Das Europäische Sozialmodell – politische Zielvorstellung oder rein normatives, ideelles Konzept?


Hausarbeit (Hauptseminar), 2006

47 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Gliederung:

1. Einleitung; Das Europäische Sozialmodell – Definition & Abgrenzung

2. Hauptteil
2.1 Definition und Abgrenzung
2.2 Entstehung und historische Traditionslinien
2.3 Das/Die Europäische(n) Sozialmodell(e) gegenüber anderen, westlichen Sozialmodellen – Unterscheidungen, Divergenzen und Konvergenzen
2.4 Das Europäische Sozialmodell und das Dilemma Globalisierung – direkte und indirekte Problemstellungen sowie Auswege
2.5 Die Sozialpolitik der EU - strukturelle und funktionale Rahmenbedingungen; Beispiel Arbeitsmarktregulierung & gemeinsame Beschäftigungspolitik als potenziell integrative Bestandteile des Sozialmodells

3. Mythos Europäisches Sozialmodell? - Fehlendes institutionelles Gesamtkonzept durch uneinheitliche soziale Standards und Teilhaberechte

4. Schlussfolgerung/Fazit

5. Quellenangaben

6. Anhang

1. Einleitung; Das Europäische Sozialmodell – Definition & Abgrenzung

Im Zuge der gesellschaftspolitischen Debatte der letzten Jahre im europäischen Kontext der Errichtung des Binnenmarktes Ende der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts und den ersten Vorbereitungen zur Errichtung einer Europäischen Währungsunion hat sich der Begriff des europäischen Sozialmodells (ES) eingebürgert. Sowohl in den Verträgen der EU als auch in den Verlautbarungen des Europäischen Rates wird das Europäische Sozialmodell seitdem als ein wichtiges Element des europäischen Integrationsprozesses anerkannt und findet sich Mitte der 90er Jahre als fester Bestandteil der Selbstbeschreibung der Europäischen Union darüber hinaus auch im Weißbuch Sozialpolitik der Kommission von 1994 wieder .

Die Vorstellung eines einheitlichen Sozialmodells innerhalb Europas ist und war verstärkt der Ausgangspunkt und das Leitideal zur weiteren Integration der europäischen Völker im Rahmen der gesamteuropäischen Integration in der Nachkriegszeit. Anfangs noch als Alternative und Abgrenzung zu marktradikaleren Wirtschafts- und Sozialsystemen wie dem angelsächsischen Marktkapitalismus gesehen, ist der Terminus in sehr verschiedenen Kontexten und Definitionskategorien gebraucht und interpretiert wurden, die sein Verständnis und eigentliches Ziel eher verdunkelt als geklärt haben und sein Konzept allgemein diffus erschienen ließen . Dennoch wird in der Literatur allgemein auf ein Europäisches Sozialmodell als einheitliches und von allen europäischen Nationen anerkanntes, soziales Gesellschaftsmodell verwiesen, das ökonomische Prosperität und soziale Integration miteinander verbindet und die starke Rolle des Staates in der Daseinsvorsorge im Interesse der Allgemeinheit betont.

Hierbei soll insbesondere eine klarere Definition und Identifikation der gemeinsamen Grundziele der Europäischen Union und der europäischen Regierungen ausgedrückt werden , dass die europäische Integration nicht allein auf ökonomische Felder begrenzt bleiben kann, sondern eine soziale Dimension im Rahmen einem weiteren Sinne einbeziehen muss, die die Tradition (west)europäischer Wohlfahrtstaatlichkeit weiter garantieren kann. Denn letztlich trug der Ausbau der staatlichen Wohlfahrtssysteme in der Nachkriegszeit mit ihren umfassenden Gesundheitsleistungen, einer geregelten Alterssicherung und garantierten Grundeinkommen zur Überbrückung von Arbeitslosigkeit u.ä. auch über kurzfristige Krisen und Anpassungsprozesse hinweg entscheidend zu einer hohen sozialen und politischen Stabilität in den Staaten West-/Nordeuropas bei, die das hohe Ansehen und die Legitimität demokratischer Institutionen gewährleistet hat .

Doch nicht erst der jüngsten Erweiterung der Europäischen Union um 10 neue mittel- und osteuropäische Mitglieder (MOEL) ist die weitere Realisierung bzw. Aufrechterhaltung des Sozialmodells nach Aussagen von Politikern und Wissenschaftlern in Gefahr geraten und nach Ansicht Vieler kaum noch realisierbar, da sich seit der Gründung des EU-Binnenmarktes etliche neue Problemfelder gebildet haben, die den Begriff des europäischen Sozialmodell mehr und mehr als ungeeignet erscheinen haben lassen, um bestehende Realitäten abzubilden. Dies betrifft insbesondere den langsamen Anpassungs- und Transformationsprozess dieser Länder an die Leitlinien europäischer Sozial-, Beschäftigungs- und Ordnungspolitik, das noch immer zu beobachtende Wohlstandsgefälle im Vergleich zu den etablierten Mitgliedern der EU , aber auch die erhebliche Spanne der Wettbewerbsfähigkeit der Beitrittsländer untereinander . Die so zunehmende Heterogenität des Wirtschaftsraumes Europa führt die gewünschte Anbindung an europäische Regelwerke immer mehr ad absurdum, da die Einforderung der Erfüllung der Maastrichtkriterien und die Teilnahme an der Europäischen Währungsunion an die neuen Mitgliedstaaten mit kaum überwindbaren Hürden verbunden sind, die vor allem mit realen Wechselkursaufwertungen, steigenden Defiziten bei der Leistungsbilanz und Preisanpassungen verbunden sind . Die nötige, restriktive Geld- und Fiskalpolitik wird den Handlungsspielraum bei der angestrebten Integration sozialstaatlicher Elemente in die Gesellschaften Mittel- und Osteuropas weiter einengen und seine Realisierung auf lange Sicht verzögern.

So ist es auch nicht verwunderlich, dass in der wissenschaftlichen Diskussion immer wieder Fragen auftauchten, ob sich überhaupt Gemeinsamkeiten der europäischen Gesellschaften bzw. der europäischen Gesellschaftsformation in politischer, ökonomischer und sozialer Hinsicht festmachen lassen, welchem analytischem Gehalt dem Begriff des Europäischen Sozialmodells tatsächlich zukommt, durch welche Merkmale bzw. ob sich dieses Modell überhaupt in Abgrenzung zu anderen Modellen konkret charakterisieren lässt und, wenn ja, ob es gerade in Bezug auf den europäischen Integrationsgedanken in Europa in besonderer Weise gelungen ist, in Europa sozialen Ausgleich mit wirtschaftlichem Erfolg zu verbinden. Zudem schien in der Vergangenheit durch die in den europäischen Staaten unterschiedlich verfolgten Leitlinien zur Wettbewerbsanpassung im Kontext der Globalisierung und zur Reform der sozialen Systeme, vor allem aber durch die Verschiedenheit der Struktur und des Umfang der wohlfahrtstaatlichen Fürsorge in den europäischen Mitgliedstaaten Staaten eine Klassifizierung und Einbeziehung in das Konzept des Sozialmodells Europas schwierig bzw. fraglich, so dass ungelöst blieb,

ob und wieweit auf der ebene der Union […] ein Gleichgewicht zwischen ökonomisierter Gesellschaft und sozialisierter Ökonomie hergestellt werden kann bzw. soll,[…] inwieweit der liberalisierten, transnationalisierten Ökonomie eine zur makroökonomischen Steuerung und politischen Regulierung fähige suprastaatliche Struktur zur Seite zu stellen wäre und wie eine entsprechende Sozialpolitik auszugestalten ist, welche die nationalen wohlfahrtstaatlichen Anpassungsprozesse produktiv flankiert und ergänzt und damit zu einer nachhaltigen sozial-ökonomischen Kohäsion in der gesamten Union beiträgt.

Zur genaueren begrifflichen wie inhaltlichen Klärung und Analyse möchte ich daher im folgenden zunächst eine allgemeine Einführung zur Konzeption eines europäischen Sozialmodells geben, die den stark normativen Charakter des Modells wiedergibt, um im Anschluss seine Entstehungsgeschichte und, den europäische Nationen zum Teil gemeine, Traditionslinien zur Schaffung von Sozialstaatlichkeit aufzuzeigen, um, daran anschließend, die eigentliche Intention des Konzepts von einem Sozialmodell Europas aufzuzeigen. Dazu werde ich zum einen die aktuellen Problemstellungen der weiteren europäischen Integration darstellen, um, schlussendlich anhand kritischer Rezeptionen die gegenwärtige wie zukünftige Wirkungsmächtigkeit gemeinsamer europäischer Sozialstaatlichkeit zu analysieren und zu bewerten.

2. Hauptteil

2.1 Definition und Abgrenzung

Wie bereits zu Anfang erwähnt, wurde der Begriff des Europäischen Sozialmodells im Rahmen einer sich herausbildenden, gemeinsamen, europäischen Dimension der Sozialpolitik geprägt, die, trotz weiter bestehender Strukturunterschiede, vielfältige Gemeinsamkeiten zwischen den nationalen Systemen postuliert und eine Kopplung von wirtschaftlicher Dynamik und sozialem Ausgleich als Zukunftsformel für ein gesamteuropäisches Integrationsprojekt durch „supra- beziehungsweise transnationale Regulierung“ vorsieht .

In der Konzeption des Europäischen Sozialmodells soll insbesondere im weiteren Verlauf der europäischen Integrationsbemühungen der Zusammenhalt der Nationen gestärkt werden, um auch zukünftig die Akzeptanz und die Zielbestimmtheit gemeinsamer, europäischer Politik zu festigen, doch allen voran, und darauf werde ich noch im weiteren Verlauf meiner Analyse eingehen, soll es noch viel stärker eine Abgrenzung zu alternativ existierenden Gesellschaftssystemen wie dem angelsächsischen Sozialmodell darstellen, die mit ihrer Politik der Reagonomics und des Thatcherismus heftige Kritik an europäischer Wohlfahrtstaatlichkeit geübt hatten . Grundlage dieser Zielbestimmungen ist die Vorstellung, ein gemeinsames europäisches Erbe und dessen Besonderheiten in einem einheitlichen, europäischen Modell zu bewahren und zu verteidigen und dieses mit seinem auf einem sozialem Kapitalismus aufbauenden Gesellschaftssystem nicht nur Ausgangspunkt, sondern auch Ziel- und Zukunftsformel für die weitere europapolitische Integration unter den Stichworten gesellschaftliche Vielfalt und sozialer Ausgleich zu machen. Die EU bekennt sich somit zwar uneingeschränkt zur Marktwirtschaft, bürdet dieser aber eine ökologische wie soziale Verantwortung der Mitgliedsstaaten gegenüber der Bevölkerung auf , die historisch gewachsen ist und unmittelbar auch dem Erhalt der sozialen und politischen Stabilität in den Gesellschaften dient.

Dieses eher normative Verständnis von einem einheitlich Sozialmodell umfasst dabei zum einen „die europäische Familie ebenso wie die europäische Arbeit, europäischen Konsum ebenso wie europäische Werte, den europäischen Wohlfahrtsstaat ebenso wie die europäische Managementkultur, die europäische Stadt ebenso wie die europäische Bildung“ , zum anderen bezieht sich das Europäische Soziamodell in einem engeren Sinne auf eine europäische Politik der Schaffung von Arbeitsplätzen, der sozialen Sicherung, der sozialen Umverteilung und einer Politik, die den Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit im Sinne des Gemeinwohls verpflichtet ist . Darüber hinaus sind in einem engeren Sinne die Gewährleistung der sozialen Sicherung gegen Krankheit, Altersarmut, Invalidität und Arbeitslosigkeit, sowie die die Grundsicherung des Wohnens und der Bildung Ausdruck europäischer Wohlfahrtstaatlichkeit, die im Rahmen der weiteren „Institutionalisierung des sozialen Ausgleichs“ Grundelemente der europäischen Sozialstaatstradition sind bzw. sein sollen und sich daher auch in den gemeinsamen Wertvorstellungen der EU-Mitglieder wieder finden. Der Begriff des Sozialmodells Europas ist somit vor allem Ausdruck einer sich herausbildenden europäischen Dimension der Sozialpolitik, die neben den seit den Anfängen supranationaler, europäischer Zusammenarbeit existierenden Grundzielen – der europäischen Friedensstabilisierung, der wirtschaftlichen Integration und des Wohlstands der europäischen Bürger – als neues viertes Element die soziale Sicherung der europäischen Bürger umfasst.

Die Politikfelder, die für das Europäische Sozialmodell dabei von besonderer Bedeutung sind, sind die Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, die die Voraussetzung zur Befriedigung der materiellen Bedürfnis bildet, die Finanzierung für Sozialpolitik und Umverteilungsmaßnahmen sichert somit zu gesellschaftlicher und politischer Stabilität beiträgt, die Fiskalpolitik und Sozialpolitik, die die sekundäre Einkommensverteilung durch Transfergelder bestimmen und damit die Rahmenbedingungen gesellschaftlicher und politischer Stabilität bilden und denjenigen eine grundlegende gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht, die aufgrund unzureichender Beschäftigungs- und Verdienstmöglichkeiten nicht dazu in der Lage sind, sowie der Bildungspolitik die die Voraussetzungen wirtschaftlicher Prosperität entscheiden bestimmt und die mittel- und langfristigen Beschäftigungs- und Verdienstmöglichkeiten der Bürgerinnen und damit auch der Wohlstandserhaltung/-vermehrung gewährleistet.

Trotz des erkennbaren Wertekanons sollte der Begriff des ES dabei nicht so aufgefasst werden, dass in allen europäischen Staaten die gleichen sozialstaatlichen Strukturen vorzufinden sind, sondern dass vielmehr gleiche oder zumindest ähnliche Zielstellungen für sozialpolitisches Handeln des Staates existieren und es einen Zusammenhang zu bestehenden ökonomischen Strukturen wie auch zu gesellschaftlichen Auseinandersetzungen bzw. Kräfteverhältnissen und den damit zusammenhängenden Institutionen in den europäischen Staaten gibt . Vor allem soll den Bürgern der Mitgliedstaaten der Europäischen Union versichert werden, dass die soziale Sicherung zu den vorrangigen Zielen der Europäischen Union gehört und sie daher auch die Europäische Union, nicht nur die Nationalstaaten, als Garant sozialer Sicherheit ansehen können . Somit hat das Europäische Sozialmodell nicht nur ökonomische, sondern auch historische, gesellschaftspolitische, kulturelle und rechtliche Facetten .

Allerdings kann dies nicht über weit reichende Differenzen in der wohlfahrtstaatlichen Entwicklung in den europäischen Gesellschaften hinwegtäuschen, hat sich diese doch nationalspezifisch und in Bezug auf die Institutionalisierung der sozialen Unterstützungssysteme unterschiedlich etabliert. So ist heute empirisch beweisbar , dass sich aufgrund differierender Staatstraditionen und andersgearteter Wahrnehmungen der sozialen Probleme unterschiedliche, länderspezifische Solidaritätsmodelle herausgebildet haben , die es, unter Berücksichtigung von Eigeninteressen, schwierig machen, wesentliche Bestandteile der jeweiligen Wirtschafts- und Sozialordnung auf die EU als Ganzes zu übertragen . Insofern muss die Vorstellung einer einheitlichen, sozial gerechten Gesellschaftsform, die allen europäischen Nationen gemein sein soll, aufgrund der Heterogenität der sozialen Institutionen in den Ländern eher relativiert werden, was ich im Analyseteil Das/Die Europäische(n) Sozialmodell(e) gegenüber anderen, westlichen Sozialmodellen – Unterscheidungen, Divergenzen und Konvergenzen noch weiter konkretisieren werde.

Überraschenderweise hat sich diese Vielfalt im Verständnis von europäischer Sozialstaatlichkeit im Kontext der krisenhaften Wirtschaftsentwicklung in Europa seit Beginn der 1980er Jahre und des fortschreitenden Prozesses der Europäischen Integration (Binnenmarkt und Währungsunion) stärker egalisiert und harmonisiert, denn gerade die Globalisierung, die europäische Integration und die EU-Osterweiterung haben in den letzen Jahren zu einem stetig wachsenden Wettbewerb der Sozialstaaten auf europäischer Ebene geführt, die eine komplementäre europäische Sozialpolitik notwendig machte und dort entstehen ließ, wo die jeweiligen Sozialstaaten Lücken in der Sozialpolitik aufwiesen . Durch die notwendige Reformierung gesellschaftlicher Unterstützungsstrukturen in den Staaten, die durch die genannten, gemeinsamen Herausforderungen an die Konkurrenzfähigkeit der Staaten die Wettbewerbsfähigkeit der Sozialpolitik auf den Prüfstand stellt(e), haben sich die nationalen Sozialstaatsmodelle so in stärkerem Maße in den vergangenen Jahrzehnten mit einem europäischen Modell der Zusammenarbeit auf EU-Ebene verzahnt , so dass zumindest in der Tendenz trotz bestehender Unterschiede bei der sozialstaatlichen Prägung eine zunehmende Konvergenz bei den sozialen Standards zu beobachten war . Inwieweit der Begriff des Sozialmodells Europa in diesem Zusammenhang trotz gemeinsamer Problemstellungen Verwendung finden kann, ist dennoch umstritten, da eine hinreichende Konkretisierung des Begriffs bisher nicht stattgefunden hat und trotz gemeinsamer, weitgehender Integrationsbemühungen im Sinne einer gemeinsamen Wirtschafts-, Finanz- und Sicherheitspolitik die soziale Dimension bzw. ihre institutionelle Ausgestaltung vernachlässigt wurde . Denn bisher wurden noch keine konsequenten Handlungsstrategien in Bezug auf die Erhaltung eines europäischen Sozialmodells entwickelt, die die Konvergenz in den sozialstaatlichen Traditionen überwinden und die Existenz eines gemeinsamen europäischen Sozi-almodells rechtfertigen könnten.

Im Rahmen des europäischen Projekts und einer sicherlich einmaligen Entwicklung hin zu einer stärkeren Integration der europäischen Völker, die letztlich sogar zur Übertragung staatlicher Souveränität an die supranationale EG bzw. EU führte, hat der europäische Gedanke zwar zu einer starken Vergemeinschaftung von Währungs- und Wirtschaftspolitik geführt, ohne jedoch die sozialpolitische Komponente genügend zu beachten und zu integrieren. Bis heute stellt sie keinen eigenständigen Interessen- und Politikbereich innerhalb der EU dar, sondern wird noch immer durch wirtschaftliche Eigeninteressen der Staaten bestimmt, so dass die europäische Integration bisher eher als systemische Integration vor dem Hintergrund gemeinschaftlicher, ökonomischer Interessen begriffen werden konnte, die dem postulierten Wertekanon eines europäischen Sozialmodells bisher noch nicht zu entsprechen vermochte. Die EU konnte sich somit bisher noch nicht über eine Wirt-schaftsgemeinschaft hinaus zu einer echten Solidargemeinschaft entwickeln , um Jacques Delors‘ Strategie hin zu einem europäischen Staatsbildungsprozess mit sozialpolitischer Einbettung des Binnenmarktes realisieren zu können .

Ziel soll es daher in den folgenden Abschnitten sein, explizit die gemeinsamen Traditionslinien von Sozialstaatlichkeit und seinen in Abgrenzung zu anderen, bestehenden Gesellschaftsmodellen zu präsentieren, um anschließend die inhaltlichen Problemstellungen und die generelle Anwendbarkeit eines solchen Leitbildes für die zukünftige Entwicklung europäischer Sozialstaatlichkeit in der EU zu analysieren.

2.2 Entstehung und historische Traditionslinien

Die Entstehung einer gemeinsamen Konzeption innereuropäischer Sozialstaatlichkeit, die sich in den Leitlinien des europäischen Sozialmodells findet, ist keineswegs eine reine Begleiterscheinung eines innereuropäischen Befriedungsprozesses und vertiefter, europäischer Integration, sondern das Ergebnis eines, den europäischen Staaten der Nachkriegszeit gemeinen, Entwicklungsprozesses hin zu einem durch massive Staatsintervention und aktive Sozialpolitik geprägten Wohlfahrtsstaat , der erst das Konzept und die Vorstellung eines Sozialmodells Europas ermöglichte. Hierdurch sollte zum einen eine Wiederkehr der in der Vorkriegszeit erlebten ökonomischen Krisen verhindern werden, die letztlich den Nährboden für die faschistischen bzw. diktatorischen Regimes Europas bildeten und zum Ausbruch des 2.Weltkrieges führten und zum anderen sollte eine derart gestaltete Sozialpolitik einen Gegenpol und eine Alternative zu den sich schnell entwickelnden osteuropäischen Staaten sowjetischer Prägung bilden, die allein den Sozialismus als wohlfahrtschaffendes und sozial gerechtes, politisches System propagierten .

Dennoch würde es zu kurz greifen, gemeinsame wirtschaftliche und politische Ausgangsbedingungen und den europäischen Integrationsprozess seit der Etablierung der Montanunion nach dem 2.Weltkrieg als alleinige Ausgangspunkte für die Betrachtung zu benutzen, in welcher geschichtlichen Tradition sich die Vorstellung von einem gemeinsamen europäischen Sozialmodell in seiner heutigen Form etablieren konnte.

Ebenso wichtig ist, dass sich in den europäischen Staaten im Laufe der geschichtlichen Entwicklung der letzten Jahrhunderte gemeinsame, historische Merkmale ausgebildet haben, die das heutige Leitmodell europäischer Sozialstaatlichkeit entscheidend geprägt haben .

Zum einen existiert eine lange, gemeinsame europäische Tradition öffentlicher Intervention zur sozialen Sicherung des Bürgers , die gerade in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkrieges zu ähnlichen Entwicklungen bei der Herausbildung nationaler Wohlfahrtsstaaten führte. Diese wurde größtenteils vom gesamteuropäischen Industrialisierungsprozess begleitet und getragen, so dass sich im Zeichen von Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung neue, ähnliche Anforderungen an den Sozialstaat stellten .

Zweitens entstanden durch damals noch regen Austausch sozialstaatlicher Konzepte (Stichwort Benchmarking) Konvergenzen, wenngleich durch „eine plurale und zeitversetzte Entfaltung der nationalen Sozialsysteme “ auch keine völlige Angleichung im Ausmaß der sozialen Absicherung der Bevölkerung und in dem Anteil der Sozialausgaben erreicht wurde. Drittens spielt auch die supranationale Dimension des Europäischen Sozialmodells seit den 50er Jahren eine stets wichtiger werdende Rolle, so dass sich seit dieser Zeit das nationalstaatliche Sozialmodell allmählich mit dem europäischen Modell der Zusammenarbeit von Nationalstaaten, der Schaffung eines europäischen Wirtschaftsmarkts, der Stabilisierung des innereuropäischen Friedens und der Demokratie verband. Die Grundlagen für eine gemeinsamen Austausch wohlfahrtsstaatlicher Konzepte, einer „europäischen Sozialbeobachtung“ und der darauf aufbauenden und sich entwickelnden Harmonisierung sozial- und arbeitsrechtlicher Regelungen wurde durch die gemeinschaftliche Zusammenarbeit im Rahmen verschiedener Institutionen wie der OECD, der internationalen Arbeitsorganisation ILO und der europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) gelegt .Dennoch sind nicht erst seit der Nachkriegszeit Konvergenzen bei der Entwicklung der sozialen Sicherung in Europa zu beobachten. Es existieren zudem gemeinsame, epochale Entwicklungslinien, in denen die Entwicklung und Ausprägung des Europäischen Sozialmodells in den Nationalstaaten bestimmt wurde und die zu einer Sozialstaatlichkeit bzw. zu einem gemeinsamen europäischen wohlfahrtsstaatlichen Grundkonzept in der überwiegenden Mehrzahl der europäischen Staaten führte. Hartmut Kaelble identifiziert in diesem Zusammenhang vier Epochen .

In der ersten Epoche als Zeit der kommunalen Sozialreformen und der Aufklärung zwischen dem 16. und dem frühen 19. Jahrhundert wurden durch die Entstehung der öffentlichen Sozialpolitik der Grundstein und die Grundlinien der modernen europäischen Demokratie und Wissenschaft gelegt. Grundlegend prägten hier insbesondere veränderte Vorstellungen von Armut die gesellschaftliche Diskussion, da man nun stärker zwischen unverschuldeter und verschuldeter Armut unterschied. Während man im Kampf gegen die selbstverschuldete Armut Prinzipien der Erziehung, der Veränderung von Mentalitäten, der Förderung der Selbständigkeit und der Arbeit, aber auch des Zwangs zur Arbeit entwickelte, sollten durch öffentliche Unterstützung im Sinne von Hilfe durch Selbsthilfe soziale Härten abgefedert werden. Dazu gehörten auch neue Institutionen, die sich der Bekämpfung von Armut widmeten; so wurde die bis dato existierende Armenpflege durch Kirchen und die Mildtätigkeit der wohlhabenden Klasse in stärkerem Maße durch eine Armenpolitik öffentlicher Instanzen, allen voran den Kommunen, ersetzt. Aus diesen Sachzwängen heraus wurden durch „lebhaften, zwischenstaatlichen und transkommunalen Austausch“ erste Grundpfeiler elementarer Armenpolitik gelegt, die sich heute als Fundament europäischer Sozialstaatlichkeit wieder finden.

Die zweite Epoche als Zeit der Industrialisierung und der staatlichen Sozialpolitik, die sich vom späten 9. Jahrhundert bis zum 2. Weltkrieg erstreckte, wurde zum einen durch Wirtschafts- und Finanzkrisenkrisen geprägt, die das Vertrauen in den Markt erschütterten und katastrophalen Folgen auch für die Demokratie und den Frieden in Europa hatten. Genannt seien hier zum Beispiel die Weltwirtschaftskrisen von 1889 und von 1929, die direkt und indirekt mitverantwortlich für die die Weltkriegsszenarien der folgenden Jahre sein sollten. In diesem Zusammenhang erschien den Europäern im Schatten des Zweiten Weltkriegs eine massive Staatsintervention als gutes Mittel gegen solche Krisen zu sein, aber auch die Erwartung neuer, grundsätzlicher, sozialer Reformen und mehr soziale Sicherheit für die Bevölkerung nach dem Krieg sollten auch zukünftig die Gefahren einer Destabilisierung der innerstaatlichen Stabilität zu verhindern. Zum anderen schuf die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung im Rahmen der fortschreitenden Industrialisierung neue, besondere Anknüpfungspunkte für eine staatliche Sozialpolitik . So führte der Industrialisierungsprozess im 19. Jahrhundert „nicht nur zu massiver Auswanderung, [und] zu enormen binnennationalen Wanderungen, mit denen die strikt lokalistische, städtische Armutspolitik nicht fertig werden konnte “, sondern veränderte vor allem die Art der Arbeitsverhältnisse, die nun, im Gegensatz zu der vor-industriellen Periode, nicht mehr im Sinne einer lebenslangen Beschäftigung in einem Beruf geprägt waren, sondern sich zunehmend durch häufige „Wechsel zwischen einer Vielfalt beruflichen Aktivitäten“ auszeichneten. Zusammen mit einem wachsenden Bewusstsein von Beamten, Politikern und Wissenschaftlern, einen sozialen Ausgleich herzustellen und diesen entsprechend im Sinne einer zentralisierten, auf das ganze Staatsgebiet bezogenen Sozialbürokratie zu regeln , führten die genannten Umbrüche zur Errichtung staatlicher Sozialversicherungen. Zudem wurde mit wachsende Rivalitäten zwischen den europäischen Nationalstaaten insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg der Austausch sozialstaatlicher Konzepte auch stetig mehr von den Konflikten und Abgrenzungen zwischen Nationalstaaten geprägt, die entsprechend Divergenzen in der jeweiligen sozialen Ordnungspolitik hervorriefen und heute die Einhegung der unterschiedlichen wohlfahrtstaatlichen Prägungen in ein einheitliches Sozialmodell schwierig gestalten.

Die dritte Epoche seit der Nachkriegszeit war geprägt von außergewöhnlichem wirtschaftlichen Wachstum und damit einem zeitweiligen Optimismus, dauerhaft Vollbeschäftigung in den Volkswirtschaften zu gewährleisten , der die Sozialstaatsausgaben entsprechend anwachsen ließ und die Grundlagen für die Erweiterung der Sozialausgaben sowie eine grundsätzliche Reform des Sozialstaats legte . Gleichzeitig war dies aber auch die Epoche der Übergangskrisen, in der es nicht nur zu einem massiven Rückgang der landwirtschaftlichen Arbeit und der kleinen Selbständigen kam, sondern auch einer Krise von einzelnen Industriezweigen wie der Textilindustrie, der Kohle- sowie der Stahlindustrie, die zusammen mit einer massenhaften Flucht von Europäern aus den zerfallenden Kolonialreichen nach Europa neue Forderungen nach einer aktiveren Sozialpolitik laut werden ließen. Ausgehend von diesen Problemstellungen bildete sich mit Hilfe staatlicher Intervention das System des modernen, universal gültigen europäischen Wohlfahrtsstaates heraus, deren Hauptelemente in der Garantie eines Lebensminimums des Einkommens, des Wohnens, der Gesundheitsversorgung, der Ausbildung, der sozialen Sicherheit für die gesamte Bevölkerung, der sozialen Sicherheit als einklagbares Recht, sowie in neuen Konzepten der Alterssicherung begründet liegt. Einher gehend mit einem breiten sozialpolitischen Konsens , der trotz unterschiedlicher sozialpolitischer Institutionen alle politischen und gesellschaftlichen Strömungen Europas umfasste und schließlich zu einer weitgehenden Annährung staatlicher Sozialpolitik führte, bildeten sich schlussendlich die entscheidenden Wurzeln des Europäischen Sozialmodells heraus. Allerdings wurden in dieser „Hochzeit“ wohlfahrtstaatlicher Entwicklung die Grundsteine für die heute bekannten Defekte des Sozialmodells gelegt, die sich mit der weiter steigenden Verflechtung der Weltwirtschaft und einer sich immer noch verschärfenden Konkurrenzsituation für europäische Produkte und Dienste innerhalb des Weltmarkt im Rahmen der Globalisierung verstärkt äußerten und sowohl die Krise als auch den Zwang zur Transformation des europäischen Wohlfahrtsstaaten einläuteten.

In dieser vierten Epoche seit den 1970er Jahren (bis heute) nahm die Kritik am Wohlfahrtsstaat in allen europäischen Ländern und in fast allen politischen Lagern durch eine übergreifende Krise der Arbeit massiv zu , so dass bisher bestehende Erwartungen an großzügige Sozialleistungen an den Staat und „eine Reproduktion des Wohlfahrtstaates der 1950er und 1960er Jahre“ grundlegend hinterfragt wurden. Die genannten Umbrüche äußerten sich darin, dass klassische Arbeitsverhältnisse wie die Industriearbeit stagnierten, die Erwerbsbiographien unregelmäßiger wurden und häufig zu auftauchender und anhaltender Arbeitslosigkeit führten, öfter als bisher Brüche im Familienleben durch Scheidung auftraten, sowie in stärkerem Maße Armutsphasen in Ein-Eltern-Familien zu beobachten waren . Dabei spielte auch die Zunahme der Immigration eine entscheidende Rolle, da diese oft in irreguläre oder illegale Arbeit führte. Somit waren neue Formen der Arbeit und der Armut entstanden, auf die der Wohlfahrtsstaat schlecht vorbereitet war und, die es zusammen mit der bestehenden demographischen Krise den Nationalstaaten in zunehmenderem Maße Schwierigkeiten bereitete, aus den Beiträgen oder Steuern der Erwerbstätigen die Alterssicherung zu finanzieren. Von diesen Problemstellungen und Herausforderungen waren alle europäischen Staaten gleichermaßen betroffen, wenngleich die Anpassungsfähigkeit der Staaten auf die neuen Umstände sehr unterschiedlich ausfiel.

Dennoch hat dies bisher noch zu keinem (vollständigen) Abbau des europäischen Wohlfahrtstaates insgesamt geführt, sondern es hat vielmehr einen Paradigmenwechsel hin zu stärkerer Liberalisierung und Deregulierung gegeben . Denn gemessen am Sozialprodukt der Staaten sanken die Sozialausgaben der EU-Länder bisher nicht bzw. kaum signifikant , nur haben sich die grundsätzlichen Ziele des Wohlfahrtstaates wie der Abbau sozialer Ungleichheit verschoben und sind stattdessen Strategien für eine bessere Ausbildung und Maßnahmen der Arbeitsbeschaffung gewichen .

[...]

Ende der Leseprobe aus 47 Seiten

Details

Titel
Das Europäische Sozialmodell – politische Zielvorstellung oder rein normatives, ideelles Konzept?
Hochschule
Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg  (Fakultät für Geistes-, Sozial- und Erziehungswissenschaften - Institut für Politikwissenschaft)
Veranstaltung
Politische Theorie – Staats- und Demokratieverständnis in der politischen Ideengeschichte
Note
1,7
Autor
Jahr
2006
Seiten
47
Katalognummer
V115510
ISBN (eBook)
9783640170135
ISBN (Buch)
9783640183630
Dateigröße
1655 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Europäische, Sozialmodell, Zielvorstellung, Konzept, Politische, Theorie, Staats-, Demokratieverständnis, Ideengeschichte
Arbeit zitieren
Matthias Schollmeyer (Autor:in), 2006, Das Europäische Sozialmodell – politische Zielvorstellung oder rein normatives, ideelles Konzept?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/115510

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