Zwischen Realität und Märchenwelt. Eine Analyse zweier Kunstmärchen von Hans Christian Andersen


Projektarbeit, 2008

37 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Zu den Begriffen von Volks- und Kunstmärchen

2. Hans Christian Andersen
2.1. Sein Leben und seine Liebe
2.2. Andersens Märchendichtung
2.2.1. Einteilung
2.2.2. Andersens Erzählstil
2.2.3. Auffällige Motive in den Andersen-Märchen

3. „Die kleine Meerjungfrau“ - ein echtes Märchen
3.1. Die Welt der Meerjungfrau vs. Die Menschenwelt
3.2. Das Kind
3.3. Zu den Motiven von „Sprachlosigkeit“, „Schuhen“, „Wetter“ und „Gott“
3.4. Im Vergleich zur Gattung Grimm

4. „Das kleine Märchen mit den Schwefelhölzern“ - ein wahres Märchen
4.1. Der erste Satz
4.2. Das Kind
4.3. Die Schuhe und das Wetter
4.4. Gott und die Liebe
4.5. Das doppelte Ende
4.6. Der Erzähler
4.7. Im Vergleich zur Gattung Grimm

5. Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Einleitung

„Ein Kind, dem nie Märchen erzählt worden sind, wird ein Stück Feld in seinem Gemüt behalten, das in späteren Jahren nicht mehr angebaut werden kann.“[1] So schrieb es Johann Gottfried Herder. Und auch der berühmteste Märchendichter der Welt, Hans Christian Andersen, wusste um den großen Einfluss, den diese kleinen Geschichten auf die jungen Menschen haben. Jedoch nicht nur auf diese. Auch Erwachsene können vieles und meistens anderes aus den Märchen herauslesen. Sie sind, anders als Kinder, in der Lage die verschiedenen Ebenen zu durchschauen und verstehen so versteckte Hinweise und Kritiken. Aus diesem Grund schrieb Andersen seine Märchen für beide Altersgruppen. Seiner Vorstellung nach würden die Märchen den Kindern erzählt, doch auch die Erwachsenen, die während der Erzählung anwesend waren, sollten etwas für sich aus den Geschichten nehmen können.[2]

Ziel dieser Arbeit ist es zu prüfen, inwieweit Hans Christian Andersens Geschichten zur Gattung der Märchen an sich gehört und welche Motive in seinen Märchen besonders wichtig sind. Dazu werden im ersten Teil das Kunstmärchen und das Volksmärchen näher erläutert. Der zweite Teil befasst sich mit dem Dichter selbst. Zunächst wird eine kurze Biographie gegeben, da das bewegte Leben Andersens seine Märchen entscheidend geprägt und bereichert hat. Danach geht die Arbeit auf Andersens Märchendichtung ein. Hierbei wird die Einteilung der Märchen, häufig auftretende Motive, sowie Andersens besonderer Erzählstil näher betrachtet.

Im folgenden Teil der Arbeit wird anhand zweiter Märchen analysiert, ob und wie die bisher theoretischen Darlegungen von Andersen realisiert wurden. Die Hypothese zu diesen Texten lautet: Andersen schreibt keine echten Märchen, da sich seine Geschichten zu sehr in die Welt der Realität verlagern.

Bei der Auswahl der beiden Märchen richtete sich die Arbeit nach der Märcheneinteilung von Elias Bredsdorff. Da an dieser Stelle natürlich nicht alle sieben Gruppen am Beispiel geprüft werden können, beschränkt sich diese Arbeit auf die beiden Gruppen 1 und 7. Stellvertretend für Gruppe 1 „Eigentliche Märchen“ wird „Die kleine Meerjungfrau“ analysiert. „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“ vertritt die Gruppe 7 „Realistische Erzählungen, die in der realen Welt spielen“.

1. Zu den Begriffen von Volks- und Kunstmärchen

Der Begriff des Kunstmärchens ist nicht nur ein sehr junger, sondern auch ein schwer zu fassender. Hans-Heino Ewers weist ausdrücklich darauf hin, dass es sich hierbei um eine europäische Gattung handelt, die sich entwicklungsgeschichtlich über die nationalen Grenzen hinweggesetzt hatte. Als eigentliche Wiege benennt er das Frankreich des 17. Jahrhunderts. Hier entstanden die ersten so genannten französischen Feen- und morgenländischen Märchen, die den Ausgangspunkt für weitere europäische Produktionen bildeten. Die deutsche Kunstmärchendichtung brauchte indes etwas mehr Zeit. Mit Wieland und Musäus verlagerte sich der Schwerpunkt dieser Gattung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von Frankreich nach Deutschland. Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts gibt es eine erneute Verlagerung nach Frankreich, Dänemark und England. Mit dieser „Wanderung“ bekam die Gattung immer neue Impulse und entwickelte sich so in die unterschiedlichsten Richtungen.[3]

Aufgrund dieser breitgefächerten Entwicklungen, scheint es unmöglich eine einigermaßen einheitliche Definition zu geben und auch die Theorien bezüglich des Unterschiedes zwischen Volks- und Kunstmärchen sind mannigfaltig. Einigkeit herrscht nur in der Auffassung des Volksmärchens als Ausgangspunkt der Kunstmärchendichtung. Eine strenge Trennung der beiden gibt es zudem erst seit der Volksmärchenforschung der Gebrüder Grimm.[4] Auffällig erscheint Volker Klotz der Name „Kunstmärchen“ aber doch, genauer gesagt der Hinweis auf die Kunst, welcher einen gewissen Abstand zu anderen poetischen Formen aufzeigt. Denn immerhin sind Novellen, Komödien, Dramen usw. auch Bestandteile der Dichtkunst, doch braucht dies dort offensichtlich nicht unterstrichen werden. Hieraus erkennt Klotz ein zwiespältiges Verhältnis der beiden Teile „Märchen“ und „Kunst“. Welcher der beiden nun höher gewichtet werden sollte, bleibt in den Literaturtheorien umstritten. Klotz lehnt indes aber die Bevorzugung eines der beiden Teile ab, da jede dem Kunstmärchen mit Vorurteilen gegenüber stehe und den eigentlichen Gegenstand verfehle. Der Zwiespalt des Begriffs, so sehr er auch Fehleinschätzungen fördern mag, ist dennoch nicht zu bestreiten. Die Ursache sieht Klotz in eben der Grundlage des Volksmärchens. Die Teile bleiben aneinander gebunden und verhindern so die völlig freie Entwicklung, wie sie bei anderen Gattungen erfolgte.[5] Das Muster des Volksmärchens ist zum einen bindend vorgegeben, zum anderen erschwert die vielfältige Kunstmärchenentwicklung über die nationalen Grenzen hinweg die einheitliche Merkmalsbestimmung. Aufgrund dessen erscheint es an dieser Stelle hilfreicher, die Merkmale des Volksmärchens näher zu betrachten, um im zweiten Teil der Hausarbeit zu prüfen, inwieweit Hans Christian Andersen diese einbezogen, verändert und umgewichtet hat.

Friedmar Apel hält die etymologische Herleitung des Wortes „Märchen“ für beachtenswert. Er leitet es zurück auf das mittelhochdeutsche Wort „maere“, welches soviel bedeutet wie „Kunde“, „Bericht“ oder „Nachricht“. Hierbei ist schon erkennbar, dass es sich zum einen um einen eher kurzen Text handelt, zum anderen gibt es den Hinweis, dass der Inhalt nicht zwangsläufig etwas Unglaubhaftes enthalten muss. Über „maerelin“ und „merechyn“ entwickelte es sich zum heutigen „Märchen“.[6] Während Apel hier betont, dass die Konnotation des Märchens bezüglich des Wunderbaren noch nicht von Anfang an gegeben war, sondern sich vermutlich erst um das 16. Jahrhundert entwickelt hat[7], bekräftigt Klotz eine andere Meinung. Er sieht den wunderbaren Aspekt als etwas den Märchen ursprünglich Immanentes an, der aber nicht als ungewöhnlich herausgekehrt, sondern als etwas Selbstverständliches betrachtet wird. Das wunderbare Personal und die wunderbaren Ereignisse sind also schon immer feste Bestandteile gewesen.[8] Dennoch soll dies der Glaubwürdigkeit des Märchens keinen Abbruch tun. Sie ist „in der Person des Erzählers und im Weltbewusstsein“[9] verbürgt. Beim Kunstmärchen, welches nicht mehr die Verifizierung der Mündlichkeit besitzt, muss dieser Effekt durch künstlerische Mittel hergestellt werden.[10] Der Leser, der nun nicht mehr Zuhörer ist, muss also durch Suggestion und literarische Vorgehensweisen den Eindruck der Wahrhaftigkeit erhalten. Zumindest solange er liest, bestätigte auch Wieland. Aufgrund dieses Überganges von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit betrachtet Apel auch das aufgeschriebene Volksmärchen als etwas Problematisches. Es ist nicht mehr nur mündliches Erzählgut, aber auch noch nicht literarische Produktion, sondern etwas dazwischen - eine Übergangsform. Die Problematik der verlorenen Mündlichkeit greift auch Klotz auf. Während im Erzählen noch ein zwischenmenschlicher Kontakt bestand und es eine sofortige Rückkopplung zwischen Erzähler und Zuhörer gab, wird dieses immer weiter aufgelöst. Aufgeschriebene Geschichten lassen keine Einwände oder Fragen zu, bleiben stumm, taub und unverändert. Der Leser bleibt genauso allein wie der Erzähler. Klotz verweist an dieser Stelle auf Boccaccios „Decamerone“, wo eben dieses Problem verdeutlicht wird, wenn Boccaccio als Adressaten die lesenden Frauen der eng eingegrenzten Gesellschaft nennt.[11]

Jenes Aufgeschriebenwerden der Volksmärchen geht zurück auf die Märchensammlung der Gebrüder Grimm. Im Allgemeinen heißt es, sie hätten die Märchen aus dem Volk so verschriftlicht, wie sie erzählt wurden. Dieses ist jedoch zu bezweifeln, stand doch nicht nur die eigentliche Sammlung, sondern auch ein pädagogischer Gedanke im Mittelpunkt. Die Art und Weise die Märchen zu sammeln und zu verschriftlichen, haben die Grimms von Clemens Brentano übernommen, dem sie bei der Volksliedersammlung „Des Knaben Wunderhorn“ unterstützt hatten.[12] Die Märchen wurden demnach auch verändert, vereinfacht und der gesellschaftlichen Norm angepasst. Wo zum Beispiel in ganz alten Fassungen von Hänsel und Gretel die eigene Mutter den Vater überzeugt die Kinder im Wald auszusetzen, wurde diese später zur Stiefmutter herabgesetzt, da eine solche Kaltherzigkeit nicht durch die leibliche Mutter verlangt werden konnte. Dieses hatte jedoch sehr große Folgen für die Gattung Märchen im Ganzen. Jolles bemerkt schon 1930, dass hier ein Beurteilungsmaßstab geschaffen wurde, der über die Grenzen Deutschlands hinaus geht. Er spricht von der „Gattung Grimm“, welche auch heute noch der Maßstab ist, an dem wir ein Märchen messen.[13] Das Volksmärchen in diesem Sinne soll im Folgenden näher charakterisiert werden.

Das Volksmärchen besitzt einen doppelten Abstand zur Wirklichkeit.[14] Zum einer wird dieser Effekt erreicht durch die Eingangsfloskel „Es war einmal“, welche das Geschehen in eine zeitlich unbestimmte Vergangenheit setzt, und zum anderen durch das Abgrenzen des Helden von dessen Alltag. Das Wunderbare geschieht erst dann, wenn der Held sich von seinem bisherigen Leben abwendet und etwas Neues sucht. Er muss demnach die ehemalige Bindung an Heimat und vertraute Personen sprengen und das Abenteuer suchen, um das Wunderbare, Märchenhafte zu finden. Hinzu kommt die Abgrenzung durch die generelle Unbestimmtheit[15]: Es gibt keine Geographie, Orte bleiben ebenso namenlos, wie die Helden selbst. Wenn doch ein Name fällt, handelt es sich entweder um einen Allerweltsnamen, wie Hans oder Grete(l), oder der Name bezeichnet eine Eigenschaft, wie bei Schneewittchen, Rapunzel oder den Frau Holle Mädchen Gold- und Pechmarie. Auch die Reise des Helden bleibt oft im Dunkeln. Es gibt keine Angaben über die Strecke oder Dauer des zurückgelegten Weges.

Des Weiteren besteht ein immer gleiches Handlungsschema, welches nur durch unterschiedliche Motive ausgeschmückt ist:[16] Der Held oder die Heldin verlässt die gewohnte Umgebung - man flieht vor bösen Stiefmüttern, will jagen, Abenteuer bestehen oder einfach nur Verwandte besuchen. Meistens ist aber schon nach dem ersten Satz klar, dass die Ordnung und Harmonie jener Märchenwelt gestört ist: jemand muss befreit oder entzaubert werden, Verlorenes muss gefunden werden, Getrennte müssen wieder zusammen kommen usw. Dieses Problem zu lösen wird zur eigentlichen Aufgabe des Helden. Der Lösung aber stehen die verschiedensten Hindernisse im Weg, welche meist nur durch magische Hilfe überwunden werden können. Diese bekommt der Held oft in Form eines Zauberspruchs, welcher sich schon durch seine Versform und den Reim vom Prosatext des Märchens unterscheidet. Er wird als Hinweis auf das positive Ende gesehen, wo sich alles zum Guten wendet und sich die passenden Teile zusammenfügen.[17] Wird nun die Disharmonie und Unordnung in die die Märchenwelt gestürzt wurde, durch den Helden bereinigt, lösen sich auch sämtliche anderen Probleme auf. Die Bösen werden bestraft, die Guten belohnt.

Die märchenhaften Kräfte verteilen sich meistens auf beide Seiten: die Bösen versuchen zu verhindern, die Guten zu helfen. Überhaupt besteht meistens eine eng gezogene Grenze zwischen Gut und Böse: Hexen sind zum Beispiel böse und darum auch hässlich und Feen gut und schön. Auch dieses Verhältnis von inneren Werten und äußerem Erscheinungsbild wird von Klotz analysiert.[18] Die Gleichung „Gut = Schön“ geht ihm zufolge immer auf. Wenn doch einmal ein Missverhältnis besteht, wie zum Beispiel bei der Stiefmutter Schneewittchens, die zwar wunderschön, aber eifersüchtig und böse ist, so wird dieses im Märchen aufgelöst, damit die Gleichung am Ende wieder stimmt. Dies erfolgt in einem Teilprozess des Märchens indem die Figur entweder eine innere Wandlung erfährt oder vernichtet wird. Für Schneewittchens Stiefmutter trifft letzteres zu: sie muss sich in den glühenden Pantoffeln zu Tode tanzen. Umgekehrt werden auch die guten Figuren, die am Anfang hässlich sind, in schöne verwandelt, wie zum Beispiel Aschenputtel.

Bei all den verschiedenen Motiven, bleibt das Märchen immer geradlinig und einsträngig. Ein Ereignis folgt auf das andere, Nebenhandlungen oder verwirrende Verschachtelungen gibt es nicht. Die Perspektive bleibt meist unverändert von Beginn bis zum Schluss beim Helden. Da auch der Erzähler so gut wie nie Stellung nimmt und weder urteilt noch deutet, bleibt auch die Sicht des Lesers mit der des Helden verhaftet.[19]

Genauso eindimensional, wie der ganzen Handlung des Märchens, sind auch seine Figuren. Vergangenheit und Zukunft spielen keine Rolle. An Vergangenes wird sich nicht mehr erinnert und über Zukünftiges wird nicht nachgedacht. Es gibt keine Pläne, außer die Gegenwärtigen. Einzig das hier und jetzt zählt und auch schwere Entscheidungen müssen nicht getroffen werden. Diese werden von der jeweiligen Situation oder den Eigenschaften des Helden übernommen.[20] Sein Wesen bleibt unberührt. Auch fürchtet der Held nicht seinen eigenen Tod oder schlimme Konsequenzen. Diese kommen ihm noch nicht einmal in den Sinn. Auch soziale Verhältnisse sind weitgehend bedeutungslos. Zwar ist dem Leser klar, dass der Held oder die Heldin ein(e) Prinz, Prinzessin, Bauer, Soldat, Magd usw. ist, doch ist dieses nur die Verankerung „in einer abstrakten Sozialskala“[21]. Der Stand hilft dem Helden nicht bei der Lösung seiner Aufgabe. Er hat nur den Effekt möglichst große Gegensätze miteinander zu vereinen, zum Beispiel Aschenputtel und der Prinz.

Ebenso einfach wie die Handlung und die Charakterzeichnung der Figuren ist auch die Sprache, mit der die Ereignisse des Märchens erzählt werden. Im Mittelpunkt steht die Mitteilungsfunktion der Sprache. Adjektive und Verben sind meist einfach beschreibend und farblos.[22] Es treten Wiederholungen, Zaubersprüche und Zahlensymbole auf. Die Märchenzahl 3 ist dabei besonders beliebt und wie bereits erwähnt, hebt sich der zauberhafte Vers deutlich vom bloß berichtenden Prosatext ab. Auch die wörtliche Rede ist sparsam verteilt und kommt nur an den wichtigsten Stellen vor. Aufgrund dieser Einfachheit der Märchenkonzeption sind es die besonderen Situationsbilder, die dem Leser noch lange in Erinnerung bleiben[23]: Hänsel und Gretel knabbern am Lebkuchenhäuschen, Aschenputtel verliert ihren Schuh, der Frosch holt die goldene Kugel aus dem Brunnen – jedes Kind wird sich solcher Bilder erinnern, auch weil sie eben nicht von einer epischen Erzählweise überdeckt werden.

Das Märchen der eben beschriebenen Form, d.h. das Volksmärchen im heute gebräuchlichen Sinne, ist sowohl Grundlage als auch Inspirationsquelle für die Autoren der Kunstmärchen gewesen. Dass sie ihre ganz persönliche Sicht auf die Volksmärchen verarbeitet haben, ist für Volker Klotz gewiss. Doch nicht nur dies. Auch die Verwirklichung „persönlicher und gesellschaftlicher Wunschwelten, die der zeitgenössischen Umwelt trotzen“[24] waren immer Gegenstand der Kunstmärchen. In welche Richtung es sich von seinem Ausgangspunkt entwickelt, hängt demnach sehr stark vom „gesellschaftliche[n] Erfahrungsstand“[25] und dem „poetische[n] Ziel“[26] des Autors ab. Inwieweit dieses auch auf Hans Christian Andersen zutrifft, soll später geklärt werden.

2. Hans Christian Andersen

2.1. Sein Leben und seine Liebe

„Mein Leben ist ein hübsches Märchen, so reich und glücklich.“[27] Dies ist der erste Satz von Hans Christian Andersens dritter und letzter Autobiographie. Und Andersens Leben war tatsächlich ein Märchen. Aus tiefster Armut stieg dieses männliche Aschenputtel auf in die Welt der Könige und Kaiser:

„Wurde zur Prinzessin Carl gerufen, die bedauerte, nichts von meinem Aufenthalt gewußt zu haben, ich sollte ihrem Bruder sagen, es hätte sie gefreut, einen seiner Freunde zu sehen, bat mich, wenn ich nach Berlin käme, sie zu besuchen, dann wolle sie mich ihrem Gemahl vorstellen. Wie wir so dasaßen, kam ein Lakai der Prinzessin von Preußen und richtete aus, Ihre Königliche Hoheit dürfe mich nicht zu lange aufhalten, denn ich solle um 12 Uhr zur Prinzessin.“[28]

Dies schrieb er am Dienstag, den 6. Januar 1846 in sein Tagebuch. Wie sehr er und besonders seine Arbeit an den königlichen Höfen geschätzt wurde, ist hier unverkennbar. Auch ist dieser Eintrag nicht der einzige dieser Art. Immer wieder schreibt Andersen über Besuche bei Prinzessinen, Herzögen und Königen, bei denen er mit den Herrschaften gegessen und ihnen seine Werke vorgetragen hatte.[29]

Doch dieses Leben musste er sich erst erarbeiten. Geboren wurde Hans Christian Andersen am 2. April 1805 in Odense, Dänemark.[30] Seine Eltern gehörten den niedersten Schichten an. Der Vater war bloß ein Schustergeselle und hatte keine Aussicht auf ein eigenes Geschäft.[31] In seiner ersten Biographie beschreibt Andersen eine wahre Familienidylle: dem Vater, einem Schöngeist und Freidenker, war es niemals vergönnt eine höhere Schule zu besuchen, die liebevolle Mutter, die ihn umsorgte, die herzensgute Großmutter, die ihren schwachsinnigen Mann pflegte und durch einen Schicksalsschlag verarmt war – das meiste davon entlarvt Elias Bredsdorff als Märchen. Die Wahrheit sah anders aus: die Großmutter war eine notorische Lügnerin, der Großvater war tatsächlich schwachsinnig, aber niemals reich gewesen, die Tante betrieb ein Bordell in Kopenhagen und die Mutter, die eine uneheliche Tochter hatte, starb am Ende als Alkoholikerin.[32]

Aus diesem Sumpf arbeitete sich der junge Andersen Stück für Stück hervor. Er besuche verschiedene Schulen, machte sich Freunde unter den Theaterschauspielern und verließ schließlich Odense 1819 mit 14 Jahren, um in Kopenhagen sein Glück zu finden.[33] Die nun folgenden Jahre waren eine harte Zeit für den jungen Andersen. Er lebte in großer Armut und versuchte als Sänger oder Tänzer Fuß zu fassen, allerdings ohne Erfolg. Nach einigen Zuspruch von dänischen Dichtern, darunter auch Oehlenschläger, fasste Andersen eine neue Karrieremöglichkeit ins Auge und begann Theaterstücke zu schreiben, doch auch diese blieben ohne Erfolg. Hierdurch aber machte Andersen die wichtigste Begegnung seines Lebens: Jonas Collin. Dieser ermöglichte ihm nun den Besuch einer Lateinschule, auf der er sich das fehlende Allgemeinwissen aneignen konnte. Da er aber immer wieder mit dem Rektor Meisling aneinander geriet, von dem er sich drangsaliert fühlte, beschrieb Andersen diese Schulzeit als „die düsterste, die bitterste Zeit in meinem ganzen Leben“[34]. Andersen erlangte hier nun die allgemeine Bildung, die für sein Ziel, ein großer Dichter zu werden, unerlässlich war. Doch ließ er sich vom Rektor und den Statuten der Lateinschule nicht verbiegen. Dies führt letztlich auch zum Zerwürfnis mit Meisling, der bis zum Tod Andersens in seinen Alpträumen die Hauptrolle spielte.[35]

In der Folgezeit lernte Andersen viele bekannte Schriftsteller, wie Ludolph Schley und Johann Ludvig Heiberg kennen. So wurden die ersten Schriften Andersens in Heibergs Zeitschrift veröffentlicht.[36] Die Freundschaft zu Adam Oehlenschläger verhalf ihm auf die Universität Kopenhangen. Ein akademischer Grad, war aber nicht das angestrebte Ziel, sondern die Karriere als Dichter.

Am 7. August 1830 lernte Andersen seine erste große Liebe kennen, Riborg Voigt. Doch diese Liebe blieb unerwidert, da Riborg bereits mir einem anderen Mann verlobt war und diesen auch heiratete. Auf seiner ersten Deutschlandreise 1831 versuchte Andersen diese Begegnung zu vergessen und machte neue wichtige Schriftstellerbekanntschaften: in Dresden traf er Ludwig Tieck und in Berlin lernte er Adelbert von Chamisso kennen.[37] In den folgenden Jahren bereiste Andersen auch Frankreich, Italien und die Schweiz. 1835 erschien der Roman „Der Improvisator“, an dem er in dieser Zeit gearbeitet hatte und der „den Namen Andersen in ganz Europa bekannt [machte]“[38]. Die autobiographischen Züge, die, so Bredsdorff, in allen Werken Andersens mitschwingen, sind unverkennbar und werden auch vom Autor selbst bestätigt: „Jeder Charakter ist dem wirklichen Leben entnommen. [...] Kein einziger ist erdichtet. Ich kenne und kannte sie alle.“[39]

Nun beginnt Andersen auch Kindermärchen zu schreiben, mit denen er letztlich den ersehnten echten Erfolg hat. Das Urteil von Schriftsteller Örsted war einschlägig. Andersen schrieb: „Ich habe einige Kindermärchen geschrieben, und Örsted sagt, wenn der Improvisator mir Ruhm einbringt, werden die Märchen mich unsterblich machen, denn sie seien das Vollkommenste, was ich geschrieben habe [...]“[40] Auch von anderen Dichterkollegen, wie Hauch und Ingemann, kam Lob. Doch auch Kritik wurde geäußert. Teilweise wurde sogar davor gewarnt Kindern diese Märchen vorzulesen. Dies kam vermutlich daher, dass Andersens Märchen nicht dem allgemeinen Standard entsprachen, welcher sich eher an den Grimmschen Märchen maß: den einfachen Geschichten deren moralische Komponente offenkundig war.[41] Lauter als die Kritik war aber das Lob, und dies besonders von denen, für die die Märchen bestimmt waren: die Kinder liebten Andersens Geschichten.[42] 1843 machte Andersen die Dichtung von Märchen zu seinem Hauptschaffen. So schrieb er bis zu seinem Tod 156 Märchen.[43]

Das, was Hans Christian Andersens Wesen sein ganzes Leben lang beeinflusste, war seine empfindsame Seite. Für sein dichterischen Schaffen war eine solche Feinfühligkeit sicherlich von großem Vorteil, auf der zwischenmenschlichen Ebene aber stets problematisch. Er konnte den Menschen nie direkt ins Gesicht sagen, was er von ihnen wollte oder dachte. Das Medium, mit dem er alles auszudrücken vermochte, was ihm nicht über die Lippen ging, war der Brief. Und so klingen die Zeilen an Edvard Collin, seinen besten Freund, als wären sie Liebesbriefe:

„Ihr Brief hat mich so glücklich gemacht, mehr, als ich es schon tue, kann ich Sie nicht lieben, und doch wünsche ich es mir so sehr, da ich sehe und fühle und weiß, dass sie mich auch lieben! Oh! Mein lieber Edvard, mein Herz soll Ihnen immer offen sein, denn so, nur so kann echte Freundschaft bestehen.“

Aus solchen Formulierungen erwuchs wohl auch die Vermutung über eine mögliche Homosexualität der Dichters. Diese Frage ist aber bis heute heiß umstritten und ihre Klärung soll nicht Gegenstand dieser Arbeit sein. Ein weiterer Hinweis auf die schon fast weibliche Seele Andersens zeigt das Problem der Duzfreundschaft, die Andersen mit Edvard Collin wollte. Edvard lehnte das Du ab, was Andersen besonders kränkte. Doch kann die Frage nach dem Du auch als verzweifelter Versuch gewertet werden, den Status zu erreichen, den Andersen hätte, wäre er in den gleichen Stand hineingeboren, in dem seinen Adoptivfamilie lebt. Aus vielen Briefen geht hervor, dass ihn seine niederen Wurzeln wohl am meisten zu schaffen gemacht haben. Immer wieder beklagt er sich ein Fremder zu sein, nur beinahe zur Familie zu gehören, immer unter dem jüngeren Edvard zu stehen und niemals mit ihm auf der gleichen Stufen sein zu können.[44]

Und diese Gefühle von Minderwertigkeit waren es letztlich auch, die ihm die Liebe versagten. Die Jugendliebe Riborg Voigt, war zwar schon verlobt, dennoch wagte Andersen keine Avancen. Die kurze Liebe zur Tochter seines Gönners, Luise Collin, blieb ohne Früchte, da die Eltern dies nicht wollten. Auch die zu Örsteds Tochter Sophie versagte er sich, da er sehr viel älter war als sie und ihr mit dem kleinen Gehalt, das sein Schreiben abwarf, keinen hohen Standard bieten konnte.[45] Selbst der Frau, die wohl neben Riborg Voigt, die größte Leidenschaft in ihm entfachte, lies Andersen kampflos gehen: auch die Sängerin Jenny Lind heiratete einen anderen. Nur in seinen Dichtungen und den Briefen war Andersen ehrlich, was seine Gefühle betraf. So nennt Bredsdorff das Märchen „Die Nachtigall“ einen „liebevollen Tribut an Jenny Lind“[46]. Ohne je einer Frau ernsthaft nahe gekommen zu sein, doch im Bewusstsein es zu einem echten Dichter geschafft zu haben, starb Hans Christian Andersen am 4. August 1875.

2.2. Andersens Märchendichtung

2.2.1. Einteilung

Hans Christian Andersen war kein Märchensammler, so wie die Gebrüder Grimm, sondern ein Dichter. So verfasste er im Laufe seines Lebens 156 Kunstmärchen, die in über 100 Sprachen übersetzt wurden. Vorbilder für die kleinen Geschichten fand er zunächst in der dänischen Volksdichtung und auch in verschiedenen literarischen Werken. „Das Feuerzeug“ und „Die Prinzessin auf der Erbse“ sind zum Beispiel inspiriert vom Volksgut. Ersteres ist eine Neubearbeitung der Aladdin-Fabel und die zweite Geschichte geht zurück auf ein schwedisches Volksmärchen, in dem sich ein Mädchen als Prinzessin ausgibt und ihr ein Kätzchen hilft die Prüfungen der Königin zu meistern. Diese Prüfungen bestehen darin, dass verschiedene kleine Gegenstände unter die Matratze des Mädchens gelegt werden, um ihre Empfindsamkeit zu testen.[47] Was die Verarbeitung literarischer Vorlagen angeht, wäre „Des Kaisers neue Kleider“ zu nennen. Hier bestätigt Andersen diese Idee vom spanischen Autor Don Juan Manuel übernommen zu haben.[48] Die meisten seiner vielen Märchen sind jedoch seiner eigenen Phantasie entsprungen und so ist es nicht verwunderlich, dass immer wieder autobiographische Züge durch die Geschichten hindurch scheinen. Ein besonderes gutes Beispiel hierfür ist das Märchen „Der Schatten“, in dem Andersen dem Schatten fast wörtlich eine Äußerung seines Freundes Edvard Collin in den Mund legte. Als der gelehrte Herr dem Schatten vorschlägt sich zu Duzen, lehnt dieser ab mit den Worten:

„Das ist sehr geradeheraus und gutgemeint gesagt, ich will genauso wohlmeinend und geradeheraus sein. Sie als gelehrter Mann wissen zweifellos, wie wunderlich die Natur ist. Manche Menschen können es nicht ertragen, graues Papier anzufassen, dann wird ihnen übel; anderen geht es durch Mark und Bein, wenn man mit einem Nagel über eine Glasscheibe kratzt; und genau so ein Gefühl habe ich, wenn ich höre, wie Sie du zu mir sagen [...].“[49]

[...]


[1] Vgl. http://www.kindergartenpaedagogik.de/490.html (15.07.2008).

[2] Vgl. Sahr, Michael 1999. Andersen Lesen, S.10.

[3] Vgl. Ewers, Hans-Heino 2001. Deutsche Kunstmärchen von Wieland bis Hofmannsthal, S.647f.

[4] Vgl. Apel, Friedmar 1978. Die Zaubergärten der Phantasie, S.11.

[5] Vgl. Klotz, Volker 1985. Das europäische Kunstmärchen, S.7f.

[6] Vgl. Apel, Friedmar 1978. a. a. O., S.13.

[7] Vgl. Apel, Friedmar 1978. ebenda.

[8] Vgl. Klotz, Volker 1985. a. a. O., S.10.

[9] Zt. Apel, Friedmar 1978. a. a. O., S.27.

[10] Vgl. Apel, Friedmar 1978. ebenda.

[11] Vgl. Klotz, Volker 1985. a. a. O., S.22f.

[12] Vgl. Rölleke, Heinz 2004. Die Märchen der Gebrüder Grimm, S.32f.

[13] Vgl. Rölleke, Heinz 2004. a. a. O., S.41.

[14] Vgl. Klotz, Volker 1985. a. a. O., S.11.

[15] Vgl. Klotz, Volker 1985. a. a. O., S.10.

[16] Vgl. Klotz, Volker 1985. ebenda.

[17] Vgl. Klotz, Volker 1985. a. a. O., S.17.

[18] Vgl. Klotz, Volker 1985. a. a. O., S.18.

[19] Vgl. Klotz, Volker 1985. a. a. O., S.12.

[20] Vgl. Klotz, Volker 1985. ebenda.

[21] Zt. Klotz, Volker 1985. a. a. O., S.13.

[22] Vgl. Apel, Friedmar 1978. a. a. O., S.19.

[23] Vgl. Klotz, Volker 1985. a. a. O., S.20.

[24] Zt. Klotz, Volker 1985. a. a. O., S.9.

[25] Zt. Klotz, Volker 1985. ebenda.

[26] Zt. Klotz, Volker 1985. ebenda.

[27] Zt. Fleischer, Tove 1989. Hans Christian Andersen. Meines Lebens Märchen, S.5.

[28] Zt. Perlet, Gisela 2000. Hans Christian Andersen. „Ja, ich bin ein seltsames Wesen..“. Tagebücher 1825-1875. Bd.1, S.235.

[29] Vgl. Perlet, Gisela 2000. a. a. O., S.204.

[30] Vgl. Bredsdorff, Elias 1993. Hans Christian Andersen. Eine Biographie, S.18.

[31] Vgl. Bredsdorff, Elias 1993. ebenda.

[32] Vgl. Bredsdorff, Elias 1993. a. a. O., S.18f.

[33] Vgl. Bredsdorff, Elias 1993. a. a. O., S.24-37.

[34] Zt. Fleischer, Tove 1989. a. a. O., S.94.

[35] Vgl. Bredsdorff, Elias 1993. a. a. O., S.92.

[36] Vgl. Bredsdorff, Elias 1993. a. a. O., S.97.

[37] Vgl. Bredsdorff, Elias 1993. a. a. O., S.111.

[38] Zt. Bredsdorff, Elias 1993. a. a. O., S.154.

[39] Zt. Bredsdorff, Elias 1993. a. a. O., S.155.

[40] Zt. Bredsdorff, Elias 1993. a. a. O., S.158.

[41] Vgl. Bredsdorff, Elias 1993. a. a. O., S.160.

[42] Vgl. Bredsdorff, Elias 1993. a. a. O., S.162.

[43] Vgl. Bredsdorff, Elias 1993. a. a. O., S.395.

[44] Vgl. Bredsdorff, Elias 1993. a. a. O., S.127.

[45] Vgl. Bredsdorff, Elias 1993. a. a. O., S.177.

[46] Zt. Bredsdorff, Elias 1993. a. a. O., S.216.

[47] Vgl. Bredsdorff, Elias 1993. a. a. O., S.396f.

[48] Vgl. Bredsdorff, Elias 1993. a. a. O., S.400.

[49] Zt. Enzensberger, Hans Magnus 1996. Hans Christian Andersen. Schräge Märchen, S.20f.

Ende der Leseprobe aus 37 Seiten

Details

Titel
Zwischen Realität und Märchenwelt. Eine Analyse zweier Kunstmärchen von Hans Christian Andersen
Hochschule
Universität Erfurt
Veranstaltung
Seminar "Kunstmärchen"
Note
2,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
37
Katalognummer
V116287
ISBN (eBook)
9783640183005
ISBN (Buch)
9783640183241
Dateigröße
578 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Zwischen, Realität, Märchenwelt, Eine, Analyse, Kunstmärchen, Hans, Christian, Andersen, Seminar
Arbeit zitieren
Sandy Penner (Autor:in), 2008, Zwischen Realität und Märchenwelt. Eine Analyse zweier Kunstmärchen von Hans Christian Andersen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/116287

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