Hysterie und Weiblichkeit in der Literatur um 1900 am Beispiel von Gabriele Reuters "Aus guter Familie"


Magisterarbeit, 2008

71 Seiten, Note: 1,1


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Hysterie-Diskurse
2.1 Hysteriekonzepte im medizinisch-psychiatrischen Diskurs
2.2 Weiblichkeit um die Jahrhundertwende
2.3 Sigmund Freud
2.3.1 „Studien über Hysterie“ – Der Fall Anna O
2.3.2 „Bruchstück einer Hysterie-Analyse“ – Der Fall Dora
2.4 Hysteriekonzepte im feministischen Poststrukturalismus
2.4.1 Luce Irigaray

3. Literatur um 1900
3.1 Andere Hysterikerinnen

4. „Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens“
4.1 Erziehung zur Weiblichkeit
4.2 Doppelmoral der Gesellschaft
4.3 Sexualität – gesellschaftliche Norm und individuelles Begehren
4.4 Agathes ‚Wahnsinn’

5. Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Laqueur beschreibt in „Auf den Leib geschrieben“ (1992) die Geschichte der Geschlechterverhältnisse von Aristoteles bis Freud. Bis zum späten 18. Jahrhundert dominierte die Vorstellung eines ‚Ein-Geschlecht-Modells’, innerhalb dessen Frauen nur eine - unvollkommene - Variante des männlichen Geschlechts darstellten. Einem einzigen biologischen Geschlecht (sex) entsprachen demzufolge zwei soziale Geschlechter (gender), denen unterschiedliche gesellschaftliche Rechte und Pflichten zugeordnet wurden. Das männliche Genital ließ sich „als eine Art Zertifikat verstehen, das dem Inhaber Anspruch auf bestimmte Rechte und Privilegien einräumte“[1]. Dies führte Laqueur zu der Annahme, dass nicht nur gender, sondern auch sex kulturell kodiert waren, wobei sex eher als eine „Sache der Konvention“[2] betrachtet wurde.

Mit der Einführung des ‚Zwei-Geschlechter-Modells’ am Ende des 18. Jahrhunderts wurde das Verhältnis der Geschlechter im Zeichen der Differenz konstruiert. Mit anderen Worten: man ‚erfand’ zwei unterschiedliche biologische Geschlechter. Mit dem Aufschwung der naturalistischen Wissenschaften vom Menschen, die materielle Belege für die physiologische und anatomische Differenz zwischen Frau und Mann lieferten, bildeten sich universale „Geschlechtscharaktere“[3] heraus, die den Anspruch hatten, das gesamte ‚Wesen’ von Mann und Frau zu erfassen. Der ‚Geschlechtscharakter’, eine Kombination aus „Biologie, Bestimmung und Wesen“, bezeichnet die Zuordnung physiologischer in Korrespondenz zu psychischen Geschlechtsmerkmalen.[4] Aus der schwächeren Konstitution des weiblichen Körpers leitete man demnach die (Nerven)Schwäche der weiblichen Psyche ab. Da sich diese Annahmen auf biologische Tatsachen stützten, galten die Eigenschaften, die das ‚weibliche Wesen’ charakterisierten als angeboren und ‚naturgegeben’ und wurden aus diesem Grund nicht hinterfragt. Die ‚Polarisierung der Geschlechtscharaktere’ beruhte auf den Gegensatzpaaren Aktivität/Passivität, Vernunft/Gefühl, Stärke/Schwäche, „wobei Frauen normalerweise die sekundäre, abhängige Eigenschaft zu verkörpern hatten“[5]. Die durch den Übergang von der höfischen zur bürgerlichen Gesellschaft etablierte Trennung von bürgerlicher Öffentlichkeit und privatem Binnenraum brachte zudem die Zuordnung der Geschlechter zu jeweils einem dieser Bereiche mit sich. Die Attribute, die dem Mann typischerweise zugesprochen wurden, prädestinierten diesen zur gesellschaftlichen Teilhabe und außerhäuslichen Arbeit. Demgegenüber wurde die Frau dem innerhäuslichen und ‚reproduktiven’ Bereich zugeordnet. Der Rückgriff auf die ‚Natur’ der Frau sollte demnach ihre untergeordnete Stellung in Familie und Gesellschaft rechtfertigen und ihre einzig berechtigte Funktion als Hausfrau, Gattin und Mutter legitimieren.

Die Annahmen von der ‚naturgegebenen’ Andersartigkeit der Frau - und der daraus resultierenden Minderwertigkeit - erfuhren im Verlauf des 19. Jahrhunderts durch die Ausdifferenzierung und Etablierung der modernen Medizin eine zusätzliche Verwissenschaftlichung. Die weibliche Differenz wurde dabei zunehmend als pathologisch-defizitär interpretiert. Das männliche Geschlecht galt als Norm, an der das weibliche Geschlecht gemessen wurde, mit dem Resultat, dass die normale Frau zur kranken Frau wurde und der normale Mann ein gesunder Mann war.[6]

Die Pathologisierung der Frau formte langfristig die kollektiven Vorstellungen und Bilder von Weiblichkeit und bekam mit dem Krankheitsbild der Hysterie ein Gesicht bzw. einen Namen verliehen. Die Hysterie, als Ausdruck der weiblichen ‚Anormalität’, kann in diesem Zusammenhang als „kulturelles Deutungsmuster“[7] verstanden werden. Kulturelle Deutungsmuster stehen in direkter Verbindung mit sozialen und gesellschaftlichen Konventionen. Sie sind als Vorstellungen, Bilder und Zuschreibungen von Weiblichkeit zu verstehen, die Weiblichkeit als diskursiven Effekt hervorbringen.

In der heutigen Forschung ist man sich weitgehend darüber einig, dass Weiblichkeit - und auch Männlichkeit – nicht als ‚naturgegebene’ Kategorien, sondern als kulturelle Konstrukte aufzufassen sind, die durch die Interaktion bestimmter sozialer, politischer und diskursiver Praktiken historisch geformt werden.[8] In „Das andere Geschlecht“ (1949), dem Grundlagenwerk der modernen Frauenbewegung, relativierte Beauvoir erstmalig den biologischen Determinismus der Geschlechtsidentität, der, wie erwähnt, seit dem 19. Jahrhundert das ‚Wesen’ des Geschlechts begründete. Stattdessen betont sie die gesellschaftliche Konditionierung von Weiblichkeit: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“[9]. Da die Frau exklusiv aus der männlichen Perspektive definiert wird, ist sie im Gegensatz zum Mann stets die ‚Andere’: „Sie wird bestimmt und unterschieden mit Bezug auf den Mann, dieser aber nicht mit Bezug auf sie; sie ist das Unwesentliche angesichts des Wesentlichen. Er ist das Subjekt, er ist das Absolute: sie ist das Andere.“[10]

Mit Butler erfolgte Anfang der 1990er Jahre eine grundsätzliche Neuüberlegung der Geschlechterkonstruktionen. In „Das Unbehagen der Geschlechter“ (1991) hebt die Autorin die Unterscheidung zwischen sex und gender auf, indem sie beides als kulturell-diskursive Produkte ausweist. Das scheinbar natürliche, biologische Geschlecht erscheint als „Effekt des kulturellen Konstruktionsapparates“[11], der das Geschlecht als biologisches erst hervorbringt. Geschlechtsidentität basiert somit nicht auf einer vordiskursiven Realität, sondern entsteht ausschließlich durch Einschreibungen und Bezeichnungsprozesse, die die Geschlechtsidentität nicht nur determinieren, sondern sie überhaupt erst konstruieren.

Repräsentationen, Vorstellungen und Bilder von Weiblichkeit entsprechen weniger der weiblichen Realität, als vielmehr der männlichen Imagination: „Der Diskurs des Weiblichen ist ein subjektiver, der nicht auf die ‚reale’, sondern die ‚imaginierte’ Weiblichkeit verweist - auf ein ‚fiktives Geschlecht’ eben.“[12]

Am Beispiel des Romans „Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens“ (1895) von Gabriele Reuter soll in der vorliegenden Arbeit untersucht werden, wie sich eine weibliche Schriftstellerin am Ende des 19. Jahrhunderts mit den herrschenden Hysterie-Diskursen und dominanten Weiblichkeitsideologien auseinandersetzte. Wie geht der Text mit kulturell produzierten Vorstellungen von Weiblichkeit respektive ‚hysterischer’ Weiblichkeit um? Lässt sich ein affirmativer oder subversiver Umgang in der Konstruktion von Weiblichkeit angesichts der tradierten Konzeptionen erkennen?

Die Provokation des Romans liegt in der Darstellung der ungeschönten Realität einer jungen unverheirateten Frau, der durch die rigiden Rollenzuweisungen der wilhelminischen Gesellschaft jegliche Möglichkeit, ihr Leben selbst nach ihren Bedürfnissen zu gestalten, versagt ist. In für diese Zeit ungewöhnlicher Deutlichkeit beschreibt Reuter die erwachende Sexualität einer jungen Frau, die aufgrund gesellschaftlicher Konventionen gezwungen ist, ihr Begehren zu unterdrücken. Trotz ihres sensationellen Erfolgs[13] geriet Reuter in den 1940er Jahren in Vergessenheit, um dann in den 1980er Jahren von feministischen, vor allem angloamerikanischen Literaturwissenschaftlerinnen wieder entdeckt zu werden.[14]

Der erste Teil dieser Arbeit behandelt die Diskurse der Hysterie. Dabei soll zunächst ein knapper historischer Überblick über die medizinisch-psychiatrischen Theorien der Hysterie am Ende des 19. Jahrhunderts gegeben werden. Im Anschluss daran liegt der Fokus auf den um die Jahrhundertwende zirkulierenden Konzeptionen von Weiblichkeit und Krankheit respektive Hysterie.

Das dritte Kapitel behandelt als Schwerpunkt die Freudschen Theorien zu Hysterie und Weiblichkeit. Zur Exemplifizierung werden zwei seiner bekanntesten Fallgeschichten skizziert: der Fall Anna O. und der Fall Dora. Da sich Freuds Erkenntnisse über Hysterie und Weiblichkeit über einen längeren Zeitraum entwickelt haben, werden weitere seiner theoretischen Schriften miteinbezogen. Das letzte Kapitel in diesem Themenkomplex beschäftigt sich mit der Thematisierung der Hysterie in der poststrukturalistischen feministischen Wissenschaftstheorie. Hierfür wird die Arbeit „Das Geschlecht, das nicht eins ist“ (1977) der französischen Philosophin und Psychoanalytikerin Luce Irigaray von Interesse sein.

Der zweite Teil dieser Arbeit behandelt den literarischen Kontext der Jahrhundertwende. Der Fokus liegt dabei vor allem auf den Lebensbedingungen der schreibenden Frauen dieser Zeit. In einem nächsten Schritt soll anhand der Texte weiblicher und männlicher Signatur skizziert werden, wie diese AutorInnen die herrschenden Deutungen um Weiblichkeit und weiblicher Psychopathologie behandeln und welche Unterschiede gegebenenfalls signifikant sind. Bei den analysierten Texten handelt es sich um Theodor Fontanes Roman „Cécile“ (1887), Hedwig Dohms Novelle „Werde, die du bist!“ (1894) und dem Roman „Halbtier“ (1897) von Helene Böhlau.

Die Analyse des Romans „Aus guter Familie“ von Gabriele Reuter bildet den Hauptteil der vorliegenden Arbeit. Der ‚Leidensweg’ der Protagonistin Agathe Heidling soll anhand der Faktoren nachgezeichnet werden, die die Zerstörung ihrer Identität und Individualität bedingen und die letztendlich zur Internierung in eine Nervenheilanstalt führen. Neben der im Vordergrund stehenden textimmanenten Interpretation sollen immer wieder die theoretischen Ausführungen Irigarays zu Weiblichkeit und weiblicher Subjektivität miteinbezogen werden.

2. Hysterie-Diskurse

2.1 Hysteriekonzepte im medizinisch-psychiatrischen Diskurs

Die Hysterie, ‚Frauenkrankheit’ par excellence, hat eine sehr lange Tradition, die sich bis zu den alten Ägyptern zurückverfolgen lässt. In der Literatur werden Hunderte von Symptomen genannt: Erstickungsanfälle, Lähmungen, epilepsieartige Anfälle, Verkrampfungen, Gleichgewichtsstörungen, Erbrechen, Seh- und Sprachstörungen, Kopfschmerzen und Halluzinationen. Über Jahrhunderte hinweg (ko)existierten eine Vielzahl von Theorien, Definitionen und Behandlungsmethoden, weshalb Paul Briquet die Hysterie einen „Proteus [nennt], der sich unter tausend Formen zeigt und den man in keiner fassen kann“[15]. Mentzos weist auf die Konstruiertheit der Hysterie hin wenn er schreibt, dass das ‚Hysterische’ wie ein Chamäleon die unterschiedlichsten Formen annimmt und sich dem Stil, den Ausdrucksmodi und den Inhalten der verschiedenen Kulturen und Epochen anpasst.[16] Immer gleich geblieben ist der Umstand, dass der Begriff der Hysterie mit mannigfaltigen kulturellen Vorstellungen von Weiblichkeit in Verbindung gebracht wurde – vor allem mit den negativen Abweichungen.

Zum ersten Mal unter dieser Bezeichnung taucht die Hysterie in den Schriften Hippokrates (460-375 v. Chr.) auf.[17] Die hysterischen Störungen führte er auf den Uterus zurück, was sich etymologisch aus dem griechischen Begriff ‚hystera’ (Gebärmutter) ableiten lässt. Man ging davon aus, dass die Gebärmutter aufgrund eines Feuchtigkeitsmangels im Körper umherwandere und dabei die vielfältigsten Krankheitserscheinungen auslöst. Hippokrates war nicht nur der erste, der die uterine Genese der Hysterie behauptete, sondern auch derjenige, der die sexuelle Komponente in die Beschreibung dieser Krankheit einführte. Der Feuchtigkeitsmangel sei nämlich unter anderem auf geschlechtliche Abstinenz zurückzuführen, dementsprechend sah er in der Ehe und der Schwangerschaft die bestmögliche Behandlungsmethode.

Die Vorstellung, dass die Ursache der Hysterie in den weiblichen Geschlechtsorganen und sexuellen Dispositionen zu finden sei, spielte bis ins 18. Jahrhundert hinein immer wieder eine Rolle. Das Erklärungsmuster der umherwandernden Gebärmutter, die sexuell befriedigt werden wollte, hielt sich bis ins Mittelalter, als die empfohlene Therapie – Geschlechtsverkehr – sich mit dem christlichen Ideal der Keuschheit nicht mehr vereinbaren ließ.

Das hysterische Leiden, das anscheinend nur Frauen befiel, wurde nun mit dem ‚Bösen’ in Verbindung gebracht. So wurde aus der Hysterikerin die Hexe, die im Bündnis mit dem Teufel stand. Die christliche Weltanschauung belegte Krankheit mit einer moralischen Komponente und führte diese auf den Sündenfall zurück, welcher wiederum aus der schuldhaften Verführbarkeit der Frau - in der Person der Eva - resultierte. Von Braun schreibt, dass es bei den mittelalterlichen Hexenverfolgungen „nicht nur um die Auslöschung der Frau [ging], sondern des Sexualwesens überhaupt. Die Frau wird verfolgt, weil sie als die Verkörperung des Sexualwesens gilt: in ihr und durch ihre Zerstörung soll die Geschlechtlichkeit selbst untergehen.“[18]

Das Mittelalter kannte jedoch auch Formen der Hysterie, die gesellschaftlich durchaus akzeptiert waren. Die Rede ist hier von den religiösen Visionen der Mystikerinnen, der „Bräute Gottes“.[19] Bekannte hysterische Symptome wie Krämpfe, Halluzinationen, Lähmungen und Sprachstörungen tauchten immer wieder in den Berichten ekstatischer Erfahrungen von Mystikerinnen auf.

Im Zusammenhang mit dem Ende der mittelalterlichen Hexenverfolgungen steht der Engländer Edward Jordan (1578-1632), der den Begriff der ‚vapours’ in die Hysteriedebatten einbrachte. Die organischen Ursachen der Hysterie wurden wieder auf die Gebärmutter zurückgeführt, die nun durch aufsteigende Dämpfe – den ‚vapours’ – auch andere Körperteile in Mitleidenschaft zog und dabei die hysterischen Symptome hervorrief.

Durch das Aufkommen der Neurologie im 17. Jahrhundert führte dieses Konzept dazu, dass die Ursache der Hysterie allmählich ‚Dämpfen gleich’ vom Uterus in den Kopf stieg und damit in die Rubrik der Nervenkrankheiten fiel. Die Etablierung weiterer medizinischer Teildisziplinen - der Gynäkologie und Psychiatrie beispielsweise – führte zu einer Kumulation der verschiedenen Hysteriekonzepte. So ist es zu erklären, dass ältere Theorien, die die weiblichen Geschlechtsorgane für die Hysterie verantwortlich machten, weiter existieren. Die Frau konnte nun nicht nur aufgrund ihres Unterleibs, sondern auch wegen ihres krankheitsanfälligen Gehirns für defizitär und minderwertig erklärt werden.

Mit Entstehung der Aufklärung wurde die Hysterie zunehmend als psychosomatische Erkrankung wahrgenommen, d.h. als Form eines seelischen oder geistigen Leidens. Als einer der bekanntesten Vertreter innerhalb der Geschichte der Psychiatrie gilt der französische Mediziner Philippe Pinel (1745-1826). Pinel reformierte die Psychiatrie grundlegend, indem er Ende des 18. Jahrhunderts die Geisteskranken des Bicêtre-Hospitals und der berühmten Salpêtrière von ihren „eisernen Ketten“[20] befreite und stattdessen auf die psychologische Wirkung moralischer Therapien setzte, die in der Kommunikation zwischen Arzt und Patient bestanden. Die Hysterie gehörte ihm zufolge zu jenen Krankheiten, die ohne organische Veränderungen des Nervensystems, dafür aber durch soziale Faktoren, wie beispielsweise moralisch-sittliche Verschuldung, individuelle Schicksalsschläge, politische Ereignisse und religiösen Fanatismus verursacht werden können.[21]

Jean-Martin Charcot (1825-1893), der Chefarzt der berühmten französischen Nervenheilanstalt Salpêtrière, avancierte durch die Beschäftigung mit der Hysterie zu einem der bekanntesten Neurologen des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Charcots Verdienst war es, die Hysterischen vom Vorwurf der Simulation befreit zu haben.[22] Da sich die Symptomatik der Eindeutigkeit und damit zugleich der Eindeutigkeit der Interpretation des Arztes entzog, wurde die Hysterika oft der Schauspielerei oder der Lüge bezichtigt. Die Entdeckung Charcots bestand darin, dass die Hysterie als eine ‚Ich-Schwäche’ durch bloße Vorstellungen und hypnotische Suggestionen ausgelöst werden kann, d.h. ohne erkennbare Ursache. Zwar betonte er den wichtigen Stellenwert der Traumata, Gefühle und Vorstellungen in der Entstehung hysterischer Symptome, räumte ihnen aber letztendlich nur die Bedeutung von ‚agents provocateurs’ ein. Trotz fehlender wissenschaftlicher Fundierung hielt er an einer organischen Verursachung der Hysterie fest. Eine ererbte Veranlagung (Heredität) oder eine ‚lésion dynamique’ in der Hirnregion seien das ursächliche Moment der hysterischen Symptomatik.

Berühmt geworden ist Charcot vor allem durch seine Vorlesungen, in denen er seine hysterischen Patientinnen dem Publikum vorführte, unter dem sich auch der Wiener Nervenarzt Sigmund Freud befand. Durch Druck auf die Eierstockgegend und der bereitwilligen Kooperation der Hysterika ließen sich die ‚großen hysterischen Anfälle’ beliebig oft präsentieren und reproduzieren. Zwar wies Charcot ausdrücklich auf die Existenz einer männlichen Form der Hysterie hin, dadurch aber, dass seine Klientel vorwiegend weiblich war, verfestigte er den Zusammenhang zwischen Weiblichkeit und Hysterie. Bei Charcot zeigt sich das Ineinandergreifen von medizinischem Diskurs respektive medizinischer Definitionsmacht und hysterischer Symptomatik sehr deutlich. Didi-Huberman schreibt: „Was die Hysterischen […] mit ihrem Körper zur Schau gestellt haben, entspringt einem außerordentlichen Einverständnis der Mediziner mit den Patienten.“[23]

Die psychologische Wende in der Geschichte der Hysterie trat mit Sigmund Freud (1856-1939) und Josef Breuer (1842-1925) ein. Sie knüpften an den durch Charcot eingeführten Begriff der ‚traumatischen Neurose’ an, um dann darauf hinzuweisen, dass dieser Begriff auf weitere, nicht nur offensichtliche traumatische Hysterien anwendbar ist. Bei jedem Fall von Hysterie liege eine Art von Traumatisierung zugrunde, die nicht unbedingt körperlicher Natur sein muss, sondern auch seelischen Ursprungs sein kann.[24] In dem 1893 veröffentlichten Aufsatz „Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene“ formulierten sie dann die revolutionäre These, „der hysterische Patient leide größtenteils an Reminiszenzen“[25]. Zunächst jedoch lag der Unterschied in der Therapie: Während Charcot nach dem Grundsatz praktizierte, dass das, was zu ‚sehen’ ist auch existiert, erlangt bei Freud das, was zu ‚hören’ ist an Bedeutung.

Bevor jedoch die Theorien Freuds und Breuers zur Hysterie skizziert werden, sollen im folgenden Kapitel die Weiblichkeitsdiskurse am Ende des 19. Jahrhunderts zusammengefasst werden.

2.2 Weiblichkeit um die Jahrhundertwende

„Im 19. und früheren 20. Jahrhundert grassierte eine Krankheit, wie sie vor- und nachher nie grassiert hat: die Krankheit ’weibliches Geschlecht’“[26], so bringt die Medizinhistorikerin Esther Fischer-Homberger die zirkulierenden Weiblichkeits-konzeptionen auf den Punkt. Während im 18. Jahrhundert die pathologischen Momente noch locker mit Weiblichkeit assoziiert wurden, sind sie am Ende des 19. Jahrhunderts feste Bestandteile des weiblichen ‚Geschlechtscharakters’. Medizin, Psychiatrie, Philosophie, Literatur und Psychoanalyse produzierten eine unmäßige Anzahl von Texten, in der die Frau aufgrund ihrer spezifischen ‚Natur’ als das ‚Andere’ festgeschrieben wurde und geben so ein Beispiel für den diskursübergreifenden Antifeminismus, der für das 19. Jahrhundert charakteristisch ist. Frau-Sein wurde zwangsläufig mit Krank-Sein in Verbindung gebracht, wobei die Meinung vorherrschte, dass speziell die weiblichen Genitalorgane und deren Funktionen - Gebärmutter und Eierstöcke, Menstruation und Schwangerschaft – „auf pathogene Weise die weibliche Konstitution bestimmten und für chronische nervliche Überreizung und vielfältige Leiden sorgten“[27]. Generell ging die Tendenz dahin, die Frau aufgrund ihrer angeblich körperlichen und geistigen Schwäche im Gegensatz zu dem vollkommenen und vor allem ‚gesunden’ Mann als ein Mängelwesen darzustellen. Wie Fischer-Homberger schreibt, ist die Krankheit ‚weibliches Geschlecht’ ein ‚natürlicher’ und ‚normaler’ Zustand, denn „die Frau muß notwendig an ihrem Geschlecht leiden, menstruieren, schwanger werden, gebären, kindartig, unintellektuell, emotionell sein, sonst wäre sie keine Frau mehr und würde ihrer natürlichen Bestimmung als Gattin und Mutter nicht genügen können“[28]. Von Braun folgert: „Weibliche ‚Anormalität’ ist nur eine besonders deutliche Form von weiblicher Normalität. Was heißt das anderes als dies: daß die ‚Krankheit’, die es zu behandeln gilt, die Frau selbst ist?“[29] Weiter geht von Braun davon aus, dass vor allem die Hysterie als Erklärungsmuster für weibliche Normalität diente: „Hysterisch ist immer der andere – und hysterisch ist vor allem das ‚andere Geschlecht’, die Frau als Andersartigkeit schlechthin. Denn darüber herrscht Einigkeit: das ‚normale’ Geschlecht ist männlich.“[30]

Die diskursive Verwobenheit von Hysterie und Weiblichkeit geht unter anderem aus der Rede über den „hysterischen Charakter“[31] hervor. Eigenschaften wie Launenhaftigkeit, Suggestibilität, Verlogenheit, Nymphomanie bzw. Frigidität, mit denen typischerweise die Hysterikerin beschrieben wurde, tauchten in gleicher oder abgeschwächter Weise in der Beschreibung des ‚Wesens’ der Frau wieder auf. Weickmann schreibt:

Der hysterische und der weibliche Charakter standen sich also nicht etwa als Antipoden gegenüber, sondern verschmolzen zu einer einzigen Idee: Aus der Mixtur ihrer Farben entstand das Porträt der ganz normalen, nämlich hysterischen Frau.[32]

Die Diffamierung und Pathologisierung der Frau geschah vor allem im Diskurs der Sexualität, die um 1900 einer generellen Tabuisierung anheim fiel. Während der Mann neben vielen weiteren Eigenschaften ‚auch’ ein Geschlecht besitzt, wird die Frau in ihrer Gesamtheit aus ihrer sexuellen Natur hergeleitet und auf ihre reproduktive Funktion reduziert. In seinem Werk „Geschlecht und Charakter“ (1903) betont Otto Weininger (1880-1903), dass die Frau „nichts ist als Sexualität, weil sie die Sexualität selbst ist“[33]. Ihrer Sexualität stehe sie aber nur unbewusst gegenüber: „Das tiefste Begehren der Frau ist, vom Manne geformt und dadurch erst geschaffen zu werden“[34]. Die weibliche Passivität ist nach Weininger ein ‚naturgegebenes’ Faktum, woraus er folgert, dass „das Verhältnis von Mann und Weib kein anderes als das von Subjekt und Objekt [ist]. Das Weib sucht seine Vollendung als Objekt“[35].

Die Frau am Ende des 19. Jahrhunderts ist ganz Geschlecht – aber ohne Geschlechtstrieb. Stellvertretend für zahlreiche Wissenschaftler postuliert der Psychiater Richard von Krafft-Ebing (1840-1902) in seiner Studie „Psychopathia sexualis“ (1886) die Inexistenz einer weiblichen Libido. Einen Sexualtrieb, der außerhalb der legitimen Form der Fortpflanzung auftritt, erklärt er zu einer pathologischen Erscheinung, die wiederum direkt auf die hysterische Frau verweist: „Aeusserst häufig ist bei dieser Neurose auch das sexuelle Leben abnorm, bei belasteten Fällen wohl immer.“[36]

Die oft sehr brutalen Behandlungsmethoden im Zusammenhang mit der Hysterie, wie operative Eingriffe an den Geschlechtsteilen, zeugen von dem Versuch, den weiblichen Körper zu unterwerfen. Von Braun geht noch einen Schritt weiter, wenn sie sagt: „Die Hysterie-Therapie bestand gewissermaßen darin, die Entfaltung weiblicher Normalität zu verhindern, also die ‚Anormalität’ herzustellen.“[37]

Doch ganz gleich ob mangelnde oder übersteigerte weibliche Libido, die Determination der Frau durch ihre Sexualität mündete immer in den Befund der ‚geistlosen’ Frau. Fischer-Homberger schreibt, dass „der Geist im 19. Jahrhundert soziale Funktionen [hat], die ursprünglich der Sexualität oblegen haben“[38]. Die sexuelle Potenz, im Sinne von Zeugungskraft durch Samen, wird zur geistig-intellektuellen Potenz. Es scheint, als sei „dem Manne im 19. Jahrhundert der Samen buchstäblich in den Kopf gestiegen“[39]. Weininger zufolge ist es unumstritten, dass das ‚Weib’ „seelenlos ist, daß es kein Ich und keine Individualität, keine Persönlichkeit und keine Freiheit, keinen Charakter und keinen Willen hat“[40]. So lautet denn auch das vernichtende Urteil: „Das absolute Weib hat kein Ich.“[41]

Einer der symptomatischsten Texte über die weibliche Geist- und Ich-losigkeit stammt von dem Neurologen Paul Julius Möbius (1853-1907), der aus der vergleichenden Hirnanatomie den „physiologischen Schwachsinn des Weibes“ herleitete. Möbius hielt es für „nachgewiesen, daß für das geistige Leben außerordentlich wichtige Gehirnteile […] beim Weibe schlechter entwickelt sind als beim Manne“[42]. Dieser Umstand, so heißt es weiter, sei „nicht nur vorhanden, sondern auch nothwendig […]. Wollen wir ein Weib, das ganz seinen Mutterberuf erfüllt, so kann es nicht ein männliches Gehirn haben.“[43] Die angeblich minderwertige physische und psychische Konstitution der Frau wurde zum Vorwand genommen, diese aus den männlich dominierten Bereichen Gesellschaft, Beruf, Politik und Bildung fernzuhalten.

In dieser Tradition steht auch Friedrich Nietzsche (1844-1900), der angesichts der Emanzipationsbestrebungen der Frau vor der ‚Verweichlichung’ seiner Epoche warnt. Auf die Forderung der Frauenbewegung nach Bildung, Recht und Berufstätigkeit antwortet Nietzsche mit einer Diffamierung weiblicher Emanzipation und Intellektualität: „Wenn ein Weib gelehrte Meinungen hat, so ist gewöhnlich Etwas an ihrer Geschlechtlichkeit nicht in Ordnung.“[44]

Die Amalgamierung von Weiblichkeit und Krankheit bzw. Hysterie lässt sich als ein von männlicher Seite unternommener Versuch interpretieren, den niedrigeren sozialen Status der Frau zu rechtfertigen und die patriarchalische Geschlechterordnung aufrechtzuerhalten. Als ‚kollektives Konstrukt’ diente die Hysterie als Projektionsfläche, auf der sich männliche Phantasien, Wünsche und Ängste über den weiblichen Körpers verquickten. Christa Rohde-Dachser spricht dabei von einer „Containerfunktion“:

In einem imaginären, als weiblich deklarierten und damit gleichzeitig scharf von der Welt

des Mannes geschiedenen Raum deponiert der Mann seine Ängste, Wünsche, Sehnsüchte

und Begierden – sein Nichtgelebtes, könnte man auch sagen, um es auf diese Weise erhalten und immer wieder aufsuchen zu können.[45]

Konzepte von Weiblichkeit und Hysterie sind nicht allein als Resultat des (misogynen) männlichen Blicks zu bezeichnen. Vielmehr erfahren sie ihre Verfestigung durch die Interaktion der Geschlechter, wie Honegger betont: „[…] das bürgerliche Weiblichkeitsideal blieb ihnen nicht äußerlich, sondern verlagerte sich in ihr Inneres und verdichtete sich dort zu einem Kernstück weiblicher Identität.“[46]

Die strengen Regeln und Sitten der wilhelminischen patriarchalen Gesellschaft verunmöglichten der Frau die Entwicklung einer eigenständigen geschlechtlichen und kulturellen Identität.[47] Die Einübung in die zweitrangige Position des ‚anderen Geschlechts’, dessen einzige Daseinsberechtigung die Rolle der Mutter und Ehefrau darstellte, begann bereits in der frühesten Erziehung. Da Erwerbstätigkeit und intellektuelle Bildung für die bürgerliche Frau als nicht-standesgemäß empfunden wurde, war die häusliche Sphäre ihr einziges Betätigungsfeld.[48] Die Maßnahmen zur „perfekten Domestizierung“[49] und die Angst vor dem ökonomischen und gesellschaftlichen Ruin hatten zur Folge, dass sich die Mehrheit der Frauen denn auch dem idealisierten Bild der wilhelminischen Frau als geschlechtsloses, passives, geistloses und schwaches Wesen anpasste: „Weibliche Identität konstituiert sich als ein Mangel: Erst in der Aufgabe ihres Selbst findet die Frau zu sich.“[50]

Krankheit, von den Medizinern ohnehin als ‚natürlicher’ Zustand des weiblichen Geschlechts diagnostiziert, stellte aber auch eine der wenigen sozial akzeptierten Möglichkeiten dar, der restriktiven weiblichen Lebensführung zu entkommen.[51] Wie Marianne Breiter jedoch zu Bedenken gibt, konnte dieser Weg schnell in ein „neues Gefängnis“ führen, wenn „das der Krankheit zugrunde liegende kreative Potential nicht dazu genutzt werden kann, die krankmachende Ausgangssituation zu verändern“[52]. In ein ‚neues Gefängnis’ führte dieser Weg in den meisten Fällen, denn „eine offene Rebellion gegen diese neuen weiblichen Tugenden wäre einem Kampf an zwei Fronten gleichgekommen – einem Kampf gegen äußere Rollenerwartungen auf der einen und gegen verinnerlichte Normen auf der anderen Seite“[53].

Die Hysterie lässt sich aber – und das macht sie für die heutige feministische Wissenschaftstheorie so interessant – als Artikulationsform der weiblichen Unterdrückung deuten. Die hysterische Symptomatik drückt den Protest der Frau an fremddefinierten Weiblichkeitsidealen aus. In den Grenzen der ihr zugewiesenen Sphäre artikuliert die Hysterikerin ihr Leiden an den herrschenden Geschlechterverhältnissen.[54] Somit war „die hysterische Frau […] ein Produkt ihrer Kultur und zugleich deren Anklage“[55].

2.3 Sigmund Freud

2.3.1 „Studien über Hysterie“ – Der Fall Anna O.

Mit den 1895 veröffentlichten „Studien über Hysterie“[56] sollte Sigmund Freud, zunächst noch gemeinsam mit seinem Freund, Mentor und Kollegen Josef Breuer, ein völlig neues Hysteriekonzept entwerfen, das den Grundstein für die später entwickelte Psychoanalyse legte. Daran maßgeblich beteiligt war die unter dem Pseudonym Anna O. bekannt gewordene Bertha Pappenheim (1859-1936), die von Dezember 1880 bis Juni 1882 bei Breuer in Behandlung war. Die aus einer jüdischen Familie stammende Patientin, die zu Beginn der Erkrankung 21 Jahre alt war, litt an den verschiedensten hysterischen Symptomen, angefangen von Lähmungen und Sehstörungen, über Husten und Kopfschmerzen, bis hin zu Halluzinationen.

In den Sitzungen, in denen sich die Patientin in einem hypnoiden Zustand befand, erzählte sie Breuer von den Anlässen, bei denen ihre Leiden aufgetreten waren. Breuer fand daraufhin heraus,

[…] daß die einzelnen Symptome sogleich und ohne Wiederkehr verschwanden, wenn es gelungen war, die Erinnerung an den veranlassenden Vorgang zu voller Helligkeit zu erwecken, damit auch den begleitenden Affekt wachzurufen, und wenn dann der Kranke den Vorgang in möglichst ausführlicher Weise schilderte und dem Affekt Worte gab. (30)

Daraus folgerten Freud und Breuer, dass die körperlichen Symptome die Folge einer dauerhaften psychischen Spannung sein müssen, die durch traumatische Ereignisse ausgelöst worden ist. Durch das Ausbleiben einer adäquaten Abreaktion, werden diese ‚eingeklemmten Affekte’ in physische Symptome transformiert.[57] Nachdem Breuer Anna O. von den Ereignissen nun hat erzählen lassen und sie dabei „ihrem steckengebliebenen Ärger noch energisch Ausdruck gegeben“(55) hatte, trat eine ‚kathartische’, also reinigende Wirkung ein und die Symptome verschwanden. Anna O. selbst nannte diese Methode „talking cure“ (Redekur) (50).

Nach weiterer Untersuchung des Phänomens der Affektunterdrückung fanden Freud und Breuer heraus, dass es zwei Arten von psychischen Prozessen geben müsse, nämlich bewusste und unbewusste. Unbewusste Vorstellungen können weiterhin Einfluss auf den Patienten ausüben, d.h. sie sind noch „irgendwie und irgendwo in der Psyche […] gegenwärtig“[58]. Für die Hysterika bedeutet dies, dass sie die pathogenen Vorstellungen nicht verdrängen konnte und diese sich als psychisches Symptom wieder eingeschlichen haben. Darunter fallen jedoch nur die Wunschvorstellungen, die im Widerspruch zu anderen Wünschen und zu den ethischen Normen der Patienten stehen.[59] So trat etwa Annas hysterischer Husten zum ersten Mal auf, als während ihrer nächtlichen Wache am Bett des todkranken Vaters „aus einem benachbarten Hause Tanzmusik herübertönte und der aufsteigende Wunsch, dort zu sein, ihr Selbstvorwürfe erweckte“ (60).

Entgegen der vorherrschenden Meinung, Hysterikerinnen seien geistesschwach, minderbemittelt und suggestibel, fanden Breuer und Freud heraus, dass sich gerade „unter den Hysterischen die geistig klarsten, willensstärksten, charaktervollsten und kritischsten Menschen“ (37) befinden. Laut Breuer war Anna O. „von bedeutender Intelligenz, erstaunlich scharfer Kombination und scharfsichtiger Intuition“ (42). Weiter heißt es, sie hätte „ein[en] kräftige[n] Intellekt, der auch solide geistige Nahrung verdaut hätte und sie brauchte, nach Verlassen der Schule aber nicht erhielt“ (42). Ihr monotones Leben versuchte sie sich durch Wachträume, welche sie ihr „Privattheater“ (42) nannte, zu verschönern. Explizit weist Breuer in der Krankengeschichte auf den Zusammenhang zwischen der hysterischen Symptomatik, dem monotonen Leben und den unbefriedigten intellektuellen Interessen der bürgerlichen Töchter hin. „Die Adoleszenten, welche später hysterisch werden, sind vor ihrer Erkrankung meist lebhaft, begabt, voll geistiger Interessen; ihre Willensenergie ist oft bemerkenswert“ (259). Das Risiko an Hysterie zu erkranken ist demnach bei denjenigen Frauen am höchsten, „deren psychische Energie nicht in geistige Arbeit kanalisiert werden könne“[60]. Die „Studien über Hysterie“

[…] nehmen deutlich sozialgeschichtliche Problemstellungen in die Ätiologie dieser weiblichen Krankheit auf […] Im Apparat Familie vollziehen sich die Versubjektivierungsprozesse, die die weibliche Identität als Tochter, Ehefrau und Mutter stiften. Eben diese patriarchalisch determinierte Identitätsstiftung […] ist es, gegen die die weiblichen Individuen in der Figur der Hysterika aufbegehren.“[61]

Am Rande weist Breuer auch auf den Zusammenhang zwischen der Festschreibung der weiblichen Sexualität als einer ausschließlich den männlichen Bedürfnissen angepasste und der Entstehung der Hysterie hin:

Es ist zu wundern, daß die Brautnacht nicht häufiger pathogen wirkt, da sie doch leider so oft nicht erotische Verführung, sondern Notzucht zum Inhalte hat. […] Ich glaube nicht zu übertreiben, wenn ich behaupte, die große Mehrzahl der schweren Neurosen bei Frauen entstamme dem Ehebett. (265)

[...]


[1] Laquer: Auf den Leib geschrieben, S. 156.

[2] Ebd., S. 20.

[3] Hausen: Polarisierung der Geschlechtscharaktere, S. 363-393.

[4] Ebd. S. 367.

[5] Sharpe: Anthropologie der Frau, S. 215.

[6] Vgl. Breiter: Ausbruch, S. 67.

[7] Schaps entlehnt den Begriff des „kulturellen Deutungsmusters“ Honegger: Ordnung der Geschlechter und bezieht ihn auf den Hysterie-Diskurs des 19. Jahrhunderts. Vgl. Schaps: Hysterie, S. 10f.

[8] Vgl. Kaloyanova-Slavova: Übergangsgeschöpfe, S. 9. Aufgrund dieser Annahme und um die Lesbarkeit des Textes zu gewährleisten, soll in dieser Arbeit darauf verzichtet werden, Begriffe wie weiblich und Weiblichkeit durch Anführungszeichen hervorzuheben.

[9] De Beauvoir: Das andere Geschlecht, S. 334. Im Folgenden verwendete Formulierungen wie ‚anderes’ bzw. ‚zweites Geschlecht’ beziehen sich auf die Arbeit Beauvoirs.

[10] Ebd., S. 12.

[11] Butler: Unbehagen, S. 24.

[12] Catani: Das Fiktive Geschlecht, S. 15.

[13] Im ersten Jahr nach der Publikation des Romans wurde die 4. Auflage veröffentlicht, die 28. und letzte Auflage erschien 1931. Vgl. Reuter: Aus guter Familie, Bd. II: Dokumente, S. 316.

[14] Vgl. Blackwell: Bildungsroman mit Dame; Johnson: Men’s Power, ders.: Romantic and Realist, Worley: Reading Women.

[15] Briquet: Traité clinique et thérapeutique de l’hystérie, zit. nach Didi-Hubermann: Erfindung, S. 35.

[16] Breuer, Freud: Studien zur Hysterie, S. 13.

[17] Die folgenden Ausführungen über die Geschichte der Hysterie beziehen sich auf Kronberger: Töchter, S. 34-53; Schaps: Hysterie, S. 18-54; von Braun: Nicht ich, S. 34-62; Weber: Fliegen und Zittern, S. 19-29; Weickmann: Rebellion, 22-34.

[18] Von Braun: Nicht ich, S. 38.

[19] Vgl. Weber: Fliegen und Zittern, S. 23.

[20] Schaps: Hysterie, S. 42f.

[21] Ebd., S. 43.

[22] Vgl. von Braun: Nicht ich, S. 57.

[23] Didi-Hubermann: Erfindung, S. 8.

[24] Vgl. Breuer, Freud: Studien zur Hysterie, S. 8.

[25] Ebd., S. 31.

[26] Fischer-Homberger: Krankheit Frau, S. 92.

[27] Breiter: Ausbruch, S. 67.

[28] Fischer-Homberger: Krankheit Frau, S. 92.

[29] Von Braun: Nicht ich, S. 28.

[30] Ebd., S. 24.

[31] Vgl. Israël: Botschaft, S. 54ff.

[32] Weickmann: Rebellion, S. 65.

[33] Weininger: Geschlecht und Charakter, S. 116.

[34] Ebd., S. 395.

[35] Ebd., S. 391.

[36] Krafft-Ebing: Psychopathia sexualis, S. 367.

[37] Von Braun: Nicht ich, S. 26.

[38] Fischer-Homberger: Krankheit Frau, S. 96.

[39] Ebd., S. 98.

[40] Weininger: Geschlecht und Charakter, S. 269.

[41] Ebd., S. 240.

[42] Möbius: Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes, S. 24, zit. nach Catani: Das fiktive Geschlecht, S. 58.

[43] Möbius: Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes, S. 26, zit. nach Weickmann: Rebellion, S. 10.

[44] Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, S. 98.

[45] Rohde-Dachser: Expedition, S. 100.

[46] Honegger: Listen, S. 40.

[47] Schaps weist darauf hin, dass dies nicht nur für die wilhelminische Frau gilt, sondern dass es sich um ein weitverbreitetes kulturelles Phänomen handelt; Vgl. Schaps: Hysterie, S. 15.

[48] Die Pathologisierung der Frau im 19. Jh. betrifft vor allem die Frau aus der oberen Mittelschicht; Vgl. dazu Ehrenreich: Zur Krankheit gezwungen, S. 11-46.

[49] Die Formulierung entnehme ich Brinker-Gabler: Perspektiven, S. 170.

[50] Honegger: Listen, S. 33.

[51] Vgl. Honegger: Listen, S. 42. Krankheit als Form des Widerstandes thematisiert ferner Smtih-Rosenberg: Weibliche Hysterie, S. 276-295; Ehrenreich: Zur Krankheit gezwungen, S. 40-46.

[52] Breiter: Ausbruch, S. 66.

[53] Honegger: Listen, S. 40.

[54] Vgl. zu der Thematisierung der Hysterie als ‚Aufbegehren’ in der feministischen Theorie die Arbeiten von Schlichter: Figur der verrückten Frau; Kronberger: Unerhörte Töchter.

[55] Honegger: Listen, S. 42.

[56] Die Seitenangaben im Text dieses Kapitels beziehen sich auf Breuer, Freud: Studien über Hysterie.

[57] Die Transformation der Affekte in ein physisches Symptom bezeichneten Breuer und Freud als ‚hysterische Konversion’. Vgl. De Berg: Freuds Psychoanalyse, S. 6f.

[58] De Berg: Freuds Psychoanalyse, S. 7.

[59] Vgl. Ebd., S. 7.

[60] Tebben: Deutschsprachige Schriftstellerinnen, S. 28.

[61] Schuller: Im Unterschied, S. 22.

Ende der Leseprobe aus 71 Seiten

Details

Titel
Hysterie und Weiblichkeit in der Literatur um 1900 am Beispiel von Gabriele Reuters "Aus guter Familie"
Hochschule
Universität zu Köln
Note
1,1
Autor
Jahr
2008
Seiten
71
Katalognummer
V115429
ISBN (eBook)
9783640175505
Dateigröße
676 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Hysterie, Weiblichkeit, Literatur, Beispiel, Gabriele, Reuters, Familie
Arbeit zitieren
Christina Baumann (Autor:in), 2008, Hysterie und Weiblichkeit in der Literatur um 1900 am Beispiel von Gabriele Reuters "Aus guter Familie", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/115429

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