„Transformation der Lebensweise“ - Visionen, Experimente und Probleme der Familien- und Wohnungspolitik in der Sowjetunion (1917-32)


Hausarbeit (Hauptseminar), 2007

37 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Euphorie und Tatendrang 1917-1921/22
2.1 Die Aktivistinnen und ihre Utopie
2.2. Erste Schritte zur Umsetzung der Utopie
2.3 Experimente des „Neuen Wohnens“
2.3.1 Die Gartenstadt
2.3.2 Das Kommune-Haus
2.3.3 Die Kommunalwohnung
2.3.4 Abwehr der Avantgarde

3. Stagnation 1921/22-1927/28
3.1 Probleme der Frauenarbeit
3.1.1 Das Scheidungsgesetz
3.1.2 Die Kinderbetreuung
3.1.3 Der Arbeitsplatz
3.2 Probleme der Wohnungswirtschaft
3.2.1 Siedlungsbau
3.2.2 Kommune-Häuser und Wohnungen

4. Hoffnung und Desillusionierung 1927/28-32
4.1 Die Auflösung des Ženotdel und das Ende der Frauenpolitik
4.2 Das „Kollektive Wohnen“ und die „Sozialistische Stadt“
4.2.1 „Typ F“
4.2.2 „Die Sozialistische Stadt” – (De-)Urbanistische Visionen

5. Resümee

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Die Frau bleibt nach wie vor Haussklavin, trotz aller Befreiungsgesetze, denn sie wird erdrückt, erstickt, abgestumpft, erniedrigt von der Kleinarbeit der Hauswirtschaft, die sie an die Küche und an das Kinderzimmer fesselt und sie ihre Schaffenskraft durch eine geradezu barbarisch unproduktive, kleinliche, entnervende, abstumpfende, niederdrückende Arbeit vergeuden läßt. Die wahre Befreiung der Frau, der wahre Kommunismus wird erst dort und dann beginnen, wo und wann der Massenkampf (unter der Führung des am Staatsruder stehenden Proletariats) gegen diese Kleinarbeit der Hauswirtschaft, oder richtiger, ihre massenhafte Umgestaltung zur sozialistischen Großwirtschaft beginnt.“[1]

Mit dieser Feststellung formulierte Vladimir Iljič Uljanov, besser bekannt als Lenin, 1919 die gewaltige Herausforderung, der sich die Bolschewisten hinsichtlich der Befreiung der Frauen stellen müssten. Die Geschlechterverhältnisse waren, spätestens seit August Bebels Schrift „Die Frau und der Sozialismus“ von 1879, ein wichtiges Thema in der internationalen Sozialdemokratie. Beklagt wurde die ökonomische Abhängigkeit der Frau vom Mann, die ihr keine gleichberechtigte Stellung ermögliche und die eine Entwicklung ihrer Persönlichkeit, da sie sich nur um Kindererziehung und Haushaltsführung zu kümmern habe, nicht zulasse. Die Unterdrückung der Frau wurde jedoch nur im Zusammenhang mit der im Kapitalismus unterdrückten Klasse, dem Proletariat gesehen, und nicht als eigenständige „Frage“ behandelt, was sich auch aus dem Zitat ablesen lässt. Trotzdem erkämpften einflussreiche Frauen innerhalb der Bolschewistischen Partei 1919 die Einrichtung des Ženotdel, der Frauenabteilung, die direkt dem Zentralkomitee unterstellt war und deren expliziter Auftrag darin bestand, sich der besonderen Belange der Frauen anzunehmen, wobei ihr ehrgeizigstes Anliegen die „Transformation der Lebensweise (byt)“[2] darstellt. Um die Frauen von der „abstumpfenden Hauswirtschaft“ zu befreien, ergab sich die Forderung nach der Vergesellschaftung der Hausarbeit, von der Wäsche bis zur Kindererziehung und der Auflösung der traditionellen Form des Zusammenlebens als „Familie“, die die Unterdrückung der Frau perpetuiere.

Daraus folgt die Notwendigkeit einer umfassenden Veränderung der Wohnverhältnisse, da statt Familien selbstständigen Individuen unter Verbannung der separaten Küche oder des Waschraumes Wohnraum geboten und ein neues Bewusstsein geschaffen werden sollte. In der Sowjetunion der zwanziger Jahre gab es mannigfaltige Ideen und Projekte, die das Wohnen revolutionieren wollten. Die verschiedensten Architektur-Strömungen, meist zusammengefasst als „Avantgarde“[3], nahmen sich dieser Aufgabe an, da die Architektur von Wohnsiedlungen und Städten als wichtiger Faktor für die Veränderung des menschlichen Bewusstseins galt. Der Architekt Nikolaij Ladovskij schrieb 1928:

„Der moderne Mensch handelt ständig in der Umgebung von Architektur. Die architektonischen Bauten der Stadt, völlig frei betrachtet, wirken mit ihrem Aussehen und ihren Formen unmittelbar auf das Gefühl des ‚Konsumenten’ der Architektur ein und rufen eine bestimmte Weltauffassung hervor. Der sowjetische Staat, der sich die Planregulierung als Hauptziel seiner Tätigkeit gesetzt hat, muss auch die Architektur als mächtiges Mittel zur Organisation der Psychologie der Massen benutzen.“[4]

Dutzendfach wurden Entwürfe für Kommune-Häuser, Gartenstädte, mobile Ein-Zimmer-Hütten u. ä. angefertigt. Deurbanistische und urbanistische Konzepte sollten die Siedlungsstruktur ganzer Städte verändern. Die Bemühungen das die kommunistische Idee durchziehende neue geschichtliche Subjekt der freien „assoziierten Individuen“[5] herzustellen, sollen hier dargestellt werden. Denn nicht nur hängen Frauen- und Wohnungspolitik inhaltlich, also hinsichtlich ihrer Ausrichtung auf die „Transformation der Lebensweise“, eng miteinander zusammen, auch ihr Werdegang im hier zu untersuchenden Zeitraum weist Ähnlichkeiten auf. Knapp zusammengefasst: Euphorie und Tatendrang kurz nach der Revolution, Stagnation aufgrund wirtschaftlicher Unzulänglichkeiten und politischen Hindernissen, Desillusionierung und Entzug der politischen Unterstützung zu Beginn der Dreißiger Jahre. „Kriegskommunismus“, „Neue ökonomische Politik“ (NĖP) und Erster Fünfjahres-Plan sind die politisch induzierten ökonomischen Rahmen in die die Transformationsbemühungen hineinfallen. Dieser Zeitraum wurde gewählt, weil er in ökonomischer, politischer und kultureller Hinsicht die „experimentellen Jahre“[6] darstellt, in denen durch eine gewisse Kontingenz noch gesellschaftliche Diskurse und emanzipatorische Projekte möglich waren, zwar immer wieder von Ordnungsansprüchen bedroht, denen aber letztendlich erst mit der Etablierung des Stalinismus die Grundlagen entzogen wurden.[7] Obwohl der Zusammenhang in der neueren Literatur Beachtung findet, zeigt ihn keine dem Autor bekannte Arbeit ausführlicher auf oder beleuchtet die gemeinsamen Entwicklungspfade der Bemühungen, die „Transformation der Lebensweise“ im Rahmen der Frauen- oder Wohnungspolitik zu vollziehen.[8] Das soll diese Hausarbeit, zumindest in überblicksartiger Weise, leisten. Leitende Fragen sollen dabei sein: Welche Akteure oder Institutionen vertraten die Idee der „Transformation der Lebensweise“? Welche konkreten Maßnahmen wurden ergriffen, um sie zu befördern? Welchen Einfluss hatten die ökonomischen Rahmenbedingungen auf die Verwirklichungsmöglichkeiten der „Transformation“? Welche Tendenzen zeigte die politische Führung gegenüber den Bemühungen und Maßnahmen der jeweiligen Akteure, also wann wurde was warum unterstützt oder zum Scheitern gebracht? Da der Verfasser des Russischen nicht mächtig ist, können leider die zahlreichen russischsprachigen Veröffentlichungen und Quellen,[9] nicht berücksichtigt werden, doch sind die Themen von englischen und in letzter Zeit auch von deutschen Wissenschaftlern umfangreich bearbeitet, bzw. wesentliche russische Beiträge übersetzt worden.

2. Euphorie und Tatendrang 1917-1921/22

2.1 Die Aktivistinnen und ihre Utopie

Im Gegensatz zu den männlichen Protagonisten der Russischen Revolution im Oktober 1917, in der ein weitgehend unblutiger Putsch der Bolschewiki die erst im Februar des Jahres gebildete sogenannte „Provisorische Regierung“ Alexander Kerenskis stürzte, sind die weiblichen Aktivistinnen größtenteils unbekannt. Die Namen Lenin, Trotzki, Bucharin, Kamenew und Stalin sind auch Nicht-Historikern geläufig, ganz in Gegensatz zu Kollontaj, Armand, Smidovič, Krupskaja oder Nikolaev. Dabei waren schon vor der Revolution etwa 10%[10] -15%[11] der Bolschewiki Frauen, allerdings wurde die Notwendigkeit einer separaten Organisation nicht gesehen.[12] Vielmehr wurden Frauen in die Arbeit der Partei in vielfältigen Bereichen eingebunden: Agitation und Propaganda, Mitgliederwerbung, Verwaltung, sogar in der militärischen Führung und bei der Durchführung terroristischer Operationen.[13] Diejenige, die schließlich den Anstoß zu einer eigenständigen Institution gab, war Alexandra Kollontaj. Ihre Biographie kann stellvertretend für einen Großteil der „Bolschewički“, wie die langjährigen weiblichen Parteimitglieder ehrenvoll genannt wurden, kurz umrissen werden.[14]

Geboren wurde sie 1872 als Alexandra Michailovna Domontovič, Tochter einer Familie des niederen Adels. Schon früh begann sie sich, politisiert von männlichen Verwandten, in der sozialdemokratischen Partei Russlands zu engagieren. Sie heiratete sehr jung einen verarmten Offizier, was den Bruch mit der Familie zur Folge hatte. Nach der Teilnahme an der gescheiterten Revolution von 1905, flüchtete sie ins Exil nach Frankreich und in die USA, wo sie in engeren Kontakt mit der westlichen feministischen Bewegung kam und sich ihre Kritik an den traditionellen Geschlechterverhältnissen verstärkte. 1915 trat die Menschewistin schließlich wegen ihrer Ablehnung des Krieges zu den Bolschewiki über und arbeitete Werke zur Frauenfrage und Emanzipation aus.[15] Diese Merkmale, Herkunft aus den mittleren Schichten der Gesellschaft, frühe politische Tätigkeit und, oft langjähriger, Aufenthalt im Exil, treffen auf viele der „Bolschewički“ zu, und so sind sie auch mit den Aktivistinnen der westlichen Emanzipationsbewegung zu vergleichen.[16]

Kollontajs Ideologie ist in vielen Punkten nur schwer zu fassen und es sind vielfältige Ambivalenzen und Brüche erkennbar. Kurz gefasst lässt sich sagen, dass sie in einem Spannungsfeld zwischen offizieller Parteilinie, die keine divergierenden Interessen zwischen männlichen und weiblichen Arbeitern konstatierte, und radikalem Feminismus lavierte. Carmen Scheide fasst die Lösung des Widerspruchs in Kollontajs theoretischer Arbeit folgendermaßen zusammen:

„[Kollontaj] legitimierte eine Aussonderung von proletarischen Fraueninteressen in Form einer separaten Arbeit, die aber zur Verstärkung des Drucks auf die Partei diente, für einen ungeteilten und geschlossenen Kampf der gesamten Arbeiterklasse einzutreten.“[17]

Zur Erreichung dieses Zieles gründete sie schon 1907 zusammen mit Klavdija Nikolaeva die „Gesellschaft für die gegenseitige Hilfe von Arbeiterinnen“, in Anlehnung an die Frauensektion der deutschen Sozialdemokraten unter Clara Zetkin, zu der sie engen Kontakt hielten.[18] Eine breite Arbeit der Organisation war allerdings nicht möglich, da die Parteiführung das Vorhaben nicht unterstützte. Einer der Diskurse, in den Kollontaj und ihre Mitstreiterinnen involviert waren, war der der „Transformation der Lebensweise“. Darunter ist eine völlige Umwälzung der bisherigen Formen des Zusammenlebens zu verstehen. Auf der Basis der Ablehnung der Unterdrückung der Frau durch den Mann, entwickelte sich ein theoretischer Totalansatz, der die traditionelle Lebensweise, bis hin zur Auflösung der Familie aufheben sollte. Dieser Ansatz wurde von vielen Theoretikern geteilt und unterstützt.[19] In Konflikt mit der Partei geriet Kollontaj allerdings wegen ihrer radikalen Ideen hinsichtlich der Sexualmoral,[20] eine Thematik, die besonders die Parteiführung in Zeiten des Bürgerkrieges für marginal bedeutsam hielt. Lenin sah in der Freiheit in sexuellen Beziehungen, die Kollontai vertrat, eine Gefahr für die Moral und Disziplin der jungen Menschen. Gegenüber Clara Zetkin äußerte er:

„Das alles hat mit der Freiheit der Liebe gar nichts gemein, wie wir Kommunisten sie verstehen. Sie kennen gewiß die famose Theorie, daß in der kommunistischen Gesellschaft die Befriedigung des sexuellen Trieblebens, des Liebesbedürfnisses, so einfach und belanglos sei wie ‚das Trinken eines Glases Wasser’. Diese Glas-Wasser-Theorie hat einen Teil unserer Jugend toll gemacht, ganz toll. [...] Die berühmte Glas-Wasser-Theorie halte ich für vollständig unmarxistisch und obendrein für unsozial.“[21]

Der Widerstand, mit dem Lenin hier der „freien Liebe“ gegenübertritt, ist ein Element seines radikalen Ordnungsanspruches. Die Sorge, dass die Jugend, statt sich um die Konstituierung der kommunistischen Gesellschaft, gleichbedeutend mit Festigung der Macht der Partei zum Schutze der revolutionären Errungenschaften, zu bemühen, in Verantwortungslosigkeit der sexuellen Freizügigkeit flüchtet, zeigt, dass Lenin diese Kontingenz als Schwächung der Machtbasis fürchtete. Es gab also von Anfang an bedeutende Diskrepanzen zwischen den Vorstellungen der politischen Führung und denen der weiblichen Aktivisten. Lenin und andere führende Bolschewiki fassten das Unterdrückungsverhältnis zwischen Mann und Frau als subaltern gegenüber dem ökonomischen Klassengegensatz auf, dessen Aufhebung auch die Emanzipation und Gleichstellung der Frau inkludiere.[22] Im Besonderen wurde die Frage der Sexualität, der sexuellen Ausbeutung des Menschen, die Kollontaj immer wieder anprangerte, von Lenin rigide abgewiesen.[23] Doch obwohl es in den ersten Jahren sicherlich vitalere Bedrohungen für die Machtverhältnisse nach der Oktoberrevolution gab, handelten die Bolschewiki in diesem Bereich schnell und radikal. So erließ die neue Regierung schon kurz nach der Revolution äußerst progressive Gesetze, die die Auflösung der Traditionen und damit die gesellschaftliche Kontingenz förderten.

2.2. Erste Schritte zur Umsetzung der Utopie

Nach der erfolgreichen Machtübernahme der Bolschewiki folgten binnen eines Jahres mehrere wesentliche Gesetze, die auf die speziellen Probleme der weiblichen Bevölkerung zugeschnitten waren. Besonders in zwei Bereichen wurden neue Grundlagen geschaffen: Arbeit und Familie. Gleichstellung in Arbeitszeit und Lohn, freie Berufswahl, Maßnahmen zum Mutterschutz auf der einen, stark liberalisiertes Scheidungsrecht, Schutz unehelicher Kinder und Marginalisierung der Kirche bei Eheschließungen auf der anderen Seite, sind die wichtigsten Erlasse. Besonders das „Familiengesetz“, welches im Oktober 1918 in Kraft trat, stand unter dem Einfluss radikaler, utopischer Ideen. Ähnlich wie die Klassengegensätze und der Staat, sollte sich die Familie in der Entwicklung des Kommunismus auflösen: „The Code capsures in law a revolutionary vision of social relations based on women’s equality and the ‚withering away’ (otmiranie) of the family. [...] The Code was accordingly constructed with ist own obsolence in mind,“[24] fasst es Wendy Goldman zusammen.

Die Intentionen waren also auf eine völlige Umwälzung der Geschlechterverhältnisse gerichtet. Wohl aus Furcht, dass sich die Regierung mit diesen Gesetzen des Drucks hinsichtlich der Frauenfrage entledigen wollte, blieb die Forderung nach einer separaten Institution trotzdem bestehen. Besonders nachdrücklich wurde sie auf dem Ersten Allrussischen Arbeiterinnen- und Bäuerinnenkongress formuliert. Die Argumentation der Rednerinnen war, dass die Agitationsarbeit der Partei unter den meist illiteraten, politisch ungebildeten und noch in den Traditionen verhafteten Frauen, vor allem auf dem Land, mangelhaft und unkoordiniert war. Vorgeschlagen wurde ein dezentrales Delegiertensystem, also lokale Organisation und regelmäßige zentrale Versammlungen, auf denen die angetragenen Probleme und Vorschläge diskutiert und Maßnahmen beschlossen werden sollten. Obwohl der Widerstand in der Partei nach wie vor recht groß war, richtete das Zentralkomitee im Dezember 1918 eine direkt unterstellte Frauenabteilung ein, welche 1919 in „Ženotdel“ umbenannt wurde. Inessa Armand wurde die erste Vorsitzende.[25] Eine Direktive wies lokale Parteikomitees an, die Gründung von regionalen Ženotdel zu unterstützen.

Die Einrichtung der Abteilung war zwar offiziell mit der Propagandaarbeit und Mobilisierungsmaßnahmen unter Frauen begründet worden, doch gingen die Visionen von Armand, Kollontaj und ihren Mitstreiterinnen wesentlich weiter. Ihnen ging es nicht nur um Mobilisierung für die Partei und Verbreitung der neuen Ideologie, sondern um die „Transformation der Lebensweise“ und die Schaffung einer „Neuen Frau“.[26] Als zwingend notwendig galt es, die Frau von der Hausarbeit zu befreien.[27] Die Bestrebungen der Ženotdelovki, wie die Aktivistinnen der Einrichtung genannt wurden, transzendierten also die Gesetzeslage. Die „Transformation der Lebensweise“ sollte durch die „Vergesellschaftung der Hausarbeit“, das bedeutet die Schaffung von gemeinschaftlichen Kantinen, Wäschereien und Kindererziehungsanstalten, vorangetrieben werden, Maßnahmen die auch von der Parteiführung befürwortet wurden. Dabei spielten jedoch auch andere Motive eine Rolle, als nur politischen Druck zur Emanzipation der Frau zu entfalten, nämlich die drängende Notwendigkeit, Frauen in die Produktion einzubinden, weil Krieg und Bürgerkrieg viele Männer aus den Betrieben herausgerissen hatten und somit neue Arbeitskräfte benötigt wurden.[28]

Die Arbeit des Ženotdel gestaltete sich von Anfang an schwierig. Die Abteilung musste sich weitgehend auf die Mobilisierung der Frauen für die unbesetzten Arbeitsplätze und notdürftige humanitäre Versorgung durch Einrichtung von Suppenküchen und sanitären Anlagen in den Städten beschränken. An die Umsetzung ihres eigentlichen Anliegens war ob der katastrophalen wirtschaftlichen und humanitären Lage während des „Kriegskommunismus“ kaum zu denken, vielmehr leistete die Abteilung dem Regime Hilfsdienste, die es selbst zu organisieren und koordinieren nicht in der Lage war: „Angesichts der großen Unzufriedenheit und Not im ganzen Land, verteidigte die Frauenabteilung mit aller Gewalt die Sowjetmacht, ohne zu ihren eigentlichen Aufgaben zu kommen.“[29] Bezeichnend ist, dass die „Transformation der Lebensweise“ lediglich im hauseigenen Organ „Kommunistka“ mit Bildern und Graphiken visualisiert, verpackt in Geschichten propagiert und in Leserbriefen und Diskussionen angemahnt wurde, diese Appelle aber kaum reale Auswirkungen hatten. Besonders deutlich wird dies hinsichtlich der „Vergesellschaftung der Hausarbeit“, einem Aspekt, der sowohl im Programm der „Ženotdelovki“ als auch der Partei[30] zentral war und der die Grundlage für die Umwälzung des alltäglichen Lebens darstellte, ohne dass in diesem Jahren jemals der avisierten Vorstellung angemessene Ergebnisse entgegengesetzt werden konnten. Zwar gelang es dem Ženotdel in den Großstädten Petrograd und Moskau in einigen Fällen Wäschereien, Kantinen und Kinderkrippen einzurichten, allerdings waren diese aufgrund der Mangelwirtschaft, der knappen Personaldecke und den fehlenden finanziellen Mitteln weit vom Ideal entfernt. Die hygienischen Umstände in den Einrichtungen waren katastrophal, so dass kaum eine Familie die Angebote wahrnahm und somit die Idee der Transformation in der Realität nicht umgesetzt werden konnte.[31]

[...]


[1] W.I. Lenin, Die große Initiative, in: Ausgewählte Werke Bd. 3, Berlin 81970, S. 241-268, hier: 263. (Hervorhebungen im Text)

[2] Vgl. Goldman, Wendy Z. Industrial Policies, Peasant Rebellion an the Death of the Proletarian Women’’s Movement in the USSR, in : Slavic Review, 55 (1996), S. 46-77, hier: S. 52.

[3] Vgl. Chan-Magomedov, Selim O., Bedingungen und Besonderheiten in der Entstehung der Avantgarde in der sowjetischen Architektur, in: Avantgarde 1900-1923. Russisch-sowjetische Architektur, hrsg. vom Šensev-Architekturmuseum Moskau, Stuttgart 1991, S. 10-33.

[4] Zitiert nach: Obertreis, Julia, Tränen des Sozialismus. Wohnen in Leningrad zwischen Alltag und Utopie 1917-1937, Köln-Wien-Weimar 2004, S. 344.

[5] Marx/Engels: Manifest der kommunistischen Partei, in: MEW Bd. 4, S. 461-493, hier: S. 482.

[6] Vgl Bliznakov, Milka, Soviet Housing during the experimental years, in: Craft Blumfield, William/Ruble, Blair A. (Hrsg.), Russian Housing in the modern age, Washington DC 1993, S. 85-148, hier: 85.

[7] Vgl. Plaggenborg, Stefan, Experiment Moderne. Der sowjetische Weg, Frankfurt/Main 2006, S. 325-329. Plaggenborg interpretiert die autoritären Elemente der bolschewistischen Herrschaft als Reaktion auf die Offenheit und Unkontrollierbarkeit der modernen Gesellschaft, die es nach einem gesamtgesellschaftlich orientierten Plan umzugestalten galt, der aber eben seinerseits wieder kontingente Tendenzen freisetzte. Diese Dialektik sei „charakteristisch für die Zeit bis zum Beginn des Stalinismus.” Ebd. S. 325.

[8] Vgl. Obertreis; Scheide, Carmen, Kinder, Küche, Kommunismus. Das Wechselverhältnis zwischen sowjetischem Frauenalltag und Frauenpolitik von 1921 bis 1930 am Beispiel Moskauer Arbeiterinnen. Zürich 2002. Der Schwerpunkt liegt aber dennoch auf dem eigenen Thema, so bei Obertreis auf der Wohnungs-, bei Scheide auf der Familienpolitik.

[9] Vgl. Aktual’nye russko-jazyčnye publikacii o ženščinach i ženskom voprose v Rossii i v Sovetskom Sojuze, zusammengestellt von Barbara Schweizerhof, Wiesbaden 1995.

[10] Vgl. Evans Clements, Barbara, Bolshevik Women, Cambridge 1997, S. 1.

[11] Vgl. Scheide, S. 45

[12] Vgl. Evans Clements, Barbara, The Utopianism of the Zhenotdel, in: Slavic Review 51 (1992), S. 485-496, hier: 485.

[13] Vgl. Evans Clements, 1997, S. 1.

[14] Vgl. ebd. S. 14. Der Bezeichnung wurde für vor 1921 in die Partei eingetretene Mitglieder verwendet.

[15] Vgl. Dies., Emancipation through communism. The ideology of A. M. Kollontai, in: Slavic Review 32 (1973), S. 323-338, hier: 323-324.

[16] Vgl. Evans Clements, 1997. Clements stellt in ihrem Werk mehrere Biographien vor und erläutert sowohl Gemeinsamkeiten als auch spezifische Motive für die einzelnen Frauen, sich revolutionären Bewegungen anzuschließen.

[17] Scheide, S. 41.

[18] Vgl. ebd., S. 42.

[19] Vgl. Goldman, Wendy, Women, the state and revolution. Soviet family policy and social life 1917-1936, Cambridge 1993, S. 4-5.

[20] Ebd., S. 7.

[21] Zetkin, Clara, Erinnerungen an Lenin, Berlin 41985, S. 73-74.

[22] Vgl. Evans Clements, 1992, S. 487.

[23] So beschwerte sich Lenin im Gespräch mit Clara Zetkin massiv über diesen „Unfug”, wo es doch derzeit um die Abwehr der Konterrevolution ging. Die Fragen der Sexualität galten ihm als „ganz bürgerlich”. Vgl. Zetkin, S. 66-67.

[24] Goldman, 1993, S. 1.

[25] Vgl. Scheide, S. 45-46.

[26] Vgl. Evans Clements, 1992, S. 486.

[27] Vgl. ebd., S. 492.

[28] Vgl. Bliznakov, S. 87.

[29] Scheide, S. 47.

[30] So heißt es im Parteiprogramm von 1919: „Die Partei, die sich nicht auf eine formelle Gleichberechtigung der Frauen beschränkt, strebt danach, diese von den materiellen Lasten der veralteten häuslichen Wirtschaftsführung dadurch zu befreien, daß sie Hauskommunen, öffentliche Speisehäuser, zentrale Waschanstalten, Kinderkrippen u.s.w. an deren Stelle setzt.“ Programm der Kommunistischen Partei Russlands (Bolschewisten) von 1919, in: Meissner, Boris: Das Parteiprogramm der KPdSU 1903-1961, Köln 1962, S. 126.

[31] Vgl. Köbberling, Anna: Zwischen Liquidation und Wiedergeburt. Frauenbewegung in Rußland von 1917 bis heute. Frankfurt/M u. New York 1993, S. 30.

Ende der Leseprobe aus 37 Seiten

Details

Titel
„Transformation der Lebensweise“ - Visionen, Experimente und Probleme der Familien- und Wohnungspolitik in der Sowjetunion (1917-32)
Hochschule
Universität Leipzig  (Historisches Seminar)
Veranstaltung
Revolution als Kultur. Kultureller Wandel und Selbstinszenierung des bolschewistischen Russland 1917-1930er Jahre
Note
1,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
37
Katalognummer
V115841
ISBN (eBook)
9783640171392
ISBN (Buch)
9783640173051
Dateigröße
673 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Wohnungspolitik, Sowjetunion, Revolution, Kultur, Russland, Sozialpolitik, Gender, Familienpolitik, Kommunismus, 1917-1935, Russische Revolution, Oktoberrevolution
Arbeit zitieren
Frank Henschel (Autor:in), 2007, „Transformation der Lebensweise“ - Visionen, Experimente und Probleme der Familien- und Wohnungspolitik in der Sowjetunion (1917-32), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/115841

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