Kinder begegnen Religionen

Überlegungen zur interreligiösen Dimension gemeindepädagogischer Arbeit


Diplomarbeit, 2007

72 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Darstellung und Analyse der Situation - der Diskussionszusammenhang
2.1 Auf der Suche nach einer Standortbestimmung
2.2 Aspekte gegenwärtigen Kindererlebens
2.2.1 Veränderung des religiösen Spektrums
2.2.2 Die demographische Situation
2.2.3 Situation in den Familien
2.2.4 Das soziale Umfeld der Kinder
2.2.5 Medienwelten
2.3 Begegnungen von Menschen, Traditionen und Religionen
2.4 Begegnungsräume
2.4.1 Religionsunterricht (RU)
2.4.2 Gemeinde, Christenlehre
2.5 Zusammenfassung

3. Leben und Welt aus der Sicht von Kindern
3.1 Die Entwicklung der (religiösen) Identität bei Kindern
3.1.1 Religion und Kognition
3.1.2 Erik Erikson und die Entwicklung der Identität
3.1.3 Kognitive Stufen der Religionspsychologie
3.1.4 Stufen der Glaubensentwicklung (James Fowler)
3.2 Zusammenfassung
3.3 Moralentwicklung
3.3.1 Weiterentwicklung gesellschaftlicher Normen und Moralvorstellungen
3.3.2 Denken kontra Handeln?
3.3.3 Bezugspunkte und Zielsetzung der Moralentwicklung
3.3.4 Entwicklung von moralischer Autonomie
3.3.5 Lawrence Kohlberg und die Stufen des moralischen Urteils
3.3.6 Zusammenfassung
3.4 Religiöses Urteil
3.4.1 Der Begriff der Religion bei Oser
3.4.2 Ergänzende Untersuchungen und Reflexionen zu Oser
3.5 Was brauchen die Kinder?
3.6 Perspektivwechsel?

4. Das Christentum und die anderen Religionen
4.1 Das Christentum herausgefordert im pluralen Kontext
4.2 Theologische Diskurse zum Verhältnis der Religionen
4.2.1 Exklusivismus
4.2.2 Inklusivismus
4.2.3 Pluralismus
4.2.4 Die Suche nach Wahrheit
4.2.5 Kritische Schlussfolgerungen
4.3 Religion als Begriff für Glaubensgemeinschaften
4.4 Die Religionen im Licht christlich-theologischer Leitdifferenzierungen

5. Christentum als Konstitution des Dialoges
5.1 Anmerkungen zum Dialogbegriff
5.2 Christentum und Dialog
5.2.1 Der Mensch als von Gott geschaffenes Wesen
5.2.2 Das Kriterium der Nächsten- und Feindesliebe
5.2.3 Jesus Christus als „Begegnung in Person“
5.2.4 Die Asymmetrie des christlichen Projektes
5.3 Grundsätze evangelischer Dialogarbeit

6. Handlungsperspektiven
6.1 Ziele Gemeindepädagogischen Handelns
6.2 Grundsätze evangelischen Bildungsverständnisses
6.3 Blockaden!
6.4 Gemeinde als Lernraum für alle
6.5 Dialog mit Kindern
6.6 Möglichkeiten der Begegnung

7. Resümee: Chancen und Grenzen

Anlagen
I. Literaturverzeichnis
II. Selbständigkeitserklärung

1. Einleitung

Die Welt ist in Bewegung.

Besonders in Europa erleben wir, wie Grenzen zwischen Ländern verwischen, Nationalitäten sich vermischen und Traditionen sich gegenüber stehen. Menschen verschiedenster Herkunft, verschiedensten Glaubens, verschiedenster Menschen- und Gottesbilder treffen in breiter Masse aufeinander. Nicht nur in fernen Ländern, im Urlaub und während Auslandseinsätzen, sondern in ihrer Heimat, vor ihrer Haustür, in ihren eigenen Gemeinden.

Mehr und mehr erleben wir auch, wie sich durch Einwanderungen und Migration unser eigenes kulturelles Spektrum verändert. Die Multikultur und Multireligiosität, die sich in Metropolen anderer Länder längst etabliert hat, schreitet auch in unseren Lebensräumen fort. Stand unser bisheriges Gesellschaftsbild noch unter der Dominanz christlicher Traditionen, so erfordern die aktuellen Veränderungen nun eine größere Dynamik in unserem kulturellen und religiösen Denken.

Auch Kindern bleiben die besonderen Traditionen und Verhaltensweisen der noch fremden Menschen mit ihren je eigenen Traditionen nicht verborgen. Im Gegensatz zu älteren Menschen, die sich an ein gewisses Etablissement gewöhnt zu haben scheinen und die bindende Kraft traditioneller Bezüge noch kennen, nehmen Kinder Unterschiede in kulturellem und religiösen Traditionen wahr und interpretieren diese für sich. Oft anders, als wir das erwarten würden. Aber oft auch nach den Maßstäben gesellschaftlicher Akzeptanz, die wir ihnen gelehrt zu meinen haben.

In vielen dieser Begegnungsprozesse erlebt auch die pädagogische Arbeit in unseren Kirchgemeinden neue Herausforderungen: Was bedeutet es, wenn Kinder von Erlebnissen in anderen Religionsgemeinschaften berichten? Wie verhalten sich kirchliche Mitarbeiter, wenn Kinder fremden Religionen begegnen und andere Formen des Göttlichen kennen lernen? Wie kann unsere Arbeit mit Kindern aussehen, wenn Kinder aus anderen religiösen Hintergründen unsere Angebote wahrnehmen? Wenn sie nach dem „richtigen“ Gott fragen?

Kirchgemeinden in diesem Kontext als Stätten der Begegnung zu definieren, anstatt als abgeschotteter Raum eigener Religiosität, dürfte in vielen Kreisen auch Skepsis auslösen.

Ob Kirche sich durch anhaltendes Verschlossensein für äußere Einflüsse in die Defensive drängen lässt oder durch aktives Aufeinanderzugehen für neue Impulse und Herausforderungen öffnet, liegt in der Hand derer, die immer noch und immer wieder bereit sind, sie aktiv zu gestalten.

Diese Arbeit soll aufzeigen, welchen neuen Fragen zur Religiosität und Interreligiosität ihrer Arbeit sich kirchliche Mitarbeiter in unserer Zeit stellen müssen, welche Entscheidungen wir in grenzwertigen Situationen zu treffen haben, und wie unsere Kirchgemeinden reagieren könnten, wenn sie diese Problemwahrnehmung teilen. Welche Begegnungen können und müssen wir den Kindern in unseren Gemeinden ermöglichen und wie können auch Kirchgemeinden dazu beitragen, ein fruchtbares Miteinander der verschiedenen Glaubensrichtungen zu gestalten?

2. Darstellung und Analyse der Situation - der Diskussionszusammen- hang

2.1 Auf der Suche nach einer Standortbestimmung

Wir kommen aus der Tradition eines christlichen Abendlandes, dem historischen Gebiet der Reformation, in dem die Konflikte, Differenzen, aber in jüngster Zeit auch Annäherungen zwischen den christlichen Konfessionen bisher weiten Vorrang vor Begegnungen mit nicht-christlichen Weltreligionen hatten. Neben den am stärksten vertretenen Konfessionen wie der Katholischen, Evangelischen und Orthodoxen Kirche existiert in unserem Land eine inzwischen fast unüberschaubare Vielzahl an allein christlichen Bekenntnissen. Diese hinreichend bekannte Vielfalt der christlichen Glaubensrichtungen mit all ihren Konflikten, in der Vergangenheit vielfach nicht weniger dramatisch als Auseinandersetzungen zwischen den großen Weltreligionen, treten mehr und mehr in den Hintergrund gegenüber neuen Herausforderungen, die sich durch die neue Vielfalt der Religionen entwickeln.

Inzwischen gehören Mitglieder anderer großer Weltreligionen zu unserer Gesellschaft und beteiligen sich aktiv an unserem Gesellschaftsleben1. Das trifft vor allem für die Religion des Islam zu, deren Vertreter bedingt durch Migration und Einwanderung inzwischen zu einem beachtlichen Bevölkerungsanteil gewachsen sind, der stetig größer wird. Im Jahre 2005 lebten in Deutschland mehr als 3,3 Millionen Muslime, davon ca. 1 Million mit deutscher Staatsbürgerschaft. Tendenz steigend.

Auch das Verhältnis zu der kleineren Fraktion der Juden muss spätestens seit der Schoa immer wieder neu bestimmt, theologische Fragen zum Umgang miteinander immer wieder neu bearbeitet werden. Noch vor einigen Jahrzehnten hätte man die geographische Lage sowohl der vorherrschenden christlichen Konfessionen als auch der nichtchristlichen Religionsgemeinschaften noch recht gut bestimmen können. Diese Homogenität verliert sich, es gibt kaum noch Reinkulturen der religiösen Bekenntnisse.

Die Veränderungen im soziokulturellen Kontext und das Verhältnis christlichen Glaubens zu anderen Religionen theologisch zu klären und Orientierung zu ermöglichen, „so dass sich hieraus praktische Konsequenzen für das Zusammenle- ben ergeben“2, ist eine für unsere Kirchen neue und zugleich herausfordernde Aufgabe. Aus der Theologiegeschichte ist jedoch bekannt, dass sich christliches Bekenntnis, ja religiöses Bekenntnis überhaupt immer schon an der Abgrenzung zu anderen Welt- und Gottesbildern geformt hat und bewähren musste.

Die Auseinandersetzung an sich ist in diesem Sinne nicht neu, aber auch nicht (und wahrscheinlich niemals) abgeschlossen. Immer wieder zentral sind deshalb die Wege zu Möglichkeiten friedvoller und toleranter Koexistenz.

In Deutschland sind die religiös motivierten Auseinandersetzungen bei weitem noch nicht so radikal und existenziell wie in Ländern des Nahen Ostens. Szenen kriegerischer Auseinandersetzungen sind in unserem Land unbekannt; Zeiten, da Ausländerheime brannten, sind vorbei.

Dennoch ist anzunehmen, dass sich das Konfliktpotential zwischen den Religionsgemeinschaften bedingt durch weitere Einwanderungen und Vermischun- gen eher vergrößert.

Angesichts der gehäuften Begegnungen zwischen Menschen verschiedener Religionen mit ihren je eigenen Traditionen, Riten und Lebensstilen ist Verständigung untereinander notwendig, wenn nicht gegenseitiges Unverständnis, Isolation der eigenen Glaubensrichtungen und konfliktreiches Miteinander zu Charakteristika des gesellschaftlichen Miteinanders werden sollen.

Die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Gegenüber zielt nicht nur auf Konfliktprävention, sondern auch auf Hilfe zur persönlichen Auseinandersetzung und zur eigenen Identitätsfindung.

Sicherlich ist Religion hierbei nur ein Aspekt menschlichen Lebens, während zur gleichen Zeit Menschen ohne explizit religiösen Hintergrund Konflikte austragen, bei der sie das Kriterium „Gott“ oder andere zentrale Glaubensinhalte als Vergleichskomponente noch nicht mal zur Verfügung haben.

Für mich als angehenden Religions- und Gemeindepädagogen ist Religion aber das Kennzeichen, anhand dessen vieles deutlich werden kann und an dem eigene und fremde Erfahrungen gewinnbringend reflektiert werden können.

Die eigene Motivation zur Auseinandersetzung mit anderen Religionen, die Absicht des Dialoges mit anderen Religionsgemeinschaften und mein Maß der Toleranz gegenüber Andersdenkenden und -glaubenden sind Intentionen, die sich über ein Leben lang quantitativ und qualitativ verändern und oftmals mit sehr persönlichen Erfahrungen verbunden sind. Auch die Entwicklung von „religiöser Sprachfähigkeit“ und Dialogbereitschaft geschieht in einem Prozess, der bei verschiedenen Menschen individueller kaum sein kann.

Für mich wäre nicht zufrieden stellend, wenn Kirche sich allein aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen mit den vermehrt auftauchenden nichtchristlichen Religionen beschäftigen sollte, sondern es müssen auch theologische und anthropologische Begründungen darstellbar sein.

Es kann daher hier kein pauschales Konzept entwickelt werden, welches eine entsprechende Kompetenzförderung zum Ziel hätte und eine stringente Abfolge verschiedener Schritte o.ä. zum Inhalt hat.

Mir geht es darum, zu untersuchen, wie Menschen bereits im Kindesalter Religiosität wahrnehmen und entwickeln und nach Möglichkeiten und Impulsen zu suchen, wie sie auf solche Situationen vorbereitet werden können. Dabei sollen besonders entwicklungspsychologische und theologische Aspekte in den Blick genommen werden.

2.2 Aspekte gegenwärtigen Kindererlebens

2.2.1 Veränderung des religiösen Spektrums

Nach wie vor begegnen auch Kinder Religiösem, sei es nun dem Kruzifix im Klassenzimmer, dem Tschador (Schleier) der muslimischen Mitschülerin oder den Kippas (Stoffkäppchen) frommer Juden. Während sich das Spektrum religiöser Erscheinungen kontinuierlich vergrößert, verringert sich gleichzeitig die Anzahl derer, die Religion und Glauben im herkömmlichen Sinne bewusst praktizieren. Die

Veränderungen der religiösen Einstellungen, die sich in den letzten 25 Jahren innerhalb Deutschlands ergeben haben, sind hierbei unübersehbar3. Die stark veränderte religiöse Lage ist hierbei gekennzeichnet durch a) ein Abrücken eines Großteils der Bevölkerung von traditionellen Formen christlich-kirchlicher Religiosität, b) Zunahme von Menschen, die sich expliziter religiöser Bedeutungen nicht mehr bedienen und c) der Verbreitung so genannter „neuer, religiöser Spiritualität“.

Unmittelbar wahrzunehmen ist vor allem das Auftauchen muslimischer Religiosität.

Fred Ole Sandt spricht hierbei von einem „allgemeinen Traditionsabbruch bei gleichzeitiger religiöser Pluralisierung“.4

Kinder, besonders aber Jugendliche nehmen im Prozess religiöser Neuorientie- rung eine Vorreiterrolle ein. Jugendliche sind oft diejenigen unserer Gesellschaft, die ihre Kritik am ehesten offen und unbeschönigt aussprechen.

Allerdings: Eine Differenz von Lebensstil und Wertemuster zwischen christlichen und nichtchristlichen Jugendlichen ist offensichtlich kaum noch erkennbar. Ein noch 1970 deutliches christliches Profil5 über religiöse Praxis und Einstellung kann heute so nicht mehr entworfen werden.

Die Säkularisierung der Gesellschaft zeigt sich hier also nicht nur in der Entkirchlichung und dem damit verbundenen Mitgliederschwund, sondern auch in breiten Veränderungen und Wandlungen der Religiosität durch die Kirche hindurch.

Gemäß der wachsenden Unverbindlichkeit in Bezug auf religiöse Denkweisen spricht man demzufolge von „christlich orientierten“ Jugendlichen oder „atheistisch orientierten“ Kindern und Jugendlichen.

Da diese Arbeit schwerpunktmäßig die Perspektive der Kinder im Auge behalten soll, bedarf es m. E. der Analyse der Situation heutigen Kindererlebens. Da pädagogisches Handeln immer im Kontext eines gesellschaftlichen Settings stattfindet, sind auch zur Veränderung des sozialen Umfeldes einige Angaben erforderlich.

2.2.2 Die demographische Situation

Werden die sozialen Veränderungen in Deutschland allein für die letzten Jahrzehnte betrachtet, so fallen besonders die zurückgehenden Kinderzahlen auf. Sowohl der relative, als auch der absolute Anteil der Kinder in unserer Gesellschaft verringerte sich deutlich. Der Anteil der Kinder ist wegen der niedrigen Geburtenrate seit

Jahrzehnten gesunken: 1950 waren in Deutschland noch 23% der Bevölkerung unter 15 Jahren alt, das entspricht über 16 Millionen Kindern. 1990 waren es 15% der Bevölkerung, das entspricht nur noch ca. 12 Millionen Kindern6. Im Jahr 2005 ging der Anteil der unter 15 Jahre alten Kindern mit 11,6 Millionen weiter auf 14,1 Prozentpunkte zurück.

Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes7, die einen jährlichen Wanderungssaldo von +100000 Menschen und die aktuelle Geburtenrate von 1,4 Kindern pro Frau als konstant zu Grunde legt, könnte die absolute Zahl der Kinder im Jahr 2050 auf 7,5 Millionen gesunken sein. Die Lebenserwartung dieser Kinder beträgt dann allerdings im Schnitt 85,75 Jahre. Während es im Jahr 2005 etwa genauso viele Neugeborene wie 60-jährige Menschen gab, würde sich die Zahl der 60-Jährigen gegenüber der Zahl der Neugeborenen verdoppeln.

2.2.3 Situation in den Familien

Genannte quantitative Veränderungen wirken direkt und indirekt auf die Qualität der Kindheit aus: Die meisten Kinder wachsen heute in kleinen Haushalten und Ein- Elternfamilien auf, Familien mit drei oder mehr Kindern sind zur Seltenheit geworden. Einer nur relativ steigenden Anzahl von Einzelkindern mangelt es an Spielgefährten in Familie und Nachbarschaft; ausgedünnte Verwandtschaftsnetze und reduzierte nachbarschaftliche Kindernetzwerke sind die Folge. Viele Klein- Familien leben in einer gewissen gesellschaftlichen Isolation, was innerfamiliär zu einer Art Treibhausklima führen kann und Destabilisierungen hervorruft.8 Manchmal werden Kinder in den psycho-sozialen Konfliktlagen der Eltern zu wichtigen und gegebenenfalls einseitig ausgenutzten emotionalen Partnern. Mit den Konflikten der Erwachsenen werden sie häufig überfordert.

Besonders in Städten haben Kinder oft die Orte verloren, an denen sie ihre eigene Sozialwelt aufbauen können, Freizeitangebote und überhaupt Freiraum zum Umherstreifen und Erkunden fehlen9. Immer häufiger sind sie auf die Kompetenz ihrer Eltern, im Einzelfall auch ihrer Geschwister angewiesen, ihnen soziale Kontakte zu erschließen, aber auch auf der Liquidität der Erziehungsberechtigten, die noch vorhandenen Angebote der Kinderkultur zu finanzieren.

Was die eigenständige Beziehungsgestaltung der heutigen Kinder betrifft, so sind auch bei ihnen schon ein hohes Maß an Initiative, Kontaktfreudigkeit und Flexibilität gefragt. Viele Kinder können das leisten, einige aber scheitern an diesen Herausforderungen und erleben Isolationen und Vereinsamung.

Außerdem erleben Kinder heute eine größere Bandbreite verschiedener Lebensformen: Der größte Teil der Kinder wächst zwar noch in Normalfamilien auf, ein größer werdender Anteil lebt aber in vielfältigen Lebens- und Familienformen wie nichtehelichen Gemeinschaften, Zweitfamilien und anderen alternativen Lebensgemeinschaften. Die Anzahl der geschiedenen Ehen steht in beinahe reziproker Korrelation zur Anzahl der Eheschließungen. Im Jahr 1970 kamen auf

1000 Bürger statistisch gesehen noch 7,0 Eheschließungen und 1,3 Ehescheidun- gen jährlich. 2005 waren es nur noch 4,7 Eheschließungen, dafür 2,6 Ehescheidun- gen.

Das führt dazu, dass Kinder nicht selten den Wechsel von einer zur anderen Familienform aushalten müssen: Aus Scheidungsfamilien werden Stieffamilien mit Zweitvätern oder Zweitmüttern, ein Zusammenleben mit nichtehelichen Zweitpartnern oder so genannten Lebensabschnittsgefährten. „Viele Kinder haben keine kinderreiche, sondern eine »elternreiche« Familie. Der Begriff der

„Patchworkfamilie“ bürgert sich ein.“10 Den Kindern wird es selbst überlassen, sich daraus ihr eigenes Bild von Familie als einem Stück ihrer Lebenswelt zu formen.

So leben im Westen Deutschlands ca. 25% der Schulkinder bei der allein erziehenden Mutter, im Osten dürfte die Quote sogar noch höher liegen. In der Vielfalt dieser Familienkonstellationen wird unklar, in welchen Assoziationen ein Kind denkt oder spricht, wenn von „Familienleben“ die Rede ist.

Nachweislich beeinflussen die von den Eltern im eigenen Elternhaus erlebten Erziehungsstile ihre eigenen Erziehungspraktiken erheblich11; Studien haben gezeigt, dass eigene Erfahrungen in der Kindheit eine insofern nachhaltige Wirkung haben können, dass Kinder geschiedener Eltern eine Ehescheidung eher in Betracht ziehen als Kinder funktionierender Normalfamilien12.

Ähnliche Nachahmungseffekte elterlichen Verhaltens sind auch in anderen Lebensbereichen zu erwarten, in vielen Bereichen auch nachweisbar (z.B. deviantes Verhalten, Kriminalität usw.).

Gleichzeitig haben Eltern immer weniger Zeit für ihre Kinder. Insofern hat die Modernisierung und Industrialisierung massive Auswirkungen auf die innerfamiliären Beziehungen und die Lebensbedingungen von Kindern. Tendenzen zur Individualisierung der Biographien in den letzten Jahrzehnten sind besonders von alternativen Lebensentwürfen der Frauen geprägt13, so dass deren geänderte und selbständige Perspektiven inzwischen vermehrt auf Verbindungen zwischen Familien- und Berufsleben orientiert sind. Die höhere Verdichtung der Anforderun- gen zeichnet sich wiederum bei beiden Elternteilen ab, da beiderseits nach leist- und lebbaren Kombinationen aus Arbeits- und Familienleben gesucht werden muss. Für die Kinder äußert sich das unter anderem darin, dass sie nicht nur weniger

Zeit mit ihren Eltern verbringen, sondern auch ein größerer Teil der Erziehungsar- beit außerhalb der Kernfamilie passiert. Oft wird die Verantwortung für die Kinder bewusst den professionellen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen überlassen.

Begründungen für die wachsende Anzahl der Ein-Kind-Familien und der kinderlosen Paare finden sich neben dem verschwindenden Aspekt der Altersvorsorge auch darin, dass Familien mit vielen Kindern auch heute noch ökonomisch benachteiligt sind. Zwar bemüht sich die aktuelle Familienpolitik z. B. durch steuerliche Begünstigungen, Erziehungsgelder u.ä. darum, die Erziehung von Kindern wieder attraktiver zu machen, dennoch müssen Paare, die sich für ein Leben mit Kindern entscheiden, erhebliche finanzielle Einbußen in Kauf nehmen. Da zumindest ein Elternteil zeitweise auf seine Erwerbstätigkeit verzichten muss, verringert sich das Pro-Kopf-Einkommen im Haushalt, während die Lebenshaltungskosten steigen.

In das gesellschaftliche Bild von Lebensqualität passen Kinder kaum noch hinein. Es gibt einen widersinnigen Zusammenhang von Wohlstand und Kinderzahl, denn nicht diejenigen haben viele Kinder, die es sich finanziell am ehesten leisten könnten. Mit steigender Kaufkraft der Lebensgemeinschaften sinken vielmehr die Kinderzahlen und der Anteil der erwerbstätigen Frauen nimmt zu. Die traditionelle

Familie wird „ökonomisch abgehängt“14, das Familienleben findet hauptsächlich in den „Unterschichten“ statt, denn Kinder „schränken Freiheit und Ehrgeiz ein, mindern den Wohlstand, hindern im Individualisierungsprozess. Oft legen strukturelle Hindernisse [...] den Verzicht auf Kinder nahe [...].“15

Neben all diesen eher negativ anmutenden Spannungen und ambivalenten Verhältnissen, in denen Kinder sich heute orientieren müssen, gab es im letzten Jahrhundert viele Entwicklungen und Fortschritte deutlich zugunsten der Kinder. Erst seit Beginn des letzten Jahrhunderts sind Kinder von Erwerbsarbeit freigestellt. Neue medizinische und soziale Dienste nehmen Kinder intensiver und genauer in den Blick als früher. Kindheit wird heute spezifischer gestaltet als früher, wenngleich kommerzielle Interessen auch vor jungen Menschen nicht halt machen. Insgesamt werden kindliche Perspektiven heute weit mehr erforscht und berücksichtigt als früher.

2.2.4 Das soziale Umfeld der Kinder

Weil das selbst erschlossene Wohnumfeld vieler Kinder eingeschränkt ist, konzentrieren sich die sozialen Beziehungen der Kinder oft innerhalb der institutionellen Betreuungsangebote: Für Familien haben Kindertageseinrichtungen bei den heutigen Lebensbedingungen und bei den Veränderungen im Wohnumfeld eine bedeutende Sozialisationsfunktion.16

Bereits ab frühem Alter erleben Kinder demzufolge ein Nebeneinander verschiedener Werte, Lebensstile und Kulturen. Auch in Kindertagesstätten hat Multikulturalität und Multireligion schon länger Tradition. Längst sind die Peergroups der Kinder nicht mehr homogen. Je urbaner die Region, umso selbstverständlicher sind Migranten- und ausländische Kinder Mitglieder der Gruppen.

Waren unter den 1970 in Deutschland lebenden 61 Millionen Menschen 2,7 Millionen (4,5%) ohne deutsche Staatsbürgerschaft, stieg der Ausländeranteil bis 2006 auf 7,3 Millionen (8,9%) Menschen von insgesamt 82,5 Millionen.17

Schon im Kindesalter kann das Aufeinandertreffen verschiedener Lebenswel- ten zur Herausforderung werden. Besonders deutlich zeigt sich dies bei Kindern aus gemischt-ethnischen Familien18. In diesen Konstellationen müssen Kinder damit zurechtkommen, dass einst angeeignete Werte und Normen auf Grund familiärer Veränderungen oder Wanderungsbewegungen plötzlich nicht mehr gelten und gewohnte Sicherheiten aufgegeben werden müssen oder ganz fehlen.

Dazu kommt die Tatsache, dass vor allem die Kinder von Zuwandererfamilien in Wohngebieten mit höherem Konfliktpotential leben, und dass ein Überlebenskampf um Wohnung und Arbeitsplatz zwischen deutschen und eingewanderten Menschen den Fremdenhass schürt und die Wahrscheinlichkeit von gewaltsamen Konflikten erhöht. Bedingt durch höhere Mobilität und Flexibilität werden Kinder heute viel früher mit weltanschaulichen und religiösen Konflikten konfrontiert, so dass es notwendig wird, ihre Fragen und Konflikte wahrzunehmen und mit ihnen nach Antworten zu suchen.

2.2.5 Medienwelten

Die Flut der Medien in vielfältiger Form überschwemmt auch die Welt der Kinder massiv. Die von Erwachsenen geschaffene Medienkultur erreicht Kinder immer früher, nicht zuletzt, um diese durch frühzeitige Prägung und Orientierung auf Produkte und Marken als potentielle Kunden zu gewinnen.

Der Konsum moderner Medien (Fernsehen, Computer, Internet usw.) ist inzwischen für nahezu alle Kinder zugänglich und selbstverständlich geworden.

So verwundert nicht, dass Medien, insbesondere Fernsehen, in der Öffentlichkeit bevorzugt als Aspekt veränderten Kinderlebens genannt werden19.

Die Fülle der Informationen über die verschiedenen Medien nimmt kontinuier- lich zu, während die Erfahrungen aus erster Hand abnehmen.

Die Einlagerungen von Bildern und Fiktionalisierung verdrängen natürliche Sinneserfahrungen und Wirklichkeitsaneignung; die Wahrnehmung des realen Lebens und die Erfahrung in dieses eingebettet zu sein, geht mitunter verloren, so dass die Motivation und die Kreativität, die Welt verändernd mitzugestalten ebenfalls abnimmt.

Gar nicht so sehr die Masse der Information oder die Fesselung der Kinder an Bilder ist es also, die das pädagogische Problem extensiven Fernsehkonsums ausmachen, sondern die Mediatisierung, Domestikation oder Fixierung der Erfahrungen und Fantasien durch eine Programmindustrie, die zu einer Bewusstseinsindustrie geworden ist.20

Während explizite Reklamen in Film und Fernsehen, Printmedien und Hörfunk jeweils auf explizite Produkte oder Produktserien fixiert sind, ist die gesamte Medienwelt nicht frei davon, Menschen und Kinder zu beeinflussen und nicht selten einengend zu orientieren, was Fragen des Welt- und Menschenbildes, der eigenen Perspektive und anderer Lebensfragen betrifft. In Medien kann sich so die ganze Gesellschaft spiegeln und präsentiert für den Außenstehenden eine Art ganzheitliche Lifestyle-Werbung, derer zu entziehen wir längst verlernt zu haben scheinen.

In vielen Fällen werden existenzielle Fragen nach Religion, nach wirklichem Sinn und nach Lebenszielen auf differenzierte Modi des unbegrenzten Wohlstandes reduziert und tiefer liegende Sinnfragen oberflächlich verdrängt, indem bestimmte Konfliktlösungsstrategien einseitig verstärkt werden.

Nicht ohne Grund verstehen Umfragen zufolge21 muslimisch geprägte Jugend- liche nicht nur den Islam, sondern Religion überhaupt als Gegenüber zu unserer westlich geprägten Lebenswelt, während sie das ursprüngliche Christentum eher als Islam-verwandt bezeichnen würden. Aus deren Sicht spiegelt sich im kommerziali- sierten westlichen Europa keine Religion im eigentlichen Sinn, sondern eine egozentrische und individualistische Lebensweise, die mit Glauben und Religion kaum noch zu tun hat.

Begreift man Religion jedoch nicht nur im Sinne eines Glaubensbekenntnisses als organisierte Beziehung eines Menschen zu Gott, sondern separat auch als Beziehung des Menschen zu sich selbst und den gewählten Werten und Zielen, begegnen wir in Medien einer Vielfalt von „Ersatz-Religionen“ und Weltanschauun- gen, die sich teils massiv konkurrieren.

Wenngleich Kinder mit einer unüberschaubaren Vielfalt der Weltanschauungen und Sinnantworten konfrontiert werden, sind sie doch nicht minder träge darin, ihre eigenen Theologien und Welterklärungen teils synthetisch, teils in echter Auseinandersetzung zu formulieren.

Dies geschieht jedoch in Abhängigkeit des individuellen Bedeutungsranges der Medien in ihrer familiären Situation und der Einbindung in Kinderfreundschaftsnetze. Kindern, die zu oft sich selbst überlassen sind und für die das Fernsehen zur Ersatzbeziehung wird, fehlen oft distanzierende Auseinandersetzungen mit Erwachsenen. Für Kinder, denen Alternativangebote zur Verfügung stehen und für die mediale Welten eine Ergänzung darstellte, kann der Medienkonsum durchaus bereichernd und bildend wirken.22

2.3 Begegnungen von Menschen, Traditionen und Religionen

Wenn ich den Begriff der Religion für diesen Abschnitt bewusst auf (Welt-) Religionen im engeren Sinn einschränke, bleibt immer noch deutlich, dass die Begegnung und das Nebeneinander verschiedener Religionsgemeinschaften und Konfessionen in den verschiedenen Lebensbereichen auch Kindern nicht verborgen bleibt.

Die Erfahrungswelt der Kinder wird immer vielfältiger, gleichzeitig aber auch immer unstrukturierter. Individualität und Selbstbestimmung sind die Schlagworte unserer Zeit, die sich für Kinder und Jugendliche zunächst in einer erschwerten Orientierungssuche niederschlagen.

Sie erleben die verschiedenen Glaubensrichtungen teils in fruchtbarem Miteinander, manchmal auch in Gegnerschaft oder Konkurrenz. Die Abgrenzungen der christlichen Konfessionen untereinander und der Freikirchen von den Volkskirchen sind zwar in den letzten Jahrzehnten weitgehend überwunden worden. Für interreligiöse Beziehungen sehe ich bisher nur wenige vergleichbare Prozesse des Entgegenkommens.

Kaum eine Bevölkerungsgruppe erlebt Begegnungen dennoch so unkompliziert und vorbehaltlos wie Kinder dies tun. Wenn Jesus seine Gefährten einst dazu aufforderte, das Himmelreich so anzunehmen wie Kinder es tun23, dann meint er damit wohl auch die Offenheit und Vorurteilslosigkeit, mit der Kinder in der Lage sind, Beziehungen zu stiften.

Aus kindlicher Unvoreingenommenheit und ihrem spezifischen Umgang miteinander und gegenüber dem Fremden ergibt sich demnach beträchtliches Potential, welches nutzbar gemacht werden kann, um Vorurteile frühzeitig zu vermeiden.

Die Begegnung zwischen Kindern und Religion erfolgt denn auch nicht sachbezogen, sondern in der Regel mittels personaler Erlebnisse: Kinder beschäftigen sich weder mit ihrer eigenen noch mit einer fremden Religion als einem Abstraktum, was es zu erkunden gilt, sondern sie treffen auf Menschen, die sich zunächst ihnen gegenüber verhalten, sie machen Erfahrungen, die sie zu deuten versuchen. Wenn also davon die Rede ist, dass Kinder Religionen begegnen, bedeutet das zunächst, dass Kinder Menschen oder Ereignissen begegnen, die sich (ihnen gegenüber) religiös begründet verhalten.

Sie sehen nicht zuerst eine Muslima, sondern sie sehen eine Frau mit Kopftuch oder einen Menschen, der seinen Teppich ausbreitet, sich darauf kniet und gesenkten Hauptes betet, da religiöse Kategorien noch indifferenter sind.

Kinder wie Erwachsene nehmen also Welt (z.B. das Handeln anderer Menschen) wahr und interpretieren es für sich.

Die Spielräume der Interpretation sind demzufolge das eigentliche Lern- und Entwicklungsfeldfeld und somit Gegenstand der Diskussion, denn die Deutung des Wahrgenommenen gründet sich wiederum auf der eigenen Sozialisation, der Internalisierung von Normen, der Emotionen und der eigenen Biographie.

2.4 Begegnungsräume

2.4.1 Religionsunterricht (RU)

Religionsunterricht kann ab dem Schulalter in diesem Problemfeld zur Identitätsfin- dung und zur religiösen Standortbestimmung beitragen, indem im schulischen Kontext Konflikte aus Schülerperspektive bearbeitet und Problemfragen bearbeitet und geklärt werden.

Schule wird zum Ort der organisierten Begegnung mit Sachen und Menschen, und speziell im RU sind die Schüler aufgefordert, sich mit religiösen und lebensweltli- chen Themen auseinanderzusetzen und sich so „religiös zu bilden“. Einen strukturellen Vorteil hat der RU schon darin, dass er ein langfristig angelegtes Curriculum zu Grunde legen kann, durch den bei gleichzeitiger Berücksichtigung der kognitiven Entwicklung der Schüler ein breites Themenfeld bearbeitet werden kann.

Allerdings ist heute auch im konfessionellen RU nicht mehr davon auszugehen, dass die Schüler christlich sozialisiert sind und überhaupt eine entsprechende christliche Perspektive einnehmen wollen. Insofern ist die Wahrscheinlichkeit gegeben, dass atheistisch orientierte Schüler im evangelischen RU als „christlich sozialisiert“ vereinnahmt werden. Diese Heterogenität der Gruppe hat für unterrichtliches Geschehen Chancen und Grenzen zugleich.

Häufig wird deshalb in der religionspädagogischen Diskussion die Position vertreten, dass die Vorraussetzungen für die Dialogfähigkeit bei Schülern und Schülerinnen erst noch zu schaffen seien24, so zum Beispiel von der Evangelischen Kirche in Deutschland in ihrer Stellungnahme zum RU „Identität und Verständi- gung“.25 Für den RU wird dabei von einem Grundmodell ausgegangen, dass mit einer zumindest teilweisen Beheimatung der Schüler in ihrer Religion rechnet. Die dabei zu entwickelnde und zu gewinnende Identität wird dann zur Voraussetzung für die Dialogfähigkeit mit anderen religiösen Einstellungen und Auffassungen.

2.4.2 Gemeinde, Christenlehre

Evangelische Kirchgemeinden können andere Schwerpunkte setzen. Eine christliche Perspektive der Mitglieder kann hier eher vorausgesetzt werden und wird in den meisten Fällen als Ausgangspunkt der Exkurse dienen. Dennoch sind die meisten gemeindlichen Angebote offiziell weder geschlossene Veranstaltungen noch an Mitgliedschaften gebunden.

Gottesdienstbesuche vieler evangelischer Kirchenmitglieder in anderen evangelischen Gemeinden, mitunter auch in Veranstaltungen anderer Konfessionen (Freikirche, FeG etc.) sind nicht unüblich, in vielen Fällen die Regel. Erlaubt ist, was gefällt; gewählt werden Orte und Gemeinden, an denen man sich wohl fühlt.

Prinzipiell wäre damit die Möglichkeit gegeben, dass auch Mitglieder nicht- christlicher Religionsgemeinschaften die Veranstaltungen der evangelischen Kirchen besuchen und sie im Ausnahmefall für die eigenen Mitglieder ihrer Attraktivität berauben.

Ungeklärt ist, wie angemessene Reaktionen hierfür aussehen könnten.

Gemeinde als Gemeinschaft der Christen verstehe ich hier als Ort der teils spontanen, teils organisierten Begegnung von Menschen untereinander sowie als Ort der Begegnung von Menschen mit Gott. Eine Handreichung der Ev. Kirche Nordrhein-Westfalen zur Erstellung von Gemeindekonzeptionen umreißt recht treffend die verallgemeinerbaren Ziele gemeindlicher Arbeit:

- die Gemeinde soll ihren biblischen Auftrag und ihre Dienste als Teil der Kirche Jesu Christi wahrnehmen
- die Prozessbeteiligten sollen ermutigt werden, ihren eigenen Glauben, ihre Visionen und Wünsche für ihre Gemeinde/ Kirche sowie ihre persönlichen Ressourcen zu kommunizieren und in den Dienst des gemeinsamen Auftra- ges stellen
- die Ziele bestimmen sich an gemeindlicher Wirklichkeit in einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort, die Lebenssituationen der Menschen vor

Ort sowie das gesellschaftliche und politische Umfeld sollen in den Blick genommen werden

Eine Kirche, die sich diese noch recht allgemeinen Grundsätze zu eigen macht und sich selbst den Auftrag gibt, ihre Arbeit auch an gesellschaftspolitischen Gegebenheiten und Veränderungen zu orientieren, trifft zwangsläufig auf Menschen, die Anhänger nicht-christlicher Religionen sind. Der Rat der EKD beschreibt in seiner Handreichung zur „Gestaltung der christlichen Begegnung mit

Muslimen“ dazu Begegnung als ein Wesensmerkmal der Kirche26: „Die Begegnung mit Andersgläubigen ist uns nicht nur durch die heutige multireligiöse Situation aufgegeben, sondern sie ist im Kirchesein selbst verankert und findet ihre Grundlegung in Jesus Christus (siehe 4.). Sie ist nur dann zukunftsfähig, wenn sie als »Mission in der Weise Christi« geschieht, die sowohl die Verantwortung gegenüber den Menschen als auch ihre Verpflichtung gegenüber Gott in Christus ernst nimmt. Wenn sich Kirche den Muslimen zuwendet, treibt sie nicht ein ihr fremdes Geschäft, sondern ihr Sein und ihre Sendung führen sie notwendigerweise zu den ihr religiös Fremden. [...] Sie muss über ihre Grenzen hinausgehen.“

Der Rat der EKD sieht die multireligiösen Gegebenheiten als Herausforderung und als Anlass zur Thematisierung in den Gemeinden. Es bleibt zu fragen, was unter »Mission in der Weise Christi« konkret zu verstehen ist; schnell drängt sich hier der Verdacht einer vereinnahmenden Mission aus. Dies wird an anderer Stelle zu klären sein.

In den neuen Bundesländern wird unter „Christenlehre“ bzw. adäquaten Angeboten anderen Namens (Kinderkirche etc.) der Ort verstanden, in dem Kinder Gemeinde und christliches Leben kennen lernen und Beziehungen zur und innerhalb der Gemeinde aufbauen. Der Christenlehreunterricht, der zu DDR-Zeiten an die Stelle schulischen Religionsunterrichtes getreten war, hat auch 15 Jahre nach der Wende für die christliche Erziehung besonderen Wert.

In der Christenlehre sollen Kinder „im Glauben leben lernen“, indem sie mit dem Evangelium und dem gelebten Glauben vertraut werden, christliche Themen, Traditionen und Symbole wahrnehmen und verstehen lernen und zunehmend mit ihrem eigenen Leben in Bezug bringen.

Christenlehre ist aber auch der organisierte Ort, an dem sich Kinder über ihre Glaubens- und Lebenserfahrungen austauschen und mit gleichaltrigen z.B. kritische Situationen verhandeln können. Ihre Identität entwickelt sich im Zusammenleben, im lebendigen Wechselspiel von Zustimmung und Ablehnung. Mit zunehmender religiöser Pluralisierung ist in Zukunft wahrscheinlich, dass in diesem Bereich die Frage nach ‚anderen Göttern, anderen Religionen und anderen Gemeinschaften’ öfter auftaucht. Wünschenswert wäre, für diese Situationen Möglichkeiten zur angemessenen Thematisierung zu finden, um dem Anspruch der ‚Begleitung in allen Lebenslagen’ gerecht zu werden.

2.5 Zusammenfassung

Wie aufgezeigt, erfahren die weniger werdenden Kinder, auch bedingt durch das reduzierte Familienleben, immer weniger Erziehung in ihren Kernfamilien. Die Klärung elementarer Lebensfragen und die Erziehung der Kinder wird weniger als früher von den Eltern geprägt. Die pädagogische Verantwortung wird dafür öfter bewusst in die Hand von Fachkräften gelegt. Auch die religiöse Erziehung wird in vielen Fällen kaum noch von den Eltern selbst gestaltet, sondern Institutionen und deren Personal, also z.B. hauptamtlichen Mitarbeitern von Kirche und Gemeinde übertragen.

In der religiösen Erziehung ist Religionsunterricht kein expliziter Ort der Gottesbegegnung „von innen“, sondern eher Verständigung über religiöse Perspektiven. Zu beachten ist, dass der RU-Lehrer oftmals aus einem anderen religiösen und sozialen Hintergrund als dem der Schüler kommt. Damit unterscheidet sich auch seine Perspektive von der der Schüler.

Die Kirchgemeinde als Lernraum kann sich deshalb dem Dialog und der Kommunikation der Perspektiven nicht nur nicht entziehen, sondern sie hat auch eine besondere Chance bei der Thematisierung verschiedener Glaubensinhalte. Sie gründet sich auf einer konkreteren Zielsetzung bezüglich der Glaubensinhalte und des gemeinschaftlichen „Im-Leben-Glauben-Lernens“, einer konkreteren Ausgangssituation und einem größeren Konsens in Gottesfragen: Gemäß dem christlichen Bekenntnis anerkennt sie den Gottessohn Jesus Christus als gemeinsamen Glaubensmittelpunkt.

Alle folgenden Überlegungen können sich dennoch primär nur auf unser eigenes Tun in unseren eigenen Glaubensgemeinschaften beziehen. Natürlich wäre wünschenswert und geradezu notwendig, dass auch die pädagogische Arbeit mit Kindern anderer Religionsgemeinschaften von Seiten derer dialogisch gestaltet wird, dies entzieht sich aber unserem direkten Einfluss. Andere Religionsgemein- schaften müssen ihre eigenen Antworten finden.

3. Leben und Welt aus der Sicht von Kindern

In diesem Abschnitt gilt es, die religiöse Entwicklung von Kindern zu untersuchen und herauszuarbeiten, wie sich ihre Identität und ihr religiöses Verständnis entwickeln. Ziel der Angelegenheit ist es, Ansatzpunkte zu finden, an denen mit Kindern über andere Religionen in einer Form kommuniziert werden kann, in der kein Feindbild geschürt wird, sie aber auch nicht den eigenen Boden unter den Füßen verlieren bzw. durch unüberschaubare Vielfalt unnötig verunsichert werden.

Bisher ist die Praxis in evangelischen Kirchgemeinden, dass Kinder zunächst in ihrer „Mutterreligion“ aufwachsen, ohne von anderen Bekenntnissen überhaupt zu wissen („Beheimatung im Eigenen“). Fast zwangsläufig führt eine spätere Begegnung mit anderen Religionen bzw. Religiösem dazu, dass dieses als fremd, wenn nicht feindlich wahrgenommen wird.

Der Grad der Abneigung gegenüber dem Fremden ist selbstredend abhängig von der religionspädagogischen Stringenz, unter der die Kinder aufgewachsen sind.

Kann es also Erfolg haben, Kinder so zu sozialisieren, dass sie im Gegenüber auch sich selbst erkennen und ihre Identität in kontinuierlicher Auseinandersetzung mit dem Fremden bilden? Es müsste dann gelingen, die Offenheit und Unbefangenheit der Kinder in Bezug auf Beziehungen entsprechend zu fördern und so über das Kindesalter hinaus zu retten. Globalziel wäre hier neben erlernter und als positiv erfahrener Toleranz gegenüber Fremden das Erreichen eines höheren Grades sozialer Kompetenz und die Konfliktprävention.

3.1 Die Entwicklung der (religiösen) Identität bei Kindern

Mittlerweile gibt es eine Vielzahl von Theorien und Modellen zur Entwicklung des religiösen Verständnisses von Kindern, wobei Religiosität als Entwicklungskriterium immer nur einen Ausschnitt aus der gesamten Lebens- und Erfahrungswelt der Kinder und des Menschen überhaupt beinhaltet.

Friedrich Schweitzer beschreibt dies als einen engen Zusammenhang von Lebensgeschichte und Religion, in dem sich Denken und Vorstellungen genauso wandeln wie Gefühle und das direkte Verhältnis zu Gott.27 Entsprechend kann die religiöse Entwicklung des Kindes immer nur im Kontext der gesamten (kognitiven) Entwicklung betrachtet und beurteilt werden.

Es ist unmöglich, die verschiedenen Entwicklungstheorien in dem gegebenen Rahmen auch nur annähernd vollständig darzustellen. Die meisten der gängigen Modelle (Freud, Piaget, Kohlberg, Oser etc.) können zweifelsohne als Lebenswerke der Autoren bezeichnet werden, die von ihnen immer wieder verändert und aktualisiert wurden. Ich werde mich daher darauf beschränken, die wichtigsten Eckdaten der verschiedenen Ansätze darzustellen und die für Religionspädagogik im Bezug auf unser Thema relevanten Punkte hervorheben.

Besonderes Augenmerk soll darauf liegen, wie Kinder Fähigkeiten entwickeln, Differenzen der Welt- und Gottesbilder wahrzunehmen, wie sie ihr eigenes Welt- und Gottesbild strukturieren und wie sich ihr Vorstellungs- und Urteilsvermögen in Bezug auf Gottesbilder entwickelt.

Die Kompetenz von Kindern, mit verschiedenen Weltreligionen und damit verbundenen Gottesbildern umzugehen, ist denkbar schlecht untersucht. Ich möchte dennoch versuchen, aus den bereits belegten Untersuchungsergebnissen und Erkenntnissen Schlussfolgerungen auf mögliche Anknüpfungspunkte für die kindliche Vorstellung der interreligiösen Dimension zu ziehen.

3.1.1 Religion und Kognition

Die religiöse Entwicklung erschließt sich vor allem als eine Entwicklung der Vorstellung und der Reflexion, bzw. der Gefühle, die sich mit diesen Vorstellungen verbinden28. Diese Entwicklungen sind verknüpft mit einem ganzen Netz thematischer Bezüge, in die diese Entwicklung eingebettet ist.

Zentrale Konzepte aktueller Forschung sind Phasenmodelle und Altersstufenmodel- le, in denen die Entwicklung jeweils als sich ständig vollziehender Prozess dargestellt wird.

Eine Vielzahl von Psychoanalytikern und Religionspsychologen haben speziell die religiöse Entwicklung darzustellen versucht, so auch W. Gruehn, der ein Konzept der „Altersstufen der Frömmigkeit“29 beschreibt. Der Trend, den er beschreibt, verläuft vom religionslosen Säuglingsalter über die gottlose Mutterreligion, vormagische und magische Stufe, weiter über die Stufe der autoritativ-gesetzlichen Frömmigkeit bis zur Sturm- und Drangphase der Jugendzeit. Stabilität gewinnt das System erst in der Wiederaufbauphase um das 18. Lebensjahr.

Eine ähnliche Entwicklung der Religiosität jüngerer Kinder zeichnet Nobiling30 nach: Auch er bezeichnet die Kindheit als eine Phase eher magischen Verständnisses, die von Geschichten und Legenden bestimmt ist. Das eindimensionalere Verständnis von Geschichten und Handlungsabfolgen wird später abgelöst von einem legalistischen Verhältnis zwischen Kindern und Gott, gefolgt von einer auch bei ihm stürmischen Jugendzeit der Zweifel und Anfechtung, die manchmal zu schroffen Absagen an Gott und Kirche führen und so in ein Bekenntnis für oder gegen Gott münden.

Kritisch zu sehen ist bei beiden Entwürfen, dass erstens offensichtlich nur religiös sozialisierte Individuen vorkommen und zweitens ein religiös fertiger Erwachsener unterstellt wird. Zu berücksichtigen ist hierbei, dass schon früher Konzepte entwickelt wurden, nach denen nicht nur die Entwicklung der Identität, sondern auch der Religiosität ein lebenslanger Prozess ist, der weit mehr beinhaltet, als die auf das Erwachsenenalter fortwirkenden ungelösten Kindheitskonflikte zu bearbeiten.

Allgemein anerkannt ist, dass Persönlichkeits- und Selbstkonzeptentwicklung aufgrund von Entwicklungsaufgaben und kritischen Lebensereignissen31 maßgeblich prozessorientiert geschieht. Man spricht dann von Ansätzen der (Re)- Konstruktionen, bei denen Lernsequenzen aus Konfrontationen, ereignisbezogenen Kognitionen und Emotionen sowie entsprechenden Bewältigungsversuchen Konsequenzen für das Befinden und die Persönlichkeits- und Selbstentwicklung haben. Diese Sequenzen werden dabei je nach Bilanz positiv oder negativ entwicklungsrelevant.

3.1.2 Erik Erikson und die Entwicklung der Identität

Den Begriff der Identität, wie er heute weitestgehend verwendet wird, hat vor allem der deutsch-amerikanische Psychoanalytiker Erik Erikson (1902-1994) geprägt, der die Entwicklung der Persönlichkeit und der Identität auf verschiedenartige psychodynamische Krisen bzw. Konflikte zurückführte, die es lebenslang zu überwinden bzw. zu lösen gilt.32 Die zuvor vom österreichischen Psychoanalytiker Sigmund Freud (1856–1939) konstatierte hohe Bedeutung des Unbewussten tritt deutlich zurück, da Erikson davon ausgeht, dass die Konfliktbewältigungen zum überwiegenden Teil sowohl aktiv als auch bewusst geschehen.

Während Freud argumentierte, das Unbewusste ließe sich nicht ohne weiteres bewusst machen33, bleibt nach Eriksons Ansicht das Unbewusste auch nicht ohne weiteres verborgen, so dass es im bewussten Handeln zumindest messbare Wirkung zeigt.

[...]


1 vgl. EKD, 2000, S. 23

2 EKD, 2000, S. 23

3 vgl. Sandt in: Weiße, 1999, S. 33f

4 Sandt in: Weiße, 1999, S. 33f

5 ebd.

6 vgl. EKD, 1995, S. 13

7 vgl. http://www.destatis.de/themen/d/thm_bevoelk.php 21.03.2007

8 vgl. Berg in: EKD, 1995, S. 142

9 vgl. EKD, 1995, S. 19

10 vgl. Berg in: EKD, 1995, S. 140

11 Oerter in: Oerter/Montada, 2002, S. 123

12 ebd. S. 125f

13 Leimgruber, 1995, S. 15

14 vgl. Berg in: EKD, 1995, S. 140

15 ebd.

16 vgl. EKD: 1995, S. 22

17 vgl. http://www.destatis.de/indicators/d/lrbev02ad.htm 21.03.2007

18 vgl. Leimgruber, 1995, S. 15

19 vgl. EKD, 1995, S. 25

20 vgl. Berg in: EKD, 1995, S. 145

21 vgl. Sandt in: Weiße, 1999, S. 51f

22 vgl. EKD, 1995, S. 25

23 Mt 18, 1-3

24 vgl. Knauth. in: Weiße, 1999, S. 113

25 vgl. EKD, 1994

26 vgl. EKD, 2000, S. 24

27 vgl. Schweitzer, 2004, S. 29f

28 vgl. Schweitzer, 2004, S. 29f

29 Oser/Bucher in: Oerter/Montada, 2002, S. 941

30 vgl. Oser/Bucher in: Oerter/Montada, 2002, S. 941

31 vgl. Krampen in: Oerter/Montada, 2002, S. 693

32 vgl. Krampen in: Oerter/Montada, 2002, S. 689

33 vgl. Schweitzer, 2004, S. 64

Ende der Leseprobe aus 72 Seiten

Details

Titel
Kinder begegnen Religionen
Untertitel
Überlegungen zur interreligiösen Dimension gemeindepädagogischer Arbeit
Hochschule
Fachhochschschule für Religionspädagogik und Gemeindediakonie Moritzburg
Veranstaltung
Religions- und Gemeindepädagogik
Note
1,3
Autor
Jahr
2007
Seiten
72
Katalognummer
V115550
ISBN (eBook)
9783640170302
Dateigröße
708 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kinder, Religionen, Religions-, Gemeindepädagogik
Arbeit zitieren
Philipp Weismann (Autor:in), 2007, Kinder begegnen Religionen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/115550

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