Die Rechtsprechung des EuGH am Beispiel Rs Mangold C-144/04


Seminararbeit, 2006

49 Seiten, Note: Gut


Leseprobe


Inhalt

I. TEIL

1 Europarechtliche Grundlagen
1.1 Rechtsquellen der EU
1.2 Primärrecht
1.3 Sekundärrecht
1.4 Rechtsgrundsätze der Gemeinschaft

2 Die Rechtssprechung des EuGH
2.1 Funktion und Wirkung des EuGH
2.2 Das Vorabentscheidungsverfahren Art 234

3 Die Richtlinie als Rechtsetzungsinstrument
3.1 Bedeutung der RL als Instrument der Rechtsangleichung für europäische Integration
3.2 Dogmatik und Wirkung von Richtlinien
3.3 Unmittelbare Wirkung
3.3.1 Voraussetzungen für die unmittelbare Direktwirkung
3.3.1.1 Anwendungsbereiche
3.3.2 Vorwirkung - Bindungswirkung vor Ablauf der Umsetzungsfrist
3.4 Horizontale Wirkung
3.5 Richtlinienkonforme Auslegung

4 Konsequenzen der RL-Verletzung – Sanktionen
4.1 Vertragsverletzungsverfahren, Art 226/227
4.2 Schadensersatzansprüche (Staatshaftung)

II. TEIL

5 Rs C-144/04 Mangold/Helm
5.1 Sachverhalt
5.2 Einbettung in die Rechtslage
5.2.1 RL 1999/70/EG zu der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge
5.2.2 RL 2000/78/EG zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbenadlung in Beschäftigung und Beruf
5.2.3 Gesetz über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge (TzBfG)
5.2.4 Der allgemeine Gleichheitsgrundsatz
5.2.5 Der Antidiskriminierungsgrundsatz
5.2.6 Die Altersdiskriminierung
5.3 Zulässigkeit der Vorlage
5.4 Vorlagefragen des ArbG München
5.5 Schlussantrag GA Tizziano
5.6 Das EuGH Urteil vom 22.11.2005

6 Interpretation der EuGH Einscheidung
6.1 Rechtssicherheit und Vertrauensschutz

7 Schluß

8 Literatur

I. TEIL

1 Europarechtliche Grundlagen

Die Europäische Union (EU) stellt den einheitlichen institutionellen Rahmen der Europäischen Gemeinschaften (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und Europäische Atomgemeinschaft) der Ersten Säule, der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Zweiten Säule sowie der Polizeilichen und Justitiellen Zusammenarbeit in Strafsachen der Dritten Säule dar. Der Terminus „Europäische Union“ bezeichnet das Gesamtgebilde dieser drei Säulen unter einem gemeinsamen Dach. Rechtlich gesehen besitz die EU, im Gegensatz zu den zwei Europäischen Gemeinschaften der Ersten Säule, keine selbstständige Rechtspersönlichkeit. Allenfalls im Rahmen der Zweiten und Dritten Säule kommt ihr beschränkte völkerrechtliche Rechtspersönlichkeit zu, was zum Beispiel für den Abschluss von Drittstaatsverträgen bedeutend ist.[1] Die EU ist weder Staat[2] noch internationale Organisation, ihr Charakter ist vielmehr als Prozess zur Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas, zu verstehen. Teilweise wird von einer Art „Staatenverbund“ gesprochen.

Als wesentliche Besonderheit des Gemeinschaftsrechts, und in Abgrenzung zu völkerrechtlichen Bestimmungen, ist der Rechtcharakter sui generis. Die Tatsache, dass Gemeinschaftsrecht eigenständig ist, lässt sich auch mit Art 10 EGV, dem effet utile (Effektivitätsgrundsatz) beweisen.

Art 10

Die Mitgliedstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner und besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus diesem Vertrag oder aus Handlungen der Organe der Gemeinschaft ergeben.

Sie erleichtern dieser die Erfüllung ihrer Aufgaben. Sie unterlassen alle Maßnahmen, welche die Verwirklichung der Ziele dieses Vertrages gefährden könnten.

Den spezifischen Rechtscharakter des Gemeinschaftsrecht veranschaulicht die Rs van Gend und Loos[3] recht deutlich. Die niederländische Transportfirma van Gend und Loos hat 1960 aus der Bundesrepublik Deutschland den Harnstoff-Formalaldehyd in die Niederlande importieren wollen. Die niederländische Regierung wollte darauf 8% Wertzoll einheben. Die Transportfirma klagte daraufhin. Die Niederlande, welches die Zölle nach Inkrafttreten des EWG Vertrages erhöht hatte, was wiederum gemäß Art 12 EWGV verboten ist, argumentierte dahingehend dass der Verrag kein subjektives Recht darstelle, und Einzeln sich im Rechtsstreit nicht darauf berufen können. Die letzte Instanz für Steuerstreitigkeiten, das niederländische Verwaltungsgericht, legte den Fall dem EuGH zur Vorhabentscheidung vor. Dieser stellte in seine Entscheidungsgründen (Nr. 12) fest, dass

[…] Diese Verpflichtung ist im übrigen auch durch keinen Vorbehalt der Staaten eingeschränkt, der ihrer Erfüllung von einem internen Rechtsetzungsakt abhängig machen würde. Das Verbot des Art 12 eignet sich in seinem Wesen nach vorzüglich dazu, unmittelbare Wirkungen in den Rechtsbeziehungen zwischen den Mitgliedsstaaten und den ihrem Recht unterworfenen Einzelnen zu erzeugen.

Gemeinschaftsorgane können neues Recht schaffen, welches (mit unter auch) unmittelbar in den Mitgliedsstaaten gilt. Inkorporation oder Transformation im Einzelfall ist nicht mehr nötig. Die van Gend Rechtssprechung hat den markanten Unterschied der europäischen Rechtsordnung zu völkerrechtlichen Verträgen markiert. Adressaten sind demnach nicht nur Staaten, sondern auch der Einzelne Bürger darin.

Prinzip der nützlichen Wirkung

1.1 Rechtsquellen der EU

Der gesamte Rechtsbestand der Union wird als „Acquis communautaire“ bezeichnet und umfasst primärrechtliche und sekundärrechtliche Regelungen, sowie internationale Abkommen (Gemeinschaftsabkommen und gemischte Abkommen) und die Rechtssprechung der Gemeinschaftsgerichte (Jurisdiktion). Ziel des Europarechts ist einerseits eine Harmonisierung, andererseits eine Rechtsangleichung von diversen Vorschriften. Diesen Zielen ist auch das beigleitende Gemeinschaftsrecht verschrieben. Hierunter verstand man lange auch das Europäische Gerichts- und Vollstreckungsübereinkommen (EuGVÜ vom 27.9.1968) sowie das Europäische Vertragsübereinkommen (EVÜ vom 19.6.1980). Das EuGVÜ wurde allerdings am 1.3.2002 per Verordnung vergemeinschaftet.

1.2 Primärrecht

Das Primärrecht umfasst die Gründungsverträge. Diese drei völkerrechtlichen Verträge der sechs Gründungsstaaten Belgien, Frankreich, Luxemburg, Niederlande, Großbritannien und Italien begründeten die drei voneinander unabhängigen Organisationen: die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl EGKS (1952-2002), die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWG 1958 und die Europäische Atomgemeinschaft EURATOM, welche ebenso1958 in Kraft trat. Diese drei Verträge wurden 1965 durch den Fusionsvertrag zusammengeschlossen.

Zu den primärrechtlichen Regelungen zählen weiters noch ergänzende Verträge wie die Einheitliche Europäische Akte (EEA) 1987, der Vertrag von Maastricht (Vertrag über die Europäische Union EUV) 1993. Der Vertrag von Amsterdam, welcher seit 1999 in Kraft ist, zählt ebenso wie der Vertrag von Nizza, seit 2002 in Kraft, zu den Primärrechtsakten. Die allgemeinen Rechtsgrundsätze und das Gewohnheitsrecht zählen zu den so genannten umschriebenen Primärrechtsakten. Schlussendlich gehören auch die Beitrittsverträge von 1972, 1979, 1985, 1994 und 2004 sowie alle Schlussakte zum Primärrecht.[4]

1.3 Sekundärrecht

Sekundärrecht ist durch die Organe der EG gesetztes Recht, welches von primärrechtlichen Vorschriften abgeleitet wurde. Hierzu zählen die in Art 249 EGV geregelten Rechtsetzungsakte, namentlich die Verordnung (Abs 2), die Richtlinien (Abs 3), die Entscheidung (Abs 4) sowie Empfehlungen und Stellungnahmen (Abs 5). Nach Maßgabe des Vertrages werden vom Europäische Parlament gemeinsam mit dem Rat (Mitentscheidungsverfahren, Art 251 EGV), vom Rat und der Kommission zur Erfüllung ihrer Aufgaben Rechtsakte erlassen. Der Art 249 ist keine Kompetenznorm, sondern beschriebt lediglich jene Form, wie betreffende Organe zuständig werden.

Akte des sekundärrechtlichen Gemeinschaftsrechts dürfen nur in den Bereichen gesetzt werden, in denen eine Kompetenz der Gemeinschaft besteht (Grundsatz der beschränkten Verbandskompetenz). Zugleich dürfen Organe nur aufgrund bestimmter Ermächtigungsbestimmungen erlassen werden (Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung).

In der Verordnung kommt der supranationale Charakter des Gemeinschaftsrechts am reinsten zum Ausdruck. Sie ist allgemein - das bedeutet dass sie einen allgemein-abstrakten Charakter hat und einen nicht näher zu bezeichneten Personenkreis umfasst -, in all ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in den Mitgliedsstaaten. Die Verbindlichkeit in all ihren Teilen ist das wesentliche Unterscheidungsmerkmal zur Richtlinie. Unmittelbarkeit erlaubt eine direkte Wirksamkeit im Mitgliedsstaat, weiteres Zutun ist nicht erforderlich. Die Drittwirkung von Verordnungen, also die Geltung der Verordnung für den Einzelnen, ist unbestritten. In dieser Durchsetzungs- bzw. Durchschlagungskraft der Verordnung kommt auch das Prinzip des Anwendungsvorranges deutlich zum Ausdruck.

Die Richtlinie, bzw. die Frage nach ihrer Wirkung für den Einzelnen ist bislang verneint worden, im Zuge der aktuellen Rechtssprechung des EuGH aber Gegenstand kontroverser Spekulation über ihre zukünftige Wirkung geworden. Da die Wirkung von einer RL zwischen Privatpersonen Gegenstand dieser SE-Arbeit ist, soll das Rechtsinstrument erst später näher vorgestellt werden.

Die Entscheidung gilt als rechtsverbindliche Handlungsform für Einzelfälle. Sie ist für all jene verbindlich die sie bezeichnet, in concreto richtet sich die Entscheidung an einen oder mehrer Mitgliedsstaaten oder an eine begrenzet Anzahl an Personen, die entweder namentlich bezeichnet oder individualisierbar[5] sind. Für diese Bezeichneten gilt die unmittelbare Wirkung. Weiters kann die Entscheidung auch unmittelbare Wirkung gegenüber em Einzelnen erlangen, obwohl die Entscheidung zunächst an den Mitgliedsstaat gerichtet ist. Im Zuge des Rechtsschutzes können sich natürliche und juristische Personen beim EuGH auch gegen jene Entscheidungen aussprechen, die nicht direkt gegen sie gerichtet war, sie aber unmittelbar individuell betreffen (vgl. Art 230 Abs 4 EGV). Die Verbindlichkeit drückt jene Umstand aus, dass aus der Entscheidung Rechte und Pflichten für den Adressaten erkennbar sein müssen.[6]

Stellungnahmen und Empfehlungen ihrer Natur nach in keinerlei Weise verbindlich. Daraus darf nicht die fehlerhafte Schlussfolgerung gezogen werde, dass sie deshalb keine Rechtswirkung haben. Vielmehr sind Stellungnahmen und Empfehlungen als richtungweisende politische Instrumentarien und als Unterstützung im Wege der Auslegung mit zu berücksichtigen.[7]

1.4 Rechtsgrundsätze der Gemeinschaft

Unter allgemeinen Rechtsgrundsätzen versteht man grundsätzliche rechtsverbindliche Leitlinien, die zwar (zumeist) ungeschrieben, aber allen Mitgliedsstaaten gemeinsam sind. Sie können aus den Verfassungstraditionen der einzelnen Staaten abgeleitet werden[8], oder aus der Gemeinschaftsordnung (durch die EuGH-Rechtssprechung) her rühren.

Die wichtigsten Grundsätze sind[9]:

- Grundsatz der Subsidarität (Art 5 Abs 2 EGV) – Maßstab für die Kompetenzaufteilung in der Gemeinschaft, Grundlage der Kompetenzausübung.
- Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Art 5 Abs 3 EGV) – Handlungen der Mitgliedstaaten und der Organe der Gemeinschaft werden in Art und Umfang überprüft.
- Grundsatz der Loyalitätspflicht (Art 10 EGV) – Effektivitätsgrundsatz (effet utile)
- Grundsatz des Diskriminierungsverbotes (Art 12 EGV) – Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit ist untersagt (Unionsbürgerschaft)
- Grundsatz der Eigenständigkeit (van Gend und Loos 1962) – Gemeinschaftsrecht ist als Rechtsordnung sui generis zu verstehen
- Grundsatz des Vorranges des Gemeinschaftsrechts (Costa/E.N.E.L. Rs 6/64) – Dem Gemeinschaftsrecht ist gegenüber nationalem Recht (auch nationalem Verfassungsrecht) Vorrang zu geben. Derogationsgrundsätze sind dadurch außer Acht zu lassen.
- Grundsatz der unmittelbaren Anwendbarkeit (van Duyn Rs 41/74) – Normen die eindeutig, unbedingt, vollständig und rechtlich vollkommen sind, sind unmittelbar anzuwenden.
- Grundsatz der funktionalen Einheit – Ziel ist die Einheitlichkeit der Gemeinschaftsordnung.
- Grundsatz des Rückwirkungsverbotes (Decker Rs 99/78) – Grundsätzlich gelten gemeinschaftsrechtliche Regeln, wenn sich aus der Auslegung nichts anderes ergibt, nur für die Zukunft.[10]
- Grundsatz der Staatshaftung (Art 288, Rs Francovich C-6/90, C-9/90) – bei nicht fristgerechter Umsetzung von Rechtsakten, kann ein Mitgliedsstaat zur Haftung gezogen werden (in den nachfolgenden Kapiteln wird auf die Staatshaftung noch näher eingegangen).
- Grundsatz des non-liquet – Der EuGH muss gemäß Art 240 EGV e-contrario zu einer Entscheidung kommen, es gilt das Verbot der Rechtsverweigerung.

2 Die Rechtssprechung des EuGH

Neben den primären, sekundären und Gemeinschaftsrecht begleitenden Rechtsakten und Vorschriften, zählt insbesondere auch das Richterrecht zu den Rechtsquellen. Mittels des im Art 234 EGV geregelten Vorabentscheidungsverfahren, auf welches später noch näher eingegangen wird, konnte das Gemeinschaftsrecht entschieden vorangebracht werden, und hat dadurch beweisen dass die Funktion des EuGH über das bloße Auslegungsmonopol hinaus geht.

Der Rechtssprechung des EuGH ist große Bedeutung für den Integrationsprozess beizumessen. Die Entwicklung einer europarechtlichen Dogmatik hin zu einer multidisziplinären Materie ist kennzeichnend für die Arbeit des EuGH.[11]

Der EuGH hat also die Funktion das Recht (Primär- und Sekundärrecht) zu wahren, sowie auf die Auslegung und Anwendung dieses zu achten.

Art 220 EGV

Der Gerichtshof und das Gericht erster Instanz sichern im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeit die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung dieses Vertrages.

Um das Arbeitsaufkommen des Gerichtshofes zu entlasten, dachte man schon seit der EEA 1987 über ergänzende Institute nach. Dem Europäische Gerichtshof der Ersten Instanz (EuGEI) sind durch den Vertrag von Nizza gerichtliche Kammern mit eigenen Zuständigkeitsbereichen beigestellt worden (225 EGV). Dadurch ist dem Prinzip der mehrgliedrigen Gerichtsbarkeit Rechnung getragen worden.

2.1 Funktion und Wirkung des EuGH

Der EuGH hat umfassende Rechtsschutzfunktion (vor allem in der ersten Säule[12] ) und ist für die Abgrenzung der Gemeinschaftskompetenzen gegenüber den intergovernemental angelegten Bereichen der EU zuständig. Im institutionellen Gefüge der Europäischen Gemeinschaften (ehemals EGKS, EURATOM und EWG) spielt der EuGH auch deshalb eine wichtige Rolle, da die Europäische Gemeinschaften, im Gegensatz zu der Europäischen Union, über Rechtspersönlichkeit verfügt. Die eigene, obligatorische Gerichtsbarkeit der Ersten Säule ist auch kennzeichnend für ihre Supranationalität.

Die Anwendung des Gemeinschaftsrechts ist zunächst Aufgabe des Rates und der Kommission, bzw. der nationalen Organe. Zugleich sind die Mitgliedsstaaten auch der unabhängigen richterlichen Kontrolle des EuGH unterworfen.[13]

Dem EuGH ist nur für jene Angelegenheiten zuständig, die ihm expressis verbis zugeordnet sind: es gilt das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung.[14] Das Rechtsschutzsystem kennt demnach keinen umfassenden Individualschutz. Juristische und natürliche Personen werden als „nicht-priveligierte Klagsbefugte“ klassifiziert, ihnen ist das Klagerecht nur dann gewährt wenn sie unmittelbar und individuell betroffen sind.

Besondere Bedeutung hat der EuGH auch als Kontrollorgan für den Rat und die Kommission. Angesichts der nach wie vor schwachen Stellung des Europäischen Parlaments, stellt der EuGH die einzige Kontrollmöglichkeit für die Exekutive dar.

Der EuGH ist das einzige Rechtsprechungsorgan der Europäischen Gemeinschaften. Er übernimmt Kontroll- und Gestaltungsaufgaben die über eine streitentscheidende Funktion weit hinausgehen.[15]

Prinzipiell können die vom EuGH behandelten Verfahren in Direktklagen und Vorhabentscheidungsverfahren unterschieden werden.

Bei den Direktklagen kann weiters zwischen verschiedenen Verfahrensarten differenziert werden:

- Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art 226 und Art 227 EGV,
- Nichtigkeitsklage gemäß Art 230 EGV,
- Untätigkeitsklage gemäß Art 232 EGV,
- die inzidente Normenkontrolle gemäß Art 241 EGV (die entspricht allerdings weniger einer richtigen Klage, denn vielmehr einer Art „Rüge“),
- sowie weiters das Rechtsmittelverfahren gemäß Atz 225,
- die Amtshaftungsklage gemäß 235 (in Verbindung mit Art 288 und Art 3) und die Dienstrechtstreitigkeiten gemäß 236.

Diese Klageverfahren können auch vom EuGHI behandelt werden, es geht hier vornehmlich um Streitigkeiten zwischen Mitgliedstaaten, Organen und natürlicher und juristischer Personen (insbesondere Dienstrechtstreitigkeiten, Schadenersatzklagen). Der EuGHI ist ein eigenständiger Spruchkörper des EuGH, der vom EuGH zwecks Entlastung bereits 1987 beantragt, und 1989 konstituiert wurde. Die Vorabentscheidungsfragen hingegen, dürfen nur vom dem EuGH ausgetragen werden.

2.2 Das Vorabentscheidungsverfahren Art 234

Um eine einheitliche Anwendung des gemeinschaftlichen Rechtstatbestand zu sichern, besteht die Verpflichtung für nationale letztinstanzliche Gerichte (Tribunale) gemäß Art 68 EGV, die Verpflichtung, sich bei Auslegungsunklarheit an den EuGH zu wenden.

Unter dem Terminus technicus „Gericht“ versteht sich ein Spruchkörper der sich aus unabhängigen, nicht weisungsgebundenen Mitgliedern zusammensetzt, und nach nationalem Recht als streitentscheidende Institution vorgesehen ist. Die rechtsstaatlichen Verfahrenregeln wie etwa die Bindungskraft des Urteils oder das Verbot der Billigkeit in der Spruchfindung, müssen ebenfalls gegeben sein. Der Spruchkörper muss also Rechtssprechungscharakter aufweisen.[16]

Der EuGH gibt in seinem Urteil Auskunft über die Auslegung des Gemeinschaftsrechts, nicht aber darüber ob nationales Recht Gemeinschaftsrecht widerspricht. Die Subsumtion obliegt allein dem Mitgliedsstaat selbst. Die Bindungswirkung des richterlichen Entscheidung gilt primär inter partes. Sie kann aber auch als Ausgangsverfahren für ähnlich gelagerte Fälle dienen, wie dies in der CILFIT Rechtssprechung[17] vorsichtig angedeutet wurde.[18]

Die CILFIT Rechtsprechung befasst sich mit den Fragen, wann und unter welchen Bedingungen ein Gericht vorlageberechtigt/vorlageverpflichtet ist. Der EuGH stellt fest, dass letztinstanzliche Tribunale zur Vorlage verpflichtet sind. Einige Jahre später konnte in der Rs Foto-Frost[19] dieser Grundsatz dahingehend konkretisiert werden, dass auch nicht-letztinstanzliche Tribunale vorlageverpflichtet sind, und zwar dann wenn über die Ungültigkeit von Handlungen von Organen befunden werden muss.

Am 16.5.2000 konnten Verfahrens-beschleunigende Änderungen erlassen werden. Diese gelten per 1.7.2000 für besonders dringliche Verfahren m Rahmen des Art 234. Im Februar desselben Jahres konnten ebenso Regelungen für Direktklagen geändert werden.[20]

3 Die Richtlinie als Rechtsetzungsinstrument

Die Richtlinie ist ein Rechtsinstrument welches vom Europäischen Rat gesetzt wird und Gesetzescharakter hat. Sie ist gemeinsam mit der Verordnung verbindlich. Die in Art 249 Abs 3 EGV geregelte Bestimmung sieht vor:

Art 249 Abs 3

Die Richtlinie ist für jeden Mitgliedsstaat, an den sie gerichtet wird, hinsichtlich des zu erreichenden Zieles verbindlich, überlässt jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel.

In der recht knappen Formulierung ist nur vorgesehen, dass das zu erreichende Ziel umgesetzt werden muss, eine direkte Wirkung dem Bürger gegenüber ist grundsätzlich nicht vorgesehen.

Die Richtlinie tritt zu dem durch sie festgesetzten Zeitpunkt, oder andernfalls am zwanzigsten Tag nach ihrer Veröffentlichung in Kraft (Art 254 Abs 1). Selbiges gilt auch für Verordnungen und Entscheidungen.

Damit die Richtlinie, die sich an einen einzelnen (individuelle Richtlinie) oder an mehrere Staaten (allgemeine Richtlinie) richtet, ihre Wirksamkeit erreicht, muss sie in nationales Recht umgesetzt werden. Die Umsetzung sieht eine zwingende materielle Rechtsvorschrift vor (zumeist ein Gesetz oder eine Verordnung), bloße Verwaltungspraxis ist nicht ausreichend. Der EuGH hat dies im Verfahren Kommission/Bundesrepublik Deutschland von 1988[21] verdeutlicht: in seinem Urteil betont der Gerichtshof, dass die Umsetzung einer RL zwar nicht in einer förmlich und wörtlich identen Gesetzesvorlage wiedergegeben werden muss, jedoch muss derjenige der durch die RL begünstigt wird, von all seine Rechten in Kenntnis gesetzt werden, sodass er ggf. diese vor einem Gericht auch geltend machen kann.

Die Pflicht zur normativen Umsetzung ist als abstrakte, generelle Umsetzungspflicht zu interpretieren. Der die Richtlinie umsetzende Rechtsakt muss mindestens dieselbe Normqualität aufweisen wie die Vorschriften, die den von der Richtlinie erfassten Bereich vor der Umsetzung regelten.[22] Die innerstaatliche Umsetzung muss auch dann erfolgen, selbst wenn die Richtlinie zur unmittelbaren Anwendung geeignet wäre.

Der Spielraum der Umsetzung ist zumeist nicht unbegrenzt, genau genommen in vielen Bereichen sehr eng (insbesondere im Zivilrecht). Die Kontrolle einer ordnungsgemäßen Umsetzung obliegt der Europäischen Kommission:

[...]


[1] Vertragsschlussbefugnis Art 24 und 38 EUV

[2] Die Trinität der Staatselemente nach Jellinek Staatsvolk, Staatsgewalt und Staatsgebiet sind nicht erfüllt.

[3] Rs 26/62 van Gend und Loos, Slg 1963

[4] Alle Jahreszahlen beziehen sich jeweils auf das Jahr des Inkrafttretens.

[5] Individualisierbar bedeutet, dass der Personenkreis zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung schon feststeht, bestimmbar ist, und nachträglich nicht mehr erweitert werden kann.

[6] Thun-Hohenstein/Cede/Hafner, Seite 182

[7] Thun-Hohenstein/Cede/Hafner, Seit 183

[8] Die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen müssen keinesfalls aus allen Mitgliedstaaten her rühren, bedeutender ist vielmehr das „gemeinsame Erbe“. Vgl. Temming, Seite 141

[9] Zusammenfassung und weiter Verweise zu EuGH-Urteilen betreffend der Grundsätze siehe Reichelt, Seite 43-52. Siehe weiters Thun-Hohenstein/Cede/Hafner, Seite 68

[10] Allerdings kann es auch Ausnahmen geben: Die Racke-Formel besagt beispielsweise, dass wenn en angestrebtes Ziel es verlangt, und das Vertrauen der Betroffenen genügend berücksichtigt wird, können gemeinschaftsrechtliche Bestimmungen auch rückwirkend gelten. Vgl Rs 98/78 Racke

[11] Vgl. H. Jarass: Elemente einer Dogmatik der Grundfreiheiten, in: EuR 1995, Seite 202ff; zitiert in: Gerte Reichelt: Europarecht. Einführung Rechtsquellen, System des Rechtsschutzes. Skriptum, Wien 2005, Seite 23

[12] In der Zweiten Säule, der Gemeinamen Außen- und Sicherheitspolitik, hat der EuGH keine Befugnisse. In der Dritten Säule, der Polizeilichen und Jusitiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen fungiert der EuGH als Organ

[13] Vgl Thun-Hohenstein/Cede/Hafner, Seite 130-134

[14] Der EuGH verfügt über ausschließliche Kompetenzen (z.B. im bereich Verkehr, Zoll und Handel); und nicht-ausschließliche Kompetenzen, die sich in konkurrierende (z.B Binnenmark und Landwirtschaft) und parallele Bereiche (z.B. Forschung und Entwicklung) aufteilen. Bei konkurrierenden Aufgabenbereichen ist, gemäß dem Subsidiaritätsprinzip, der einzelne Mitgliedsstaat nur solange tätig, bis die Gemeinschaft tätig wird.

[15] Reichelt, Seite 85

[16] Streinz, 1999 Rz 557

[17] Rs 283/81 CILFIT

[18] Siehe insbesondere Randnummer 13 und 14 aus den Entscheidungsgründen

[19] Rs C-314/85, Slg 1987

[20] Annäherung an die Acte Claire- Theorie, siehe auch: Reichelt, Seite 53

[21] Rs C-361/88 Kommission/Bundesrepublik Deutschland, Slg 1991, I-2567

[22] Vgl Rs 96/81 – Kommission gegen Niederlande, Slg 1982, 1791 zitiert in: Brenn, FN 6

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Details

Titel
Die Rechtsprechung des EuGH am Beispiel Rs Mangold C-144/04
Hochschule
Universität Wien  (Juridicum)
Veranstaltung
Seminar Europarecht
Note
Gut
Autor
Jahr
2006
Seiten
49
Katalognummer
V116024
ISBN (eBook)
9783640175895
ISBN (Buch)
9783640176014
Dateigröße
654 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Rechtsprechung, EuGH, Beispiel, Mangold, C-144/04, Seminar, Europarecht
Arbeit zitieren
Mag. Nina M. Lukesch (Autor:in), 2006, Die Rechtsprechung des EuGH am Beispiel Rs Mangold C-144/04, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/116024

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