Autobiographisches Schreiben im Mittelalter. Die autobiographischen Lieder Oswalds von Wolkenstein

Grundsätzliche Überlegungen zu gattungsgeschichtlichen und -theoretischen Voraussetzungen, Bedingungen und Möglichkeiten


Magisterarbeit, 1997

155 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung

TEIL 1: DIE AUTOBIOGRAPHIE ALS GATTUNG
A. Forschungsbericht zur Autobiographie
B. Zur Entwicklung der Autobiographik - Stationen der Gattungsgeschichte
1. Die religiöse Autobiographik
a) Die Confessiones des Augustinus
b) Die deutsche Mystik
2. Die weltliche Autobiographik
3. Renaissance und Barock
4. Die religiöse Autobiographik des Pietismus
5. Die klassische Zeit der Autobiographie
a) Jean-Jacques Rousseau
b) Johann Wolfgang von Goethe
6. Die Autobiographik im 19. und 20.Jahrhundert

TEIL 2: DAS MITTELALTER ALS BEDINGUNGSRAHMEN FÜR AUTOBIOGRAPHISCHES SCHREIBEN
A. Historische Voraussetzungen und Zugangsweisen
1. Historische Bedingtheit der Subjektivität
a) Historische Distanz und Annäherungsversuche
b) Historischer Wandel der Mentalitäten
c) Historische Anthropologie
B. Das Autobiographische im Mittelalter
1. Zur Forschungslage
2. Überlegungen zur Begrifflichkeit von Autobiographie im Mittelalter
3. Stationen der Gattungsgeschichte im Mittelalter
a)Vita, Legende und Confessiones
b)Abälard
c)Autobiographik im späteren Mittelalter
1. Familienbücher und kaufmännische Merkbücher
2. Reisebeschreibungen und ritterliche Autobiographik
d) Frauendienst

TEIL 3: DIE "AUTOBIOGRAPHISCHE LYRIK" OSWALDS VON WOLKENSTEIN
A. Exkurs: Zur Forschung zu Oswald von Wolkenstein
B. Versuch einer Definition des Autobiographischen im Mittelalter
C. Darstellungsdispositionen des Autobiographischen im Mittelalter
1. Weltliche und geistliche Autobiographik unter formalen Gesichtspunkten
2. Oswalds Alterslieder - Variationen geistlicher Autobiographik
3. Die autobiographische Mitteilung
a) der autobiographische Beweis
4. Die Handlungs-Autobiographie
5. Die Darstellung eines einzelnen Ereignisses innerhalb der autobiographischen Lyrik Oswalds von Wolkenstein
6. Räumliche und zeitliche Disposition der Verlaufsform von Handlungs-Autobiographie
7. Typenstammbaum für das Autobiographische im Mittelalter
D. Die "autobiographische Lyrik" Oswalds im Kontext wesentlicher Einflußfaktoren
1. Dichtung und Wahrheit - ein zulässiger Dualismus bei der Bewertung von Kunstwerken
2. "Realismus" im Spätmittelalter und bei Oswald?
3. Oswalds autobiographische Lyrik als Erlebnisdichtung?
4. Das Problem des lyrischen Ichs
5. Oswalds Namensnennung und ihre Bedeutung für seine autobiographischen Lieder
6. Exkurs: Die mittelhochdeutsche Lyrik als Darstellungsrahmen des Autobiographischen im Mittelalter
7. "Autobiographische Lieder" und Publikum
8. "Autobiographische Lieder" - Motivation und Funktion
9. Artistik und literarische Kompetenz als Primärimpetus für autobiographisches Schreiben bei Oswald
E. Zusammenfassung und Ergebnisse

Literaturverzeichnis

Einleitung

Anstoß zur Thematik vorliegender Arbeit, das Autobiographische in seiner spezifischen Ausprägung bei Oswald von Wolkenstein näher zu untersuchen, war ein anfängliches, instinktives Unbehagen, den Terminus "autobiographisch" auf die lyrische Dichtung eines spätmittelalterlichen Autors angewandt zu sehen.[1]Die erste Überlegung war, das vieles, was in Oswalds Lyrik der vorschnellen Zuschreibung des Autobiographischen unterliegt, der literarischen Tradition verpflichtet sein müsse, etwa so, wie es CURTIUS in seiner Geschichte der mittelalterlichen Topik untersucht hat.[2]Ich nahm an, daß das lyrische Ich, welches in Oswalds Dichtung zum Vorschein kommt, ein irgendwie stilisiertes sein müßte, das nicht mit dem realen Ich des Dichters übereinstimmt. Diese Annahme hing eng zusammen mit einer zweiten Überlegung, daß nämlich der Gattungsnahme "Autobiographie" eine neuzeitliche Prägung ist und die Anfänge der literarischen Gattung meist im 18.Jahrhundert gesucht werden.[3]Die Vorstellung, die somit in uns auftaucht, wenn wir den Begriff "Autobiographie" oder "autobiographisch" hören, ist ganz wesentlich vom 'klassischen' Zeitalter der Gattung im 18. und 19.Jahrhundert beeinflußt. Daraus folgt, daß wir Gefahr laufen, ein bestimmtes Verständnis, Begriff "autobiographisch" seit jener Zeit mitschwingt, auf ein Zeitalter zu übertragen, dessen geistig­geschichtliche Voraussetzungen andere waren.[4] Bedingungen und Möglichkeiten autobiographischen Schreibens mußten deshalb ebenfalls verschieden sein.

So schien mir die Bezeichnung von Oswalds Liedern als "autobiographisch" zumindest fragwürdig und eine Untersuchung, was es mit dem Autobiographischen bei Oswald auf sich habe, dringend notwendig und wünschenswert.

Die Bezeichnung "autobiographisch" von Oswalds Liedern führte geraume Verkürzung der Rezeption, insofern bei Vordergrund stand, seinen Liedern biographische Daten zu extrahieren.[5] Erst spät wurde die Leistung Oswalds auf formal-künstlerischem Gebiet entsprechend gewürdigt, sein "kühler Verstand, ein Kunstverstand, der sich erst bei der Analyse der metrischen Formen so recht offenbart" erkannt.[6]

In der Forschung ist die Trennung von historisch­empirischem und lyrischem Ich immer noch nicht zur Gänze vollzogen bzw. noch ungenügend reflektiert. Es ist überdies zu fragen, ob es für den heutigen Leser von Oswalds Liedern nicht irreführend ist, wenn er einen Großteil der Lieder als "autobiographisch" bezeichnet sieht. Folglich vermißt man Ansätze, die sich nicht nur darauf beschränken hinsichtlich der "autobiographischen Lieder" Abweichungen bzw. Übereinstimmungen des
historisch-empirischen Sänger-Ichs mit dem lyrischen Ich der Dichtung festzustellen. Eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Spezifik autobiographischen Schreibens bei Oswald, eine historische und gattungsgeschichtliche Einordnung seines autobiographischen Schreibens seitens der Literaturwissenschaft wurde noch nicht vorgenommen. So konnte noch HARTMANN über die verdienstvollen Biographien SCHWOBS und KÜHNS mit Recht sagen: "Beide Autoren wahren in literaturhistorischer Hinsicht eine unverhältnismäßig groß scheinende Zurückhaltung."[7] Außerdem gehe KÜHN nach knappen, mehr fragenden als erklärenden Kommentaren zur jeweiligen Liedgattung oder zu autobiographischen Bezügen rasch wieder zum historischen Darstellungsteil über. Welchen Stellenwert die einzelnen Dichtungen in Oswalds Versuchen einer künstlerischen Selbstdarstellung haben, auf welche Weise herrschende Bewußtseins- und Darstellungsformen die Problematik und Thematik seiner Selbstdarstellung beeinflußt haben, darauf wird oft nur in Andeutungen verwiesen.[8]

Wie wenig allerdings HARTMANN selbst zu einer sachgerechten Einordnung der "autobiographischen Lieder" beiträgt, zeigt die Beurteilung von Kl 5-7, worin sich eine "Befreiung des lyrischen Ichs von vorgegebenen Rollen- und Exempelfunktionen" vollziehe: "Hier gelingen Oswald Selbstporträts, deren metaphorische Suggestionskraft auf einer modern anmutenden Illusionswirkung wirklicher Eigenerlebnisse und unvermittelter Subjektbezogenheit beruht."[9]Mag diese Ansicht auch nicht völlig aus der Luft gegriffen sein (immerhin können wir nicht wissen, wieviel von Oswald als Subjekt in die Texte eingeflossen ist), so ist doch festzustellen, daß die generelle Frage nach den grundlegenden Möglichkeiten autobiographischen Schreibens bei Oswald und im Mittelalter bisher noch nicht zur Genüge gestellt wurde; man kann allerdings davon ausgehen, daß eine "unvermittelte Subjektbezogenheit" nicht zu den Möglichkeiten oder Vorhaben mittelalterlicher Autoren gehörte.

Die Dreiteilung der Untersuchung ergab sich beinahe von selbst aus den Gliedern des Titels: Das "autobiographische" Lied fordert vehement eine Auseinandersetzung mit der Gattungsfrage, während Oswald von Wolkenstein auf das Mittelalter als Bezugsrahmen dieses Autobiographischen verweist: einmal in einem allgemeineren Sinn auf das Mittelalter überhaupt und dann spezifisch aufs Spätmittelalter und Oswalds besondere Stellung in der Literaturgeschichte.

Eine gattungsgeschichtliche Einführung schien für di e Arbei t unerl äßl i ch, um übe rhaupt fe s ts t el l e n z u können, was unter autobiographischem Schreiben verstanden wird, welche Überlegungen zu dieser Gattung bislang angestellt wurden. Ohne dieses Fundament ist eine Beurteilung des Autobiographischen im Mittelalter nicht möglich. Es war hier allerdings kein Raum, um auf das grundsätzliche Problem der Gattungen und Textsorten einzugehen.[10]Andeutungen mußten auf diesem Feld genügen; immerhin hat sich die Bezeichnung Gattung für die "Autobiographie" durchgesetzt. In einer umfassenden Abhandlung über die Gattungsgeschichte deutschsprachiger Dichtung findet sich sogar das Stichwort "autobiographisches Lied" als Gattungsunterart der spätmittelhochdeutschen Lyrik.[11]

Das autobiographische Schreiben Oswalds von Wolkenstein kann nur vor dem Hintergrund seiner Situierung im Mittelalter adäquat beschrieben und untersucht werden. Autobiographisches hat als Subjekt und Objekt das gleiche Thema: Schreibender und Beschriebener sind im Sinne eines rein formalen Identitätsverhältnisses deckungsgleich. Damit gewinnt die Untersuchung des schreibenden Subjekts an Bedeutung. Deswegen wird im zweiten Teil auch ein allgemeiner Blick auf das Mittelalter geworfen und kurz einige Möglichkeiten der Forschung skizziert, sich dieser fernen Epoche und seinen Menschen anzunähern.

Um einer falschen Erwartung von vornherein entgegenzutreten: Vorliegende Arbeit wendet sich nicht dem einzelnen "autobiographischen Lied" zu, um dann direkt am Text entsprechende Einzeluntersuchungen vorzunehmen und Ergebnisse zu präsentieren. Es gibt zu Oswald zahlreiche Abhandlungen, die sich den einzelnen Liedern unter verschiedenen Fragestellungen nähern. Für das "autobiographische Lied" ist nach wie vor MÜLLER mit seinen detaillierten Einzeluntersuchungen zu den Reiseliedern maßgeblich sowie SCHWOBS Abhandlung zu den Gefangenschaftsliedern. Hier soll allerdings ein anderer Ansatz verfolgt werden, insofern das Autobiographische im Gattungszusammenhang betrachtet und eine "'Historisierung des Formbegriffs'"[12] vorgenommen wird, um zu allgemeineren Aussagen über die Bedeutung des "autobiographischen Liedes" im Gesamtwerk Oswalds von Wolkenstein zu gelangen.

Teil 1: Die Autobiographie als Gattung

A. Forschungsbericht zur Autobiographie

Die Anfänge der Erforschung von "Autobiographie" als eigenständiger Gattung, deren Eigentümlichkeit als noch zu entdecken und zu bestimmen erkannt wurde, setzen um 1900 ein.[13][14]Die Forschung beschränkte sich zunächst im wesentlichen auf das "klassische" Zeitalter der Autobiographie,[15]in welchem sie den Idealtypus dieser Gattung gefunden zu haben glaubte. Auch die neuere Forschungsliteratur betont beinahe einstimmig die große kulturhistorische Bedeutung der Autobiographien, die in jener Zeit entstanden sind und orientiert Theorien zur Gattung am klassischen Modell.[16]

Als Höhepunkt der Gattung wird - zumindest im deutschsprachigen Raum - Goethes Dichtung und Wahrheit angesehen; es gilt als Maßstab setzendes Werk, das die Gattung Autobiographie in ihrer reinsten Form darstelle. Goethe selbst bezeichnet seine Autobiographie im Vorwort noch als eine Biographie, was als Beweis dafür genommen werden kann, wie spät erst sich der Begriff "Autobiographie" als Gattungsname konkurenzlos durchsetzt.[17]Die Autobiographie-Forschung hat Goethes Lebensbeschreibung entweder als finalen Kulminationspunkt gedeutet, auf den die Entwicklungsgeschichte der Gattung zwangsläufig zusteuern mußte, oder sie sah in ihm den spätgeborenen Archetyp der Gattung. In beiden Fällen diente dieser Text als Maßstab für jedes Werk autobiographischen Charakters, sei es später oder auch früher entstanden.[18]

Im 19. Jahrhundert wurde die (Auto-)biographie vor allem von SCHOPENHAUER und HEGEL näher ins Auge gefaßt, und sie versuchten, die Biographie ästhetisch­philosophisch einzuordnen.

SCHOPENHAUER rechnet die Autobiographie der Geschichtsschreibung zu und mißt ihr großen Wert bei als "Mittel zur Erkenntnis des Wesens der Menschheit."[19]Er begreift die Autobiographie als in der Nähe der Dichtung stehende Form, welche "die Idee, das Wesen der Menschheit, außer aller Relation, außer aller Zeit [auffaßt als] die adäquate Objektität des Dinges an sich auf ihrer höchsten Stufe."[20]Damit löst SCHOPENHAUER die Autobiographie aus dem prosaisch-empirischen Rahmen der Geschichtsschreibung heraus, in welche sie Hegel eingegliedert hatte. Beharrt die faktengebundene Geschichte auf der "Wahrheit der Erscheinung", so die der Dichtkunst verwandte Autobiographie auf die "Wahrheit der Idee"[21], indem sie nämlich "das treu geschilderte Leben des einzelnen, in einer engen Sphäre, die Handlungsweise der Menschen in allen ihren Nuancen und Gestalten, die Trefflichkeit, Tugend, ja die Heiligkeit einzelner, die Verkehrtheit, Erbärmlichkeit, Tücke der meisten, die Ruchlosigkeit mancher" aufzeichnet.[22]Die Autobiographie durchbricht die Welt der Vorstellung und wird dergestalt eine Objektivation des Willens, welcher hinter allen Dingen steht und für den Menschen von der äußeren, sichtbaren Welt her nicht erfahrbar ist. Wie die Poesie stellt die Autobiographie den Willen auf dem Umweg über die Ideen dar. Die vom Geschichtsschreiber abgebildete Welt der Erscheinungen bleibt der Welt verhaftet, die vom Subjekt in seiner Vorstellung erzeugt wird.

HEGEL hingegen ordnet die Biographie der "prosaischen Darstellung”[23]der Historiographie zu. Aufgabe des Historikers ist nach HEGEL:

Die Entwicklung des menschlichen Daseins in Religion und Staat, die Begebenheiten und Schicksale der hervorragendsten Individuen und Völker, welche in diesen Gebieten von lebendiger Tätigkeit sind, große Zwecke ins Werk setzen oder ihr Unternehmen zugrunde gehen sehen: dieser Gegenstand und Inhalt der Geschichtserzählung kann für sich wichtig, gediegen und interessant sein, und wie sehr der Historiker auch bemüht sein muß, das wirklich Geschehene wiederzugeben, so hat er doch diesen bunten Inhalt der Charaktere und Begebnisse aufzunehmen und darzustellen. [Er] muß zugleich das Aufgefaßte ordnen, bilden und die einzelnen Züge, Vorfälle, Taten, so zusammenfassen und gruppieren, daß uns aus ihnen einerseits ein deutliches Bild der Nation, der Zeit, der äußeren Umstände und inneren Größe oder Schwäche der handelnden Individuen in charaktervoller Lebendigkeit entgegenspringt, andererseits aus allen Teilen ihr Zusammenhang hervorgeht, in welchem sie zu der inneren, geschichtlichen Bedeutung eines Volkes, einer Begebenheit usf. stehen.[24]

Während SCHOPENHAUER die Autobiographie zur Dichtkunst zählt, grenzt HEGEL die Lebensbeschreibung aus der Poesie aus. Weder für ein Geschichtswerk noch für eine Biographie dürfe die dichterisch Umdeutung konstitutiv werden: "Der Geschichtsschreiber nun hat nicht das Recht, diese prosaischen Charakterzüge seines Inhaltes auszulöschen oder in eine andere, poetische zu verwandeln; er muß erzählen, was vorliegt und wie es vorliegt, ohne umzudeuten und poetisch auszubilden."[25]

Wie der Geschichtsschreiber ist auch der Biograph dem faktengebundenen Schreiben verpflichtet. Biographie als Geschichtsschreibung ist konstituiert durch das Individuum und "die Begebenheiten, in die es verwickelt wird."[26]Beide Elemente verbinden sich dialektisch zu einer neuen Einheit. Auch der Dichter als Verfasser seiner (Auto-)biographie ist an das "wie" und das "was" der Geschichtsschreibung gebunden:

Denn obschon [ein geschichtlicher Charakter] eine subjektive Einheit abgibt, so tun sich dennoch auf der anderen Seite mannigfaltige Begebenheiten [...] hervor, die teils für sich ohne inneren Zusammenhang sind, teils das Individuum ohne freies Zutun desselben berühren und es in diese Äußerlichkeit hineinziehen. Steigt nun der Dichter [...] in die absoluten Gründe für das Geschehen hinunter, [...] so darf er sich dennoch in Rücksicht auf die reale Gestalt der Gegebenheit nicht das Vorrecht der Dichtkunst erlauben.[27]

Die Biographie soll aus verifizierbaren Fakten bestehen und ist als "empirische" Gattung von der Dichtkunst scharf zu sondern.

Nach diesen ersten Versuchen, die (Auto-)biographie ästhetisch-philosophisch einzuordnen, entwickelte der Hegel-Schüler DILTHEY die erste philosophische Theorie der Textsorte als Gattung. In seiner Grundlegung der Geisteswissenschaften und ihrer Hermeneutik deutet er die Autobi ographie als ein Paradi gma geisteswissenschaftlichen Verstehens und als wesentliches Zeugnis historischer Vorgänge:

Hier faßt das Selbst seinen Lebensverlauf so auf, daß es sich die menschlichen Substrate, geschichtlichen Beziehungen, in die es verwebt ist, zum Bewußtsein bringt. So kann sich schließlich die Selbstbiographie zu einem historische Gemälde erweitern; und nur das gibt demselben die Schranke, aber auch seine Bedeutung, daß es vom Erleben getragen ist und von dieser Tiefe aus das eigene Selbst und dessen Beziehungen zur Welt sich verständlich macht. Die Besinnung eines Menschen über sich selbst bleibt Richtpunkt und Grundlage.[28]

DILTHEYS Würdigung der Autobiographie als selbständiger literarischer Form und als Dokument historischen Verstehens wird auch von seinem Schüler MISCH geteilt. In seiner umfassenden Geschichte der Autobiographie verfolgt er den Ansatz, die Autobiographien als Zeugnisse historischen Bewußtseins aufzufassen, versteht sie darüber hinaus auch als "Zeugnisse für die Entwicklung des Persönlichkeitsbewußtseins der abendländischen Menschheit.”[29] MISCH bedient sich eines sehr weiten Begriffes von Autobiographie. Eine Definition der Gattung wird nicht geleistet und bleibt im etwas hilflos anmutenden Versuch stecken: Die Autobiographie "läßt sich kaum näher bestimmen als durch Erläuterung dessen, was der Ausdruck besagt: die Beschreibung (graphia) des Lebens (bios) eines Einzelmenschen durch diesen selbst (auto)." [30]

Entsprechend seiner Auffassung von der Geschichte der Autobiographie als "einer Geschichte des menschlichen Selbstbewußtseins"[31]behandelt er eine beeindruckende Anzahl von Einzelwerken im Rahmen dieser übergeordneten geistesgeschichtlichen Fragestellung, die noch ganz DILTHEYS "individualgeschichtlicher Weltanschauung verpflichtet" ist.[32]

Dieser Ansatz wird auch in den Gesamt- und Epochendarstellungen der 20er Jahre verfolgt und dahingehend ausgeweitet, allgemeine kulturgeschichtliche Erkenntnisse aus den historischen Materialien zu gewinnen.[33] Die Autobiographie wird als Selbstzeugnis und damit als Dokument einer authentischen Wirklichkeit angesehen. Wichtig ist, daß in dieser Zeit nun auch zwischen Autobiographie und Memoiren unterschieden wird; es werden gattungsspezifische Merkmale herausgearbeitet, ohne daß allerdings gattungstheoretische Überlegungen angestellt werden. Neuere Untersuchungen zur Autobiographie als literarischer Gattung beschäftigen sich mit theoretischen Fragestellungen zu Struktur und Form. NEUMANNS Versuch ist dafür repräsentativ.[34] Er beruft sich auf MISCHS Ansatz, wenn er die Geschichte der Autobiographie als "Geschichte der menschlichen Individuation”[35]versteht, entwickelt daraus aber eine sozialpsychologische Sicht auf die Autobiographie. Individuation und Ausbildung von Identität sind das Ergebnis gesellschaftlicher Vorgänge. Mit Erreichen der Identität übernimmt ein Individuum eine soziale Rolle. Den Begriffen "Identität" und "Rolle" ordnet NEUMANN "Autobiographie" und "Memoiren" zu: "

Die Autobiographie beschreibt das Leben des noch nicht sozialisierten Menschen, die Geschichte seines Werdens und seiner Bildung, seines Hineinwachsens in die Gesellschaft. Memoiren setzen eigentlich erst mit dem Erreichen der Identität ein, die Autobiographie endet dort.[36]

Den historisch-gesellschaftlichen Kontext autobiographischen Schreibens berücksichtigt auch SLOTERDIJK in seiner Behandlung der Autobiographik der 20er Jahre. Die Autobiographie wird als "geeignete literarische Gattung, in der man den Zusammenhang der Person mit ihrer Umwelt und die Abhängigkeit des individuellen Werks von den jeweiligen historischen Umständen am deutlichsten nachweisen kann" beurteilt.[37]SLOTERDIJK unterscheidet zwei Formen der Autobiographie zu Beginn des 20.Jahrhunderts: die sachlichen Lebenserinnerungen proletarischer Autoren und die reflektierten Selbstdarstellungen bürgerlicher Verfasser.

Ebenso untersuchen MÜNCHOW und EMMERICH die in der Forschung bisher vernachlässigte Arbeiterliteratur und den Wandel, den die Autobiographie seit Ende des 19.Jahrhunderts in Form und Thematik erlebt.[38]

In jüngster Zeit werden die Untersuchungen zur Arbeiterautobiographik durch generelle Überlegungen zur Erfassung der popularen Autobiographik im Rahmen einer Historischen Anthropologie ergänzt, um diese "lebensgeschichtlichen Äußerungen" stärker der Historiographie nutzbar zu machen.[39] In diesem Zweig der Autobiographie-Forschung wird die Meinung vertreten, daß Autobiographie der Ort sei, "an dem Anthropologie evident wird. Anthropologie wird hier zum ersichtlichen, ästhetisch erfahrbaren und zum unmittelbar verständlichen Wissen über uns Menschen."[40]

Gerade die Hinwendung der Forschung zu Formen der Selbstdarstellung, die ohne künstlerischen Anspruch auftreten, hat in jüngster Zeit die Frage aufgeworfen, ob es nicht sinnvoll sei, den Begriff "Autobiographie" unter dem weitläufigeren der "Ego-Dokumente" zu subsumieren. LEJEUNE hat darauf hingewiesen, daß die Untersuchungen der Gattung Autobiographie vor allem von diesen terminologischen Problem abhängen.[41]In dieser Beziehung ist die Forschung noch unentschieden, die Diskussion über eine angemessene Begrifflichkeit steht erst am Anfang.[42]

Der Hauptaugenmerk der literaturwissenschaftlichen Forschung richtet sich jedoch nach wie vor auf kanonisierte Texte des 18. und 19.Jahrhunderts.

PASCAL be handel t i n ers ter Li ni e di e " kl as s i s che" Autobiographie des 18.Jahrhunderts und erarbeitet an ihr Form- und Strukturmerkmale eines Idealtypus, den er dann wie ein Raster als Maßstab anderen Autobiographien unterlegt. Mit diesem Verfahren will PASCAL die These MISCHS widerlegen, daß sich die Autobiographie einer gattungstheoretischen Festlegung entziehe.[43]

LEJEUNE entwickelt ebenso wie PASCAL zunächst formale Gesichtspunkte, die er dann als Kriterien an exemplarische Texte, vor allem Rousseau, anlegt, um grundsätzliche Probleme der Autobiographie zu erläutern. Er erliegt dabei dem Zirkelschluß, ein Modell der Autobiographie aus den Texten zu destillieren, an welche er hernach ebendies Modell als Maßstab anlegt. Im Gegensatz zu PASCAL betont LEJEUNE aber stärker den Sprachcharakter der Texte, in denen sprachliches Handeln einen "autobiographischen Pakt" als Identität von Autor, Erzähler und Protagonist konstituierte und als gesellschaftliche Konvention konkretisiert würde.[44]

Auch BRUSS wendet sich der Autobiographie als sprachliche Erscheinung zu. Auf der Grundlage der linguistischen Sprechakttheorie erarbeitet BRUSS Aussagen von allgemeiner Bedeutung zur Autobiographie innerhalb eines unter bestimmten Voraussetzungen funktionierenden Literatursystems. Vor allem weist die Autorin auf die Variabilität der Gattung hin und auf den hochkomplexen literarisch-sprachlichen Akt, der notwendig ist, um die Autobiographie als Gattung zu konstituieren.[45]

Eine weitere Richtung in der Forschung ist der Vergleich der Autobiographie mit anderen Gattungen.[46]Auf diese Weise wird versucht, die Grenze zwischen den Gattungen aufzulösen, bzw. das Verhältnis der Autobiographie zur Dichtung darzustellen.

Ein anderer zu erwähnender Zweig der Forschung befaßt sich mit den soziologischen und psychologischen Grundlagen des Schreibens. Die Autobiographie wird als Ausdruck sozialer Eingebundenheit, als analysierende Selbstbeobachtung und Aufzeichnung biologischer und psychischer Entwicklungsphasen untersucht. Damit wird die Autobiographieforschung als Beitrag zur historischen Psychologieforschung verstanden, die als historische Hilfswissenschaft Grundlagen zum Verständnis der Identität und Individualität des geschichtlichen Subjekts bereitstellt.[47]

Zusammenfassend lassen sich vor allem drei Grundtendenzen innerhalb der Forschung ausmachen: Zum einen handelt es sich um gattungsgeschichtliche Gesamtdarstellungen, die rein inhaltsbezogen argumentieren, ohne historische oder sozialgeschichtliche Zusammenhänge zu berücksichtigen, zum anderen gibt es gattungstheoretische Abhandlungen, die am Modell der "klassischen" Autobiographie Konstituenten und Strukturen herausarbeiten und gattungsgeschichtliche Entwicklungen außer acht lassen. Die dritte Tendenz findet sich in den Überlegungen theoretischer Art zur Neubestimmung des Gattungsbegriffes und zu Möglichkeiten und Grenzen einer Geschichtsschreibung der Gattung.

B. Zur Entwicklung der Autobiographik - Stationen der Gattungsgeschichte

Der Begriff "Autobiographie" ist ein verhältnismäßig junger Terminus und läßt sich nach VOISINE erstmals 1809 als "autobiography" in einer Veröffentlichung der Quarterly Review ausmachen.[48][49]Im Deutschen taucht er das erste Mal im Titel einer durch J.G. Herder angeregten Sammlung und Edition von Selbstbiographien berühmter Männer auf, die von David Christian Seybold bearbeitet wurde und 1796 erschien.[50]Dort enthält der Begriff allerdings noch die deutsche Vorsilbe.

Die Scheidung von Selbstbiographie und Biographie setzt sich erst langsam durch; ebenso die Dominanz des "Autobiographie"-Begriffs, der sich erst im Verlaufe des 19. Jahrhunderts gegen "gleichmeinende Begriffe wie 'Leben', 'Lebensbeschreibung', 'Konfession', ’(Selbst-)bekenntnis' [...], 'Erinnerungen' oder 'Denkwürdigkeiten'" durchsetzt.[51]

Die Autobiographie wird in der Forschung als rein europäische Gattung gehandelt, als "Schöpfung der abendländischen Kultur"[52]. Als Vorläufer der Autobiographie, die mit den Confessiones des Augustinus aus dem Jahr 397 n.Chr. beginnt,[53]gelten selbstbiographische Schriften der griechisch-römischen Antike über Ereignisse des persönlichen Alltags. Aus diesem Bereich werden vor allem immer wieder die paulinischen Schriften als Beleg für autobiographisches Schreiben genannt. Es handelt sich dabei um Sendbriefe des Apostels Paulus an die frühchristlichen Gemeinden, worin der Konvertit sein persönliches Glaubenserlebnis und seine Reisen beschreibt.[54]

1. Die religiöse Autobiographik

a) Die Confessiones des Augustinus

Hinter den Confessiones des Augustinus[55] erkennt man die christliche Tradition des Beichtbekenntnisses, die über Paulus in das Alte Testament zurückreicht. "Im Zusammenhang mit dieser Tradition gesehen, erscheint die

Autobiographie als ein Produkt der religiösen Innerlichkeit, für die die christliche Übung der Gewissensprüfung charakteristisch ist.”[56]Die

"Bekenntnisse" von Augustinus werden in der Folgezeit scheinbar Vorbild für Werke mit autobiographischem Charakter, die vor allem in der Zeit der Mystik eine Blüte erleben.

In seiner Selbstbiographie zeichnet Augustinus den Weg eines Sünders zu Gott nach, schildert die

Vereinigung der Seele mit Gott. Äußere Ereignisse auf diesem Weg zum Heil werden zu Stationen der inneren Entwicklung, des geistigen Wachstums. Augustinus wurde die innerliche Abwendung von seinem bisherigen Dasein, von all dem, was an Glück und Leidenschaft und Wünschen ihn so mächtig in der Welt gehalten hatte, zum Ausgangspunkt einer Selbstbesinnung, welche bis in die Epoche seiner theologischen Kämpfe im Mittelpunkt seiner Lebensarbeit blieb und ihm in dem einsamen Dasein, das er sich erwählt hatte, das Verständnis seiner religiös-sittlichen Erfahrung und des wahren Gehalts seiner Existenz erringen sollte.[57]

Im Mittelpunkt der Selbstdarstellung steht Augustinus’ Bekehrungserlebnis als religiöse Erweckung, die innere und äußere Wandlung des Sünders zum

Gläubigen. Das Gesehen konzentriert sich ganz auf die eigene Person und stellt den immanenten "Spiegel der [transzendenten] göttlichen Führung" dar.[58]

Das Leben des Augustinus, so wie er es dem Leser in seinen Confessiones schildert, ist eine Entwicklung hin zu Gott, die eine Bewegung weg von weltlichen, vergänglichen Inhalten impliziert. Das Ziel der Selbstdarstellung ist es, ein Zeugnis Gottes abzulegen und zu beschreiben, "wie er den manichäischen Dualismus aufgegeben und die Einsicht gewonnen hat, daß die irdische Welt trotz aller menschlichen Schwächen ein Sinnbild der Güte ihres Schöpfers ist."[59]

Die autobiographischen Schriften der Folgezeit, zwischen dem 7.Jahrhundert und dem Hochmittelalter, übernehmen antike Formen und Traditionen, füllen sie mit dem Gehalt des christlichen Glaubens, so daß die 'Selbstbiographien' weitgehend Bestandteil des christlichen Schrifttums bleiben.

b) Die deutsche Mystik

Die Mystik wurde begriffen als der Weg zur Loslösung vom "irdischen Jammertal” und zur Vereinigung mit Gott. Die Viten, Legenden und mystischen Abhandlungen sind geprägt von tiefer Innerlichkeit und Seelenschau. Im Zentrum steht immer das Erlebnis mystischer Entrücktheit. Die konkrete Wirklichkeit wird nur aufgenommen, um die Abkehr von ihr umso deutlicher zu machen.

Während bei Augustinus der Akt der Bekehrung zum Glauben Dreh- und Angelpunkt der Selbstdarstellung war, ist nun dieses Ereignis des "Ich glaube" erst der Ausgangspunkt für den religiösen Prozeß der Abkehr von der Welt. Die Visionsbücher der Hildegart von Bingen (+1178), Elisabeth von Schönau (+1164) und Mechthild von Magdeburg (+1277) sind von geringer selbstbiographischer Natur, als vielmehr Darstellungen persönlicher Kämpfe im Glauben und Schilderungen körperlicher und geistiger Zustände.[60] Die mystischen Visionen dominieren gegenüber einer zusammenhängenderen Schilderung des eigenen Lebens.

Mit Margareta Ebners (+1351) Darstellung physischer und psychischer Erlebnisse zieht nun auch die analysierende Beobachtung körperlicher und geistiger Zustände in die Niederschriften ein.

Heinrich Seuse (1300-1366) erweitert in seinen Deutschen Schriften die Selbstdarstellung von visionären Offenbarungen zu analytischen Erörterungen über das eigene Seelenleben. Die eigene Biographie wird nicht als umfassendes Ganzes betrachtet, vielmehr werden nur Momente, die exemplarischen Charakter haben, herausgegriffen. Seuse hat kleine Einzelstücke, deren Wirklichkeit nicht irdischer Natur ist, sondern nur noch in Gottes Geist begriffen werden,[61] zu einem komplexen Ganzen zusammengesetzt, das seine "Seelengeschichte" beinhaltet.[62]

2. Die weltliche Autobiographik

Gegen Ende des 14.Jahrhunderts[63] verliert die mystische Bewegung an Bedeutung. Parallel dazu gewinnt die Autobiographie eine neue Funktion als Abspiegelung des äußeren Lebens. So entstehen Selbstbiographien, die das Rittertum verherrlichen,[64]bzw. lyrische Selbstdarstellungen nach dem Muster des höfischen Epos und Minnesangs. Hier ist vor allem der Frauendienst des Ulrich von Lichtenstein aus dem Jahre 1255 zu nennen. Dort kommt die Lebensordnung des Minnedienstes zur Darstellung, "wobei nur wenige hist. Fakten einbezogen werden.”[65]Wo die eingeschobenen Lieder die Seelenzustände nicht erfassen, sind Abschnitte eingeschoben, in denen der Dichter über seine Gemütsvorgänge räsoniert.

Die Vita Kaiser Karls IV. (1316-78) ist das erste Beispiel für eine monarchische Autobiographie. Der Verfasser macht sich und sein Leben zum Vorbild für seine Leser:

Das Exempel des eigenen Lebens wird in eine doppelte Verweisstruktur geordnet, zum einen in der Selbstdarstellung als unmittelbares Vorbild für den Thronfolger, zum anderen in der vermittelten Beziehung auf die göttliche Instanz, die hinter der Exemplarik der eigenen Lebensgeschichte als deren metaphysische Sinnquelle steht.[66]

Hier sind die religiösen Wurzeln nämlich die Darstellung der Allmacht Gottes, der das irdische Leben regiert. Unverkennbar rückt aber der handelnde Mensch in den Mittelpunkt der Betrachtung.

Auch Reisebeschreibungen von Pilgerreisen ins Heilige Land, von Handelsreisen oder von militärischen Expeditionen erfahren eine Erweiterung durch die einfließenden subjektiven Eindrücke und Erlebnisse.

3. Renaissance und Barock

Die Gattungsgenesis [...] findet[67] erst in der Renaissance statt, läßt sich aber nicht als creatio ex nihilo verstehen, sondern ist nur denkbar als Kristallisationsprozeß, in dessen Verlauf aus älteren Formen der Sprech- und Schriftkultur ein Typus sich abhebt, für den die lebensgeschichtliche Selbstdarstellung zum dominierenden Merkmal wird und der sich von der Anlehnung an ältere, zunächst als Vehikel dienende Schriftpraktiken lösen kann.[68]

Die literarischen 'Vorformen' der Gattung im Mittelalter werden zu einer Vielfalt von Darstellungsformen multipliziert. Es finden sich gelehrte Selbstdarstellungen der Humanisten, apologetische Schriften, die von religiösen und wissenschaftlichen Anschauungen zu überzeugen versuchen, Haus- und Familienchroniken und Künstlerbiographien. Nach MISCH ist die gebräuchlichste Form der Selbstdarstellung der Brief. Am Anfang dieser Tradition steht Petrarcas Brief an die Nachwelt, der sich aus Lebenslauf und analytischer Selbstcharakterisierung zusammensetzt.[69]

MISCH und SLOTERDIJK betonen übereinstimmend das gestärkte Selbstbewußtsein der Bürger und deren neue Erfahrung der eigenen Individualität. Die Selbstbiographie gewinnt eine neue Bedeutung als "Ausdrucksmittel für die freie Selbständigkeit des einzelnen Menschen."[70]

Die Epoche des Barock ist tief geprägt vom Dreißigjährigen Krieg. In diesem Zeitraum ist eine Rückentwicklung der Autobiographik zu erkennen.[71]Das Selbstbewußtsein des Renaissancemenschen ist umgeschlagen in Gehorsam, Glaubenskonservatismus, in Weltflucht und in eine vom Vanitasgedanken geprägte Welt- und Lebenseinstellung. Der Mensch des Barock steht in einer polaren Grundspannung zwischen Diesseits- und Jenseitssehnsucht, zwischen derber Lebensfreude und asketischer Lebensverachtung, zwischen "carpe diem" und "memento mori". Auch die autobiographischen Werke sind durch einen thematischen Dualismus bestimmt: Schriften, die auf die Innerlichkeit hin orientiert sind, stehen wissenschaftlich oder pietistisch ausgerichteten Werken gegenüber.

4. Die religiöse Autobiographik des Pietismus

Im Pietismus wird die Autobiographie wieder zum Spiegel der Seele. Eigene Gefühlsregungen im Zusammenhang mit religiöser Selbsterfahrung werden genau registriert, so daß mit dem Pietismus eine ungeheure Verfeinerung der Selbstbeobachtung einherging, welche "die Gefühls- und Seelenzustände [ . . . ] immer sicherer und schärfer nicht bloß aufzufassen, sondern auch wiederzugeben [vermag], denn die Berichte [...] über die eigenen Seelenerlebnisse [sind] ja ein Hauptbestandteil des erbaulichen Verkehrs der Frommen untereinander."[72]

Die so entstandene "Bekenntnisliteratur" stellt eine "Wiederbelebung der augustinischen Tradition" dar. Allerdings "erscheint dieses Muster jetzt verwandelt in eine gedrängte, fast ängstliche Gestalt."[73]

Die autobiographische Literatur ist bestimmt von Bekehrungserlebnissen und -erzählungen. Äußere Lebensdaten bilden das Gerüst der pietistischen Autobiographie, wodurch das weltliche Leben Eingang in die Bekenntnisliteratur findet. Allmählich entstehen weltliche Lebensläufe mit religiösen Motiven. Mit der Zeit wird der Beichtcharakter der religiösen Autobiographie abgebaut und die Inhalte unterliegen einer langsam sich vollziehenden "Säkularisierung".[74]

5. Die klassische Zeit der Autobiographie

Im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts vollzieht sich die im Pietismus bereits angedeutete Verweltlichung der Autobiographie, womit ein "Dominanzwechsel" von der bekennenden zur erzählenden Autobiographie einhergeht.[75]Die Publikationsdichte steigert sich rasant, so daß man aus Messekatalogen der Jahre 1790-97 eine Zunahme der Veröffentlichungen autobiographischer Schriften von etwa 400 Prozent ablesen kann.[76]

Das ausgehende 18.Jahrhundert und die Jahre bis 1822 (Fertigstellung von Dichtung und Wahrheit) werden als die Klassik und Blütezei t der Autobiographie all gemein anerkannt. Synoptisch werden in den Autobiographien nun die Persönlichkeit, ihre Entfaltung, historische Ereignisse und weltanschauliche Standpunkte betrachtet. Vor allem macht sich eine tiefgehende Analyse und Beobachtung psychischer Vorgänge bemerkbar, eine "ungebremste Artikulation physischer und psychischer Abnormitäten, mittels derer die zeitgenössischen Autobiographien die Aufmerksamkeit einer sich ständig vermehrenden Leserschaft zu fesseln suchen."[77]Mit der Entdeckung der Vielschichtigkeit der menschlichen Psyche wird das bis zum Pietismus nur unter religiösen Gesichtspunkten betrachtete Individuum in seiner Bindung an die reale, äußere Welt und in seinem Entwicklungsprozeß gezeigt, was auch zu einer Wandlung der Erzählstruktur führt.[78]

Mit der Erfassung des Menschen als einem von der Außenwelt und Anlage bestimmten Wesen verändert sich in der Autobiographie die Art der Darstellung des Individuums. Ebenfalls wird nun das Verhältnis des Verfassers zur Gesellschaft mitreflektiert und dargestellt.

Während sich Goethe seinen autobiographischen Studien widmet (Übersetzung von Cellinis Autobiographie, 1796/97), erkennt er die Bedeutung der "Dimension des Geschichtlichen für die Autobiographie."[79]

Im Vorwort zu seiner Selbstbiographie Dichtung und Wahrheit (1811-22) teilt GOETHE dem Leser seine gattungstheoretischen Überlegung mit:

Denn dies scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen und zu zeigen, in wiefern ihm das Ganze widerstrebt, in wiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet, und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt.[80]

Goethes Konzeption der Autobiographie als Wechselwirkung von Gesellschaft und Individuum und der ungeheure Erfolg, den der Auszug aus seinem Leben erfuhr, hat die Forschung zu apodiktischen Sätzen wie folgendem verleitet: "Jede Autobiographie beschreibt die spezifische Art, in der ihr Autor am Gesellschaftsganzen teilhatte oder teilhat."[81]

Gegenüber solch verallgemeinernden Aussagen ist kritisch anzumerken, daß sich nicht jede Autobiographie in das Korsett der Polarität Individuum - Gesellschaft zwängen läßt. Wie überhaupt die am Goethe’sehen Modell gewonnenen Erkenntnisse in einem gewißen Sinne eher kontraproduktiv auf die Erforschung des Autobiographischen gewirkt haben, insofern nämlieh der Weg einer umfassenden, vorurteilslosen Analyse autobiographischen Schrifttums immer von literarischen Wertungen, ausgehend vom Vorbild Dichtung und Wahrheit, verstellt wurde.

Die im 18. und 19.Jahrhundert erkennbare Tendenz, sich in der Autobiographie mit gesellschaftlichen Problemen auseinanderzusetzen, erfährt im Laufe der Zeit eine Umorientierung, so daß verstärkt individuell­existenzielle Lebensprobleme, die eher psychoanalytisch denn historisch-gesellschaftlich zu interpretieren sind, in den Autobiographien zum Ausdruck kommen.[82] Ohne daß die gesellschaftlichen Bezüge zur Disposition gestellt würden, kommen fundamentale Existenzprobleme zur Sprache, die jenseits von konkreten gesellschaftlichen Bedingungen immer latent vorhanden sind.

Die oben zitierte Forschungsmeinung ist ein Beweis, der die These untermauert, die im Forschungsbericht aufgestellt wurde: daß nämlich am Modell der "klassischen Autobiographie” gewonnene Erkenntnisse auf autobiographisches Schreiben vor und nach Goethe unkritisch und generalisierend übertragen werden. Gerade im 18.Jahrhundert jedoch ist die Formenvielfalt des Autobiographischen beeindruckend: Neben Apologien, die dem Bedürfnis nach Selbstrechtfertigung entspringen, neben psychologischen Selbstanalysen und literarischen Selbstdarstellungen finden sich ungeschminkte Selbstentblößungen psychischer und physischer Krankheitsbilder, ein "sich zur Schau stellen", das dem Wunsch nach kommerzieller Verwertung der eigenen Lebensgeschichte entspringt. Für einen Zeitgenossen Grund genug vom Verfall der Gattung zu reden, die seiner Ansicht nach zu einem "Gruselkabinett herabgesunken" sei.[83]

Alle Formen aber verbindet die Tendenz, das erzählte Leben zu deuten. Das heißt, daß das erzählende Ich nicht mehr allein sich lediglich erinnert, sondern sich auch reflektiert. Die Autobiographie sprengt nun den bisher üblichen Rahmen der persönlichen Erinnerung und wird zu einem Charakterbild, das eine Entwicklung nachzeichnet, welche von der Außenwelt mitbestimmt ist:

Das allen gemeinsam Neue ist - ungeachtet gelegentlicher Anfälle von Selbstgefälligkeit und -huldigung - ein hingebungsvoller und doch objektiver Umgang mit dem eigenen, geheimen Ich, eine eingenommene, jedoch nicht voreingenommene Enträtselung seiner Einzigartigkeit, eine Art von Staunen und Ehrfurcht vor sich selbst, gleichzeitig auch die Wahrnehmung, daß zu dieser Einzigartigkeit, die der Lebensumstände hinzugehört, aus der sich die Aufmerksamkeit auf die im Erlebnis erfahrene konkrete Wirklichkeit ergibt.[84]

In den Untersuchungen zur klassischen Autobiographie stehen zwei Texte oft im Zentrum des Interesses. Da es für die Bewertung und Beurteilung der autobiographischen Schreibweise von Bedeutung ist, wie gerade in diesen Texten in künstlerischer Weise Identität und Wahrheit neu erschaffen werden, soll ein kurzer Blick auf Rousseau und Goethe die Ausführungen zur "klassischen Autobiographie” abrunden.[85]

a) Jean-Jacques Rousseau: Confessiones (1766/70)

Die "Selbstbekenntnisse” des Philosophen Rousseau sind eine Art Lebensbeichte und Schuldbekenntnis, "die deutliche Enthüllung eines maßlosen Selbstgefühls, der radikalen Subjektivität, die in der Form der empfindsam getrübten Eitelkeit sichtbar wird.”[86]Die in Titel und Thematik an Augustinus orientierte Selbstbiographie geht in ihrer radikalen und überzogenen Selbstentblößung weit über die spätantiken Confessiones hinaus: Rousseau verfolgt die Absicht, sich in seinen Fehlern, Schwächen und Empfindungen dem Leser "durchsichtig" zu machen. Allerdings gibt er zu, den eigenen Charakter nicht nur so zu schildern, wie er wirklich ist, sondern sich auch so zu präsentieren, wie er nicht ist bzw. wie er sein möchte. "Schreibend sich erinnernd, wird er nun der, als den er sich entwirft."[87]

Rousseau entblößt sich nicht nur, er rechtfertigt sein Tun auch vor dem Leser und der Nachwelt. So wechseln Offenheit, Reue, Rechtfertigung und ein neu gestärktes Selbstbewußtsein einander ab. Es handelt sich also nicht um eine Lebensbeichte im pietistischen Sinne, um den Bericht von einem durch den Glauben geläuterten Dasein, sondern um die Suche nach dem eigenen, wahren Ich.[88]

b) Johann Wolfgang von Goethe: Dichtung und Wahrheit

Was den freilich einigermaßen paradoxen Titel der Vertraulichkeiten aus meinem Leben Wahrheit und Dichtung betrifft, so ward derselbige durch die Erfahrung veranlaßt, daß das Publikum immer an der Wahrhaftigkeit solcher biographischen Versuche einigen Zweifel hege. Diesem zu begegnen, bekannte ich mich zu einer Art von Fiktion, gewissermaßen ohne Not, durch einen gewissen Widerspruchsgeist getrieben, denn es war mein ernstestes Bestreben das eigentlich Grundwahre, das, insofern ich es einsah, in meinem Leben obgewaltet hatte, möglichst darzustellen und auszudrücken. Wenn aber ein solches in späteren Jahren nicht möglich ist, ohne die Rückerinnerung und also die Einbildungskraft wirken zu lassen, und man also immer in den Fall kommt gewissermaßen das dichterische Vermögen auszuüben, so ist es klar, daß man mehr die Resultate und, wie wir uns das Vergangene jetzt denken, als die Einzelheiten, wie sie sich damals ereigneten, aufstellen und hervorheben werde. [...] Dieses alles, was dem Erzählenden und der Erzählung angehört, habe ich hier unter dem Worte: Dichtung begriffen, um mich des Wahren, dessen ich mir bewußt war, zu meinem Zweck bedienen zu können.[89]

In dieser Stelle aus dem Brief an König Ludwig I. von Bayern vom 12. Januar 1830 erläutert Goethe seine Zielsetzung, die er im Titel der Autobiographie bereits zum Ausdruck bringt: Mit der Selbstbiographie soll kein faktengebundener Rechenschaftsbericht vorgelegt werden (wie Hegel es fordert), sondern die dichterische Aufarbeitung des vergangenen Lebens geschaffen werden. Goethe spricht auch ein Hauptproblem autobiographischen Schreibens an: Die lückenhafte Erinnerung erlaubt es nicht, zurückliegende Ereignisse und Entwicklungen gemäß ihres realen Ablaufs detailliert zu vergegenwärtigen.[90]Der Verfasser ist gezwungen, die "Resultate", wie sie sich ihm zum Zeitpunkt der Niederschrift präsentieren, wiederzugeben. Nicht das Detail, sondern das "Grundwahre", die eigentliche Wirklichkeit, wird unter Herauslösung aus den Fakten dargestellt: "Es sind lauter Resultate meines Lebens, [...] und die erzählten einzelnen Fakta dienen bloß, um eine allgemeine Beobachtung, eine höhere Wahrheit zu bestätigen. [...] Ich dächte [...], es steckten darin einige Symbole des Menschenlebens.”[91]Dichtung ist also keinesfalls Erfindung, sondern gibt einer Selbstdarstellung die Möglichkeit, über sich hinauszuweisen und Grundfragen des menschlichen Seins am repräsentativen Einzelfall aufzuzeigen. Hier liegt das Neuartige der Autobiographie: Goethe verallgemeinert das private Erlebnis und verleiht ihm mittels der Fiktion die Dimension einer menschlichen Grunderfahrung. Durch ”die Einbeziehung möglicher Erfahrungen, die nur im Rahmen der Fiktion zu leisten war [...], kann die Dichtung [...] die eigentliche Wahrheit des Lebens deutlicher zur Anschauung bringen als die Autobiographie, die durch die vorgegebene Faktizität nur in der Reflexion und im Kommentar den Zwang des Tatsächlichen relativieren kann.”[92]Fiktion ermöglicht die Abstrahierung vom eigenen Ich dort, wo das "Grundwahre" der Menschheit zum Ausdruck kommen soll.[93]

Die Abstrahierung vom Ich hat zur Folge, daß direkte Selbstcharakterisierungen und Deutungen des eigenen Handelns im Sinne von "Bekenntnissen" wegfallen. Die Autobiographie hingegen setzt sich aus einer Fülle von Schilderungen von Landschaften, Orten und geschichtlichen Ereignissen, Personencharakterisierungen und Betrachtungen über die Gesellschaft, Geschichte, Religion, Literatur und die eigenen literarischen Werke zusammen.

Alle Einflüsse, die den Dichter geprägt haben, werden aufgezählt. Das Hauptgewicht des Lebensbildes liegt auf der Beschreibung "seiner kritischen Empfänglichkeit für nur alle denkbaren künstlerischen, wissenschaftlichen, philosophischen und religiösen Bestrebungen der Zeit wie seines ebenso lebendigen und tätigen Eingreifens in die Außenwelt."[94]

Goethes Lebensbeschreibung erweckt den Eindruck einer harmonischen Entwicklung, entsprechend der im Ersten Buch einleitend dargelegten günstigen Konstellation der Gestirne während der Geburtsstunde.[95]Die Art, wie die persönliche Entwicklung dargestellt wird, folgt "dem Schema des Bildungsromans"; das Feld der Autobiographie "ist entsprechend die Wechselbestimmung von Ich und Welt, ihr Anspruch, den Lebenszusammenhang eines Individuums als Bildungszusammenhang nicht nur dieses Einzelschicksals, sondern ebenso der großen geschichtlichen und gesellschaftlichen Bewegung zu zeigen mit dem das Einzelschicksal verflochten ist."[96]Die Wechselwirkung zwischen Ich und Welt wird am Schluß durch das "Dämonische" erweitert. Mit diesem Begriff bezeichnet Goethe nicht Vorsehung, Zufall oder benennbare Mächte, sondern eine sich dem rationalen Zugriff entziehende, das Leben in seinem Verlauf mitbestimmende Potenz.

In der Forschung wird Goethes Dichtung und Wahrheit als Höhepunkt der Entwicklung der Selbstbiographie bewertet. Ihre Bedeutung läge darin, daß sie durch die Einarbeitung einer fiktionalen Wahrheit, "die Erzählmöglichkeiten der zeitgenössischen epischen Form uneingeschränkt für die Autobiographie gewonnen [habe], ohne daß diese auf sie festgelegt wäre und prinzipiell zum autobiographischen Roman würde."[97]Hier ist aber hinzuzufügen, daß damals die Literarisierung der autobiographischen Form begrenzt war, weil die biographische und realistische Orientierung der Autobiographie das fiktionale Erzählen einschränkte. In diesem Punkt stellt Goethes Selbstbiographie einen Höhepunkt dar, denn eine Weiterentwicklung dieser fiktionalisierten Erzählform wäre im Bereich der Autobiographie damals nicht möglich gewesen, ohne daß diese Gattung in andere, mit Fiktionen stärker arbeitende Erzählformen übergegangen wäre. Erst im 20.Jahrhundert wird die Gattung der Autobiographie so frei, auch mit disparatesten Elementen zu arbeiten, Fiktionen einzuschreiben und das Spiel mit Identität, Wahrheit und Fiktion auf den Höhepunkt zu treiben.

6. Autobiographik im 19. und 20. Jahrhundert

Im 19. Jahrhundert verlagert sich der Schwerpunkt innerhalb der Gattung Autobiographie hin zu den Memoiren, "also zur Vermittlung objektiver Erfahrungen von historischer und kulturhistorischer Bedeutsamkeit im Horizont individuellen Erlebens”.[98]Politiker, Staatsmänner, Künstler und Geistliche veröffentlichen ihre Lebenserinnerungen. Das Ich tritt als zu beschreibender Gegenstand zurück und wird zum beobachtenden Medium einer miterlebten, vergangenen Zeit.

Die Autobiographie in der Zeit nach Goethes Dichtung und Wahrheit bleibt am klassischen Vorbild orientiert. Gegen Ende des 19.Jahrhunderts erlebt die Autobiographie entscheidende Neuerungen durch die Erschließung einer neuen Autorenschicht, die sich aus Arbeitern und Proletariern rekrutiert. Diese soziale Schicht entdeckt für sich die bislang dem Bürgertum vorbehaltene Domäne der Selbstdarstellung. Im Vordergrund der Arbeiterautobiographien steht im Gegensatz zur bürgerlichen Selbstbiographie nicht der individuelle Lebenslauf. "Von daher [...] bestimmt sich der Charakter und die zumindest potentielle gesellschaftliche Funktion der proletarischen Selbstdarstellung: nämlich Exempel zu sein für das Leben der Arbeiterklasse insgesamt".[99]

In den Beginn des 20.Jahrhunderts fallen die ersten Veröffentlichungen proletarischer oder aus dem Handwerk stammender Angehöriger der sozialistischen Arbeiterbewegung (z.B. August Bebel: Aus meinem Leben. 1910-14; Adelheid Popp: Jugendgeschichte einer Arbeiterin von ihr selbst erzählt. 1909) . Die Autobiographien von Lohn- und Fabrikarbeitern stellen einen gesellschaftspolitischen Bezug zwischen der individuellen Entwicklung und der Klassen- und Gesellschaftsentwicklung her. Aus diesen Autobiographien spricht das Selbstbewußtsein einer neuen Klasse, die sich auf dem Wege gesellschaftlicher Emanzipation befindet.[100] Allen Arbeiterautobiographien ist der nicht­künstlerische Anspruch gemeinsam: Schreiben wird in erster Linie als literarische Selbstverwirklichung verstanden. "Mit dem Schreiben der Autobiographie wurde die Gewißheit freigesetzt, daß die Mitteilung der je persönlichen Erfahrung nicht nur von individuellem Belang war, sondern selbst Klassenschicksal vermittelte und auch eine kollektivierende Dimension hatte."[101]

Die bürgerliche Autobiographie zeigt Tendenzen zur Veränderung: Die Verbindung historisch­gesellschaftlicher Bedingungen mit dem individuellen Leben fällt zugunsten der Darstellung von Bewußtseinsvorgängen weg. Die in der Forschung vertretene Theorie von der "bürgerlichen Existenzkrise"[102]findet in den Autobiographien ihre Bestätigung. Der Bürger hat in der Massengesellschaft seine politische und soziale Identität verloren; das Individuum wird zum reinen Funktionsträger:

Die vielen autobiographischen 'Skizzen' demonstrieren indirekt, was Gottfried Benn im "Doppelleben", einer seiner autobiographischen Schriften, als "fundamentale Tatsache" der Existenz des modernen Menschen ausspricht, die Unmöglichkeit, mit dem historisch-faktischen Ablauf des persönlichen Lebens das eigene geistige Sein zu verbinden.[103]

Der für die "klassische" Autobiographie gültige Maßstab, nämlich Selbstdarstellung im Einklang mit den historischen Bedingungen zu sein, kann hier nicht mehr gelten:

The genre undergoes a severe identity crisis, making it henceforth impossible to accomodate all future so-called autobiographical writings under one single definition without destroying the very concept of the autobiography. [...] New developments in literature [...] and new trends in philosophy and aesthetics had ushered in a new era reflective of a new consciousness.[104]

Die moderne Autobiographie gibt den Charakter einer Sammlung von Lebensrückblick, Lebensansichten und historischen Tatsachen auf. Sie wird zum Medium der Identitätssuche. An der Ich-Person der Autobiographie thematisieren sich "Formen und Modalitäten der Selbstbeziehung, denen im Prozeß der Selbstvergegenständlichung eine paradigmatische Bedeutung zuwächst."[105]Die menschliche Entfremdung von sich selbst und von der Welt, die Existenzkrise, die Suche nach der Identität werden als menschliche Grundprobleme repräsentativ am Einzelfall dargestellt. Das erlebende Ich wird zum "Fall", der in vom Autor frei gewählte Rahmenbedingungen von Ort, Zeit und Handlung gestellt wird. Das erlebende Ich gewinnt allmählich wieder seinen fiktiven Charakter zurück und wird als Kunstfigur mit autobiographischen Zügen des Verfassers zum Romanhelden.[106]

[...]


[1]Vgl. MÜLLER, U.: "Wahrheit" und "Dichtung", S.1: "Oswald von Wolkenstein ist derjenige Lyriker des Mittelalters, der in seinen Liedern die meisten Auskünfte über sein Leben gibt; mit Recht bezeichnet man daher etwa die Hälfte seiner Gedichte als autobiographische Lieder." KÜHN: Wolkenstein, S.622, verwendet im Register ganz selbstverständlich den Terminus "Autobiographische Lied" als Gattungsbegriff zur Unterscheidung von Oswalds Liedern. Vgl. ebenso ROBERTSHAW, der seine Dissertation ursprünglich mit dem Titel "The Life and the Autobiographical Poetry of O.v.W." herausbrachte. Später änderte er den Titel und man findet im Text folgende Aussage: "Though the term 'autobiographical' is commonly used of his work, he seldom ever gives a straightforward account of himself or of events of his life.", ROBERTSHAW: Myth and man, S.68. Noch in neuesten Beiträgen zu Oswald wird selbstverständlich von "autobiographischen Liedern" gesprochen. Z.B. SCHWOB: Edition, S.15.

[2]CURTIUS: Europäische Literatur.

[3]Während für die Autobiographie ohne künstlerischen Anspruch das 16.Jahrhundert als Zeitalter der Gattungsgenese betrachtet wird. Eine Ausnahme bildet die italienische Tradition der Renaissance.

[4]"Heute ist 'Autobiographie' ein gängiger, umfassender Begriff für alle denkbaren literarischen und nicht-literarischen Formen der Lebensbeschreibung und der Selbstdarstellung geworden. Trotzdem haftet ihm auch die modellhafte Vorstellung einer auf die Entwicklung der Persönlichkeit konzentrierte Lebensbeschreibung an.", VELTEN: Leben, S.8.

[5]Vgl. dazu BOESCH: Zeitgenosse, S.21:"Der Anstoß an seinem Lebenslauf weiterzudichten, hat Oswald selbst gegeben: er bietet Bausteine zu einer Autobiographie an, aber es sind keine Steine, auf welchen sich ein glaubhafter, mehr oder minder lückenloser Lebenslauf aufbauen ließe. Die Steine sind von verschiedenem Gewicht und von verschiedener Tragkraft, je nachdem, ob sie verläßlichen Urkunden oder ichbezogenen Stellen seiner Gedichte entnommen sind: aus so verschiedenartigem Material läßt sich schlecht eine Geschichte bauen, die kritischer Durchleuchtung standhalten kann."

[6]Ebd., S.34.

[7]HARTMANN: Altersdichtung, S.8.

[8]Ebd., S.9. Wobei gesagt werden muß, daß es nicht eigentlich die Aufgabe einer Biographie ist, literaturwissenschaftliche Fragestellungen zu klären.

[9]Ebd., S.231. Zu Kl 5 hat schon JONES: old age, bemerkt, daß es sich hauptsächlich um Alterserscheinungen handelt, die dem literarischen Katalog entnommen sind. Vgl. KÜHN: Wolkenstein, S.392: "Zwar können wir in diesem Lied insgesamt kein realistisches Selbstporträt eines alternden Mannes sehen, aber in einigen Punkten könnten doch konkrete Erfahrungen formuliert sein."

[10]Vgl. dazu Voßkamp: Gattungen. In vorliegender Arbeit wird die Gattung nicht als normativ betrachtet, sondern im Hinblick auf Oswalds autobiographisches Schreiben vom "historischen Charakter literarischer Gattungen im Sinne soziokultureller Konventionen", ebd., S.253, ausgegangen.

[11]BRAAK: Gattungsgeschichte, S.175. Zur Erläuterung des "autobiographischen Liedes" findet sich allerdings nur folgende kleine Notiz: "Das Auftauchen dieser neuen Form des Liedes ist ein deutliches, wenn auch weitgehend noch singuläres Zeichen dafür, daß die Dichtung sich vom 'Kollektivismus' des MA zu lösen bagann, daß das Individuum und sein subjektives Erleben in den Themenkreis der Lit. eintrat. Bspe dafür liefert wiederum OSWALD VON WOLKENSTEIN.", S.180.

[12]VOßKAMP: Gattungen, S.257.

[13]Vgl. den Forschungsbericht in Niggl, WdF 565, S.1-17 und RLW, S.171f. Vgl. auch WUTHENOW: Das erinnerte Ich, S.7-43.

[14]Vgl. NIGGL: WdF 565, S.2.

[15]Vgl. SLOTERDIJK: Lebenserfahrung, S.17f. und WUTHENOW: Das erinnerte Ich, S.9.

[16]Neuere Werke, die hauptsächlich die klassische Autobiographie betrachten, sind MÜLLER, K.-D.: Autobiographie und Roman; NEUMANN: Identität; NIGGL: Autobiographie im 18. Jahrhundert; PASCAL: Gehalt und Gestalt; WUTHENOW: Das erinnerte Ich; LEJEUNE: Pakt.

[17]Vgl. VELTEN: Leben, S.8.

[18]Vgl. KRONSBEIN: Erzählen, S.34-43 und WUTHENOW: Das erinnerte Ich, S.8.

[19]SCHOPENHAUER: Wille und Vorstellung, S.345.

[20]Ebd., S.343.

[21]Ebd., S.342.

[22]Ebd., S.346.

[23]HEGEL: Ästhetik, S.345.

[24]Ebd., S.352. Vgl. dazu WINTER: Aussagewert, S.111f.

[25]HEGEL: Ästhetik, S.354.

[26]Ebd., S.423.

[27]Ebd., S.354f.

[28]DILTHEY: Aufbau der geschichtlichen Welt, S.204.

[29]MISCH: Autobiographie, I/1, S.5.

[30]Ebd., S.7.

[31]Ebd., S.11.

[32]VELTEN: Leben, S.11, Anm.10.

[33]Vgl. BEYER-FRÖHLICH: Entwicklung der deutschen Selbstzeugnisse; GLAGAU: Die moderne Selbstbiographie als historische Quelle; GRUHLE: Selbstbiographie als Quelle historischer Erkenntnis; KLAIBER: Die deutsche Selbstbiographie; ULRICH: Entwicklung der deutschen Selbstbiographie; MAHRHOLZ: Deutsche Selbstbekenntnisse. Es fällt auf, daß all diese Titel den Begriff "Autobiographie" vermeiden. Ein Grund hierfür dürfte in der Dichotomie des Begriffes liegen, der "sowohl lebensgeschichtliche Formen als auch die mannigfaltigen Möglichkeiten der Selbstdarstellung" umgreift, VELTEN: Leben, S.8.

[34]NEUMANN: Identität.

[35]Ebd., S.6.

[36]Ebd., S.25.

[37]SLOTERDIJK: Lebenserfahrung, S.36.

[38]MÜNCHOW: Arbeiterautobiographien; EMMERICH: Proletarische Lebensläufe. Vgl. auch KUCZYNSKI: Probleme, S.32-35.

[39]Vgl. MÜLLER, G.: "Vielleicht hat es einen Sinn, dachte ich mir...".

[40]PFOTENHAUER: Literarische Anthropologie, S.17. Vgl. den im zweiten Teil dieser Arbeit skizzierte Versuch, die Historische Anthropologie für die Untersuchung mittelalterlicher Literatur nutzbar zu machen.

[41]LEJEUNE: Pakt, S.382. Vgl. VELTEN: Leben, S.6-14.

[42]Vgl. SCHULZE: Ego-Dokumente; KRUSTENSTJERN: Selbstzeugnisse. Vgl. dazu die Kritik an dieser Terminologie bei MÜLLER, G.: "Vielleicht hat es einen Sinn, dachte ich mir...", S.302, Anm.5.

[43]PASCAL: Gehalt und Gestalt.

[44]LEJEUNE: Pakt.

[45]BRUSS: Akt. Vgl. auch AICHINGER: Sprachkunstwerk. Auch für das Mittelalter wird neuerdings die Wichtigkeit und tragende Rolle der Sprache für die Konstituierung von Autobiograhie betont. Vgl. VON GRAEVENITZ: Differenzierung; STURROCK: Language.

[46]MÜLLER, K.-D.: Autobiographie und Roman; SEGEBRECHT: Autobiographie und Dichtung.

[47]BÜHLER: Lebenslauf; ERIKSON: Identität und Lebenszyklus; MARQUARD/STIERLE: Identität; MAZLISH: Autobiographie und Psychoanalyse; PASTENACI: Erzählform; WIERSING: Personalität.

[48]Vgl. LEJEUNE: Pakt, S.379-416; ELBAZ: Autobiography; MÜLLER, K.-D.: Gattungsgeschichtsschreibung.

[49]Zur Begriffsgeschichte vgl. VOISINE: Naissance, S.279-86. Ebenfalls AICHINGER: Selbstbiographie, S.801-05.

[50]SLOTERDIJK: Lebenserfahrung, S.17; VELTEN: Leben, S.7.

[51]Ebd., S.8.

[52]PASCAL: Gehalt und Gestalt, S.33. Vgl. AICHINGER: Selbstbiographie, S.809: "Die S. ist im wesentlichen europäisch und vor allem neuzeitlich."

[53]Es ist allerdings nötig, den Confessiones eine Sonderstellung zuzuschreiben. Art und Höhe der intellektuellen Leistung und der Reflexionsstufe bleiben bis in die Aufklärung unerreicht. Obwohl für das Mittelalter traditionsbildend, ist es doch ein ganz und gar singuläres Werk, das eher dem Geist der Spätantike anzugehören scheint, als daß man es dem Mittelalter zugehörig bezeichnen dürfte. So wird der Beginn der Gattung auch meist im Zeitalter der Renaissance und des Humanismus verortet. Vgl. WUTHENOW: Autobiographie, S.174. VELTEN: Leben, S.2f. Zur Einzigartigkeit von Augustinus vgl. GURJEWITSCH: Individuum, S.118-22. Auf das hohe Reflexionsniveau im Sprachlichen hat STURROCK: Language, S.20-48, aufmerksam gemacht.

[54]Vgl. hierzu MCDONALD: religious autobiography, worin versucht wird Oswald von Wolkenstein mit der paulinischen Tradition in Verbindung zu bringen, bsd. S.278-86. Vgl. Teil 3: C.2.

[55]Auf die Confessiones wird nochmals im Teil über die mittelalterliche Autobiographik eingegangen. Da der allgemeine Teil zur Geschichte der Autobiographie aber ein selbständiges Ganzes bilden soll, erschien es sinnvoll, Augustinus zweimal kurz zu beleuchten, zumal bei der zweiten Erwähnung eher die für das Mittelalter relevanten Gesichtspunkte betrachtet werden.

[56]MISCH: Autobiographie, I/1, S.19.

[57]Ebd.,I/2, S.637.

[58]BEYER-FRÖHLICH: Entwicklung, S.30. Dazu WINTER: Aussagewert, S.200f.: "Die Kontinuität der Entwicklung wird gewährleistet durch das Unablässige 'Ziehen' Gottes selbst in der größten Gottesferne des Ich - Ziel und Sinn des Wegs ist immer die Bekehrung."

[59]Ebd., S.151.

[60]So stellt WUTHENOW in Frage, ob man die Schriften, die dem Muster der Confessiones folgen und im wesentlichen religiöse Züge tragen, überhaupt autobiographisch nennen kann. Vgl. WUTHENOW: Autobiographie, S.173.

[61]Ebd., S.173.

[62]SLOTERDIJK: Lebenserfahrung, S.50.

[63]Diese Darstellungsform der Selbstbiographie Teil ausführlich behandelt.

[64]Vgl. zur Beliebtheit von Ritterbiographien, S. 94.

[65]Artikel "Autobiographie", in: LdMA, Sp.1266

[66]SLOTERDIJK: Lebenserfahrung, S.50.

[67]Zur (Auto-)biographik der Renaissance, auf die in dieser Arbeit nur ganz am Rande eingegangen wird, informiert grundlegend BUCK: Renaissance.

[68]SLOTERDIJK: Lebenserfahrung, S.34.

[69]Vgl. WEIAND: Libri, S.170-187.

[70]MISCH: Autobiographie, IV/2, S.573. Vgl. dazu BURKHARDT: Renaissance, S.136-42 und S.325-38.

[71]BEYER-FRÖHLICH: Selbstzeugnisse, S.6.

[72]KLAIBER: Selbstbiographie, S.65.

[73]NIGGL: Autobiographie im 18.Jahrhundert, S.6f.

[74]Vgl. NIGGL: Säkularisierung, S.390f.

[75]LEHMANN: Erzählen, S.119.

[76]Ebd.S.92.

[77]Ebd., S.89f.

[78]"Es ist das Besondere an dieser Phase der Gattungsgeschichte, daß die Gattung ihre Orientierung an der in besonders starkem Maße durch Dialogizität geprägten Sprechhandlung 'bekennen' gerade zu einem Zeitpunkt aufgibt, an dem sie verstärkt zum Erzählen von Sachverhalten neigt, die einige Jahrzehnte zuvor bestenfalls in Extremsituationen geäußert worden sind.", Ebd., S.93.

[79]MÜLLER, K.-D.: Autobiographie und Roman, S.245.

[80]GOETHE: Dichtung und Wahrheit, S.11. [Hervorhebung von mir, S.R.]. Goethe fügt dazu skeptisch an: "Hiezu wird aber ein kaum Erreichbares gefordert, daß nämlich das Individuum sich und sein Jahrhundert kenne, sich, in wiefern es unter allen Umständen dasselbe geblieben, das Jahrhundert als welches sowohl den willigen als unwilligen mit sich fortreißt, bestimmt und bildet, dergestalt daß man wohl sagen kann, ein Jeder, nur zehn Jahre früher oder später geboren, dürfte, was seine eigene Bildung und seine Wirkung nach außen betrifft, ein ganz anderer geworden sein.", ebd.

[81]NEUMANN: Identität, S.6.

[82]Auch die Erzählstruktur wandelt sich erneut um die Mitte des 19.Jahrhunderts. Vgl. LEHMANN: Erzählen, S.200f.

[83]Ebd., S.90.

[84]PASCAL: Gehalt und Gestalt, S.65.

[85]Da diese klassischen Texte weitgehend das Gattungsbild bestimmen, müssen sie auch im Hinblick auf die folgenden Ausführungen zum Mittelalter und zu Oswald von Wolkenstein im Auge behalten werden. Gerade in Bezug auf Oswalds "autobiographische Lieder” muß ein näherer Blick auf den Dualismus von "Dichtung” und "Wahrheit” bereits bei Goethe geworfen werden, um damit zu zeigen, daß bestimmte Probleme nicht nur für das Mittelalter gelten, sondern für autobiographisches Schreiben an sich virulent sind, auch wenn das Ausmaß der Reflexion über diese Probleme nicht vergleichbar, ja im Mittelalter oft gar nicht vorhanden sind.

[86]PASCAL: Gehalt und Gestalt, S.65.

[87]WUTHENOW: Das erinnerte Ich, S.63. Vgl. WEBER: Ästhetische Identität. Ebenso wie Goethe entwirft Rousseau in seiner Autobiographie ein Bild von sich selbst. Der Entwurf schafft mit seinen Akten des Fingierens eine Identität, die von der empirischen abgehoben ist und dennoch Wahrhaftigkeit für sich in Anspruch nehmen darf, insofern es sich um eine ästhetische Wahrheit handelt.

[88]Vgl. KONERSMANN: Zeichensprache.

[89]GOETHE: Briefe, S.363.

[90]Vgl. KUCZYNSKI: Probleme, S.37-51.

[91]ECKERMANN: Gespräche mit Goethe, S.347.

[92]MÜLLER, K.-D.: Autobiographie und Roman, S.348.

[93]Über das Fiktive in Goethes Autobiographie informiert WEBER: Ästhetische Identität. Der Autor weist an zahlreichen Beispielen nach, wie Goethe über die Fiktion, "verstanden als relationale Textkonstitution", zur stufenweise Ausbildung seiner Persönlichkeit gelangt, da der Sinn des Lebens nicht vorgegeben, sondern erst in der Reflexion zu gewinnen ist.", S.22. Das Fingieren sei eine "Funktion des Lebens" und der Nachweis "fiktionalisierender Darstellungstechniken" allein verfehle den Sinngehalt, der in autobiographischen Texten steleft" style="background:transparent;">Konstitution der Identität des Gegenstandes, von dem die Autobiographie spricht, dem eigenen Ich.", S.23. Diese Faktizität der ästhetischen Identität gilt es auch für das autobiographische Dichten Oswalds im Auge zu behalten, wobei Goethe diese Identität bewußt gesucht hat, Oswald dagegen wohl nicht.

[94]NIGGL: Autobiographie im 18.Jahrhundert, S.158.

[95]MÜLLER, K.-D.: Autobiographie und Roman, vertritt dagegen die Ansicht, daß Goethes Autobiographie nicht der allgemeine angenommene Ausdruck seiner Selbstzufriedenheit ist, sondern daß aus ihr Zweifel am Dasein und tiefe Resignation sprechen, S.251. Den Anstoß zum autobiographischen Schreiben sieht MÜLLER in der Auffassung Goethes von der Dichtung als "Heilmittel in Lebenskrisen", S.291. Erst die die dichterische Objektivation des Lebens ermöglichte Goethe Distanz zur Depression.

[96]GREINER: Autobiographie, S.214.

[97]MÜLLER, K.-D.: Autobiographie und Roman, S.341.

[98]Ebd., S.356.

[99]EMMERISCH: Proletarische Lebensläufe, S.22.

[100]MÜNCHOW: Arbeiterautobiographien, weist in ihrer Untersuchung auf die Gemeinsamkeit zwischen proletarischen Selbstbiographien und Rousseau hin, die vor allem im "Kampfstil" und dem "Willen, die völlige Aufhebung der bestehenden Verhältnisse darzustellen" bestünde. Das gemeinsame Leitwort ist "Emanzipation", S.59.

[101]ZMEGAC: Geschichte der deutschen Literatur, S.249.

[102]SLOTERDIJK: Lebenserfahrung, S.317.

[103]AICHINGER: Selbstdarstellung, S.34.

[104]STULL: Evolution, S.12.

[105]ISER: Leser, S.206.

[106]Es mag gewagt sein, die These zu formulieren, daß sich die autobiographischen Schreibweisen des 20.Jahrhunderts in Teilbereichen wieder der formalen Ungeformtheit, Disparatheit und Unsystematik mittelalterlicher Schreibweisen annähert. Allerdings aus völlig verschiedenen Gründen: Einerseits die Krise des Identitätsbewußtseins, welches nicht mehr länger an ein darstellbares, konkretes Ich glaubt, wofür Benn ein Beispiel bildet, andererseits dagegen, im Mittelalter, teilweise die Unfähigkeit das Leben und das Ich als Ganzes zu begreifen und darzustellen, eine Autobiographik ohne Ich und ohne Geschichte. Vgl. WIERSING: Personalität, S.184-92.

Ende der Leseprobe aus 155 Seiten

Details

Titel
Autobiographisches Schreiben im Mittelalter. Die autobiographischen Lieder Oswalds von Wolkenstein
Untertitel
Grundsätzliche Überlegungen zu gattungsgeschichtlichen und -theoretischen Voraussetzungen, Bedingungen und Möglichkeiten
Hochschule
Universität zu Köln  (Institut für deutsche Sprache und Literatur)
Note
sehr gut
Autor
Jahr
1997
Seiten
155
Katalognummer
V1160
ISBN (eBook)
9783638107310
Dateigröße
810 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Magisterarbeit wurde mit der Note sehr gut bewertet, zudem in einem schriftlichen Gutachten als exzellenter Forschungsbeitrag gewürdigt.
Schlagworte
Germanistik Autobiographie Mediävistik Mittelalter Oswald von Wolkenstein
Arbeit zitieren
Stefan Ruess (Autor:in), 1997, Autobiographisches Schreiben im Mittelalter. Die autobiographischen Lieder Oswalds von Wolkenstein, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1160

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