»Generation am Tropf des Feuilletons«

Die 68er-Bewegung und die Deutungsmuster der deutschsprachigen Presse in den Jahren 2007/2008. Eine Annäherung


Bachelorarbeit, 2008

40 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung

2. Überblick: Die 68er-Bewegung
2.1. Was ist „1968“?
2.2. Diskursfelder
2.3. Wichtige Ereignisse

3. Anmerkungen zur Deutungsgeschichte

4. 68 in der Presse
4.1. Motive
a) 1968 begann 1967
b) Mein Achtundsechzig
c) Das „andere deutsche 68“
d) Kult um Rudi Dutschke
e) Was an der Uni „übrig blieb“
4.2. Deutungen
4.2.1. Von Kinderläden und Vollzugsbeamten
4.2.2. Von Bildungsdefiziten und Bindungsunfähigkeit
4.2.3. Eine Himmelsleiter als Idee
4.2.4. Götz Aly

5. Auffälligkeiten

6. Fazit

Literaturverzeichnis

Liste der gesichteten Zeitungsartikel

Literatur

1. Einleitung

Eine Revolution feiert in diesem Jahr runden Geburtstag. Deutschland, so heißt es, sei damals aufgebrochen, eine Demokratie zu werden, doch nicht nur das: Für ganz Europa bedeutete diese Zeit eine Neuordnung, deren Folgen viele Jahrzehnte einen gravierenden Einfluss auf das politische Geschehen haben sollten. Der Krieg hatte das Bewusstsein der Menschen geprägt, die kommunistische Idee war noch unverbraucht und gleich mehrmals erklang der Ruf nach Sozialismus und Demokratie. Aber nicht allen gefiel dieser Aufbruch und für reaktionäre Eliten kam er einer Schande gleich. Die Geschichtsschreibung ist dem Neubeginn allerdings wohlgesonnen – auch wenn sich später zeigen sollte, dass in seinem Schatten neue Gewalt und neuer Terror gediehen.

Die Rede ist natürlich vom 9. November 1918, als nach der Niederlage des Deutschen Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg die Hohenzollernherrschaft gestürzt wurde und Philipp Scheidemann und Karl Liebknecht in Berlin die Republik ausriefen. Die historische Bedeutung dieses Ereignisses lässt sich gar nicht hoch genug einschätzen, gilt doch die Zeit der Weimarer Republik als ein Schlüsselabschnitt der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert.

Aber darüber schreibt ja keiner.2 Stattdessen tummeln sich Feuilletonisten, Historiker, Filmemacher und Kuratoren auf der anderen großen Geburtstagsparty. Alle reden von 68, obwohl – oder besser: gerade weil – über die Bedeutung dieser Zäsur eben kein Konsens wie über 1918 herrscht. Auf einmal ist 1968 das Schlüsseldatum schlechthin, sei es für das Gedeihen oder den Verfall von Werten, oder für irgendetwas anderes in der westlichen Gesellschaft:

„Halten wir lieber fest: Die 68er sind schuld an allem“, stellt Joschka Fischer in ironischem Ton fest und entrüstet sich, die Vorwürfe würden die 68er bis ins Grab verfolgen.3 Der Umstand, dass noch 40 Jahre danach über Ohnesorg und Dutschke, Vietnam und Prag, die Kommune I und den SDS geschrieben wird, ist für sich genommen schon ein Werturteil. Nicht zu schreiben hieße zu behaupten, 68 sei uns heute egal. Ist es aber nicht.

Diese Arbeit nennt sich eine „Annäherung“ – zum einen an die 68er-Generation als solche, insbesondere jedoch an die Ausdeutungen, die ihr in der aktuellen Presse widerfahren. Nicht mehr als eine Annäherung kann es dabei aus zweierlei Gründen sein: Einerseits ist es unmöglich, wirklich alles zu lesen, was in zwei Jahren über diese Zeit geschrieben wird; andererseits existieren in der Presse genauso viele Deutungen, wie es Artikel und Autoren gibt – oder gar noch mehr, weshalb die Annahme von „Mustern“ letztendlich nur ein methodisches Hilfsmittel sein kann.

Im Seminar „Die '68er – ein kulturwissenschaftliches Projekt“, das im Sommersemester 2007 an der Universität Siegen abgehalten wurde, supponierte Georg Bollenbeck drei Deutungsperspektiven, aus denen man dieser Tage die Beurteilung des Phänomens 68 vornehmen würde: (A) Die links-liberale Sichtweise; (B) die liberal-konservative Sichtweise; sowie (C) die nach wie vor sozialistisch-revolutionistische Sichtweise.4 Die vorliegende Arbeit macht es sich zur Aufgabe, diesen Ansatz kritisch zu prüfen. Dass er dabei gleichzeitig als eine Vorstrukturierung in die Analyse mit einfließt, ist unvermeidbar.

Was den quantitativen Umfang dieser Analyse betrifft, so werden vor allem überregionale deutsche Tageszeitungen berücksichtigt werden. Das heißt jedoch nicht, dass Ausflüge zu anderen Publikationen oder gar Medien die Arbeit nicht bereichern dürften.

So deuten sich bereits im Auftakt interessante Dissonanzen an, immerhin haben viele Zeitungen schon seinerzeit Stellung zu den Ereignissen bezogen, was sich in den heutigen Darstellungen niederschlägt. Auch sind Autoren mit ostdeutschem Hintergrund von ganz anderen persönlichen Erfahrungen im Bezug auf diese Zeit geprägt als ihre westdeutschen Kollegen, die jene Ereignisse, mit denen man 68 im engeren Sinne assoziiert, zum Teil selbst miterlebt haben.5

Ein zentrales Problem liegt in der Neutralität der Analyse. Um die verschiedenen Deutungen kompetent bewerten zu können, muss diese Arbeit über ein eigenen Begriff von 1968 verfügen. Der einleitende historische Abriss wird sich daher auf eine Aneinanderreihung von Fakten beschränken, sowohl bezogen auf den zeitlichen Ablauf, als auch auf die thematisierten Gegenstände der Ereignisse um 1968.

2. Überblick: Die 68er-Bewegung

2.1. Was ist „1968“?

Bereits die Terminologie ist irreführend. Das Etikett „Die 68er“ suggeriert Einheitlichkeit, Konformität und Linearität, sowohl was den Zeitraum der zentralen Ereignisse betrifft, vor allem jedoch bezüglich der Organisation der beteiligten Gruppierungen. Der Terminus „68er- Generation“ impliziert gar ein Selbstverständnis der Mitwirkenden als homogener Jahrgang; tatsächlich ist dieses Selbstverständnis erst im Nachhinein und nur teilweise gewachsen.6 Die 68er-Bewegung ist, wie Wolfgang Kraushaar es formuliert, „ein Baum mit vielen Wurzeln und noch mehr Ästen und Zweigen“7, und dies gleich in mehrerer Hinsicht: So sind die Ausgangsbedingungen, die zu den Ereignissen der späten sechziger Jahre führten, in der bundesrepublikanischen Vergangenheit der fünfziger Jahre zu suchen, während noch in den Siebzigern mitunter heftige Nachbeben dieser Zeit einsetzen sollten.

Zu den beteiligten Akteuren gehörten keineswegs nur Studenten, wie die Rede von der

„Studentenbewegung“ glauben machen will. Zwar spielte der theoretische Diskurs der „Neuen Linken“, der von Studenten und geistigen Vordenkern wie Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas oder Herbert Marcuse geführt wurde, eine zentrale Rolle; doch auch Arbeitergewerkschaften, Friedensaktivisten und einfache „junge Leute“ hatten ihren Anteil am Protest, so dass unterschiedliche Strömungen, die mit verschiedenen Gesellschaftsschichten verbunden waren, auf mehreren Diskursfeldern gleichzeitig wirkten – und dies teilweise im Bewusstsein gemeinsamer politischer und gesellschaftlicher Vorstellungen, teilweise aber auch mit völlig unterschiedlichen Zielsetzungen.8

Darüber hinaus ist 1968 kein ausschließlich deutsches Phänomen. Zwar wird der Begriff „68er“ nur in Deutschland verwendet, doch auch im übrigen Westeuropa, in den USA und in Asien gab es zeitgleich Ereignisse, die denen in der BRD sehr ähnlich waren und mit diesen in Wechselwirkung traten. Insbesondere die US-Amerikanische Studentenbewegung wirkte im Bereich der Protestkultur als Triebfeder für ihr bundesdeutsches Pendant9, von den Reformen des Musik- und Lebensstils ganz zu schweigen. Doch auch für den Ostblock sollte 1968 eine prägende Zeit werden; so nahm man dort einerseits aufmerksam Notiz von den Ereignissen in Westeuropa, musste sich andererseits mit Reformbestrebungen im eigenen politisch-kulturellen Wirkungsbereich auseinandersetzen.

Um das Wirrwarr der vielen verschiedenen Ereignisse, ihrer Akteure und deren Bestrebungen zu ordnen, werden wir nun einen Blick auf zentrale Diskursfelder und wichtige Momente werfen.

2.2. Diskursfelder

Fünf Angriffspunkte für Diskussion und Protest waren in den sechziger Jahren entscheidend: Die Auseinandersetzung der jungen Deutschen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, die Debatte um die Notstandsgesetze, die Entwicklung einer jugendlichen Gegenkultur in Form einer Lebensstilreform, die unterschiedlichen Vorstellungen von der Neuorganisation der

Hochschulen und die Intervention der USA im Vietnamkrieg. Jeder dieser Punkte lässt sich in Teilaspekte zergliedern; andererseits werden sie durch bestimmte thematische Klammern zusammengehalten, weshalb sich aus ihnen überhaupt ein umfassender Protest entwickeln konnte.

Der Strafprozess gegen den NS-Kriegsverbrecher Adolf Eichmann im Jahr 1961 und die 1963-65 geführten Prozesse gegen Mitglieder der Lagermannschaft des Vernichtungslagers Auschwitz sorgten in der deutschen Öffentlichkeit für eine Belebung der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit.10 Hierbei stand eine junge Generation, die die Verbrechen des Zweiten Weltkrieges verstehen wollte, einer Elterngeneration gegenüber, die sich, ob ihrer eigenen Beteiligung an den Gräueltaten, der Aufarbeitung verweigerte. Starken Widerhall fand dieser Konflikt in der missliebigen Haltung gegenüber den Machteliten. So wurde die frühere NSDAP- Mitgliedschaft des ab Ende 1966 amtierenden Bundeskanzlers Kurt Georg Kiesinger, um nur ein Beispiel zu nennen, als Indiz gewertet, die Entnazifizierung hätte lediglich auf dem Papier, nicht jedoch im politischen Apparat der Bundesrepublik stattgefunden.11

Die Regierung Erhard befand sich Mitte der sechziger Jahre in einer Krise: Die Zeit des Wirtschaftswunders war vorbei, und eine Arbeitslosenzahl von mehr als 670.000 wurde nach einem Jahrzehnt der Überbeschäftigung als Rezession empfunden.12 Zusätzlich verlangte die Anerkennung der vollen Souveränität durch die Westalliierten nach einer Notstandsverfassung, die die innerstaatliche Ordnung der Bundesrepublik im Krisenfall gewährleisten sollte.13 Teil der Notstandsverfassung waren unter anderem die außerordentliche Beschneidung bestimmter Grundrechte oder aber die Schaffung eines Notparlaments mit beschleunigter Beschlussfähigkeit. Die missliche Lage der Bundesregierung wurde durch eine neugebildete Große Koalition aus CDU/CSU und SPD beendet, die sich in der Lage sah, die aufkommenden Probleme schnell zu lösen. Einzige Oppositionspartei war, mit weit weniger als einem Drittel der Bundestagssitze, die FDP. Die Einschränkung freiheitlich-demokratischer Rechte und die de facto nicht existente Opposition wurden als fataler Schritt in Richtung eines autoritären Staates empfunden.

Der von der erwachsenen Generation gepflegte Lebensstil mutet aus heutiger Sicht ebenfalls nicht grade liberal an. Sex war ein Tabuthema, unverheiratete Paare durften nicht in einem Zimmer übernachten, Homosexualität galt als Straftat. An der Universität und sogar auf den frühen Demonstrationen trug man Jackett. Studentische Wohngemeinschaften waren unbekannt, uneheliche Kinder eine Schande.14 Der Beichtstuhlmoral wurden radikal Lebensstilentwürfe der Jugend aus dem englischen und amerikanischen Raum entgegengesetzt. Dazu gehörten freier Umgang mit Sexualität, neue Musikformen oder das Experimentieren mit Drogen. Viele der Anhänger dieser gegenkulturellen Bewegung wollten ihren Lebensstil durchaus auch politisch verstanden wissen. Zumindest in der BRD wich der ernsthafte Aspekt aber zusehendsns einer Spaßguerrilla-Einstellung, so dass jene, die den politisch-kritischen Dialog weiterführen wollten, diesen Teilaspekt eher ablehnten.15

Ein zentraler Schauplatz der Bewegung waren die Universitäten. Hier führten die Studenten einerseits den allgemeinen Dialog über die Zustand gesellschaftlicher Verhältnisse; doch auch die Universitäten selbst waren Objekt der revolutionären Bestrebungen. Die Lehrorganisation wurde als starr kritisiert, der Habitus der Professoren galt als rückständig.16 Reformbestrebungen gab es zwar auch von staatlicher Seite her. Diese zielte jedoch eher auf eine Neuorganisation der Lehre nach dem Vorbild der amerikanischen „Multiversitiy“, die die Ausbildung der Studenten an die Bedürfnisse der Industrie und Wirtschaft anzupassen suchte.17 Die Studenten hingegen forderten eine Befreiung der Bildung vom Zweck und insbesondere ein Mitspracherecht bei inneruniversitären Entscheidungen.18

Der Protest gegen den Vietnamkrieg war ein international verbindendes Element, nicht nur unter den Studenten. Galten die USA bis dahin noch als friedenbringende Schutzmacht, so schienen sie sich nun als Agressor zu entpuppen. Die Sympathie der 68er-Bewegung galt Ho Chi Minh, dem Führer der Kommunistischen Partei Nordvietnams, der dadurch zur Symbolfigur des antiamerikanischen Kampfes wurde. Im Kielwasser des Protestes gelangten auch Befreiungsbewegungen in den Ländern der Dritten Welt in das öffentliche Interesse.19

Ein neues Bewusstwerden über die deutsche Vergangenheit, die Angst vor den Notstandsgesetzen als einem Mittel staatlicher Repression, aber auch die Ablehnung der hölzernen Sitten der Elterngenration waren verschiedene Seiten der grundsätzlichen Annahme, die Bundesrepublik könnte sich wieder in einen totalitären Staat verwandeln, was vor dem Hintergrund einer schwierigen Auseinandersetzung der Generationen untereinander zusätzliches Gewicht erhielt. Auch der Ordinarienuniversität warf man eine Verwurzelung in den Moralvorstellungen des Dritten Reiches vor. Ob die 68er damit diejenigen waren, die – im

Unterschied zu ihren Eltern – den demokratischen Charakter der BRD erst wahrhaftig werden ließen, ist allerdings umstritten. In jedem Fall wurde der politische Wille getragen von einer grundsätzlichen Generationendifferenz, in die sich die Ablehnung all dessen mischte, was als

„alt“ galt: Disziplin, Autorität, Askese.

2.3. Wichtige Ereignisse

Die „Kernzeit“ dessen, was gemeinhin mit „68“ assoziiert wird, reicht von Ende 1966 bis 1970 – abgesteckt wird dieser Rahmen durch den Amtsantritt der Großen Koalition unter Kurt Georg Kiesinger am 01. November 1966 und die Selbstauflösung des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) am 21. März 1970.20 Natürlich sind auch andere Zeitrahmen zur Definition von „68“ denkbar, unter anderem abhängig davon, ob beispielsweise die ersten Ostermärsche21 oder etwa das Aufkeimen des RAF-Terrorismus mit dazugerechnet werden oder nicht.

Die Benennung der zentralen Vorkommnisse um 1968 ist aus mehren Gründen angebracht. Erstens wird hierbei deutlich, dass der ereignisgeschichtliche Verlauf sich keineswegs auf ein einziges Jahr bezieht; zweitens, und dies wird die spätere Betrachtung der Presse noch deutlich machen, orientieren sich viele Autoren an bestimmten Daten und Jahrestagen, so dass man geradezu von einer Jubiläumssucht sprechen könnte. Deshalb sollen im Folgenden nur jene zentralen Ereignisse benannt werden, die sich in den Jahren 2007 und 2008 jähren.22 Eine komplette Auflistung aller wichtigen Daten kann und soll nicht geleistet werden.

West-Berlin, 01. Januar 1967. Sieben der zwölf SDS-Mitglieder, die am Tag zuvor die Gründung einer Wohngemeinschaft erklärt hatten, ziehen in eine gemeinsame Wohnung in und gründen damit die „Kommune I“.23 Das Private wurde zum Politischen, und die Revolution gesellschaftlicher Verhältnisse sollte vor allem in praktischer Form einer Lebensgestaltung stattfinden. Neben freier Sexualität machten sie vor allem durch Flugblätter und die Planung von Tortenattentaten auf sich aufmerksam. Eine Aussage des Kommunebewohners Dieter Kunzelmann macht jedoch die zunehmende Apolitisierung der Kommune deutlich: „Was geht mich Vietnam an – ich habe Orgasmusschwierigkeiten“.24 Bereits am 03. Mai 1967 werden die Kommunebewohner aus dem SDS ausgeschlossen.25

West-Berlin, 02. Juni 1967. Wie kein zweites Ereignis steht der Tod Benno Ohnesorgs symbolhaft für den gewalttätigen Charakter der damaligen Zeit. Er steht im Zusammenhang mit den Demonstrationen des gegen den Besuch des persischen Schah Mohammed Reza Palevi in der Bundesrepublik. Die Demonstrationen richten sich gegen die Menschenrechtsverletzungen Schah-Regimes und dessen offensichtlicher Duldung durch die Bundesregierung. Während des aggressiven Aufeinandertreffens von Demonstranten und Sicherheitskräften feuert der Polizist Karl-Heinz Kurras Schüsse auf Ohnesorg ab. Der Vorfall gilt heute als Unfall, wird damals jedoch als Akt vorsätzlicher Staatsgewalt wahrgenommen und mobilisiert auch bisher Unbeteiligte zum Protest.

West-Berlin, 11. April 1968. Auch Rudi Dutschke wird zum Opfer. Als der Hilfsarbeiter Josef Bachmann Dutschke auf dem Berliner Kurfürstendamm niederschießt, wird jedoch seitens seiner Sympathisanten insbesondere die BILD-Zeitung als „Mittäter“ ausgemacht, dem man unterstellt, indirekt zum Mord an Dutschke aufgerufen zu haben. Dieser überlebt das Attentat zwar, erliegt jedoch am Heiligabend 1979 den Spätfolgen.

Bonn, 30. Mai 1968. Die Verabschiedung der Notstandsgesetze ist eine Niederlage für die Außerparlamentarische Opposition (APO), die sich aus der Aktionsgemeinschaft gegen die Notstandsgesetze gebildet hatte und in der unter anderem der SDS, die IG Metall, die IG Chemie und die Kampagne für Abrüstung (KfA) vertreten waren. Die APO sollte in der Folgezeit auseinanderbrechen.

Prag, 20./21. August 1968. Truppen des Warschauer Paktes marschieren in die ČSSR ein und beenden damit die Reformbestrebungen des tschechoslowakischen KP-Vorsitzenden Alexander Dubček, die unter dem Namen „Prager Frühling“ bekannt werden sollten. Innerhalb des SDS folgten hitzige Debatten über die Beurteilung der Vorfälle. Die Uneinigkeit über die Bewertung des Militäreinmarsches in Prag ließ „den ideologischen Minimalkonsens der linken Gruppierungen in der Bundesrepublik endgültig zerbrechen“26 und nahm die spätere Auflösung des SDS quasi vorweg.

3. Anmerkungen zur Deutungsgeschichte

Schon eingangs wurde erwähnt, dass bereits die bloße Existenz eines Deutungsstreits um 68 eine bemerkenswerte Tatsache ist. Andere Schlüsseldaten der jüngeren deutschen Geschichte – etwa 1945 und 1989 – haben zwar ein vielfach höheres weltpolitisches Gewicht.27 Im Unterschied zum Ende des Zweiten Weltkrieges oder dem Niedergang des Ostblocks herrscht jedoch über die Wirkung der Ereignisse um das Jahr 1968 keine Einigkeit.28 Angesichts des laufenden Diskurses verwundert es auch nicht, dass es nur das Jahr 1968 in den Rang einer Chiffre erhoben wurde, mit der eine ganze Generation identifiziert wird. Unabhängig davon, ob diese Zuweisung nun sinnvoll ist oder nicht, ist der Begriff „68er-Generation“ zumindest äußerst populär.

Erst während der unmittelbaren Nachwehen von 1968, im Verlauf des von Gerd Koenen so betitelten „Roten Jahrzehnts“29, setzte sich die Erkenntnis durch, dass bestimmte Ereignisse überhaupt wichtig seien. Im Jahr 1968 verstand sich noch keiner der Akteure als Teil einer

„Generation“, schon gar nicht einer, die mit der Zahl „68“ versehen werden müsste. Zehn Jahre später sahen die gleichen Menschen das durchaus anders.30 In den folgenden Jahrzehnten fand der Begriff Eingang in das Alltagsgespräch, in dem er stets mit der Frage verbunden wurde, was aus dieser Generation wohl werden würde. Mit Blick auf das von Rudi Dutschke ausgegebene Diktum, man müsse den „langen Marsch durch die Institutionen“31 antreten und sich an der Macht beteiligen, um das Land und die Gesellschaft zu verändern, stellte sich regelmäßig die Frage nach der Verwirklichung der Ziele von damals.

Dabei ging es nie ausschließlich um 68 selbst; hinter der Deutung der 68er-Bewegung verbarg sich auch immer eine ganz allgemeine Wertedebatte. So konnten (und können) Kommentatoren die Ereignisse jener Jahre zum Anlass nehmen, Ansichten über Gesellschaft, Politik oder auch ganz andere Dinge kundzutun, stets mit dem Verweis darauf, 68 wäre für dieses oder jenes ein entscheidender Impuls gewesen. Das bedeutet aber, dass die Debatten in der Presse, mit denen wir es zu tun haben, auch dann geführt werden, wenn gerade kein Jubiläum eines 68- konnotierten Ereignisses stattfindet. Was dann fehlt, ist der entsprechende Verweis.

So sind auch die Themen, die uns unter dem Schlagwort 68er-Bewegung in der Presse der Jahre 2007/2008 begegnen, für sich genommen nicht neu. Dennoch steht die gesamte Debatte vor einem neuen Hintergrund: Denn während man noch zum 30-jährigen Jubiläum nur spekulieren konnte, was die bewegten Köpfe von damals so anstellen könnten, wenn sie einmal im Kanzleramt säßen, ist dieses Thema heute bereits Gegenstand der Geschichtsschreibung. Der Marsch durch die Institutionen ist nach sieben Jahren Rot-Grüner Regierungskoalition vorbei, weshalb die Frage nun nicht mehr lautet: „Was wird aus den 68ern werden?“, sondern: „Was haben die 68er bewirkt?“.32 Die Karten im Spiel um die Deutungsmacht sind also neu gemischt, und wir können davon ausgehen, dass zumindest teilweise neue Argumente in die Debatte eingebracht werden.

4. Die 68er-Bewegung in der Presse

4.1. Motive

Ein Motiv ist noch kein Deutungsmuster. Wie ein Autor über die 68er-Bewegung denkt, hängt von so unterschiedlichen Faktoren wie Lebenserfahrung, politischer Heimat, Bildungsstand und persönlicher Sympathie ab – und davon, wie viel von deren Einfluss der Autor zulassen will. Doch unabhängig davon, wie verschiedene Autoren die Ereignisse um 1968 bewerten, teilen sie mitunter gleiche Ansätze in der Methodik ihrer Darstellung.

So ist es auffällig, aber gleichzeitig nicht verwunderlich, dass ein großer Teil der Texte sich auf rein subjektives Erleben bezieht und entlang der impliziten Fragestellung „Was habe ich damals getan?“ weniger eine Schilderung der Ereignisse, sondern vor allem ein Autorenporträt zum Ziel zu haben scheint. Wir werden uns nun den auffälligsten Motiven widmen – unter anderem auch, um ihre Wechselbeziehung zu den Deutungsmustern zu untersuchen. a) 1968 begann 1967

„Für die Bundesrepublik wäre es [...] richtiger, von den '67ern' zu sprechen“, heißt es am 16. Mai 2007 in der ZEIT.33 Und tatsächlich sind sich auch die meisten Fachautoren einig, dass die Ereignisse, für die die Chiffre „68“ heute steht, schon vorher begannen.34 Es überrascht insofern nicht, dass die deutsche Presse das Jubiläumsjahr 2008 schon ein Jahr vorher begeht. Wie zur Entschuldigung heißt es schon auf der Titelseite der selben ZEIT-Ausgabe:

[...]


1 Dieser Begriff geht zurück auf: Von Lucke, Albrecht: 68 oder neues Biedermeier. Der Kampf um die Deutungsmacht. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach 2008, S.36.

2 Vgl. Ullrich, Volker: November 1918. Warum es zum 90. Jahrestag der Revolution kaum Bücher gibt. In: Die Zeit Nr. 27, 26.06.2008, S.57.

3 Thomma, Norbert/Axel Vornbäumen: „Halten wir fest: Die 68er sind an allem schuld“. [Interview mit Joschka Fischer] In: Der Tagesspiegel Nr. 19.771, 30.12.2007, S.S1+S3; hier: S3.

4 Vgl. Bollenbeck, Georg: Lehrstück mit viel Publikum. In: Freitag Nr. 24, 13.06.2008, S.19.

5 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, was ein Ereignis zu einem „68er-Ereignis“ macht; das Stattfinden im Jahr 1968 genügt alleine nicht. Näheres dazu in Abschnitt 4.1c.

6 Vgl. von Lucke, S.9f.

7 Kraushaar, Wolfgang: Denkmodelle der 68er-Bewegung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 22/23, 25.05.2001, S.14.

8 Vgl. Kraushaar 2001; vgl auch: Gilcher-Holtey, Ingrid: Die 68er-Bewegung. Deutschland – Westeuropa – USA. München: C.H. Beck 2005, S.16+62ff.

9 Vgl. Gilcher-Holtey 2005, S.45.

10 Vgl. Gilcher-Holtey 2005, S.56ff.

11 Vgl. Görtemaker, Manfred: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart.

München: C.H. Beck 1999, S.443.

12 Vgl. ebd., S.448.

13 Vgl. ebd., S.453.

14 Vgl. Schönbohm1, Wulf: Die 68er: politische Verirrungen und gesellschaftliche Veränderungen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 14-15, 31.03.2008, S.16-21; hier: 16f.

15 Vgl. Görtemaker, S.485.

16 Vgl. Schmidtke, Michael: Der Aufbruch der jungen Intelligenz. Die 68er Jahre in der Bundesrepublik und den USA. Frankfurt a.M. u.a.: Campus Verlag 2003, S.240f.

17 Vgl. ebd., S.206; vgl. auch: Gilcher-Holtey 2005, S.28. 18 Vgl. Gilcher-Holtey 2005, S.30.

18 Vgl. Gilcher-Holtey 2005, S.30.

19 Vgl. ebd., S.40f.

20 Diese Einteilung orientiert sich an Wolfgang Kraushaar, der von einer „Kernzeit“ der 68er-Bewegung in den Jahren 1967-69 ausgeht; vgl. Kraushaar, Wolfgang: 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur. Hamburg: Hamburger Edition 2008, S.8.

21 Die Ostermarschbewegung, in den später 50er Jahren in England endstanden und srpäter in die BRD importiert, richtete sich gegen Krieg und atomare Aufrüstung.

22 Die Zusammenfassung der Ereignisse orientiert sich unter anderem an der knappen Darstellung bei Görtemaker.

23 Vgl. Becker, Thomas/Ute Schröder (Hg.): Die Studentenproteste der 60er Jahre. Archivführer – Chronik –

24 Vgl. Görtemaker, S.485.

25 Vgl. ebd.

26 Görtemaker, S.489.

27 Vgl. von Lucke, S.14.

28 Der Begriff „Einigkeit“ muss allerdings relativiert werden; so wird auch der Niedergang des Ostblocks in verschiedenen Ländern unterschiedlich wahrgenommen, insbesondere was die Rolle führender Politiker wie Ronald Reagan oder Michail Gorbatschow betrifft.

29 Dieser Zeitabschnitt wird begrenzt durch dern Tod Benno Ohnesorgs am 02.06.1967 und die sog. „Todesnacht von Stammheim“ am 18.10.1977; vgl. Koenen, Gerd: Das rote Jahrzehnt. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2001.

30 Vgl. von Lucke, S.9.

31 Vgl. Gilcher-Holtey, S.69.

32 Vgl. von Lucke, S.10.

33 Ullrich, Volker: „Müssten die 68er in Wahrheit 67er heißen?“ In: Ullrich, Volker/Ullrich Greiner/Susanne Mayer/ Thomas Assheuer/Christian Staas/Patrik Schwarz/Jens Jessen: Die Legende und die Wirklichkeit. In: Die Zeit Nr. 21, 16.05.2007, S.60+61; hier: S.60.

34 Vgl. Kraushaar 2000, S.8.

Ende der Leseprobe aus 40 Seiten

Details

Titel
»Generation am Tropf des Feuilletons«
Untertitel
Die 68er-Bewegung und die Deutungsmuster der deutschsprachigen Presse in den Jahren 2007/2008. Eine Annäherung
Hochschule
Universität Siegen
Note
1,3
Autor
Jahr
2008
Seiten
40
Katalognummer
V115507
ISBN (eBook)
9783640170104
ISBN (Buch)
9783640612406
Dateigröße
620 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
68er Bewegung, Deutungskampf, Presseanalyse
Arbeit zitieren
Ludwig Andert (Autor:in), 2008, »Generation am Tropf des Feuilletons« , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/115507

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