Mythos Störtebeker. Handel und Piraterie des späten Mittelalters und die Interpretationen in der Neuzeit

Klaus Störtebeker in Geschichte und Sage. 'Edler' Räuber oder 'gemeiner' Verbrecher?


Magisterarbeit, 2008

88 Seiten, Note: 1,8


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

I. ‚Gottes Freund und aller Welt Feind’

II. Historischer Überblick
1. Politische Lage
1.1 Skandinavien und das Haus Mecklenburg
1.2 Ostfriesland
2. Die Hanse
2.1 Entstehung und Entwicklung
2.2 Organisation und Ordnung
2.3 Interessenkonflikte und militärische Interventionen

III. Störtebeker und die Vitalienbrüder
1. Seeräuber, Kaperer, Vitalienbrüder
1.1 Das Aufkommen der Vitalienbrüder
1.2 Entzug der Legitimation und Reorganisation
1.3 Die ostfriesischen Häuptlinge
1.4 Die Auflösung der Vitalienbrüder
2. Klaus Störtebeker als historische Person
2.1 Authentizität Störtebekers
2.2 Wer war Störtebeker?
2.3 Gefangennahme und Hinrichtung

IV. Mythen, Legenden und Sagen
1. Begriffe und Definitionen
1.1 Mythen
1.2 Die Volkserzählungen und die verschiedenen Erzähltypen
1.2.1 Sagen
1.2.2 Legenden
2. ‚Mythos’ Störtebeker in Sage und Legende
2.1 Störtebeker-Erzählungen
2.2 Mythos, Legende oder Sage?
2.3 Störtebekers Laufbahn in Sage und Legende und deren Auswirkungen

V. ‚Karriere’ Störtebekers und neuzeitliche Interpretationen 52
1. Kunst und Kultur
1.1 Störtebeker-Porträt
1.2 Störtebeker als literarische Gestalt
1.3 Bräuche, Festspiele und Unterhaltungsprogramm
2. Ökonomische Interessen, Medien und Wissenschaft
2.1 Störtebeker in der Konsumkultur
2.2 Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Störtebeker
3. Ideologisierung Störtebekers

VI. Das Konzept des ‚edlen Räubers’ 61
1. Das Banditentum
1.1 Räuber und Räuberbanden
1.2 Sozialbanditentum
1.3 Räuberromantik und der ‚edle Räuber’
2. Störtebeker und die Vitalienbrüder – gemeine Räuberbande oder Sozialbanditen?
2.1 Robin Hood der Meere
2.2 Der Bund der Vitalienbrüder zwischen Raubrittertum, Landsknechten und Räuberbanden

VII. Forschungsausblick und Resümee 75
1. Was können neue Forschungen noch leisten?
2. Resümee

VIII. Anhang 79
1. Abb. 1

IX. Quellen- und Literaturverzeichnis 80
1. Digitale Quellen
2. Literatur

I. ‚GOTTES FREUND UND ALLER WELT FEIND’

„In einem ewigen Kampfe stehen Sage und Geschichte einander gegenüber. Beide beschäftigen sich mit der Vergangenheit. In der Geschichte waltet der herrschende Verstand des Historikers; ihre Aufgabe ist es, die Ereignisse festzustellen, […] das Wahre vom Unwahren und vom Zweifelhaften zu sondern, […] in der Sage dagegen herrscht das Erinnerungsvermögen des Volkes[,] ihr Bestreben ist darauf gerichtet, das Vergangene in einem anschaulichen, lebensvollen Bilde festzuhalten; ihre Methode besteht darin, dass sie den Ereignissen einen bestimmten Mann zum Repräsentanten einen bestimmten Ort zum Hintergrund gibt, und dass sie Dinge, denen solche Gedächtnismarken abhanden gekommen sind, auf andere Männer und Örtlichkeiten überträgt. Zu den Lieblingen der Sage gehört Klaus Störtebeker.“1

Was ist dran an der Geschichte, dass Störtebeker ohne Kopf an seinen Kameraden vorbeigelaufen ist um sie vor ihrer Hinrichtung zu retten? Ist die spätmittelalterlichen Seeräuberbande der Vitalienbrüder und Störtebeker als einer ihrer Anführer vergleichbar mit anderen Räuberbanden, und wenn ja, macht das Störtebeker zu einem ‚edlen Räuber’? Welche Bedeutung hat Klaus Störtebeker heute? Aufgrund seines heutigen Bekanntheitsgrades erstaunt es, dass es wenig historisch gesichertes Quellenmaterial über Störtebeker selbst und seine Aktivitäten als Pirat auf Ost- und Nordsee gibt. Vieles zu seiner Lebensgeschichte ist daher Spekulation anhand von Hinweisen, die vor allem hansische Zeugnisse seiner Zeit und Städtechroniken des späten Mittelalters bieten. Da sich die Forschung bereits im umfangreichen Maße mit der Historizität der Vitalienbrüder und Störtebeker beschäftigt hat, wird hier auf eine erneute Auswertung des Quellenmaterials verzichtet, sondern vielmehr die jeweiligen Forschungstexte im Kontext betrachtet. Auf der einen Seite würde die erneute Auswertung den Rahmen dieser Arbeit sprengen und auf der anderen sollte - im Hinblick auf die größtmögliche Korrektheit der Übersetzungen aus dem Lateinischen - nicht auf die bereits vorliegenden Bearbeitungen verzichtet werden. Hier ist vorrangig Matthias Puhle zu nennen, der sich eingehend mit der historischen Rolle Störtebekers und der Vitalienbrüder beschäftigt und einen „überall zitierte[n] ‚Bestseller’, wenn man diesen Begriff für ein wissenschaftliches Standardwerk benutzen darf, das jedoch an der Zahl verkaufter Exemplare die immer wieder aufgelegten, dafür aber die Fortschritte der Forschung kaum zur Kenntnis nehmenden sogenannten [sic!] historischen Sachbücher nicht annähernd erreicht,“2 veröffentlichte.3 Weiterhin wurde die Fachliteratur zur Mythen-, Legenden- und Sagenforschung und des Banditentums herangezogen, sowie Darstellungen der gängigsten Erzählungen, die sich um Störtebeker und die Vitalienbrüder ranken. Für die Bedeutung Störtebekers heutzutage wurde zusätzlich intensiv im Internet recherchiert.

Ziel dieser Arbeit ist es, die Person Störtebekers und die Vitalienbrüder in ihrer historischen Realität und in ihrer Darstellung in Sage und Legende zu untersuchen. Hierbei sollen die Unterschiede in geschichtlicher und sagenhafter Überlieferung – sofern überhaupt möglich – miteinander verglichen und die Fragen nach dem Sinn und Zweck von Sagen und Legenden und der posthumen Mythisierung Störtebekers beantwortet werden. Weiterhin soll die Rolle Störtebekers in der heutigen Konsum- und Unterhaltungskultur und seine Bedeutung in der Wissenschaft thematisiert werden. Die aktuelle ideologische Bedeutung soll ferner diskutiert und die Einordnung Störtebekers und der Vitalienbrüder als Räuberbande oder Sozialbanditen erörtert werden.

Methodische Vorgehensweise dieser Arbeit ist es, im ersten Teil die historischen Fakten der Hintergründe um die Existenz des berühmt-berüchtigten Seeräubers Klaus Störtebeker und der Vitalienbrüder darzustellen. Dafür bedarf es zuerst eines Überblicks der politischen Lage im Wirkungsbereich der Vitalienbrüder. Dabei handelt es sich zum einen um die Konfliktsituation auf der Ostsee zwischen dem mecklenburgischen Herzogshaus und dem Reich Dänemarks, und zum anderen um die politische Situation in Ostfriesland. Im Zusammenhang mit der Seeräuberei auf Ost- und Nordsee ist die Hanse als Handelsorganisation, deren ökonomisches Fortbestehen von der Sicherheit ihrer Seewege in diesem Gebiet abhing, von enormer Wichtigkeit. Die Entwicklung und Organisation der Hanse wird deshalb im Hinblick auf ihre Bedeutung für Störtebeker und die Vitalienbrüder zum Abschluss des ersten Teils zusammengefasst.

Der zweite Teil der Arbeit beschäftigt sich mit dem Phänomen des Seeraubs im Allgemeinen und mit den Vitalienbrüdern in ihrer Organisation und Wirkungsweise im Besonderen, sowie der Historizität Störtebekers.

Im dritten Teil wendet sich die Arbeit von der geschichtlichen Realität ab, und konzentriert sich auf das Wesen und die Funktionalität von Mythen, Sagen und Legenden. Die Popularität der Vitalienbrüder- und Störtebekererzählungen wird unter Berücksichtigung des bereits zu ihren Lebzeiten mit ihnen assoziiertem Spruch „Gottes Freunde und aller Welt Feinde“, der wesentlich zur Förderung der Störtebeker- und Vitalienbrüdermythen in den Volkserzählungen beigetragen hatte,4 untersucht.

Im vierten Teil wird dann die neuzeitliche Darstellung, Bedeutung, Wahrnehmung und Beschäftigung mit Störtebeker in der Konsumkultur und in der Wissenschaft dargelegt und begutachtet.

Der fünfte und letzte Teil der Arbeit strebt in Geschichte und Sage den Versuch eines Vergleichs der Vitalienbrüder mit anderen Formen des Banditentums und insbesondere eine Einordnung Störtebeker in die Kategorien ‚Sozialrebell’ oder ‚gewöhnlicher Räuber’ an.

II. HISTORISCHER ÜBERBLICK

1. Politische Lage

1.1 Skandinavien und das Haus Mecklenburg

Das frühe 14. Jahrhundert in Skandinavien war von politischer Unstabilität geprägt. Militärische Auseinandersetzungen unter den drei Reichen Dänemark, Schweden und Norwegen wurden durch die engen verwandtschaftlichen Verbindungen der Regenten untereinander verkompliziert. Im Zuge der Konflikte löste sich der dänische Staat in den 1330er Jahren auf und erst Waldemar (IV.) von Atterdag schaffte es 1340, die Monarchie wiederherzustellen.5

König Waldemar gelang es in den folgenden 20 Jahren, die verstreuten Pfandherrschaften sowohl heimischer als auch fremder Fürsten und Adliger des einstigen dänischen Reiches unter sich zu vereinen.6 1363 konsolidierte die Heirat von Waldemars Tochter Margarethe mit König Haakon VI. von Norwegen eine Allianz von Dänemark und Norwegen, sowie – zumindest vorläufig - auch mit Schweden.7

Magnus Eriksson, dem Vater Haakons VI., fiel bereits als Kleinkind 1319 die Krone Schwedens und Norwegens zu, und er sorgte 1355 dafür, dass sein Sohn König von Norwegen wurde.8 Gleichzeitig war Haakon Mitregent seines Vaters in Schweden, beide wurden aber um 1363, also bereits kurz nach der Bündnisheirat, durch einen Aufstand des schwedischen Adels vertrieben und durch den Neffen Magnus’, Herzog Albrecht von Mecklenburg, ersetzt.9

Nach König Waldemars Tod 1375 gelang es Margarethe sowohl in Dänemark als auch wenige Jahre später in Norwegen - nach dem Tod ihres Mannes Haakons - die Regentschaft für ihren minderjährigen Sohn Olaf zu erlangen und sich so eine beeindruckende Machtposition im Ostseeraum zu sichern.

Albrecht II. von Mecklenburg hatte sich jedoch für seinen Enkel Albrecht IV. Hoffnungen auf den dänischen Thron gemacht; nicht zuletzt aufgrund einer losen mündlichen Vereinbarung mit Waldemar, dessen Enkel der junge Albrecht ebenfalls war. Thronstreitigkeiten und letztlich Margarethes Machtergreifung führten infolgedessen zu einem Konflikt mit dem Haus Mecklenburg bis nach Albrechts II. Tod hinaus. Sowohl Königin Margarethe als auch die Mecklenburger stellten so genannte Kaperbriefe aus, mit denen sie Schiffseignern die Legitimation zum Seeraub erteilten. Konkret bedeutete das für die Kaperfahrer, dass sie über eroberte - gegnerische - Schiffe samt Ladung frei verfügen durften, ohne von der legitimierenden Partei Strafe zu befürchten.10

Bis zum März 1388 hatte Margarethe es geschafft, Teile des schwedischen Adels auf ihre Seite zu bringen. Hatten diese zuvor für die Einsetzung Albrecht III. als schwedischen König gesorgt, waren nun weite Teile unzufrieden mit seiner Herrschaft und mit ihm verfeindet. 1389 erlitt das Heer Albrechts in der Schlacht bei Falköping eine verheerende Niederlage durch die dänischen Truppen und er geriet in Gefangenschaft. Margarethe hatte mittlerweile ganz Schweden unter ihre Gewalt gebracht. Nur Stockholm mit einer überwiegend deutschen Bevölkerung stand noch hinter dem schwedischen König und konnte auch nicht von Margarethe besiegt und eingenommen werden.11 Die Mecklenburger bedienten sich daraufhin erneut der Taktik des Kaperkrieges, „offenbar öffneten die Herzöge von Mecklenburg und die mecklenburgischen Städte ihre Häfen für alle, die am Kaperkrieg gegen Dänemark teilnehmen wollten.“12 Spätestens für das Jahr 1391 ist nachzuweisen, dass Rostock und Wismar ihre „Häfen für alle, die das Reich Dänemark schädigen wollten“ öffneten.13

In den folgenden Jahren kam es durch die Aktivitäten der Kaperfahrer zu erheblichen Beeinträchtigungen der Handelsschifffahrt auf der Ostsee, so dass die Hanse sich zur Intervention - zur Wahrung ihrer eigenen Handelsinteressen im Ostseeraum - in den Konflikt der Mecklenburger und Dänemark gezwungen sah.14 Verhandlungen zwischen der Hanse, dem Deutschen Orden, Mecklenburg und Königin Margarethe führten 1395 schlussendlich zum Frieden von Skanör und Falsterbo.15 Zwei Jahre später wurden die drei nordischen Reiche Dänemark,

Schweden und Norwegen in der sogenannten Kalmarer Union vereinigt, dominiert durch die Dänen.16

1.2 Ostfriesland

Seit etwa der Mitte des 14. Jahrhunderts hatte sich in Ostfriesland eine neue Herrschaftsstruktur herausgebildet, deren Ursprung in den Bedingungen des vorhergehenden Jahrhunderts zu finden ist.

„Schon im 13. Jahrhundert war in Friesland unübersehbar, dass es führende Verwandtschaftsgruppen gab, deren Angehörige […] über eine von ihnen abhängige Schicht von Pächtern verfügten. Die Macht solcher Familien scheint gegen Ende des 13. Jahrhunderts noch gewachsen zu sein – und das nicht nur, weil sie führend im Handel beteiligt waren […] nach Mißernten, Überschwemmungen und Hungersnöten in den 70er Jahren des 13. Jahrhunderts [verließen] Bauern ihr Land […] und [traten] in den Dienst mächtiger Leute.“17

Aus den vermögenden und einflussreichen Angehörigen dieser Familien sind die ‚Häuptlinge’ entstanden, die die Herrschaft über Landgemeinden oder größere Gebiete ausübten, und überwiegend im Zwist miteinander lagen.

Das Fehlen einer übergeordneten Landesherrschaft, die Zersplitterung in einzelne miteinander verfeindete Herrschaftsgebiete sowie die zusätzlichen Auseinadersetzungen dieser mit Albrecht von Bayern - zugleich Graf von Holland -, dessen Politik die Ausdehnung in friesisches Territorium beinhaltete, schufen optimale Bedingungen - auf die zu einem späteren Zeitpunkt detaillierter eingegangen wird - für die Existenzgrundlage der Vitalienbrüder in der Nordsee. Sowohl der Konflikt zwischen Dänemark und den Mecklenburger als auch die politische Lage in Ostfriesland eröffneten Seeräubern genug Möglichkeiten, ihrem ‚Geschäft’ nachzugehen, was die Hanse in ihren Aktivitäten maßgeblich beeinträchtigte.18

2. Die Hanse

Der Begriff ‚der Hanse’ und die Bezeichnung ‚Hansebund’ sind schwerer zu fassen, als zuerst angenommen werden könnte. Das Wort ‚Hanse’ ist in der Bedeutung ‚Schar’ bereits für das frühe Mittelalter nachweisbar und taucht seit dem 12. Jahrhundert als Bezeichnung für bestimmte Rechte und Personen im Zusammenhang mit Tätigkeitsmerkmalen auf. ‚Hanse’ verwies demzufolge auf das Recht der gemeinschaftlich ausgeführten Handelstätigkeit, auf Abgaben, die für die Partizipation am gemeinsamen Handel verlangt wurden und bezeichnete vor allem den Fernhandel, den die Mitglieder einer Fahrtgemeinschaft im Ausland betrieben. Zunächst war der Begriff hauptsächlich im nordwestlichen Europa gebräuchlich und gelangte - zumindest in der schriftlichen Überlieferung - interessanterweise über England gegen Ende des 13. Jahrhunderts in den Ostseeraum.19

Die Definition der Hanse als eine Gemeinschaft oder gar Genossenschaft von Kaufleuten und/oder Städten ist aus mehreren Gründen verworren und schwierig, wie Kapitel 2.2 und 2.3 detaillierter zeigen werden; ebenso schwer ist es ein genaues Entstehungs- und Enddatum der Hanse zu nennen. In der Gründung Lübecks, die eher eine Neugründung war nachdem die zuvor bereits existierende Siedlung abgebrannt war und von Heinrich dem Löwen 1159 wiederaufgebaut wurde, sieht die „ältere deutsche Hanseforschung [ein] magisches Datum.“20 Wie im folgenden Kapitel zu sehen sein wird, sind verschiedene ökonomische, soziale und politische Entwicklungen ab der ersten Jahrtausendwende mitverantwortlich für die wachsende Bedeutung Lübecks und die damit verbundene Entstehung der Hanse. Das Jahr 1159 oder auch 1160 als Anfangsdatum der Hanse zu nehmen folgt insofern einer gewissen Logik, da Herzog Heinrich von Sachsen die Stadt aller Wahrscheinlichkeit nach gerade aufgrund ihrer wachsenden ökonomischen Bedeutung übernommen hat;21 und damit letztlich einer Veränderung im wirtschaftlichen Gefüge zu dieser Zeit Ausdruck verlieh.

Im Jahr 1669 fand der letzte Hansetag in Lübeck statt, was - wenn man so will - ein Enddatum in der Geschichte der Hanse darstellt; die Hanse existierte allerdings noch weiter, auch wenn aus ihr eher ein Bund der Städte Hamburg, Bremen und Lübeck geworden war, die sich weiterhin zur Vertretung ihrer eigenen – hansischen - Interessen zusammenschlossen.22

2.1 Entstehung und Entwicklung

Basis für die Herausbildung der Hanse als eine Gemeinschaft von Städten und Kaufleuten bildeten mehrere Entwicklungen seit ca. 1000. Eine Neuorientierung skandinavischer Kaufleute hatte die Einbeziehung des Ostseegebietes in die mittel- und westeuropäische Handelsstruktur zur Folge, so dass sich hier ebenfalls eine Neu- oder Umordnung ergab. Das enorme Bevölkerungswachstum zwischen etwa 1150 und 1300 führte zu einer gesteigerten Nachfrage an Lebensmitteln, Rohstoffen und Luxusgütern und brachte einen enormen ökonomischen Aufschwung mit sich. Des Weiteren war die Entwicklung der Städte und Marktsiedlungen ein entscheidender Punkt für die Entstehung und Entwicklung der Hanse. Die Städte erlangten seit dem 11. Jahrhundert als „Zentren der gewerblichen Produktion und des Handels“ eine stetig wachsende Rolle.23

Städte wie Hamburg, Bremen und insbesondere Lübeck entwickelten sich mit der Einführung größerer Schiffe als Transportmittel zu Umladeplätzen, da der Kogge oder später der Holk für die Binnenschifffahrt nicht geeignet waren. Die Ladung musste folglich in den Häfen gelöscht und dann mit anderen Mitteln ins Hinterland weitertransportiert werden. Diese Verbindung von Binnenschifffahrt, Land- und Seeverkehr war ein entscheidendes Merkmal, das zur Entstehung des hansischen Handelssystems beitrug.

Zunächst nutzten hansische Kaufleute von den Skandinaviern, Sachsen, Friesen und Engländern übernommene bereits bestehende Wasserverkehrswege,24 und bevorzugten Küstenschifffahrt anstatt Routen über das offene Meer. Mitte des 14. Jahrhunderts änderte sich dies, als Handelsplätze wie Riga, Novgorod und Gotland im Ostseeraum einen immer bedeutenderen Platz einnahmen. Besonders die Insel Gotland entwickelte sich durch ihre strategisch günstige zentrale Lage in der Ostsee in ein wichtiges Handelszentrum und wurde zum Treffpunkt nicht nur schwedischer, dänischer und russischer sondern vermehrt auch deutscher Kaufleute.25

Grundstruktur des „Handels bestand im Austausch von Rohstoffen, Halbfertigprodukten und Lebensmitteln des Osten und Nordens gegen gewerbliche Fertigprodukte des Westens und Südens, Mittelpunkt des hansischen Handels war jedoch das nördliche Europa mit einer starken Bindung an die Niederlassungen im Ausland.“26

In der Hanseforschung wurde die Geschichte der Hanse lange in zwei Perioden eingeteilt; in die Entstehungs- und Entwicklungsphase der Hanse als einer Kaufmannshanse von ca. 1160 bis 1356/58 und in die Zeit der Städtehanse bis 1669.27

Diese Trennung wird inzwischen mit gewisser Skepsis betrachtet, da die Hanse „auch nach der Mitte des 14. Jhs. die Gemeinschaft der Kaufleute [ist]; sie sind die Träger des Handels und die Nutznießer der Privilegien. Aber Erwerb und Sicherung der Privilegien waren spätestens seit Beginn des 13. Jhs. […] das Werk der Städte und der von ihnen entsandten Unterhändler. Sie schufen die rechtlichen Voraussetzungen für den Handel der Kaufleute und gewährten ihnen den notwendigen Rechtsschutz.“28 Es war vielmehr eine Kollaboration zwischen Städten und Kaufleuten, vor allem wenn man bedenkt, dass die Mitglieder der städtischen Ratsgremien aus der gleichen sozialen Schicht wie die Kaufmannsgenossenschaften stammten.

Dennoch dient diese Einteilung einem groben Schema der Hansegeschichte in eine Gründerzeit, in der sie tatsächlich von Kaufmännern und/oder Kaufmannsverbänden gegründet wurde, und der weiteren Entstehungs- und Entfaltungsphase der Hanse, die die Entwicklung der Städte mitsamt der Herausbildung ihrer politischen Führungsorgane mit einbezieht. Die Zusammenarbeit der Kaufleute mit den entstandenen Ratsgremien als städtische Obrigkeiten schufen die Rahmenbedingungen für den hansischen Handel in der Zeit der Städtehanse. Dazu ist zu beachten, dass die Mitglieder der Ratsgremien aber im Gegensatz zu denen der kaufmännischen Genossenschaften verantwortlich für das Wohl der gesamten Stadt waren.

Der Wendepunkt in der Mitte des 14. Jahrhunderts fällt mit dem Beginn der regelmäßig stattfindenden Hansetage und der 1358 erstmaligen Erwähnung der „Stadt von der Deutschen Hanse“ zusammen, was die Theorie der Ablösung einer Kaufmanns- durch eine Städtehanse weiter unterstützt.

Weiteres Kriterium für die Entfaltung der Hanse im 13. und 14. Jahrhundert war die gesamtpolitische Situation in Deutschland zu dieser Zeit. Im Gegensatz zur Nationalstaatenentwicklung im europäischen Ausland setzte sich im Deutschen Reich Partikularismus gegenüber Zentralismus durch, die Hanse ersetzte die staatliche Macht in den Städten, Ländern und Verkehrswegen die in das Handelssystem integriert waren.

Im 15. Jahrhundert stieß die Hanse sowohl inner- als auch außerhalb des Landes vermehrt auf den Widerstand herrschaftlicher Obrigkeiten; spätestens im 16. und 17. Jahrhundert wurde ihr politischer Einfluss fast bedeutungslos und sie verlor die ökonomische Bedeutung, die sie zuvor hatte.29 Die vermehrten Austritte der Städte aus der Hanse seit dem 15. Jahrhundert waren zum einen in einer Neuordnung der wirtschaftlichen Verkehrssysteme begründet. Expansionen der Verkehrswege nach Amerika und Asien veränderten die europäische Handelstruktur und schwächten die Position der Hanse, die im aufblühenden Welthandel nicht mehr mithalten konnte.30 Zum anderen sahen sich die Hansestädte immer mehr dem Druck der Territorialfürsten ausgesetzt, deren Macht und militärische Stärke der der Hanse inzwischen überlegen war. Außenpolitisch setzte der Hanse die Bildung von zwei Machtmonopolen in Gebieten, die für ihr Handelssystem von enormer Bedeutung waren, zu. Die Vereinung von Dänemark, Schweden und Norwegen in der Kalmarer Union von 1397 und die Einbeziehung Flanderns in das Burgundische Herzogtum 1384 führten zu einer Erstarkung dieser beiden Reiche und erschwerte die Bestätigung der Handelsprivilegien der hansischen Unterhändler in diesen Gebieten.31

2.2 Organisation und Ordnung

Bezeichnungen wie Hansebund, Bund der Kaufleute oder Städtebündnis sind zwar geläufig, aber aus (heutiger) verfassungsrechtlicher Sicht irreführend; es gab nie einen „Bündnisvertrag, keine Satzung, keine verbindliche Festlegung der wirtschaftlichen und politischen Ziele des ‚Bundes’, es gab keinen ‚Vorsitzenden’, der befugt gewesen wäre, im Namen der Gemeinschaft zu sprechen und zu handeln.“32

Dokumente aus dem 14. und 15. Jahrhundert belegen, dass sich die Hansestädte selbst unklar über Bezeichnung und Bedeutung der ‚Hanse’ waren, was nicht zuletzt von Vorteil, wenn nicht gar von den Mitgliedern beabsichtigt, war. Zum einen hatte bereits König Heinrich VII. 1231 ein Verbot von Städtebünden erlassen, welches Kaiser Karl IV. in der Goldenen Bulle 1356 noch einmal bestätigte; ein konstituierter Städtebund hätte somit gegen das Reichsgesetz verstoßen. Da die Städte zumeist bereits ein ambivalentes Verhältnis zu ihrem jeweiligen Landesherrn hatten - ihre möglichst weitgehende Unabhängigkeit von diesem betreffend -, wäre es äußerst unklug für sie gewesen, sich noch zusätzlich den Unmut des Reichsoberhauptes durch eine nachweisbare Mitgliedschaft in einem verbotenen Bund zuzuziehen. Ferner lag es im Interesse der Hansestädte sich nicht offiziell an alle anderen Mitglieder zu binden, da eventuelle ausländische Konflikte einiger Städte anderen zum Nachteil werden konnten, da in einigen Fällen lebensnotwendige Handelsbeziehungen bestanden. Im Falle militärischer Auseinandersetzungen eines Teils der Hanse mit einem anderen Land, konnten die anderen Städte auf diese Art und Weise so ihre Verbindungen zu ihnen leugnen und ihre Fernhandelsbeziehungen schützen.

Im Grunde vereinigte die Hanse unzählige Bündnisse und Freundschaften von Städten, die sich je nach Bedarf zur Wahrung ihrer ökonomischen und auch politischen Interessen zusammenschlossen. Ein sämtliche Mitglieder der Hanse einschließendes Bündnis gab es allerdings entgegen der heute gängigen Vorstellung des ‚Hansebundes’ nie.33

Auch gibt es auffallend selten Selbstbezeichnungen der Kaufleute als Mitglieder des hansischen Handelsbundes im Ausland. Bedeutender waren die familiären, städtischen oder ausländischen genossenschaftlichen Bindungen; die Zugehörigkeit zu einem umfassenderen Bund wurde dann betont, wenn es galt vor dem jeweiligen ausländischen Herrscher eine Front zu bilden und ihm Mitbestimmungsrechte über Mitgliedschaften und Privilegien der Hanse auszureden. Weiterhin bezeichneten sich die Städte bis Anfang des 15. Jahrhunderts so gut wie nie selbst in ihrem Schriftverkehr als Hansestädte.34

Ebenso schwierig ist es vor dem 15. Jahrhundert Angaben zur Mitgliederzahl der Hanse finden. Danach gibt es in den Quellen häufiger vage Erwähnungen von 72 Hansestädten. Ansonsten schwanken die Mitgliederzahlen in der Hanseforschung zwischen 70 und etwa 200. Ursache für diese weite Differenz ist unter anderem die Unterscheidung in ‚Hansestädte’, ‚hansische Städte’ und ‚die der Hanse zugetanen Städte’ je nach Ausmaß der Partizipation an gesamthansischen Privilegien. Nicht alle Städte, die die hansischen Handelsprivilegien für ihre Kaufleute in Anspruch nahmen, gehörten zum engsten Kreis derjenigen, die die hansische Politik mitbestimmten.35

Seit dem 13. Jahrhundert wurden - zunächst nur bei wichtigen Anlässen - Versammlungen der Hansestädte zwecks gemeinsamer politischer Entscheidungsfindung einberufen, aber bereits Mitte des 14. Jahrhunderts unterlagen diese Versammlungen einer bestimmten Regelmäßigkeit. Neben diesen rasch als höchste Instanz etablierten Hansetagen, entwickelten sich die Regionaltage. Diese boten nicht nur die Möglichkeit detaillierter über lokale Probleme zu beraten sondern gaben auch vielen kleineren Hansestädten die Möglichkeit, Stellung zu hansischen Belangen zu nehmen wenn die Teilnahme an den Hansetagen in Lübeck zu kostspielig und zeitintensiv für sie war. Die Regionaltage waren zwar nicht formal in das Hansesystem integriert, trugen aber trotzdem zur hansischen Willensbildung bei.36

Die Städte entsandten zu den Hansetagen entweder eigene Ratssendeboten oder ließen sich durch Gesandte anderer Städte - wie im Falle der kleineren Städte oder auch Landgemeinden – mit vertreten. Dabei mussten diese nicht einmal Mitglieder der Hanse sein, durch die lokale Verbundenheit mit einer größeren Hansestadt und im Zusammenhang mit den bereits erwähnten Regionaltagen, wurden ihre Interessen auf den Hansetagen bis zu einem gewissen Grad ebenfalls wahrgenommen.37

Die getroffenen Beschlüsse der Versammlungen wurden in den Hanserezessen schriftlich festgehalten und erst durch Veröffentlichung rechtskräftig. Da es keine gesamthansische Eidgenossenschaft gab, oblag es den Städten diese Rezesse in ihr Stadtrecht aufzunehmen. Da die Städte Inhaber der eidgenossenschaftlichen Strafgewalt über ihre Kaufleute waren, hatten sie als einzige die Mittel die Einhaltung der Beschlüsse zu erzwingen.38

2.3 Interessenkonflikte und militärische Interventionen

Die unterschiedlichen Interessen der einzelnen Hansestädte aufgrund ihrer unterschiedlichen lokalen Gegebenheiten und ihre divergierenden - wenn nicht gar entgegengesetzten - Handelsinteressen mussten selbst bei einer angenommenen Zahl von ‚nur’ 60 Mitgliedern zwangsläufig zu Differenzen innerhalb der Hanse führen. Trotz grundsätzlicher Gleichberechtigung der Mitglieder ergab sich durch Größe und ökonomische Bedeutung eine Rangordnung der Städte. Während die größeren Städte mehr oder weniger mit einem Konkurrenzkampf untereinander beschäftigt waren, sahen sich die kleineren Mitgliederstädte in ihren Interessen so nicht ernst genommen.39 Generell hatten allgemeine Fragen zu verschiedenen Handelsrechten (Binnen- und Seeschifffahrt zum Beispiel betreffend) auf Hansetagen größere Chancen geklärt und in Beschlüssen konsolidiert zu werden als (lokal-) politische Themen. Da Beschlüsse nur durch eine vollkommene Einigkeit aller Ratssendeboten möglich waren, ist es nachvollziehbar, was für eine mühselige und auch zeitaufwendige Angelegenheit dies gewesen sein muss; wobei in diesem Zusammenhang der Druck durch die mächtigeren Städte nicht außer Acht gelassen werden darf.40 Weitgehende Einigkeit herrschte dann, wenn das hansische Handelssystem im Allgemeinen einer Bedrohung ausgesetzt war, wie etwa bei der Bildung der ‚Kölner Konföderation’ 1367, als sich Teile der Hanse zu einem Bündnis gegen den dänischen König Waldemar zusammenschlossen und einen militärischen Sieg über ihn feiern konnten.41

Grundsatz hansischer Politik war es stets, die eigenen ökonomischen Interessen zu sichern und zu schützen, und sich nicht in politische Konflikte, die sie eigentlich nicht betrafen, einzumischen. Doch die ökonomischen Auswirkungen von Kriegen mussten zwangsläufig zu einer Einmischung von Seiten der Hanse führen, wenn es notwendig wurde, ihren Wirtschaftsraum zu erhalten und verteidigen. Dabei waren militärische Aktionen nur allerletztes Mittel, wenn jegliche Diplomatie zuvor versagt hatte; Kriege kosteten Zeit und Geld, störten und behinderten somit die oberste Priorität der Hanse, den reibungslosen Ablauf ihres Handels.42 Die Politik der Hanse, primär ihre eigenen Handelsinteressen zu wahren, war sowohl bezogen auf Konflikte ihrer eigenen Mitgliederstädte mit der jeweiligen Landesherrschaft als auch mit den ausländischen Mächten im Ostseeraum. Die Vermittlerrolle in Konflikten, die die offene Parteinahme und damit die Teilnahme an Kriegshandlungen verhinderte, wurde bevorzugt. Weiter war es im Sinne der Hanse, Machtkonzentrationen und eventuelle protektionistische Bestrebungen - soweit möglich - zu verhindern und zur Sicherung ihrer ökonomischen Interessen lieber eine ausgewogene Machtstruktur zu fördern.43

Das Problem der Seeräuberei, gegen Ende des 14. Jahrhunderts zu einer schweren Behinderung des Ostseehandels geworden, vereinte große Teile der Hanse - insbesondere die Hafenstädte - und veranlasste zu gemeinsamen Vorgehen. Der Kontakt mancher Städte wie etwa Bremen zur Hanse war am engsten, wenn es um die Bekämpfung der Seeräuber ging und bot in einigen Fällen sogar den größten Nutzen einer Zugehörigkeit zur Hanse.44

III. STÖRTEBEKER UND DIE VITALIENBRÜDER

1. Seeräuber, Kaperer, Vitalienbrüder

„Diejenigen Seeleute, die aus eigener Initiative und auf eigene Rechnung andere Schiffe überfallen, gelten als ‚Seeräuber’ oder ‚Piraten’; diejenigen, die von einer polit. Gewalt als Helfer oder Verbündete anerkannt sind, dagegen als ‚Korsaren’ oder ‚Kaperfahrer’.“45 Der Begriff der ‚Kaperer’ oder ‚Kaperfahrer’ etablierte sich allerdings erst im 17. Jahrhundert; in mittelalterlichen Quellen findet sich der Begriff uthlegers (=Ausleger)46 für politisch ‚legitimierten’ Seeraub im Gegensatz zu den Bezeichnungen sê-rouber und serovere für ‚selbstständige’ Piraten.47 Der (noch) nicht klar abgegrenzte Sprachgebrauch liefert vermutlich auch eine Erklärung dafür, dass der Lübecker Reimar Kock in seiner Anfang des 16. Jahrhunderts verfassten Städtechronik48 die Kaperbriefe als ‚Stehlbriefe’ bezeichnet.

Wann und ob Aktionen im Rahmen eines Kaperkrieges in ‚bloße’ Seeräuberei oder umgekehrt umschlugen, ist anhand der Quellen so gut wie unmöglich festzustellen.49 Zum einen war serovere eine durchaus gängige Bezeichnung für die von den Mecklenburgern und Dänen angeheuerten Seestreitkräfte und zum anderen war „es in dieser Zeit nicht ungewöhnlich […], den Gegner des Raubes zu bezichtigen, um ihn moralisch und rechtlich an den Pranger zu stellen.“50 Insbesondere der Hanse war jedes Mittel Recht, „die Vitalienbrüder als ehr- und rechtlose Seeräuber hinzustellen, […] sie zu dämonisieren.“51

1.1 Das Aufkommen der Vitalienbrüder

Mit der bereits dargestellten Entfaltung des hansischen Handelssystems und dem damit verbundenen Ausbau von Wasserwegen kam es Mitte des 14. Jahrhunderts zu einer Zunahme des Seeraubes.52 Die ebenfalls bereits dargstellten politischen Verwicklungen führten zum strategischen Einsatz des Kriegsmittels der Kaperei, welche letztendlich zur Entstehung der Vitalienbrüder führten.

Die Bezeichnung fratres Vitalienses taucht seit 1390 für die angeheuerten Seeräuber auf Nord- und Ostsee auf.53 Ab ca. 1398 taucht noch eine weitere Bezeichnung für die Seeräuber und/oder Kaperer der damaligen Zeit auf, die der ‚Likedeeler’(=Gleichteiler).

Was die Bezeichnung ‚Vitalienbrüder’ betrifft, ist die Herkunft des Namens ein oft und lebhaft diskutiertes Thema. Eine weit verbreite Theorie geht von der Annahme aus, der Name würde sich im Zusammenhang mit der Lebensmittelversorgung des von den Dänen belagerten Stockholms seit der Gefangennahme des Königs 1389 von ‚Viktualien’ ableiten. Gegen diese These spricht laut Puhle allerdings, dass eine Beteiligung der Vitalienbrüder bei der Versorgung der schwedischen Hauptstadt mit Nahrungsmitteln unwahrscheinlich ist. Denn in den Kämmereirechnungen Hamburgs des Jahres 1389 sind bereits Kosten für einen Zug gegen die Vitalienbrüder auf der Weser ausgewiesen; zu einem Zeitpunkt, an dem noch keine Kaperbriefe von den Mecklenburgern ausgestellt waren. Weiterhin, so Puhle, wäre es erst recht unwahrscheinlich gewesen, dass sich, selbst wenn von einer Beteiligung von Vitalienbrüdern bei der Lebensmittelversorgung bereits im Jahr 1390 ausgegangen wird, der Name innerhalb dieser kurzen Zeit weit genug etabliert hatte, um in den Eintragungen des Hamburger Kämmereibuches aufzutauchen.

Eine andere, jedoch verwandte Interpretation der Namensgebung bezieht sich laut dem Chronisten Reimar Kock auf den Umstand, dass die Vitalienbrüder selbstständig für ihren Unterhalt im Rahmen ihrer jeweiligen Tätigkeit zu sorgen hatten, anstatt Sold und Verpflegung von ihrem Auftraggeber zu beziehen.54

Eine weitere Theorie bezüglich des Namens bezieht sich auf „die zur Verproviantierung von Calais verwendeten Seeräuberschiffe vitailliers genannt“ in einem Brief an den französischen König im Jahr 1347.55

Auch wenn der Name ‚Vitalienbrüder’ zum ersten Mal erst 1390 auftaucht, so ist doch davon auszugehen, dass sich ihre Mitglieder mehrheitlich aus denjenigen Seeräubern rekrutierten, die nach Waldemar von Atterdags Tod 1375 auf Seiten der Mecklenburger am Kaperkrieg gegen Dänemark teilnahmen. Anhand der Quellen lassen sich keine genauen Angaben über das wann und wie mehr feststellen, doch geht man heute davon aus, dass es zu einer Organisation der bis dahin eher beliebig und unorganisiert operierenden Seeräuber gekommen ist.56

Nachdem es 1379 zunächst zu einem Waffenstillstand zwischen Dänemark und Schweden gekommen war, waren die angeheuerten Seeräuber durch den Entzug der Legitimation in Form von Kaperbriefen plötzlich zu Freiwild geworden. Dänische Adlige nahmen sie daraufhin zwar gerne auf, dennoch dürfte sich für die Piraten die Notwendigkeit verstärkt haben, ihre innere Organisation auszubauen und zu sichern, um allen Eventualitäten vorzubeugen und sich notfalls selbst – besser - schützen zu können. Zumindest zwei Kapervereinigungen müssen entstanden sein, da es in den Jahren 1381 und 1382 zu mehreren Friedensverträgen zwischen den Führungsriegen dieser zwei Gruppen und der Hanse kam. Abgesehen davon, dass solche Kapervereinigungen vermutlich entweder Vorläufer oder aber der Ausgangspunkt der Vitalienbrüder waren, ist die Tatsache interessant und fast erstaunlich, dass die Hanse diese Seeräuberverbände zu diesem frühen Zeitpunkt offensichtlich als verlässliche Verhandlungs- und Vertragspartner anerkannte;57 vor allem wenn man bedenkt, dass sie es mit der Kaperei als legitimer Kriegshandlung nie tat.58

Was die Hauptleute und Mannschaften der Piraten bzw. Kaperer anbelangt, so lässt sich für die Zeit nach 1375 eine Beteiligung des Adels nachweisen. Als Hauptleute werden Mitglieder des Adels der Ostseeländer und speziell Mecklenburgs genannt. Ein Grund war sicherlich in dem Anliegen begründet, dem mecklenburgischen Herzoghaus im Krieg gegen Königin Margarethe zu helfen. Eine andere Vermutung stützt sich auf die Verarmung des Adels, ähnlich wie diese als Motivation für die Beteiligung der Angehörigen des niederen Adels am Raubrittertum gesehen wird.59 Die seit Beginn des 14. Jahrhunderts andauernde, durch Missernten ausgelöste, Agrardepression, die zu einer landwirtschaftlichen Krise in großen Teilen Europas führte wodurch die Ernährung der gewachsenen Bevölkerungszahl nicht mehr gesichert werden konnte,60 trug sicherlich weitgehend zur Verarmung – speziell - des Landadels bei. Außerdem mag der Aufruf der Mecklenburger nicht nur zur Schädigung des dänischen Reiches, sondern auch zu einer Aktion zur Befreiung des schwedischen Königs, dem Pathos eines Kreuzzugs mit edelmütigen Zielen, dem es beizutreten galt, gleichgekommen sein.61 Quellen, die Aufschlüsse über die Motive der aus dem Adel stammenden Seeräuber bzw. Kaperer geben, sind spärlich und wenig zuverlässig. Selbstzeugnisse der betreffenden Adelsangehörigen fehlen völlig, und die wenigen Informationen die sich in Chroniken finden lassen, sind kaum zuverlässig, da diese nicht nur meist in einem beträchtlichen zeitlichen Abstand verfasst wurden, sondern oftmals weniger Beobachtungen darstellen als vielmehr moralische Wertungen über das Verhalten der Angehörigen des Adels abgeben.62

Das Datum der ersten Erwähnung der Vitalienser fällt –vermutlich keineswegs zufällig- mit dem Aufruf der Mecklenburger zum Kaperkrieg zusammen. Im Allgemeinen wird angenommen, dass beides im selben Jahr (1390) stattfand, verlässliche Quellen gibt es aber nicht, da weder Beschlüsse zu solch einem Aufruf, noch die Kaperbriefe überliefert sind. In einem Antwortschreiben der preußischen Städte an die beiden mecklenburgischen Städte Wismar und Rostock vom 30. Juni 1391 lässt sich jedoch die Information finden, „dass ihnen [den preußischen Städten] die Gefangennahme des Königs Albrecht und seines Sohnes leid thue; die Oeffnung ihrer Häfen für Alle, die das Reich Dänemark schädigen wollen, däuche ihnen unbillig gegen den gemeinen Kaufmann, der mit dem Kriege nichts zu schaffen habe; ihrem Verlangen entgegen, die Fahrt nach Dänemark einzustellen, begehren sie, ihnen ungestörte Fahrt zu lassen und sie nicht zu schädigen.“63 Dieses Schreiben zeigt zudem, dass sich die preußischen Städte im Gegensatz zu den mecklenburgischen nicht ihrem Landesherren beugten trotz der massiven Spannungen, die dies den Ratsgremien Wismar und Rostocks aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Hanse eingebracht haben dürfte.64

Die Öffnung der beiden Häfen für alle, die sich am Kaperkrieg beteiligen wollten, war jedoch noch nicht alles. Neben dem Erhalt von Kaperbriefen sollte es allen, die dem Aufruf zum Kaperkrieg folgten, erlaubt sein, „frei zu teilen, zu tauschen und die geraubten Waren zu verkaufen.“65 Gerade dieser Zusatz dürfte ein nicht unerheblicher Aspekt für viele, die von diesem Aufruf angelockt wurden, gewesen sein, denn was nützte einem schon die auf See geraubten Waren, wenn sie nirgends gefahrenfrei verkauft oder getauscht werden konnten um den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten.

Was den Nutzen der Kaperbriefe betrifft, so war dieser begrenzt und wahrscheinlich mehr symbolischer Natur, und zwar vor allem für die Kaperer selbst. Die Kaperfahrer als ‚gemeine’ Seeräuber zu deklarieren anstatt sie als legitime Streitkräfte des Gegners anzuerkennen war, wie bereits zuvor erwähnt, keine ungewöhnliche Kriegstaktik. Auch dürfte es die Dänen herzlich wenig interessiert haben, ob die sie überfallenden und ausraubenden Piraten nun von den Mecklenburgern mit Kaperbriefen ausgestattet waren oder nicht, das Ergebnis blieb schließlich das gleiche. Ferner musste speziell der Hanse als einer Organisation, deren oberste Priorität im Handelsverkehr lag, eine Gruppe wie die Vitalienbrüder gefährlich werden, ob nun mit oder ohne Kaperauftrag. Deren rigorose Propaganda, die die Seeräuber und Kaperer auf eine Stufe stellte, hatte in den Hansestädten zur Folge, dass die Bürger dieser die kriegsrechtliche Legalität der Kaperbriefe immer weniger anerkannten und sie daher den ergriffenen Seeräubern kaum nutzten.66 Darüber hinaus brachten die Vitalienbrüder nicht nur dänische Schiffe auf, sondern ‚kaperten’ durchaus auch andere, was zu erheblichen Beeinträchtigungen der Handelsschifffahrt führte.

[...]


1 Karl Koppmann: Der Seeräuber Klaus Störtebeker in Geschichte und Sage. In: Hansische Geschichtsblätter, Jahrgang 1877, Leipzig 1879, S. 37.

2 Wilfried Ehbrecht: Störtebeker – 600 Jahre nach seinem Tod. Einführung. In: Ehbrecht (Hrsg.), Störtebeker – 600 Jahre nach seinem Tod, Trier 2005, S. 7/8.

3 Matthias Puhle: Die Vitalienbrüder. Klaus Störtebeker und die Seeräuber der Hansezeit, Frankfurt/New York 21994.

4 Matthias Puhle: Die Vitalienbrüder – Söldner, Seeräuber? In: Ehbrecht (Hrsg.), Störtebeker – 600 Jahre nach seinem Tod, S. 15.

5 Gunnar Karlsson: The History of Iceland, London 2000, S. 100-102.

6 Erich Hoffmann: Konflikte und Ausgleich mit den skandinavischen Reichen. In: Bracker u.a. (Hrsg.), Die Hanse – Lebenswirklichkeit und Mythos, Lübeck 42006, S. 70.

7 Hoffman S. 72.

8 Jörg-Peter Findeisen: Schweden. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Regensburg 22003, S. 51-56.

9 Hoffmann S. 72.

10 Hoffmann S. 75/76.

11 Matthias Puhle: Die Vitalienbrüder. Klaus Störtebeker und die Seeräuber der Hansezeit, Frankfurt/NewYork 21994, S.34.

12 Puhle: Die Vitalienbrüder, 1994, S. 36/37.

13 Ebd. S. 38.

14 Ebd. S. 65.

15 Ebd. S. 82.

16 Karlsson S. 102.

17 Heinrich Schmidt/ Ernst Schubert: Geschichte Ostfrieslands im Mittelalter. In: Schubert (Hrsg.), Geschichte Niedersachsens, Politik, Verfassung, Wirtschaft vom 9. bis zum ausgehenden 15. Jahrhundert. Bd. 2, Hannover 1997, S. 980.

18 Puhle: Die Vitalienbrüder, 1994, S. 104/105.

19 Rolf Hammel-Kiesow: Die Hanse, München 32004, S. 27.

20 Ebd. S. 30.

21 Ebd.

22 Ebd. S. 120.

23 Ebd. S. 21-24.

24 Uwe Schnall: Die Bedingungen hansischer Schiffahrt. In: Bracker u.a. (Hrsg.), Die Hanse, S. 758/759.

25 Hammel-Kiesow S. 30/31.

26 Ebd. S. 11.

27 Matthias Puhle: Organisationsmerkmale der Hanse. In: Bracker u.a. (Hrsg.), Die Hanse, S. 198.

28 Volker Henn: Was war die Hanse? In: Bracker u.a. (Hrsg.), Die Hanse, S. 20.

29 Puhle: Organisationsmerkmale der Hanse, S. 197-199.

30 Hammel-Kiesow S. 104/105.

31 Ebd. S. 115-118.

32 Henn: Was war die Hanse? S. 16/17.

33 Puhle: Organisationsmerkmale der Hanse, S. 196/197.

34 Hammel-Kiesow S. 66/67.

35 Henn: Was war die Hanse? S. 18.

36 Puhle: Organisationsmerkmale der Hanse, S. 199.

37 Henn: Was war die Hanse? S. 18.

38 Hammel-Kiesow S. 74.

39 Puhle: Organisationsmerkmale der Hanse, S. 199.

40 Hammel-Kiesow S. 73-75.

41 Puhle: Die Vitalienbrüder, 1994, S. 14.

42 Ebd. S. 44-46.

43 Ebd. S. 18.

44 Herbert Schwarzwälder: Bremen und die Seeräuber. In: Bracker u.a. (Hrsg.), Die Hanse, S. 823.

45 Michel Mollat: Seeraub. In: Lexikon des Mittelalters VII, München 2002, Sp. 1683.

46 Matthias Puhle: Kaper, -schiffahrt. In: Lexikon des Mittelalters V, München 2002, Sp. 934.

47 Ulrich Andermann: Spätmittelalterlicher Seeraub als Kriminaldelikt und seine Bestrafung. In: Ehbrecht (Hrsg.), Störtebeker, S. 24.

48 Wilfried Ehbrecht: Die Ereignisse von 1400/1401/1402 in den Quellen. In: Ehbrecht (Hrsg.), Störtebeker, S. 41.

49 Andermann S. 25/26.

50 Puhle: Die Vitalienbrüder, 1994, S. 32.

51 Jörgen Bracker: Von Seeraub und Kaperfahrt im 14. Jahrhundert. In: Bracker (Hrsg.), Gottes Freund – Aller Welt Feind, von Seeraub und Konvoifahrt, Störtebeker und die Folgen, Hamburg 2001, S. 18.

52 Jörgen Bracker: Klaus Störtebeker – nur einer von ihnen. Die Geschichte der Vitalienbrüder. In: Ehbrecht (Hrsg.), Störtebeker, S. 57.

53 Ebd. S.60.

54 Puhle: Die Vitalienbrüder, 1994, S. 41/42.

55 Hans Chr. Cordsen: Beiträge zur Geschichte der Vitalienbrüder, Halle 1907, S. 21.

56 Puhle: Die Vitalienbrüder, 1994, S. 20.

57 Bracker: Von Seeraub und Kaperfahrt im 14. Jahrhundert, S. 10/11.

58 Puhle: Die Vitalienbrüder, 1994, S. 86/87.

59 Ebd. S. 31-33.

60 Carl-Hans Hauptmeyer: Niedersächsische Wirtschafts- und Sozialgeschichte im hohen und späten Mittelalter (1000-1500). In: Schubert (Hrsg.), Geschichte Niedersachsens - Politik, Verfassung, Wirtschaft vom 9. bis zum ausgehenden 15. Jahrhundert, Hannover 1997, S. 1113.

61 Bracker: Klaus Störtebeker – nur einer von ihnen, S. 60.

62 Puhle: Die Vitalienbrüder, 1994, S. 32/33.

63 Hanserecesse Abt. I, Bd. 4, hrsg. v. Karl Koppmann, Leipzig 1877, Nr. 15, S. 11/12, zit. n. Puhle: Die Vitalienbrüder, 1994, S. 38.

64 Puhle: Die Vitalienbrüder, 1994, S. 38.

65 Reimar Kock, in: Chronik des Franziskaner Lesemeisters Detmar nach der Urschrift und mit Ergänzungen aus anderen Chroniken, 1829, S. 493/494, zit. n. Puhle: Die Vitalienbrüder, 1994, S. 37.

66 Andermann S. 26.

Ende der Leseprobe aus 88 Seiten

Details

Titel
Mythos Störtebeker. Handel und Piraterie des späten Mittelalters und die Interpretationen in der Neuzeit
Untertitel
Klaus Störtebeker in Geschichte und Sage. 'Edler' Räuber oder 'gemeiner' Verbrecher?
Hochschule
Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover  (Philosophische Fakultät)
Note
1,8
Autor
Jahr
2008
Seiten
88
Katalognummer
V116505
ISBN (eBook)
9783640183494
ISBN (Buch)
9783640183708
Dateigröße
896 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Mythos, Störtebeker, Handel, Piraterie, Mittelalters, Interpretationen, Neuzeit
Arbeit zitieren
Nina Nustede (Autor:in), 2008, Mythos Störtebeker. Handel und Piraterie des späten Mittelalters und die Interpretationen in der Neuzeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/116505

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