Die Konzeption von Erinnerung in Marcel Prousts "A la Recherche du Temps Perdu"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2007

24 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Erkenntnisse der Madeleine-Episode
2.1 Die Charakterisierung der mémoire volontaire
2.2 Die Charakterisierung der mémoire involontaire
2.3 Metaphern der mémoire involontaire
2.3.1 Das Gedächtnis als Gebäude
2.3.2 Geologische Metapher
2.3.3 Metapher der Ankerlichtung
2.3.4 Die Lichtmetapher
2.3.5 Mythologische Metaphern

3. Erkenntnisse der Episoden auf der Matinée Guermantes

4. Das Telefon als Metaphernfeld für die mémoire involontaire
4.1 Das Telefon als Medium
4.2 Das Telefon zwischen Magie und Technik
4.3 Das Telefon zwischen Fluch und Segen
4.4 Das Telefon im Metaphernfeld der Mythologie
4.5 Wahrnehmung des Gesprächspartners
4.6 Die Todesthematik

5. Zusammenfassung

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Prousts Roman A la recherche du temps perdu ist ein Zeitroman und ein Entwicklungsroman, in dem sich der Held auf die Suche nach der verlorenen Zeit begibt. Diese besteht für ihn in Erinnerungen an vergangene Momente, die zu Beginn des Romans für ihn nicht mehr existent sind. Mit der Zeit entwickeln sich aber Erkenntnisse, die ihm genau diese verlorene Zeit wiederzubringen vermögen und weitere Einsichten, die ihn diese Momente sogar für die Ewigkeit bannen lassen. In der vorliegenden Hausarbeit soll besonders auf das erstere Ereignis eingegangen werden, nämlich auf die Konzeption der Erinnerung, die in mémoire volontaire und mémoire involontaire eingeteilt wird. Dabei werden besonders auch die Metaphern betrachtet, mit deren Hilfe die Vorstellungen des reflektierenden Subjekts Marcel von der mémoire involontaire bildlich ausgedrückt werden. Eine eingehendere Betrachtung erfährt dabei in dieser Arbeit Marcels Wahrnehmung des Telefons, welches auch als Metaphernfeld für die Beschreibung der unbewussten Erinnerung genutzt wird.

2. Erkenntnisse der Madeleine-Episode

Die Madeleine-Episode ist in mehr als einer Hinsicht eine Schlüsselstelle für den Roman. Sie ist der Übergang von einer Welt du pénombre, dem Verlust von Identität im Zusammenhang mit Schlaf, einem „Kaleidoskop der Dunkelheit“, der Ruhelosigkeit, Beunruhigung, Angst- und Schuldgefühle in eine Welt der „Erleuchtung“. Die unklare Welt der Halbschatten führt in dieser Episode in eine Welt von mehr Substanz, Stabilität und Identität. Es wird eine Bewegung von der flackernden Welt der laterna magica zum Sehen nicht nur mit den Augen, sondern (auch) mit der Erinnerung vollzogen. Die Madeleine-Episode wird von Minogue auch als „signpost“ bezeichnet, als Wegweiser zu den späteren Entdeckungen Marcels um die mémoire involontaire. Dieser erste Wegweiser ist nur der Anfang für eine Wahrnehmungsweise, die in weiteren Schritten auf dem Weg zur Erkenntnis zu einer Engführung gelangt. Insgesamt gibt es in der Recherche acht dieser „signpost“-Episoden der mémoire involontaire. Die Madeleine-Episode ist also der Übergang von der „dunklen“ Zeit der Unkenntnis in eine Zeit der „Erleuchtung“, der Erkenntnis, von der mémoire volontaire zur mémoire involontaire.

2.1 Die Charakterisierung der mémoire volontaire

Zu Beginn der Madeleine-Episode reflektiert Marcel über seine Erinnerungen an Combray, die lange Zeit auf das „drame du coucher“ reduziert waren. Zwar kann er sich bewusst auch an die Existenz anderer Zeiten und Orte in Combray erinnern, aber er kann sie nicht wirklich wiederbeleben, also wörtlich mit Leben füllen. Marcel erklärt dazu, dass er sich aus diesem Grund auch gar nicht bewusst erinnern will, weil für ihn das Wesen der Dinge und vor allem auch deren Komplexität dadurch nicht erfasst werden kann und diese anderen Orte und Zeiten in Combray somit für ihn tot sind. Einen Großteil der Vergangenheit kann der Verstand des Menschen nach dieser Vorstellung überhaupt nicht mehr erreichen, sie sind für immer tot. Nur durch einen Zufall können einige der Orte wiederbelebt werden, doch „un second hasard, celui de notre mort“ überlagert den ersten zumeist. Der Mensch kann weiterhin nur das erinnern, was der Verstand bzw. die Intelligenz klassifiziert und geordnet hat, das heißt, was diese bereits in ein System der Erinnerungen eingeordnet haben. Es kann nur bewusst wieder hervorgeholt werden, was als eine Erinnerung markiert worden ist. Wenn es dann zu einer bewussten Erinnerung kommt, kann diese aber niemals einen vollen Wahrheitswert erhalten, da die Aufnahme der Umgebung zum Zeitpunkt des Erlebens auf natürliche Weise durch das Gehirn gefiltert wird, welches sich nur auf das im Moment wichtig Erscheinende konzentriert. Dadurch kann es auch zu Verfälschungen der Wahrnehmungen und damit der Erinnerungen kommen, wenn sich zum Beispiel das Kind Marcel zu zunächst unerklärlich erscheinenden Phänomenen seine Gedanken macht und eigene Erklärungen dafür erfindet. Diese Gedankenexperimente vermischen sich dann mit dem tatsächlich Geschehenen und geben somit ein falsches Abbild von der Wirklichkeit, die ja ohnehin schon durch die Selektivität des Gehirns verändert ist: „La mémoire volontaire qui est surtout une mémoire de l’intelligence et des yeux ne nous donne pas du passé que des faces sans verité.“[1] In der mémoire volontaire kann es sich somit auch nur um isolierte Erinnerungen handeln, die nicht ein tatsächliches vollständiges Abbild der Wirklichkeit liefern, sondern nur einen Ausschnitt.

2.2 Die Charakterisierung der mémoire involontaire

Die unbewusste Erinnerung hat dagegen nur den Zufall als Ordnungsprinzip, der ihr Erscheinen bedingt und damit ihr chronologisches Auftreten ordnet. Der Verstand des Menschen hat somit keinen Einfluss auf diese Art der Erinnerung.

Für die Charakterisierung der mémoire involontaire schickt Proust in der Madeleine-Episode

ein Gleichnis voraus, indem er Marcel von einem Mythos im keltischen Glauben erzählen lässt, nach welchem die Seelen der Toten in belebten oder unbelebten Dingen konserviert werden. Daraus leitet er erklärend ab, dass unsere Vergangenheit, die von ihrem Konzept her dem Konzept einer Seele ähnlich ist, ebenfalls in materiellen Objekten konserviert wird, und genau wie man die Toten in einem solchen Fall wahrnehmen kann, wird bei einem zufälligen Aufeinandertreffen von Subjekt und Objekt durch die sinnliche Aufnahme des Gegenstandes die Vergangenheit wiederbelebt. Damit ist bereits angesprochen, dass die mémoire involontaire durch eine sinnliche Wahrnehmung hervorgerufen wird. Im Falle der Madeleine ist das der Geschmack des Gebäckstückes, der Marcel an den Geschmack erinnert, den er in seiner Kindheit in Combray im Zimmer seiner Tante Léonie vernommen hatte, als er ein in Tee getauchtes Stück probierte. Nun sind für die Entstehung einer mémoire involontaire aber nicht alle Sinneswahrnehmungen gleich wichtig, denn sonst hätte bereits durch den Anblick des Madeleinestückchens bei Marcel eine intensive Erinnerung auftreten müssen. Dies geschieht aber nicht, weil der Gesichts- und übrigens auch der Hörsinn sehr viel „Nebensächliches“ aus der Umwelt in jeder Sekunde aufnehmen und damit sich „abnutzen“ in Bezug auf ihre Fähigkeit mémoire involontaires zu generieren. Marcel erklärt sich selbst, dass er ja schon zu oft beim Bäcker die Auslagen mit den Madeleines gesehen hat und damit der reine Anblick ihn höchstens an ein Einkaufs- statt an ein Kindheitserlebnis erinnern kann. Hätte Marcel vor diesem Augenblick des Kostens der Madeleine als Erwachsener bereits täglich eines dieser Gebäckstückchen verzehrt, so wäre es an diesem Tag auch nicht zu einer mémoire involontaire gekommen, denn die Grundlage für ihre Entstehung ist, dass der sie auslösende Sinn nicht durch ähnliche Wahrnehmungen in womöglich anderen Zusammenhängen überlagert ist. Die mémoire involontaire zeichnet sich ja gerade durch ihre Seltenheit aus, das heißt auch, dass es zu der Wiederholung einer Tätigkeit, einer Wahrnehmung durch den Menschen kommen muss, die ihm lange Zeit nicht widerfahren ist. Dies geschieht im Alltag nur selten, da der Mensch bekanntlich von einer gewissen Routine lebt. Anders herum kann die Wiederholung einer Handlung, die einmal eine unbewusste Erinnerung ausgelöst hat, nicht für deren Wiedererscheinen sorgen.

Die besondere Bedeutung des Geruchs- und des Geschmackssinns, die – zusammen mir dem Tastsinn – nicht so sehr ge- und verbraucht sind wie Hör- und Sehsinn, hat aber auch noch eine weitere Dimension: Sie enthalten auch eine erotische Note. Sie sind starke Erinnerungsträger auch, weil sie Sinne der Nähe zwischen Menschen sind. Diese erotische Dimension ist in den ersten beiden von insgesamt acht Episoden der mémoire involontaire sichtbar, wenn in der ersten von „un de ces gâteaux courts et dodus appelés Petites Madeleine“[2] die Rede ist, wobei dodu = drall eine weibliche Eigenschaft beschreibt, und in der zweiten Episode der Geruch der Feuchtigkeit eines Klosett-„pavillon“ auf den Champs-Elysée die unbewusste Erinnerung an ein erotisches Erlebnis im Gartenhaus des Onkels Adolphe in Combray entstehen lässt. Goebel führt hierzu aus: „Die erotische Einfärbung der Geruchs- und Geschmackserinnerung könnte deutbar sein als eine Intuition der psychoanalytischen Erkenntnis, daß die ‚Nähe-Sinne’ Geruch und Geschmack die ursprünglich stärksten Quellen intensiver Körperlust sind, die erst durch die kulturbedingten Triebeinschränkungen eingedämmt und aus der Erotik verdrängt wurden.“[3] Durch die Verdrängung sind diese Nähe-Sinne also besonders gut als Erinnerungsträger geeignet. Der Grund für diese erotische Einfärbung ist, dass Combray als eine Welt des désir erscheint: Erstens gibt es hier die kindliche Sehnsucht nach dem Gute-Nacht-Kuss der Mutter, zweitens ein pubertäres „désir d’une paysanne de Méséglise ou de Roussainville“[4] auf Marcels Spaziergängen und drittens das zwischen kindlicher Vorstellungswelt und jugendlicher erotischer Fantasie stehende Verlangen, von der Duchesse de Guermantes geliebt zu werden.

Nun könnte es so scheinen, dass die mémoire involontaire eine spontane Erinnerung ist, die explosionsartig über Marcel kommt. Doch dies wird bereits in der Madeleine-Episode verifiziert. Marcel spricht zunächst von einem unerklärlichen Glücksgefühl, das er nicht näher bestimmen kann und welches sogar mit der Zeit, vor allem aber auch mit Wiederholung derselben Handlung, die zu dessen Entstehung geführt hat, nachlässt. Das heißt, dass „[i]l est clair que la vérité que je cherche n’est pas en lui mais en moi.“[5] Es nützt also nichts sich an den Gegenstand zu klammern, um das unbestimmte Gefühl in eine Erinnerung zu verwandeln, sondern es bedarf einer Arbeit, einem Nachspüren, eines Suchens zunächst nach der Erinnerung in sich selbst. Doch das ist auch noch nicht alles: „Chercher? Pas seulement: créer.“[6] Es bedarf also einer Anstrengung, die in einem Schaffen besteht, einer Schöpfung in seinem eigenen Geist. Dazu muss Marcel zunächst völlige Leere um sich schaffen und sich in sich selbst versenken. Während der Versuche, den Ursprung des Glücksgefühls noch einmal zu ergründen, merkt Marcel, dass sich in seiner Tiefe etwas entfesselt hat, das nun langsam und gegen Widerstand aufzusteigen beginnt: „[…] je sens tressaillir en moi quelque chose qui se déplace, voudrait s’élever, quelque chose qu’on aurait désancré, à une grande profondeur; je ne sais ce que c’est, mais cela monte lentement; j’éprouve la résistance et j’entends la rumeur des distances traversées.“[7] Die mémoire involontaire ist also nicht immer sofort präsent, sondern zunächst etwa nur ein unbestimmtes Glücksgefühl, eine Ahnung, während die Erinnerung in ihrer Ganzheit erst einer Konzentration, einer Versenkung des Subjekts in sich selbst bedarf. Die Etablierung der unbewussten Erinnerung ist nicht nur passive Aufnahme von Sinneseindrücken, sondern ein Akt der Vorstellung, der Fantasie, um die Impression in eine Expression zu verwandeln. Dies hat zudem die Funktion einer Vorausdeutung für die spätere Entwicklung, nämlich der zum Schriftsteller, der Metaphern finden muss, um einen Ausdruck für seine Eindrücke zu finden. Es geht bei der mémoire involontaire nämlich nicht nur um reine Intuition, sondern die Ergebnisse der Intuition werden noch einmal von einem analytischen Verstand bearbeitet.

[...]


[1] Brief von Marcel Proust, gesehen bei Goebel, Die „Mémoire involontaire“, die fünf Sinne und das verlorene Paradies, 1969 S.123

[2] Proust, À la recherche du temps perdu, Le Coté de chez Swann I (Pléiade), S. 44

[3] Zitat von Goebel, S. 121, der sich auf Freud „Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens“ stützt

[4] Proust, À la recherche du temps perdu, (Pléiade)

[5] Proust, À la recherche du temps perdu, (Pléiade)

[6] Proust, À la recherche du temps perdu, (Pléiade)

[7] Proust, À la recherche du temps perdu, Le Coté de chez Swann I (Pléiade), S.45

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Die Konzeption von Erinnerung in Marcel Prousts "A la Recherche du Temps Perdu"
Hochschule
Friedrich-Schiller-Universität Jena  (Institut für Romanistik)
Veranstaltung
Marcel Prousts A la recherche du temps perdu
Note
1,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
24
Katalognummer
V116486
ISBN (eBook)
9783640186495
ISBN (Buch)
9783640188291
Dateigröße
484 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Kommentar der Dozentin: Insgesamt hervorragende Arbeit, die aber in Kapitel 2 - 2.2 zu stark an Goebel, in 2.3 - 2.3.5 zu stark an Gülich orientiert ist, in Kap. 4 beweisen Sie aber die Selbstständigkeit der Leistung durch die geschickt ausgebaute Analogie zwischen mémoire involontaire und dem Telefonat mit der Großmutter!
Schlagworte
Konzeption, Erinnerung, Marcel, Prousts, Recherche, Temps, Perdu, Marcel, Prousts
Arbeit zitieren
Julia Schlichter (Autor:in), 2007, Die Konzeption von Erinnerung in Marcel Prousts "A la Recherche du Temps Perdu", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/116486

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