgte für angemessene Werbung, und für die Speisungen der Hungernden in den östlichen Provinzen orderte sie spezielle Pläne.

Militärbehörden reagierten befehlsgemäß und ließen nach Morgenstern’schen Speisezetteln und Rezepten kochen. Den Betroffenen wird es sicherlich recht gewesen sein. Als Volksküchenmodell wurde das Unternehmen zunächst in Hamburg, Bremen und Burg nachgeahmt. Erstmalig prämiiert wurde es 1869 auf einer internationalen Ausstellung in Amsterdam mit Silbermedaille und Diplom. /7/

Für die Volksküchen werbend, hob Lina immer wieder hervor, dass diese besser und zugleich billiger zu kochen vermochten, als dies in Familien und Gaststätten möglich war. Trotz des relativ geringen Aufwandes könnten sie reichhaltige, nahrhafte und wohlschmeckende Kost bieten und dabei sich finanziell selbst tragen. Dies setze jedoch voraus, dass man sich für den Küchenbetrieb, wie bei Egestorff und nun auch bei ihr, der Vorzüge der modernen, industriellen Massenproduktion bediene und auf Gewinn verzichte.

300 bis 1000 Personen waren doch wohl durch eine große Küche einfacher zu versorgen als durch viele Einzelhaushalte! Je nach Bedarf könnte ein entsprechend organisiertes Team von vier bis zwölf Personen arbeitsmäßig 300 bis 1000 Hausfrauen aufwiegen!

Was beim Einkauf im Großen wohlfeil war, musste im Kleinen teurer bezahlt werden, und das galt für Nahrungsmittel genau so wie für Holz, Kohlen und Torf - die damaligen Energieträger. Nur Reiche waren sonst noch in der Lage, auf Vorrat zu kaufen und so auch Rabatte in Anspruch zu nehmen. Angesichts dessen – so Lina Morgenstern – stellte sich die Frage:

„Wie viel Volks- und Einzelvermögen wird daher gespart, wenn in einer Küche für dreihundert bis tausend Familien gekocht wird, wenn in einer Küche für dreihundert bis tausend Familien bei Engros-Einkauf, bei einem Feuer gekocht wird, statt bei Einkauf im Kleinsten in dreihundert bis tausend Wohnungen.“ /8/

Die Volksküchen besäßen die Mittel, Gutes preiswert einzukaufen, nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen zu kochen und somit eine gesunde Volksernährung zu befördern. Gerade diesen Aspekt betonte Lina Morgenstern sehr, weil sie den Arbeiterfrauen in Punkto Kochen nicht allzu viel zutraute. Bei Frauen, die weder in einer bürgerlichen Küche noch in einer Kochschule praktische Kenntnisse erworben hätten, könne man annehmen, dass sie nichts vom Kochen verstünden. Sie würden die Speisen nicht sorgfältig genug zubereiten und nur Zeit, Material und Geld vergeuden. Überdies würden durch schlechte Kochkünste die Männer ins Wirtshaus getrieben, „wo Bier, Branntwein und andere Verlockungen die Einkünfte verschlingen, welche zur Verbesserung der Häuslichkeit hätten verwendet werden sollen“ /9/

Besonders scharf grenzte Lina Morgenstern also die Volksküchen von den Kneipen ab. Denn dort würden die Speisen viel zu stak gewürzt – zum einen, um den Mangel an Nährstoffen zu verbergen, zum anderen, um die Gäste zu übermäßigem Trinken und zu langem Kartenspiel zu animieren, was sich auf die Familien daheim verheerend auswirken würde. Aus Erfahrung warnte sie:

„Der Arbeiter nimmt im Allgemeinen die Verpflichtungen, die er gegen seine Familie hat, zu leicht und vergisst nur zu oft, dass seine Arbeitskraft kein unverwüstliches Kapital ist, sondern dass Zeiten kommen, wo Krankheit und Arbeitslosigkeit einen Notpfennig wünschenswert machen.“ /10/

Um mit Speisen nach neuestem Stand ernährungswissenschaftlicher Erkenntnis aufwarten zu können, entwickelte Lina Morgenstern Sinn für Forschungen. Von den Chemikern erwartete sie, dass sie herausfänden, mit welcher Konzentration man – von der Berechnung der Kostsätze und Preise ausgehend – die zur Verfügung stehenden Nahrungsmittel besser und rationeller verarbeiten könne.

In ihren Küchen bot sie über die Tage hinweg mit mehr als achtzig Gerichten eine beachtliche Auswahl. Ihren Küchenplänen kann man entnehmen, dass viele Gerichte allein mit Buchweizengrütze bereitet wurden.- darunter in Fleischbrühe mit Rindfleisch oder in Milch mit Pökelfleisch; auch Reis, Graupen und Hirse gab es in mehreren Variationen – mit Pflaumen gebacken oder geschmort, mit Rind- oder Schweinefleisch – gekocht, gepökelt oder als Klops. Hier scheinen besonders schlesische Erfahrungen das Angebot geprägt zu haben. Allerdings wurde auch nach Altberliner Küche gekocht. Unter anderem gab es geschmortes Hammelfleisch mit Kartoffeln, gebackene Kuheuter, Königsberger Fleck und Lungenhache. Neben zahlreichen Suppen (irgendwie musste sich doch der Name „Suppenlina“ rechtfertigen) waren auf den Speiseplänen auch Schweinebraten, Gulasch, Kotelett, geschmorte Leber, Bouletten sowie Schmorfleisch mit Sauce und Rouladen zu finden. Doch Abwechslung um jeden Preis genügte ihr nicht. Physiologen sollten der Frage nachgehen, durch welche Variationen zum Wohlbefinden der Speisenden besonders beigetragen werden könne. /11/

Die „kleinen Leute“ wollte Lina Morgenstern zu einer einfachen, naturgemäßen Nahrung zurückführen. Die Nährstoffe sollten, wie sie sich ausdrückte, „vegetarisch und animalisch gut gemischt, in einem sauber und schmackhaft bereiteten Gericht conzentriert“ gereicht werden. Von einseitiger Orientierung allein auf eine Richtung hielt sie nichts. Einfache, aber gute Kost sei das Richtige – eine solche erhalte kräftig und gesund; wer sie genossen habe, sei sogar „auch im Trinken alkoholischer Getränke mäßiger geworden“. Für äußerst eintönig hielt sie, wenn man sich vorwiegend mit Kartoffeln und Brot ernähren würde. Dagegen warb sie vor allem für Hülsenfrüchte, denn diese würden nach ihrer Auffassung einen hohen Grad an Eiweiß und Kohlehydraten aufweisen. /12/

„Männern fehlt der Blick ins Kleine“

Lina Morgenstern war sich darüber im Klaren, dass es angestrengter Arbeit bedurfte, um die von ihr verfolgten Ziele zu erreichen. Aber als ebenso wichtig plädierte sie für eine strenge und gewissenhafte Leitung, Verwaltung und Aufsicht. Schon für sie galt: Vertrauen ist gut, Kontrolle aber noch allemal besser.

Bei ihren Verwaltungsangestellten setzte sie einen hohen Grad an allgemeinen Fähigkeiten, an Sachkenntnis und praktischem Verständnis sowie Rechtschaffenheit und Gewissenhaftigkeit, Ordnungssinn, Energie und Ausdauer voraus. Treue gegenüber den eingegangenen Pflichten verlangte sie sowohl von den freiwillig wirkenden Vorständen und Aufsichtsführenden als auch von denen, „welche speciell die Küche leiten und bis ins Kleinste kontrollieren“.

Küche und Wirtschaft sah sie in traditioneller Weise als ureigenste Domäne der Frauen an. Mochten die Männer die Pläne schmieden! Beim Kochen waren sie – so ihr Denken – kaum zu gebrauchen. Denn ihnen würde der Blick in’s Kleine fehlen. Was zu tun war, wurde streng reglementiert. /13/

Formell gehörte Lina Morgenstern dem Vorstand des Vereins zwar nicht an. Dem stand aber nicht entgegen, dass sie es war, die alle Fäden in der Hand hielt. Sie leitete und kontrollierte die Verwaltung und die lokalen Küchenvorstände. Die Geschäftsordnung wies Jedem seine ganz konkreten Verantwortungsbereiche zu. So war der Schatzmeister ihr über dem Verein für das gesamte Geschäftsgebaren verantwortlich. Im Zentralbüro verwaltete er die Coupons, und ähnlich wie bei kommerziellen Unternehmen war das Vereinsvermögen in Staatspapieren angelegt.

Dem Schatzmeister stand der Kurator zur Seite. Dieser kontrollierte Kasse und Buchführung, prüfte Rechnungen und Abschlüsse. Über ihn verkehrte der Schatzmeister mit den Markenverkäuferinnen und dem Bankier. In seiner Hand verquickten sich Großes und Kleines. Beim Bankier flossen die Einnahmen der Markenverkäuferinnen zusammen. Nur er bestritt davon die laufenden Ausgaben. Im Büro behielt er eine gewisse Reserve, und den Rest trug er zur Bank.

Der technische Leiter hatte es mit Handwerksmeistern und Behörden zu tun. Er ließ sich Voranschläge machen und suchte um Genehmigungen nach. Auf den Baustellen schaute er unter den Arbeitern nach dem Rechten. In Stadtbezirken, wo die Bevölkerung zahlenmäßig anwuchs, prüfte er Möglichkeiten für die Einrichtung neuer Küchenlokale.

Der Schriftführer schrieb nicht nur Protokolle, sondern war gleichzeitig befugt, gemeinsam mit dem Vereinsvorsitzenden die vom Zentralbüro ausgehenden Schriftstücke und Kontrakte zu unterzeichnen. Er hatte anwesend zu sein, wenn. Küchen und Wirtschaftsräume inspiziert wurden.

Die Leitung einer jeden Volksküche oblag laut Statut dem vom Vorsitzenden berufenen Lokalkomitee. Ihm gehörten zumeist ehrenamtlich wirkende Damen und Herren aus „gehobenen Schichten“ an. Für Geldgeschäfte und Abrechnungen waren sie nicht befugt, wohl aber für die Bestellungen und den sonstigen allgemeinen Geschäftsverkehr.

Die Wirtschafterin wirkte in der Küche, wo sie für die Leitung, Aufsicht und Kontrolle zuständig war. Ihr unterstanden die Köchin, die Markenverkäuferinnen und die Hilfsfrauen. Sie hatte achtzugeben, dass nichts vom Inventar und den Vorräten abhanden kam; alles musste seiner vorbestimmten Verwendung zugeführt werden. Über alles, was in der Küche geschah, hatte sie Buch zu führen und höheren Ortes Rede und Antwort zu stehen. Sie protokollierte den Verbrauch an Materialien und die Anzahl der verabfolgten Portionen, regelte über den Küchenvorstand die Bestellungen und prüfte die eingehenden Waren nach Menge, Gewicht und Qualität. Hatte sie alles als richtig bestätigt, bekam der Lieferant im Büro sein Geld.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Neben der Wirtschafterin war die Köchin für Menge und Güte der Speisen verantwortlich. Beiden drohte sofortige Entlassung, wenn ihnen Fehler unterliefen oder sie sich an den Vorräten vergriffen. War die Köchin in der Lage, die Rezepturen – auch mit gehörig feinem „Blick in’s Kleine“ - zu beachten, konnte ihr beim Kochen wenig passieren. Für „dünne Erbsen mit Rindfleisch und Speck“ waren pro hundert ganze Portionen zu je einem Liter a 25 Pfennig achtzehn Pfund Rindfleisch und zwei Pfund durchwachsener Speck als Hauptzutaten vorgegeben. Dazu kamen zwei Pfund Rindernierentalg, 50 Pfund gelbe Erbsen, zwei Pfund Weizenmehl, ein Liter Zwiebeln, drei Pfund Salz, ein Gramm Pfeffer und ein Esslöffel Majoran.

Nahezu idiotensicher war die Zubereitung vorgeschrieben:

„Am Abend vorher werden die Erbsen gesiebt, gewaschen, verlesen und in kaltem, weichem Wasser geweicht und vier Stunden vor dem Gebrauch kalt aufs Feuer gesetzt; bei gleichmäßigem, nicht zu starkem Feuer werden sie langsam weich und dick gekocht, wobei man die an der Oberfläche sich sammelnden Hülsen mit dem Schöpflöffel abnimmt. Die ganz zerkochten Erbsen verdünnt man unter fortwährendem Rühren mit der vom Rindfleisch gewonnenen Brühe, würzt sie mit Majoran, Pfeffer und Zwiebeln und bindet sie mit dem in siedendem Fett klar zerkochten Mehl, welches mit klarer Speckbrühe glatt verrührt wird. – Zur Brühe kocht man das Rindfleisch extra und den Speck extra, Salz hinzufügend. Das Fleisch zur Brühe wird stets mit kaltem Wasser aufgesetzt und bei nicht zu starkem Feuer langsam gekocht.“ /14/

War die Köchin mit ihrer eigentlichen Arbeit fertig, musste sie beim Essenausgeben helfen. Die Ehrendamen passten auf, dass jeder bekam, was ihm zustand. Festes und Dünneres sollte sich möglichst überall die Waage halten. Wenn die Köchin meinte, dass die Wirtschafterin ihr etwas vorenthielt, konnte sie sich beim Küchenvorstand beschweren. Es galt also auch Gegenkontrolle von unten.

In der Küche herrschte strengste Sparsamkeit. Alles musste so rationell wie möglich verwendet werden. Aus Knochen ließen sich noch allemal kräftige Brühen bereiten. Was sonst noch übrig blieb, wurde nicht etwa entsorgt, sondern als Viehfutter verwendet. Aus Knochenresten und anderen Abfällen kochte man Seife – auch zum Verkauf. Mit selbst hergestellter Seifenlauge reinigte man die Kessel.

Nicht zuletzt war auch der Arbeitsablauf exakt geregelt:

„Um 6 Uhr wird die Küche eröffnet. Pünktlich muss alsdann das ganze Personal versammelt sein. Die Wirtschafterin teilt sofort Jedem seine Arbeit zu, sieht, dass das von ihr ausgegebene Material wirklich zu den Speisen verwandt werde und in die Kessel komme, sorgt, dass die Speiseräume um 8 Uhr geordnet seien und das Fleisch zeitig genug gar sei (das Fleisch wird laut Vorschrift, sobald es von der Wirtschafterin gewogen ist, in Netzen gekocht, welche die Wirtschafterin selbst zubindet und nach dem Kochen selbst aufbindet, damit, wie es des öfteren in den Küchen vorkam, nicht vor, während und nach dem Kochen entwendet werden kann) und verkühle, um von ihr von 10 Uhr ab frandiert zu werden. Nachdem sie laut Vorschrift dasselbe geschnitten hat, zählt sie im Beisein der zuerst ankommenden Aufsichtsdamen die ganzen und die halben Fleischportionen, schreibt die Zahl auf und übergibt diese Notiz der Ehrendame für das Kontrollbuch. Pünktlich um 11 Uhr muss das Essen gar und zur Verteilung fertig sein.

Während der Verabreichung der Speisen hat die Wirtschafterin das Amt, das Fleisch auf die Portionen zu legen. Nach dem Verkauf der Speisen ist die Kalkulation der Speisen ins Küchen-Konto sofort einzuschreiben und mit dem Kontrollbuch der Markenverkäuferin für das Zentral-Büro zu geben.

Etwaige Überreste von Speisen müssen von der Wirtschafterin sorgfältig verwahrt und dürfen nur nach besonderen Instruktionen des Küchenvorstandes verwandt werden. Bald nach der Speisung ist für die gründliche Reinigung der Küche zu sorgen.

Die Küche ist nicht vor der gesetzmäßigen Frist und besonders nicht zu schließen, ehe die Arbeit für den folgenden Tag genügend vorbereitet ist.

Der vom Vorstand angesetzte Küchenzettel ist streng von der Wirtschafterin inne zu halten.

Unterschleife von Seiten des Personals wie jede Unregelmäßigkeit, ist dem Vorstand sofort von der Wirtschafterin anzuzeigen. Ebenso darf das Personal nicht das geringste Vergehen der Wirtschafterin verschweigen.“ /15/

In der beschriebenen Art und Weise geführt, zogen die Volksküchen immer mehr Kundschaft in ihren Band, zumal gerade in Berlin die Zahl der arbeitenden Menschen stetig anwuchs.

Als sich die Gegend um das Hallische Tor zu einem Maschinenbauzentrum entwickelte, stieg der Bedarf in der 1. Volksküche (Kochstraße) stark an. Bis zu 2 000 Personen wurden täglich beköstigt. Pünktlich um 12 Uhr erschienen die Arbeiter in solchen Massen, dass Kasse und Buffet kaum zu erreichen waren. Mitunter reichten nicht einmal die Stehplätze im Inneren des Lokals aus, so dass manch einer mit einem Plätzchen vor der Tür vorlieb nehmen musste. /16/

Alle in den Volksküchen tätigen Frauen – egal, ob Köchin, Essenausgeberin, Aufsichtführende oder Leitende – leisteten schier Immenses – an stürmischen Tagen oder bei unerträglicher Hitze. Ihres Eifers gedachte Lina Morgenstern, indem sie schrieb:

„Diese bisher unerhörte freiwillige Beteiligung, insbesondere der Frauen, mit tatsächlichen Dienstleistungen für volkswirtschaftliches, social-humanes Werk mit Einsetzung der körperlichen Kraft, mit Opfer der knapp bemessenen Freistunden des eigenen Berufes, ist eine der erfreulichsten Errungenschaften unserer Zeit, - ein unleugbarer Fortschritt in der sozialen Befähigung der Frauen, in ihrem lebendigen Streben, gemeinschaftlich mit dem Manne die Leiden der Menschheit zu mildern.“ /17/

Die Königin – ihren Sinn für soziale Wohltaten bewahrend – besuchte die Volksküchen jetzt häufiger. Des Öfteren wurde sie von ihrer Tochter Luise - die seit 1856 mit Friedrich I., dem Großherzog von Baden, verheiratet war - begleitet. Wie kurios es dabei manchmal zuging, erzählte einst der Berliner Schriftsteller Heinz Knobloch. Augusta soll während eines Besuches auch eine Vorratskammer visitieret haben, in der Backpflaumen aufbewahrt wurden. „Was für herrliche Morcheln!“ soll sie ausgerufen haben, und niemand hatte es gewagt, sie über den wahren Sachverhalt aufzuklären. /18/

Wieder Zeit für Kinder?

Dank des Einsatzes vieler Frauen und Männer erlangten die Volksküchen eine Bedeutung, die bei ihrer Begründung so nicht vorherzusehen war. Immer stärker traten sie „an die Stelle des Familientisches – für den Mann, für die Frau, ja schließlich für das Kind“. War Lina Morgenstern von Zeitgenossinnen und Zeitgenossen anfangs nur – und vielleicht etwas verächtlich – „Suppenlina“ genannt, so wurde sie jetzt immer öfter als „Mutter der Volksküchen“ tituliert, was ihrer Tätigkeit und Bedeutung weitaus stärker gerecht wurde. /19/

Aber wie es in ihrem Leben so spielte – kaum hatte Lina ein Unternehmen einigermaßen zum Laufen gebracht, stieß sie auch gleich auf ein neues soziales Problem. Ende 1868 entnahm sie der Presse, wie sich „die vornehme Welt“ über die damals so genannte „Engelmacherei“ entrüstete („Engelmacher“ nannte man Menschen, die illegale Abtreibungen vornahmen).

Mädchen vom Lande, meist gerade erst zugereist, im Getriebe der Großstadt unerfahren, - wie oft gerieten sie an zweifelhafte Liebhaber, vertrauten ihnen blind oder aus Abenteuerlust und wurden „geschändet“. Immer war dann der Kummer groß. Von Vater und Mutter verstoßen, von Herrschaften davongejagt – was sollten diese Mädchen dann tun? Ihr Los wurde zum Thema übler Nachrede oder ungezählter Moritatensongs. Aber das war für die Betroffenen nicht einmal die kleinste Hilfe, sondern höchstens noch Spott, Hohn oder falsches Mitleid. Und mit einem Säugling war es schwer, wenn nicht gar unmöglich, eine neue Arbeitsstelle zu finden. Deshalb versuchten manche Mädchen, sich ihrer ungewollten Nachkommenschaft klamm und heimlich zu entledigen oder überließen sie einem ungewissen Schicksal. Nicht wenige gingen dann erst recht „auf den Strich“ oder sprangen ins tiefe Wasser.

„Gutbetuchte“ kamen auf die Idee, „Findelhäuser zu fordern. Ein Komitee hatte schon bei der Königin um Protektion nachgesucht. Als Lina Morgenstern davon erfuhr, regierte sie äußerst empört. Als ob man diesem Problem mit einer solchen Einrichtung beikommen könnte! Gewiss – die Kinder kamen unter; was aber wurde mit den Müttern? Und was die Kinder anging - hatten diese nicht auch ein Recht zu leben und anständig erzogen zu werden? Wenn ja, dann doch vor allem durch die eigenen Mütter! Daraus folgerte sie, ob man sich da nicht sowohl um die „gefallenen Mädchen“ als auch um deren Kinder sorgen müsse! Sollte man etwa weiter tatenlos zusehen, wie es denen erging, die vielfach durch die Schuld ebensolcher Herrschaften, die mit dem Ruf nach Findelhäusern lediglich ihr Gewissen beruhigen wollten – sofern sie eines besaßen - in die bitterste Not getrieben worden waren?

Lina Morgenstern beschloss, selbst bei Augusta vorzusprechen. Gelegenheit bot sich, als die Königin Mitte Dezember wieder einmal der Einweihung einer Volksküche beiwohnte. Lina sprach sie an und versuchte, sie für ihren Gegenplan zu gewinnen, in welchem sie die Findelhäuser aus moralischen Gründen verwarf. So wie diese angedacht waren, würden sie die Eltern derart in Anonymität belassen, dass sie nichts für die Erziehung ihrer Kinder tun könnten. Eigener Grundsätze und Erfahrungen eingedenk, schlug sie vor, einen Kinderschutzverein zu gründen, dessen Zweck es sein sollte, „der Verwahrlosung und Vernachlässigung Neugeborener und Säuglingen durch Mangel an geeigneter Aufsicht, aus Not oder sittlichem Elend, entgegenzuwirken und den Gesundheitszustand und die Moralität des Volkes zu heben“. Der Verein sollte in einigen Stadtbezirken Anstalten einrichten, für deren Leitung medizinisch und pädagogisch gebildetes Personal zu gewinnen wäre.

Die Königin erwärmte sich für den Plan und lud Lina Morgenstern für den 12. Januar 1869 zu einer förmlichen Audienz ein, auf der sie „geruhen wollte“, mit ihr über das Vorhaben zu befinden. Für Lina Morgenstern kam diese Einladung einer hohen Gunst gleich. Sorgfältig bereitete sie sich auf den Empfang vor, über den sie später in dankbarer Erinnerung berichtete:

„Den Hofsitten und –gebräuchen völlig fremd, begab ich mich vor der festgesetzten Zeit zu der Palastdame Gräfin Hacke und bat, mich mit den üblichen Vorschriften bekannt zu machen. Diese sagte, sie wolle mich selbst zur Königin führen, ich sollte mich nur ganz natürlich geben, die Königin sei für Wahrheit sehr empfänglich. So folgte ich der Gräfin durch den bekannten Übergang vor dem Gebäude Behrensstraße nach dem Königlichen Palais.

Wir durchschritten die Rotunde und gelangten in das Arbeitszimmer der Königin, von dem drei Thüren nach dem Wintergarten, nach dem großen Saal und nach den Privatgemächern führen. – Nicht lange währte es, da erschien die Königin, damals elastischen Schrittes, eine hoheitsvolle, majestätische Gestalt. Huldvoll begrüßte sie mich mit den Worten: ‚Bis jetzt haben sie mich immer nur in Ihren Volksküchen empfangen, es macht mir Freude, Sie bei mir willkommen zu heißen!’.“ /20/

Die Unterhaltung währte eine dreiviertel Stunde. Augusta teilte eingangs mit, dass sie es nicht für angemessen hielt, die Protektion über ihr neuestes Werk zu übernehmen; gleichwohl sagte sie zu, es zu fördern.

Zu den bestehenden „Magdalenenheimen“, in denen traditionell „gefallene Mädchen“ untergebracht waren, befragt, äußerte sich Frau Morgenstern kritisch. Sie brächten nichts. Selbst bei längeren Aufenthalten sei bei den Mädchen keine Besserung zu erkennen. Die Geistlichen würden allein in religiösen Unterweisungen und im Üben von Formeln das Heil erwarten. Das sei nutzlos, denn es erziehe nicht zum Handeln.

Weiter bemängelte Lina Morgenstern, dass „Minorenne“ (gemeint waren „Minderjährige“) vielfach mit „Majorennen“ (heute „Volljährige“) zusammengelegt würden, denn dies würde ihrer Charakterbildung völlig abträglich sein. Ebenso wenig könne sie verstehen, weshalb man die Minorennen wieder entlasse, kaum dass sie 14 Jahre alt geworden sind. Sie würden dann doch ganz allein und gottverlassen im Leben stehen, und was sie dann erwarte, könne man sich leicht vorstellen. Ihre Majestät möge doch bitte prüfen lassen, „ob es nicht eine unendliche Wohltat wäre, wenn diese Waisenmädchen in dem gefährlichen Alter eine praktische Fortbildung in irgendeinem Erwerbsberuf erhalten und noch einige Jahre unter Aufsicht und Schutz der Waisenbehörde gestellt würden“. Augusta versprach, einem solchen Wunsche zu entsprechen und verabschiedete Ihren Gast.

Einige Tage danach zog die Königin in einem Waisenhaus persönlich Erkundigungen ein und gab ihre Empfehlungen. Für die Zöglinge seien Fortbildungskurse einzurichten, und nach ihrer Entlassung möge sich die Behörde gefälligst weiter um sie kümmern. Der Kinderschutzverein wurde am 23. Januar 1869 ins Leben gerufen. Da die Audienz und deren Ergebnisse nicht geheim geblieben waren, fühlen sich auch „bessere Kreise“ bemüßigt, ihre Bereitschaft zur Mitarbeit zu bekunden Sogar Bismarcks Schwester, Malwine von Arnim-Kröchlendorff, ließ sich in den Vorstand wählen./21/

Unter Lina Morgensterns Vorsitz wurde der Verein alsbald praktisch tätig. In der südlichen Friedrichstraße eröffnete er im April 1869 die Pflegeanstalt, die bis Januar 1870 achtzig, davon 58 unehelich geborene Kinder, aufnahm. Zu Frau Morgensterns Leidwesen war dieser Einrichtung allerdings keine lange Dauer und somit wenig Wirkung beschieden. Sie scheiterte, weil es, wie Lina schrieb, nicht gelang, ihre Schützlinge vor Epidemien zu bewahren, die damals Berlin des Öfteren heimsuchten. Mitte des Jahres (1870) starben. 37 Kinder, davon je elf an Atrophie – einer Krankheit, in deren Folge die inneren Organe schrumpfen - und Ruhr sowie sechs an Gehirnentzündung. Öffentliches Interesse und die Bereitschaf zur Mitarbeit sowie Unterstützungen ließen dann rasch nach.

Als Ausweg fand Frau Morgenstern Familien, die sich bereiterklärten, Kinder für drei Jahre in Obhut zu nehmen. Freiwillige Helferinnen berieten sie. Der Verein erstattete Kosten für Arzt und Arznei, und soweit es möglich war, zog er die Eltern zur Zahlung des Pflegegeldes mit heran. In Einzelfällen unterstützte er Mütter, die ihre Kinder bei sich behielten. /22/

Ein Heim für „Minorenne“ kam vorerst nicht zustande, wohl aber eine Fortbildungsakademie für junge Damen. Frau Morgenstern fand elf Lehrkräfte, die die Mädchen in Naturwissenschaften, Kulturgeschichte, Literatur, Mathematik, Fremdsprache, Wirtschaftslehre und Pädagogik unterwiesen. Unterricht in Kindererziehung wurde selbstredend nach der Methode des Fröbelvereins erteilt. In dessen Seminaren waren inzwischen nicht wenige junge Mädchen, darunter selbst Morgensterns Töchter Clara und Olga, als Lehrerinnen qualifiziert worden. Clara ging, als sie zwanzig Jahr alt geworden war, für ein halbes Jahr nach London, wo sie bei der Einrichtung von Kindergärten nach deutschem Muster Anleitung gab. /23/

Volksküchen als Dauerbrenner

Soldatenspeisung 1870/71

Im Deutsch-französischen Krieg wurde die Berliner Volksküchenbewegung weitaus stärker als zur Zeit ihrer Gründung beansprucht. Die Härte der Kämpfe übertraf die von 1866, und entsprechend größer war der Bedarf an Kanonenfutter. Generalstabsmäßig hatten die Behörden Bewaffnung und Transporte geplant, und erneut hing die Kriegsführung in entscheidendem Maße von der Einbeziehung der Eisenbahn ab. Viele Wege führten deshalb durch Berlin, wo sich mehrer Bahnlinien kreuzten und strategische Bedeutung erlangten. Doch niemand hatte bei den Behörden so recht bedacht, dass die Truppen bei längeren Aufenthalten auf den dortigen Bahnhöfen auch verpflegt werden mussten! Den Männern mangelte es auch bei dieser Aufgabe am Blick ins Kleine.

Wie froh hätten eigentlich die Beamten sein müssen, als plötzlich und unerwartet Berliner Frauen bei ihnen aufkreuzten, die Verpflegungsfrage stellten und uneigennützige Hilfe anboten. Vehement erwachten die sonst so eifrigen preußischen Beamten aus ihrem nicht ganz verdienten Büroschlaf. Als sie ihre Augen gehörig gerieben hatten und wieder klar sahen, erkannten sie unter den herbeigeeilten Frauen Lina Morgenstern und mehrere ihrer Helferinnen aus dem Berliner Volksküchenverein von 1866. Unversehens wurden sie rührig, würdigten die offensichtlich demonstrierte Einsatzbereitschaft als Ausdruck patriotischen Sinnes und beauftragten den Verein unverzüglich mit der Ausführung seines Vorhabens. /1/

Da für den 23. Juli 1870 - also vier Tage nach Kriegsbeginn – die ersten anderthalbtausend Mann auf dem Niederschlesisch-Märkischen Bahnhof (heute „Ostbahnhof“) erwartet wurden, war dringendes Handeln geboten, was die Behörden glatt überfordert hätte. Aber wie immer, wenn es auf Aktion ankam, war Lina Morgenstern mit ihren Heferinnen zur Stelle. Zudem hatte sie auch ihren Mann für die Mitwirkung gewonnen. Obwohl Theodor Morgenstern in seinem „Commissions-Agenturgeschäft französischer und englischer Manufakturwaren“ in der Leipziger Straße alle Hände voll zu tun hatte – denn er fürchtete das Ausbleiben der Lieferungen aus Frankreich und sah sich gezwungen, neue Verbindungen zu knüpfen – blieb ihm nichts anderes übrig, als schnell mit herbeizueilen.

Zunächst musste er seiner Frau Kochherde und Kupferkessel besorgen. Problematisch war, dass diese nur „auf Bestellung“ zu haben waren, und Arbeiter, die sie gegebenenfalls hätten aufstellen können, befanden sich auf dem Weg zu den königlichen Truppen. Nach inständigen Bitten stellte der später wegen seiner allzu kühnen Spekulationsgeschäfte und als „Eisenbahnkönig“ bekannte Dr. Bethel Henry Strousberg, der selbst eine Volksküche betrieb, transportable Kochherde gegen eine Kaution von 3000 Mark zur Verfügung. /2/

Theodor und seine Helfer überschlugen sich beinahe. Den Güterschuppen auf dem Bahnhof verwandelten sie in einen Speisesaal. An langen Bänken sollten jeweils fünfzig Soldaten Platz finden. Ein Ende des Raumes wurde für Offiziere abgegrenzt. Dem gegenüber wurde der Bierausschank eingerichtet – was galten jetzt noch allzu strenge Moralprinzipien? Eine ebenso eilends eingerichtete Speisekammer diente nebenbei als Garderobe, und da an Schlafen ohnehin nur selten zu denken war, wurde sie nachts von den Frauen als Zufluchtsstätte genutzt. Die Küche wurde im Keller untergebracht. In den ersten Monaten war sie nur über die Rampe des Güterschuppens zu erreichen, was ziemlich unbequem war. Wenig später kamen noch vier Teilküchen hinzu.

Dem ersten Transport folgten weitere – Stunde um Stunde, Tag und Nacht, in jedem Zug 600 bis 1000 Mann. Frau Morgenstern erinnerte sich:

„Den ganzen Tag und die ganze Nacht dampften unsere Kessel, beständig wurden Erbsen, Linsen, Bohnen und Reis in Bouillon gekocht, Kaffee bereit gehalten, Speck, Rindfleisch und Wurst geschnitten und zwei Brotmaschinen in Bewegung gesetzt.“ /3/

Dem Aufruf Lina Morgensterns waren viele Menschen gefolgt – aus was für Motiven auch immer. Augusta hatte über dies den Vaterländischen Frauenverein mobilisiert. Jeder Soldat bekam dreiviertel Liter Kaffe und 21 Lot (je 5,288 Gramm) Gemüse mit 125 Gramm Fleisch samt Zugabe von einer Zitrone und einem Stück Brot. Das Heeresersatzamt zahlte pro einem Viertel Kaffee mit Milch und Zucker 13 sowie pro 125 Gramm Erbsen oder Reis und 125 Gramm Speck oder Fleisch 45 Pfennig. Auf Bitten einer Frau von Itzenplitz wurden auch daheim gebliebene Landwehrfrauen versorgt.

Ab und zu kam Besuch “von oben“ – einmal sogar König Wilhelm. Er kostete von den Speisen, trank ein Bier und pflegte mit den Soldaten „leutselige Unterhaltung“.

Nach ihm wagte sich auch General Wrangel herbei. Ein Bildreporter versuchte eine Fotoaufnahme, doch Wrangel blieb nicht stehen und lehnte ab: Er habe in dem Gewühle „ja gar keine Stellung!“ Doch Lina Morgenstern war anderer Meinung und konterte schlagfertig: „Gewiss, Sie haben unter uns eine gute Stellung!“ /4/

Hilfe den Verwundeten, Gnade dem „Feind“

Nach den ersten Gefechten fluteten die Verwundetentransporte nur so zurück. Auch hierfür hatten die Behörden nichts vorbereitet. Weder Ärzte noch Pflegepersonal standen bereit, und auf dem Proviantamt schaute man nur verdutzt drein. Was blieb, waren erneute Hilferufe und eigenes kräftiges Zupacken.

Der damals zu bewältigenden Probleme entsann sich Lina Morgenstern später und in ruhigeren Zeiten:

„Acht kaum zu bewältigende Tage und Nächte kamen die Verwundeten in immer trostloserer Verfassung bei uns an, viele sich verblutend, und immer wurde uns noch keine Hilfe von Seiten der Behörden zuteil, noch immer hatten wir weder einen abgesonderten Raum zum Verbinden, noch Lazarettgegenstände, die wir nicht selbst kauften, und die Kasse der freiwilligen Beiträge war gänzlich erschöpft.“ /5/

Lina Morgenstern wurde in diesen Tagen und Nächten sehr nachdenklich – über den Krieg im Allgemeinen und darüber, dass die ersten Gefangenentransporte angekündigt worden waren. Die Frage war, wie man sich ihnen gegenüber verhalten sollte – es waren ja doch „Feinde“!

Nach der Schlacht bei Wörth langten die ersten Vierhundert an – wie Lina Morgenstern schrieb – „meist Turcos, Araber, Zuaven und Zephire“ – die meisten verwundet. Ihre Eindrücke waren recht gemischt:

„Mit sonderbarem Grauen betrachtet man die Zephire, denen der Ruf vorangegangen war, dass sie zu diesem Krieg entlassene Galeerensträflinge seien…Ihr grotesker Anblick in den bunten, mannigfachen Trachten, ihr wildes, dennoch gleichgültiges Gebaren ließ fast vergessen, dass es Gefangene seien. Man betrachtete sie mit einem Gemisch von Neugierde, Abscheu und Mitleid, und mit der Empfindung, dass es von einer zivilisierten Nation wie Frankreich unwürdig sei, die wilden unzivilisierten Elemente eines anderen Weltteils in den europäischen Krieg zu senden.“ /6/

Wie Heinz Knobloch herausgefunden hat, meinte man damals Angehörige dreier französischer „Bataillone leichter Infanterie afrikanischer Infanterie, in die mit mindestens drei Monaten Gefängnis bestrafte Soldaten gesteckt wurden, wenn ihnen wenigstens noch ein Jahr Militärdienst bevorstand. /7/

Doch ihr Mitleid gewann die Oberhand, und es stand bald außer Frage, dass die französischen Verwundeten in derselben „barmherzigen Weise“ zu verpflegen waren wie die deutschen. In dieser Auffassung wusste sich Frau Morgenstern auch mit der Königin eins, die ohnehin nichts von den Kriegen hielt, die Preußen im Namen der deutschen Einheit führte. Dem entsprechend loyal verhielt sie sich nun auch gegenüber Napoleon III., der auf Schloss Wilhelmshöhe bei Kassel gefangen saß. Auf ihre Interventionen hin gewährte man ihm manche Erleichterung; sie selbst schickte ihm ihrem Ersten Kammerdiener und einen versierten französischen Küchenmeister. Lina Morgenstern wusste von alledem und hoffte also nicht vergebens. Augusta sorgte sich nun mit ihr, dass französische Gefangene weder verhungerten noch erfroren.

Nach den entsetzlichen Schlachten war zu humaner Mildtätigkeit reichlich Gelegenheit. Lina und die Anderen kamen kaum noch nach Hause. Sie schliefen in Güterwagen, auf Säcken und an den Herden – „immer einsatzbereit“. Zwischen Ankündigung und Ankunft eines Zuges vergingen meistens nur zwei Stunden. Mehr Zeit hatte man nicht, um die Mahlzeiten zu bereiten. Dann kannte jeder seine Aufgabe:

„…einige nahmen Wein, um den Verschmachtenden entgegenzugehen; andere eilten hinaus zu den Waggons mit Verbandszeug, Wasser und Wäsche. Welch ein Anblick! Hier wurde ein Verstümmelter auf den Schultern hineingetragen, dort schwankte ein anderer zwischen zwei ihn führenden Kameraden, auf einem Stein ruhte ein dritter, den die Füße nicht weiter tragen konnten.“ /8/

Wie nicht anders zu erwarten, fand das Verhalten der Frauen den Gefangenen gegenüber nicht ungeteilte Zustimmung. Einmal erschien nach einer rastlosen Nacht ein Reporter. Dem war zu Ohren gekommen, dass man Franzosen sogar bevorzugt versorgen würden. Nun wollte er der Sache auf den Grund gehen und an Ort und Stelle erkunden, wie es sich tatsächlich verhielt. Empört verwies ihn Lina Morgenstern an die Wachmannschaften, die ehrlich bezeugten, dass von Bevorzugungen keine Rede sein konnte. Sollten Verleumder ruhig kommen! Die würden dann schon sehen, für wen sich die Frauen aufopferten! /9/

Als sich Schmähartikel zu häufen begannen, berief sich Lina auf die Königin und schrieb einen zornigen Gegenartikel. Sie wies nach, dass ein in Brüssel befindliches Komitee Nahrungsmittel und Kleidung übersandt hatte und alles gewissenhaft und nur unter Aufsicht von Beamten des Kriegsministeriums verteilt worden war. Trotzdem hörten die Verleumdungen nicht auf. Frau Morgenstern sah sich veranlasst, nach Brüssel zu schreiben und besagtes Komitee um die Entsendung von Beauftragten zu ersuchen, die als Unabhängige die Verteilungen in die Hand nehmen sollten.

So geschah es dann auch. Lina Morgenstern entsann sich der Hilfe dieser Herren um so dankbarer, als es nach der in Straßburg erfolgten Kapitulation Frankreichs erforderlich wurde, fast 17500 französische Offiziere und Soldaten zu verpflegen. Glücklich nahmen diese das Essen an, manche boten für ein Brot trotz grimmiger Kälte sogar ihre Kleidungsstücke. Aber alles war gratis, und um ein wenig gutzumachen, reinigten die Franzosen ihre Geschirre selbst und halfen auch beim Austeilen. /10/

Allerdings blieb Lina Morgenstern im eigenen Vorstand nicht unangefochten. Eines Tages meinte der Schatzmeister, die Truppen seien gut beköstigt worden, doch da diese sich jetzt im Felde befänden, könnte die Aktion wohl abgeblasen werden. Für den Volksküchenverein hätte sich die Sache dann wohl erledigt. Wenn man wie bisher weitermachen würde, geriete das Unternehmen als Ganzes in ernste Schwierigkeiten.

Auch unter den Frauen gab es große Aufregung. Die Revision ergab, dass Frau Morgenstern zwar sparsam gewirtschaftet, es aber versäumt hatte, ordnungsgemäß Protokoll zu führen. Das war ein Versäumnis, das sogar ihren eigenen Prinzipien und Vorschriften widersprach. Nun musste sie die Konsequenzen tragen. Der Schatzmeister ließ nicht locker. Nichts konnte ihn umstimmen. Im Gegenteil: Er unterrichtete den Vorstand und erreichte, dass die Versorgung der Truppen eingestellt werde. In typischer Nun-erst-recht-Stimmung entschloss sich Lina Morgenstern aber, die Unternehmung auf eigenes Risiko weiterzuführen. Diesem Vorhaben kam zugute, das sie zu Anfang der Aktion ein unabhängiges Erfrischungskomitee bebildet hatte. Diesem gehörten auch Damen aus anderen Vereinen an, die bereit waren, weiter mit ihr zusammenzuarbeiten. Außerdem wurden – wenn es die Umstände erlaubten – Soldaten auch in regulären Volksküchen versorgt. Insgesamt wurden auf diese Weise bis zum Ende der Aktion 226 000 Deutsche und 70 000 Franzosen versorgt, davon 30 000 auf Kosten des Ehepaares Morgenstern. /11/

Zu guter Letzt geriet Lina auch noch mit den Militärbehörden in Konflikt. Dieser begann schon, als sie gemeinsam mit ihren Helferinnen einen Verbandsplatz einrichtete. Ärzte, die hier freiwillig Dienst tun wollten, hatten sie dazu ermuntert, und am 23. September wurde er auf dem Niederschlesisch-Märkischen Bahnhof eingeweiht. Am nächsten Tage erschienen einige Offiziere, die die Einrichtung in eigene Regie übernehmen wollten. Lina verweigerte die Übergabe mit der Begründung, dass die reichlich vorhandenen Mittel durch freiwillige Spenden aufgebracht worden waren. Die Behörde hielt dagegen, dass die Pflege der Verwundeten nur in militärischer Hand liegen dürfe und untersagte den feiwilligen Ärzten, die Arbeit fortzusetzen. Nun wurde Königin Augusta ins Vertrauen gezogen, die dann den Streit schlichtete. /12/

Letztendlich ward Lina Morgenstern, ihrem Manne und all ihren Helferinnen und Helfern doch noch Lob und Anerkennung zuteil. Sie erhielten eine Fülle von Dankschreiben, unter anderem vom „Central-Comite des Preußischen Vereins zur Pflege im Felde verwundeter und erkrankter Krieger“ - unterzeichnet von einem Herrn von Sydow. Huldvolle Dankesworte erreichten sie von Königin Augusta:

„Sie haben mich zu meinem Geburtstage durch einen poetischen Glückwunsch erfreut, für den ich Ihnen aufrichtig danke; mehr aber noch danke ich Ihnen für Ihre Leistungen auf dem praktischen Gebiete der Humanität. Aus der segensreichen Tätigkeit der Volksküchen ist die Verpflegung auf den Bahnhöfen hervorgegangen, welche Sie mit großer Opferfreudigkeit leiten und dabei von den unermüdlichen Berliner Frauen erfolgreich unterstützt werden.“ / 13/

Dem Schreiben folgte die Auszeichnung mit dem Verdienstkreuz, der Kriegsmedaille und der Goldenen Augusta-Medaille. Von anderer Seite kam postwendend der Vorwurf der Liebendienerei vor den Hohenzollern auf. Sozialdemokratische, aber auch bürgerliche Kreise gingen zu Lina Morgenstern auf Distanz. /14/

Der Stammkundschaft stets zu Diensten

Obwohl Lina Morgenstern während des Deutsch-französischen Krieges sehr in Anspruch genommen war und sogar ihre jüngeren Kinder der Obhut ihrer erst fünfzehnjährigen Tochter Clara überlassen musste, ging der Betrieb in den Volksküchen unvermindert weiter. Aus Spendenmitteln wurde eine Unterstützungskasse geschaffen, so dass mehr Gratisportionen verabreicht werden konnten.

Nach Kriegsende hielt die positive Entwicklung noch eine Weile an. Dann aber griff der Gründerboom. Es kletterten sowohl die Preise für Lebensmittel und Feuerung, als auch die Lohn- und Mietkosten, so dass man glaubte, abspecken zu müssen. Zwei Lokale wurden geschlossen und fünf weitere in kleinere Räumlichkeiten umgesiedelt. Wider Erwarten stieg jedoch der Umsatz von 1871 zu 1872 um zirka 75 000 und zu 1873 um weitere 30 000 Mark, und so machten die Berliner Volksküchen erneut positive Schlagzeilen.

Lina Morgenstern war in jener Zeit des Öfteren auf Reisen. Vielerorts waren nun ihre Erfahrungen gefragt. So hielt sie Vorträge und schrieb Artikel. Eine schon 1868 verfasste Broschüre gab sie in aktualisierter Fassung und mit verändertem Untertitel heraus; dieser lautete jetzt. „Wirtschaftliche Anstalten für billige, gesunde, nährende und schmackhafte Massenspeisung im Krieg und Frieden. Motive, Bedeutung und Organisation und cultur-historische Statistik und Darstellung“. In vielen Städten, so in Heidelberg, Karlsruhe und Nancy sowie in Charlottenburg, Bremen, Erfurt, Gießen. Mannheim, Halle und Lübeck nahmen Frauen und Männer ihre Anregungen dankbar auf und eröffneten Volksküchen nach Berliner Vorbild. Auch in Sorau, Zittau und Minden regte sich Interesse und man bat, Materialien zuzusenden. /15/ Ähnliche Anforderungen kamen aus Braunschweig, wo sich ein Stadtrat namens Schöttler der Sache angenommen und einen Volksküchenverein gegründet hatte. Er entsandte Wirtschafterinnen und Köchinnen zur Weiterbildung nach Berlin.

Doch 1874 kam es zu einem ernsten Rückschlag. Der Umsatz fiel auf das Niveau von 1872 zurück. Kunden blieben teils deshalb weg, weil sie jetzt mehr verdienten und glaubten, sich nun Besseres leisten zu können. Wie Lina feststellte, betraf dies auch Arbeiterkreise. Wer wenige Zeit später allerdings dem „Gründerkrach“ zum Opfer fiel, dem waren danach selbst die billigen Volksküchenpreise zu hoch.

Durch mangelnden Umsatz entstand ein Verlust von 11 000 Mark, der nicht auszugleichen war, weil sich die Kosten für Mieten, Löhne und Materialien verdoppelten. Um diesem Zustand abhelfen, ließ Frau Morgenstern von nun an auch halbe Portionen verabfolgen. Als mit der Währungsreform von 1875 die Reichsmark eingeführt wurde, orientierte sie auf „Normalportionen“ - jeweils bestehend aus 0,8 Litern Gemüsesuppe, 45 Gramm Fleisch zu je 15 Pfennig. Diese Umstellung stieß allenthalben auf Kritik, und der Umsatz sackte weiter ab. Der Tiefpunkt wurde1876 erreicht, als sich der Umsatz im Vergleich zu 1872 halbierte. Nun entschloss sich Lina Morgenstern wieder für ganze Portionen – zu jeweils einem Liter Gemüsesuppe und 136 Gramm Fleisch, worauf der Umsatz allmählich wieder nach oben ging. /16/

Pro Portion mussten jetzt 25 Pfennig aufgebracht werden, was Manchen immer noch schwerfiel. Und so blieb der Erlös weiterhin zu gering, um auch ärmeren Leuten „einmal am Tage eine warme Mahlzeit bieten zu können“. Wie mühte sich Lina, um diese Gefahr zu bannen! Da ihr Name einen guten Klang besaß, hörte man auf ihre Spendenrufe, die alsbald wieder Wirkung zeigten.

Als eine der Ersten reagierte Augusta, die nach Krieg und Reichseinigung an der Seite ihres Mannes zur Deutschen Kaiserin aufgestiegen war. Durch ihre Protektion waren sowieso regelmäßige Zuwendungen garantiert. Sie unterstützte den Verein auch weiterhin bei der Propagierung seiner Erfolge. Sie ermöglichte ihm, an der „Exposition internationale hygiene et sauvetage a’ Bruxelles“ teilzunehmen. Dort demonstrierte Lina alles, worüber sie in ihren Küchen verfügte – Geräte und Geschirre, Tabellen über Rohstoffe, auch Rezepte und Küchenzettel; sie erklärte, wie die Küchen geleitet, organisiert und kontrolliert wurden. Ihre Schriften fanden erneut Interesse und Absatz. Groß war die Neugíer der Besucher; der Veranstalter zollte ihren Leistungen Anerkennung und zeichnete sie mit einer Silbermedaille aus.

Auf einer Kochkunstausstellung, die anschließend in Berlin stattfand, konnte Lina gleich auspacken, was ihr aus Brüssel geblieben war. Es wirkte als Heimvorteil, dass sie in der Stadt mit zwölf Volksküchen aufwarten konnte. Täglich ließ sie fertige Speisen heranschaffen, die sofort aufgewärmt und ausgegeben wurden. Die Preisjury der Kochkünstler stufte Linas Kost nun tatsächlich als „wohlschmeckendste, einfachste und billigste Volksnahrung“ ein. /17/

Freibier und Spenden

Nach diesen Werbeveranstaltungen fanden die Volksküchen wieder größere Beachtung, und so verstärkte sich auch wieder der Spendenfluss. Zunächst flossen dem Verein 1380 Mark aus einem privaten, nicht genannten Nachlass zu. 1878 kam noch eine größere Summe aus dem Schloss hinzu. Den unfreiwilligen Anlass dazu lieferte das Attentat, das am 2. Juni 1878 von einem vermeintlichen, dem Sozialdemokraten zugerechneten Anarchisten, namens Dr. Karl Nobeling, auf das Kaiserpaar verübt worden war. Wilhelm war verletzt worden und fuhr nach seiner Genesung mit Augusta zur Kur. Der Attentäter wurde seiner Strafe zugeführt, und seine „Ruchlosigkeit“ ergab für Bismarck die lange herbeigesehnte Gelegenheit, das „Sozialistengesetz“ vom Reichstag beschließen zu lassen, um dann gegen die ihm ohnehin verhasste Sozialdemokratische Partei vorzugehen. Nach Rückkehr des Monarchenpaares von der Kur erhielt Lina Morgenstern eine Summe, von der sie dann mehr als 4000 Leute gratis versorgen konnte./18/

Ein erneuter Aufschwung setzte nach der Goldenen Hochzeit des Kaiserpaares (11. Juni 1879) ein. Der Hof beging sie als ein Fest von nationalem Rang Lina Morgenstern ließ es sich nicht nehmen, mit dabei zu sein. In Begleitung weiterer Damen vom Vorstand fand sie sich zur festgesetzten Zeit im Weißen Saal des Berliner Schlosses zur Gratulation ein. Fräulein Mathilde Böhm hielt eine kurze Ansprache, und Lina überreichte ein kunstvoll ausgefertigtes Glückwunschschreiben. Beide Frauen durften an diesem Tage allen Feierlichkeiten beiwohnen. /19/

Unter dessen hatten Ehrendamen und Personal in den Berliner Volksküchen eine festliche Speisung vorbereitet. Und allen Prinzipien zum Trotz wurde Freibier ausgeschenkt, mehrere Berliner Brauereien, wie die Schultheiß-Aktien-Brauerei, die Bockbier- und die Patzendorfer Brauerei, hatten es gestiftet. Als Zubrot ließ Bäckermeister Schindler 500 Schrippen verteilen, sein Innungsbruder Karsch, der nach Gewicht lieferte, brachte es auf einen Zentner. Lampe und Co schickten Fleischextrakt der Liebig-Compagnie – hier fehlten nur 5 1/2 Pfund am halben Zentner. Schlächtermeister Stock dagegen erübrigte sogar zwei Zentner Fleisch. Mit alle dem ließ sich schon einiges anfangen.

Hinzu kamen die Spenden vom Hof. Augusta stiftete 3000 Mark „für wohltätige Zwecke“. Wilhelm – wohl nicht so flüssig – ließ 500 Mark springen, worauf seine Frau einen knappen Monat später noch einmal zulegte - nun mit 1000 Mark, und ein anonym bleibender Gutsherr schloss sich mit 500 Mark an. Die so erworbenen Gelder bildeten den Grundstock einer sogenannten „Augusta-Siftung“, mit der Lina jährlich je 400 Marken für Bedürftige locker machen konnte. Dazu schrieb sie:

„Es wurden bei solchen Gelegenheiten stets Familien ausgewählt, welche sich an die Unterstützungskasse des Hausfrauenvereins und an die Vorsteherinnen gewandt hatten, und deren Verhältnisse auf das sorgfältigste von den Vereinsdamen untersucht worden waren.“ /20/

!880 beteiligte sich Lina Morgenstern in Hamburg an einer Kochkunstausstellung, was ihr die dritte Silbermedaille einbrachte – sie hatte aus Berlin Konserven heranbringen lassen, um auch hier mit Essbarem aufwarten zu können. Augusta honorierte diesen erneuten auswärtigen Erfolg mit weiteren 500 Mark. Nun war Lina in der Lage, 2000 Mark als Stammkapital für einen Pensionsfond einzusetzen, der den erkrankten beziehungsweise erwerbsunfähig gewordenen Bediensteten zugute kam - vorausgesetzt, dass diese zehn Jahre in einer Volksküche gearbeitet hatten. Seitdem besaß der Verein eine eigene betriebliche Sozialversicherung.

Auch Baumeister Lauenburg ließ sich nicht lumpen; er erließ der Volksküche in seinem Hause in der Linienstraße für die Zeit bis 1889 die ganze und danach einen Teil der Miete, wovon ebenfalls der Pensionsfond profitierte.

Ab 1880 nahm Augusta fast regelmäßig an Eröffnungsveranstaltungen für Volksküchen teil. Später wurde sie jedoch mitunter durch Krankheiten, die sie an den Rollstuhl banden, gehindert. In den Kellerräumen ließ es sich angeregt schwatzen. Begleitet wurde Augusta zumeist von ihrer Tochter, der Großherzogin Luise, ihrer Schwiegertochter - der Kronprinzessin Victoria -, der Gräfin Hacke und ihrem Adjutanten - dem Grafen von Fürstenberg.

Bei solchen Gelegenheiten flossen immer erneut Spendengelder, so dass der Verein bald über eine beträchtliche Summe verfügte. Damit konnte er schließlich auch auf manches Ungemach reagieren. Schon 1880 half er zusätzlich vielen Menschen in Notstandsküchen mit warmen Suppen über eine strenge Kältewelle hinweg.

Wurde andauernde Hilfe nötig, wusste der Verein alle ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten auszuschöpfen und flugs sich bietende Gelegenheiten wahrzunehmen. Beispielsweise reagierte Lina Morgenstern prompt, als ihr der Maurermeister Stargardt anbot, die 9. Küche mietfrei in seinem in der Müllerstraße gelegenen Hause aufzunehmen. In diesem Viertel wohnten besonders viele Menschen, die von Armut betroffen waren. Ähnliche Verhältnisse fand Lina Morgenstern in der Ackerstraße vor, wo sie die 13. Küche unterbrachte; in dem berüchtigten Block mit den sieben Hinterhöfen versorgte sie mehr als 200 Familien. /21/

[...]

Ende der Leseprobe aus 228 Seiten

Details

Titel
Lina Morgenstern. "Social couragiert und frauenbewegt"
Untertitel
Ein Berliner Lebensbild
Veranstaltung
keine
Autor
Jahr
2008
Seiten
228
Katalognummer
V116918
ISBN (eBook)
9783640192786
ISBN (Buch)
9783640194216
Dateigröße
3008 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Lina, Morgenstern, Social
Arbeit zitieren
Reinhold Kruppa (Autor:in), 2008, Lina Morgenstern. "Social couragiert und frauenbewegt", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/116918

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