Die Geschlechterkonstruktion durch Beziehungsratgeber

Wird auf dem Mars tatsächlich besser eingeparkt als auf der Venus?


Diplomarbeit, 2006

120 Seiten, Note: 3,0


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT

1. EINLEITUNG

2. GRUNDLAGEN DES FEMINISMUS – EINE EINFÜHRUNG
2.1 GESCHICHTLICHER ÜBERBLICK
2.2 DIE DEBATTE ÜBER SEX UND GENDER

3. DIE RELEVANZ DER KATEGORIE „GESCHLECHT“
3.1 KLEINE MÄDCHEN, KLEINE BUBEN
3.2 PAARBEZIEHUNGEN

4. THEORETISCHER KONTEXT - VERSTEHENDE/ INTERPRETATIVE SOZIOLOGIE
4.1 SYMBOLISCHER INTERAKTIONISMUS
4.2 KONSTRUKTIVISTISCHE ANSÄTZE
4.3 DOING GENDER

5. KONSTRUKTION VON GESCHLECHT DURCH DIE MEDIEN
5.1 NEUE MÄNNER- UND FRAUENTYPEN
5.2 AUFBRECHEN TRADITIONELLER STRUKTUREN
5.3 KRISE DER MÄNNLICHKEIT
5.4 ZUSAMMENFASSUNG

6. FORSCHUNGSZUGANG
6.1 MATERIAL
6.2 METHODE

7. ANALYSE: WARUM MÄNNER NICHT ZUHÖREN UND FRAUEN SCHLECHT EINPARKEN
7.1 KONTEXT
7.2 KERNAUSSAGEN
7.3 ARGUMENTATION
7.3.1 Abwertung
7.3.2 Suggestion
7.3.3 Legitimation

8. ANALYSE: MÄNNER SIND VOM MARS, FRAUEN VON DER VENUS
8.1 KONTEXT
8.2 KERNAUSSAGEN
8.3 ARGUMENTATION
8.3.1 Abwertung
8.3.2 Suggestion
8.3.3 Legitimation

9. AUSWERTUNG NACH MAYRING
9.1 KATEGORIENBILDUNG
9.2 ZUSAMMENFASSUNG
9.3 CONCLUSIO

10. EXKURS: BIOLOGISCHE GRUNDLAGEN FÜR GESCHLECHT
10.1 CHROMOSOMEN
10.2 GENE
10.3 HORMONE

11. ANHANG

11.1 AUSWERTUNG PEASE

11.2 AUSWERTUNG GRAY

12. QUELLENVERZEICHNIS

LEBENSLAUF

ABBILDUNGSVERZEICHNIS :

ABBILDUNG 1: HERAUSBILDUNG DER GESCHLECHTSIDENTITÄT

ABBILDUNG 2: FREIZEITAKTIVITÄTEN VON JUNGEN UND MÄDCHEN/ SHELL-STUDIE

ABBILDUNG 3: MÄNNER- UND FRAUENTYPEN IN DER WERBUNG

ABBILDUNG 4: MÄNNLICHE VS. WEIBLICHE ATTRIBUTE

ABBILDUNG 5: ABLAUFMODELL INDUKTIVER KATEGORIENBILDUNG NACH MAYRING

ABBILDUNG 6: DIE 12 ARTEN DER LIEBE NACH JOHN GRAY

ABBILDUNG 7: KLISCHEES BEIDER BEZIEHUNGSRATGEBER

ABBILDUNG 8: KLISCHEES AUF MEHREREN EBENEN

Vorwort

Mein ganz besonderer Dank gilt…

…meiner Mutter, die mich sowohl finanziell als auch moralisch sehr unterstützt hat

…dem Rest meiner Familie, der an mich geglaubt hat

…meinem Freund, der mich während dieser Zeit ertragen und unterstützt hat

…meinen Freunden und Studienkollegen, die mir geholfen haben, einen roten Faden in meine Arbeit zu bringen sowie Fehler zu vermeiden und mich davon abgehalten haben, aufzugeben

…sowie meiner Diplomarbeitsbetreuerin Dr. Eva Cyba, die es letztendlich ermöglicht hat, dass diese Arbeit zu einem Ende gefunden hat.

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit verzichte ich auf eine geschlechterbezogene Schreibweise und weise darauf hin, dass die männliche Form eines Wortes die weibliche impliziert. Wenn ich beispielsweise von Lesern schreibe, sind damit automatisch auch die Leserinnen gemeint.

1. Einleitung

Geschlecht ist die zentralste Kategorie unserer Kultur. Wir leben in einer Gesellschaft, die durch ein Zwei-Geschlechter-Modell strukturiert wird. Jeder Mensch hat das eine oder das andere Geschlecht – eine Zwischenform findet kaum Akzeptanz. Bei der Kategorisierung in Mann und Frau handelt es sich um ein Organisationsprinzip, welches die Aufrechterhaltung einer sozialen Ordnung gewährleistet. Da wir täglich mit dieser Einteilung konfrontiert sind, gilt der Geschlechterdualismus im Alltagsverständnis als natürlich gegeben und in der Anatomie unseres Körpers begründet. Somit ist ein Angehöriger unserer Gesellschaft geneigt, die Eigenschaften, die einem bestimmten Geschlecht nachgesagt werden, unhinterfragt zu glauben. Die Zuordnung in männlich/weiblich erfolgt nun einmal spätestens nach der Geburt anhand der primären und sekundären Geschlechtsorgane. Da diese von Natur gegeben sind, wird Geschlecht als ein eindeutig bestimmbarer Tatbestand wahrgenommen, auf den wir keinen Einfluss haben. Das ist die Basisregel für unsere „Alltagstheorie von Zwei- geschlechtlichkeit“1, nach der wir handeln und die Annahme vertreten, dass es schon immer so war und auch in anderen Kulturen so ist. Die Kategorisierung in Mann und Frau sowie die herrschenden Ansichten darüber, welches Verhalten für das jeweilige Geschlecht normal wirkt, ist in unserem Alltagswissen logisch und nachvollziehbar. Doch es muss geklärt werden, woher dieses Alltagswissen stammt, über das jeder Mensch verfügt und ob es begründet ist.

Prinzipiell kann man zwei grundlegende Tendenzen bei Erklärungsversuchen von Geschlechtlichkeit festhalten: Die sozialwissenschaftliche und die naturwissenschaftliche Ebene. Beide Zweige beschäftigen sich ausführlich mit der Kategorie Geschlecht, aber suchen die Ursachen für geschlechtsspezifisches Verhalten in völlig unterschiedlichen Gebieten. Die Naturwissenschaft betrachtet Geschlecht als eher biologisch determiniert, während die Sozialwissenschaft die Gründe für den Unterschied in der Kultur, Erziehung und Sozialisation sucht. Fest steht jedoch, dass das Weibliche schon immer in Bezug auf das Männliche betrachtet worden ist. Die Frau wird im Gegensatz zum Mann wahrgenommen, wie ich in dieser Arbeit zeigen werde.

Dieser Zustand lässt sich bis Aristoteles (384-322 v. Chr.) zurückverfolgen, der bereits sagte:

„Das Weib ist Weib durch das Fehlen gewisser Eigenschaften. Wir müssen das Wesen der Frau als etwas betrachten, was an einer natürlichen Unvollkommenheit leidet.“ (zit. n. Beauvoir, 1951, S.10,16)2 Dieses Zitat zeigt, dass Geschlecht schon in der Vergangenheit ausschließlich als körperlich betrachtet und bewertet wurde sowie im Gegensatz zueinander rezipiert wird. Aber „die Naturalisierung der Kategorie Geschlecht ist nicht nur ein Überbleibsel einer negativen Anthropologie des Weiblichen aus verflossenen Epochen.3 Bis heute kämpfen Frauen weltweit gegen Diskriminierungen. An die kategorische Benachteiligung von Frauen anknüpfend hat die soziologische Frauenforschung begonnen, sich intensiv mit der Frage auseinanderzusetzen, ob sich die Geschlechter tatsächlich nachweisbar unterscheiden, mit welcher Berechtigung diese Unterscheidung für eine Benachteiligung der gesamten Genusgruppe Frau sorgt und warum sich diese Auffassung so hartnäckig hält.

Meine zentrale Annahme ist, dass es sich bei Geschlecht um eine soziale Variable handelt, die konstruiert und nicht natürlich vorgegeben ist. Vorstellungen, die über Mann oder Frau herrschen, sind wandelbar, da sie nicht mit der Physiologie des Körpers zusammenhängen, sondern kulturell bedingt sind. Jedoch können Stereotypisierungen sehr dauerhaft sein, wenn sie kontinuierlich innerhalb festgefahrener Prozesse reproduziert werden. Ich möchte herausarbeiten, wie stark die Stereotypisierung von Geschlecht in unserem heutigen Denken noch verankert ist. Hat sich die Beziehung der Geschlechter bzw. die Auffassung von Geschlecht innerhalb der letzten Jahrzehnte grundlegend geändert? Wie sieht das heutige Rollendenken aus und wen begünstigt oder benachteiligt es? Welche Eigenschaften gelten als weiblich, welche als männlich?

Um die Fragen nach dem heutigen Geschlechterrollenverständnis zu erörtern, eignet sich aktuelle Literatur, die von vielen Menschen gelesen wird, wie zum Beispiel Populärliteratur. Da Beziehungsratgeber vom Verhältnis der Geschlechter zueinander handeln, habe ich folgende zwei Bücher als Beispielmaterial gewählt und werde sie auf die transportierten Geschlechterstereotype sowie auf die Mechanismen der Reproduktion von Geschlecht untersuchen:

- „Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken“ (von Barbara und Allan Pease)
- „Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus“ (von John Gray)

Ich habe als Methode die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring gewählt. Um einen Bezugsrahmen für die Inhaltsanalyse herzustellen, werde ich im theoretischen Teil der Arbeit aufzeigen, welche Konstruktionsprozesse auf Geschlecht wirken sowie Modelle und Theorien zu Konstruktions- und Reproduktionsprozessen erklären. Im Rahmen dessen werde ich auch einen geschichtlichen Überblick über die Rezeption von Geschlecht skizzieren. Die historische Entwicklung bis zum heute existierenden Zwei-Geschlechtermodell gibt Aufschluss darüber, wie die Kategorie Geschlecht in der Vergangenheit rezipiert und produziert wurde. Anhand des Aufzeigens einiger wissenschaftlicher Annahmen, die herangezogen worden sind, um Frauen kategorisch von Ressourcen auszuschließen, zeigt sich die kontinuierliche Schlechterstellung der Frau, an welche die feministische Frauenforschung anknüpft. Dieser Kontext ist wichtig, um die Entstehung der feministischen Kritik und weitere Konzepte der Geschlechterforschung zu verstehen. Im Zuge dessen werde ich auch zeigen, wie kleine Mädchen und Buben „gemacht“ werden und dass diese Entwicklung bis ins Erwachsenenalter anhält, weil Geschlechterrollenverhalten und alte Muster in der Partnerschaft weiter reproduziert werden. Durch die Reproduktion von Geschlechter- rollenstereotypen in Paarbeziehungen werde ich außerdem die daraus resultierende Benachteiligung der Frau auch in so genannten modernen Partnerschaften offenlegen.

Daraufhin werde ich mich theoretischen Konzepten zur Reproduktion gesellschaftlicher Strukturen zuwenden und auf die verstehende oder auch interpretative Soziologie eingehen, um dann im Anschluss die Rolle der Medien bei der Geschlechterkonstruktion zu beleuchten. Dadurch soll die Bandbreite an Einflüssen verdeutlicht werden, denen wir in Bezug auf

Geschlechterrollenidentität ausgesetzt sind. Auch das dieser Arbeit zugrunde liegende Material (Beziehungsratgeber) ist eine Form von Medien und stellt einen Einfluss auf unsere Wahrnehmung und Vorstellung von Sachverhalten dar. In diesem Kapitel wird auch erkennbar sein, dass durch das Aufkommen der Frauenbewegung der neunziger Jahre und der Forderung nach einer neuen Rollenverteilung ein langsames Aufbrechen alter Strukturen zu beobachten ist. Daraus resultiert eine neue Problematik in der Definition von Männlichkeit, auf die ich ebenfalls kurz eingehen werde.

Eingebettet in diesen Kontext werde ich im empirischen Teil mein Material ausführlich vorstellen und hinsichtlich der Fragestellung analysieren. Meine Annahmen lauten, dass der Leser die ihm präsentierten Stereotype unbewusst akzeptiert. Aus diesem Grund verstärkt diese Art von Literatur maßgeblich bereits vorhandene Klischees und konstruiert eventuell sogar neue. Durch die Klischee-Analyse der Bücher lassen sich Rückschlüsse auf das Geschlechterrollenverständnis in der Gesellschaft ziehen. Die Zuschreibungen, welche als männlich und weiblich empfunden werden, bleiben in den Köpfen der Menschen und somit in der Gesellschaft bestehen. Somit bleiben auch das typisch männliche und weibliche Verhalten und die alte Rollenverteilung erhalten. Hinzu kommt die weitere Annahme, dass ein Geschlecht indirekt oder auch direkt abgewertet wird. Ich nehme an, dass es sich um die Gruppe der Frauen handelt. In diesem Fall verstärken Beziehungsratgeber auch die bereits bestehende Ungleichheit und Ungerechtigkeit zuungunsten der Frau. Durch die Analyse soll herausgefunden werden, ob Beziehungsratgeber maßgeblich zur Konstruktion von Geschlecht beitragen, indem sie Klischees benennen und veranschaulichen. Außerdem soll geklärt werden, ob Beziehungsratgeber ein traditionelles Bild der Frau fördern und somit ein Aufbrechen alter Strukturen erschweren.

Ein Vergleich der Ergebnisse aus den Beziehungsratgebern mit den bisherigen Geschlechterstereotypen soll Aufschluss darüber geben, wie die aktuelle Situation in der Rezeption von Geschlecht aussieht. Leben wir in einer Gesellschaft, die frei von Stereotypdenken hinsichtlich des Geschlechts ist oder leben wir immer noch mit traditionellen Vorstellungen?

2. Grundlagen des Feminismus – Eine Einführung

Der Unterschied zwischen Mann und Frau hat eine lange Tradition und wurde bereits in der Antike medizinisch, anatomisch oder biologisch begründet. Da man einem menschlichen Körper ablesen kann, ob es sich um Mann oder Frau handelt, gilt das Zweigeschlechtermodell heutzutage als unhinterfragte Tatsache sozialwissenschaftlicher Kategorienbildung in unserem Alltagsverständnis von Geschlechterdifferenz. Soziale Gleichheit kann aber nur existieren, so die Annahme der feministischen Soziologie, wenn eine prinzipielle Gleichheit in der Theorie zwischen den Geschlechtern möglich ist und „anders sein“ nicht mehr gleichgesetzt wird mit

„weniger sein“. In Bezug auf diese Problematik „…stellte sich sehr schnell heraus, dass die Frage nach den Geschlechterdifferenzen nicht zu trennen ist von der patriarchalen Gesellschaftsstruktur, in der Frauen und Männer leben. Diese ist gekennzeichnet durch die Hierarchie im Verhältnis der Geschlechter, die viele Formen der Benachteiligung, Diskriminierung und Ausgrenzung von Frauen zur Folge hat. Das ist den Betroffenen zumeist gar nicht bewusst. Ganz im Gegenteil! Für die meisten Menschen ist es das Natürlichste der Welt, dass Frauen und Männer sich in ihren Eigenarten, Fähigkeiten und Aufgaben voneinander unterscheiden und unter dem Vorzeichen der Partnerschaft harmonisch

ergänzen. Die Abwertung des weiblichen Geschlechts bzw. die Vorrangstellung des männlichen hat in diesem Weltbild von der gleichberechtigten Partnerschaf keinen Platz.4

Die zentrale Fragestellung der soziologischen Frauenforschung richtet sich auf die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen. Den Begriff der sozialen Ungleichheit verwende ich in Anlehnung an Kreckel, der soziale Ungleichheit als eine von Menschen gemachte und somit auch von Menschen veränderbare Grundtatsache des heutigen gesellschaftlichen Lebens definiert. „Soziale Ungleichheit liegt überall dort vor, wo die Möglichkeiten des Zuganges zu allgemein verfügbaren und erstrebenswerten sozialen Gütern und/oder zu sozialen Positionen, die mit ungleichen Macht- und/oder Interaktionsmöglichkeiten ausgestattet sind,

dauerhafte Einschränkungen erfahren und dadurch die Lebenschancen der betroffenen Individuen, Gruppen oder Gesellschaften beeinträchtigt bzw. begünstigt werden.5 Aufgrund der Zuteilung in männlich/weiblich besteht eine Ungleichverteilung von Ressourcen verschiedenster Art. Mit der Zugehörigkeit zur weiblichen Genusgruppe sind nachweislich automatisch Nachteile verbunden.

Weltweit existieren ungleiche Macht- und Herrschaftsverhältnisse zuungunsten der Frau, da materielle, politische und symbolisch-kulturelle Ressourcen zwischen den Geschlechtern ungleich verteilt sind. Die geschlechtsspezifischen Ungleichheiten gewinnen an struktur- prägendem Gewicht.6

Die feministische Bewegung wirft die Frage auf, wie diese Kategorie Frau so umfassend sein kann, dass weibliche Menschen weltweit aus diesem Grund deklassiert, abgewertet und benachteiligt werden, obwohl es sich um völlig unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen und Lebenswelten handelt. Die erste Welle der modernen Frauenbewegung formierte sich Mitte des 19. Jahrhunderts bis Anfang des 20. Jahrhunderts und kämpfte für die grundsätzlichen politischen und bürgerlichen Rechte der Frauen wie z.B. das Frauenwahlrecht, die Erwerbsarbeit und den Zugang zur Universität. In den sechziger/siebziger Jahren begann eine zweite Welle der feministischen Bewegung und setzte sich für eine völlige Gleichberechtigung von Mann und Frau auf politischer, sozialer sowie beruflicher und privater Ebene ein. Die Auslegungen und Zuschreibungen der Zweigeschlechtlichkeit wurden als die Ursache der Benachteiligung für die Gruppe der Frauen kritisiert. Der Feminismus versuchte sich von der biologischen Determination von Geschlechtlichkeit zu lösen, um auf die soziale Ungleichheit, die mit dieser Kategorie verbunden ist, aufmerksam zu machen und zu verhindern. Feministische Kritik ist also antibiologistisch eingestellt. „Die Existenz dieser Dimension, die Geschlechtsnatur, wurde zwar nicht geleugnet, es wurde ihr jedoch jeglicher Einfluss auf das soziale Schicksal der Person oder bzw. auf die Organisation der Gesellschaft abgesprochen.7

In den neunziger Jahren zeichnete sich beginnend in den USA eine dritte Welle der Frauenbewegung ab, welche die Ideen der siebziger Jahre auch in Europa radikaler fortzusetzen versuchte, da sie die Ziele bis heute als nicht erreicht ansieht. Feministinnen wurde seit Beginn der Frauenbewegung oftmals Unweiblichkeit und ungebührlich dominantes Verhalten sowie Männerfeindlichkeit vorgeworfen. Die Vorwürfe kamen hier sowohl von Männern als auch von Frauen, die den Bruch der Rollenvorstellungen als Problem empfanden, da ihnen die Unterscheidung zwischen den Geschlechtern als unumstößlich erschien.

Die aktuelle Kontroverse stößt sich jedoch nicht an der Kritik der geschlechtsspezifischen kulturell bedingten Zuschreibungen, sondern daran, dass der Feminismus der neunziger Jahre anfing, den biologischen Determinismus an sich als kulturell geschaffen und nicht natürlich bedingt zu deklamieren.8 Lorber begründet diesen Ansatz damit, dass in anderen Gesellschaften mehrere Geschlechter akzeptiert werden, obwohl die Anatomie gleich ist: Hijras in Indien, Xaniths im Oman oder Berdachen bei den nordamerikanischen Indianern der Plains und des Südwestens. Hijras, Xaniths und Berdachen sind biologische Männer, die sich wie soziale Frauen verhalten, kleiden und arbeiten, „ und fast in jeder Hinsicht als Frauen behandelt werden; sie sind daher keine Männer, aber auch keine weiblichen Frauen.9 Auch Frauen bestimmter afrikanischer und indianischer Gesellschaften steht die Möglichkeit offen, durch Erwerb und Besitz von Reichtümern als soziale Männer angesehen zu werden. Diese biologischen Frauen, deren Genderstatus als „Frauen mit Männerherz10 bezeichnet wird, können in Folge als Männer arbeiten und andere Frauen heiraten, sofern sie ausreichend Besitz haben, um einen entsprechenden Brautpreis zu entrichten. Es gibt also Gesellschaften, in denen Geschlecht keine derart unüberwindbare Hürde darstellt wie bei uns, obwohl die Anatomie der Körper die gleiche ist. „Soziale Gleichheit zwischen den Geschlechtern setzt voraus, dass die beiden Geschlechter im Prinzip – von Natur aus – gleich sind. Nur unter dieser Voraussetzung, so die Annahme, lässt sich Gleichberechtigung überhaupt erzielen, und zwar über den Abbau jener kulturellen und sozialen Barrieren, die die an sich Gleichen ungleich machen.11

Der naturwissenschaftliche Forschungsansatz bezüglich des Geschlechterverhältnisses hält dem entgegen, dass ausreichend aktuelle Studien aus den Bereichen der Hirn- und Hormonforschung den Beweis erbringen, dass der Unterschied nachweislich in der Physiologie des Körpers zu suchen sei. Die feministische Soziologie warnt jedoch vor der Auffassung, die biologische Beschaffenheit als Grundlage für Charaktereigenschaften anzusehen, da die Vergangenheit deutlich gezeigt hat, wie eine männliche Überlegenheit gegenüber der Frau aus biologischen Gründen gerechtfertigt und als natürlich proklamiert wurde. Ein Querschnitt durch die historische Entwicklung der Rezeption von Geschlecht von der Antike bis heute soll die Gefahren verdeutlichen, die mit geschlechterspezifischen Zuschreibungen für die Gruppe der Frauen verbunden sind.

2.1 Geschichtlicher Überblick

Ich habe bereits geklärt, in welcher Definition ich den Begriff der sozialen Ungleichheit verwende und dass die Gruppe der Frauen prinzipiell darunter zu leiden hat, da ihnen der Zugang zu bestimmten Ressourcen verwährt wird. Auch habe ich erwähnt, dass die Frau im Gegensatz zum Mann wahrgenommen wird. Der geschichtliche Überblick soll nun den Verlauf der kontinuierlichen Darstellung der Frau als Gegenteil zum Mann und somit als Mangelwesen verdeutlichen.

Die für uns heute als selbstverständlich geltende Vorstellung von zwei Geschlechtern ist ein eher junges Phänomen unserer Geschichte. Bis ins 18. Jh. existierte nicht das uns bekannte Zwei-Geschlechter-Modell, welches sich erst mit dem Aufstieg des Bürgertums entwickelte, sondern das Ein-Geschlechter-Modell. Dieses geht auf den Mediziner Galen von Pergamon (130-200 n. Chr.) in der griechischen Antike zurück. Dieses Modell vertritt die Einstellung, dass Mann und Frau über dieselben Geschlechtsorgane verfügen, mit dem Unterschied, dass die der Frau nach innen gekehrt sind und die des Mannes nach außen. Der Historiker Thomas Laqeur benannte diese Theorie in seiner Studie „Auf den Leib geschrieben“ das Ein- Geschlechter-Modell. Diesem Modell zufolge existierte nur ein einziges anatomisches Geschlecht, als dessen vollkommene Ausprägung das männliche Exemplar eingestuft wurde. Als unvollkommenes Pendant wurde die weibliche Ausprägung definiert. Aristoteles entwickelte Pergamons Theorie vom unvollkommenen Weib weiter, indem er in folgende Entwicklungsstufen einteilte. Er vertrat die Ansicht, dass die menschliche Entwicklung vom Kind über die Frau zum erwachsenen Mann führte, daher wurde der Mann als das Maß aller Dinge erachtet. Selbst als im 16. Jahrhundert das Sezieren von Leichen begann und einen Blick in das Innere des Menschen ermöglichte, wurde aus tiefer Überzeugung an diesem Modell festgehalten. Der Unterschied der männlichen und weiblichen Anatomie im Körperinneren wurde als weiterer Beweis für die Theorien vom unvollkommenen Weib herangezogen.12

Seitdem wird die Frau in Bezug auf den Mann definiert. Der Mann war das primäre, vorrangige Geschlecht, die Frau lediglich eine sekundäre Ausprägung. Die Vagina galt als ein nach innen gestülpter Penis und die Frau somit als unvollständig. Sämtliche anatomischen

Untersuchungen wurden dahingehend interpretiert. Voreilige Fehlschlüsse aufgrund unvollständiger Ergebnisse wurden herangezogen, um die Schlechterstellung der Frau in allen Bereichen zu rechtfertigen. Die historische Entwicklung geschlechtsspezifischer Zuschreibungen ist ein guter Beweis dafür, wie wissenschaftliche Ergebnisse und Fakten der jeweilig vorherrschenden gesellschaftlichen Einstellung angepasst werden können.

Ein ebenfalls sehr berühmtes und oft zitiertes Beispiel aus feministischer Literatur, wie wissenschaftliche Erkenntnisse zuungunsten der Frau interpretiert werden, stammt von dem französischen Nervenarzt Paul Broca. Er hat Mitte des 19. Jahrhunderts herausgefunden, dass das Gehirn von Frauen anatomisch kleiner ist als das von Männern. Sein ihm logisch erscheinender Schluss daraus lautete: Frauen sind dümmer als Männer, da sie erwiesenermaßen weniger Hirnmasse besitzen. Die Öffentlichkeit glaubte ihm. Aus diesem Grund durften Frauen weder eine Universität besuchen noch wählen. Die Deutung der Ergebnisse aus der Hirnforschung hatte zur Folge, dass Frauen kategorisch aus dem öffentlichen Bereich ausgeschlossen wurden.13 Wie aber ebenfalls in der Literatur belegt ist, stolperte diese Behauptung über das Problem, dass es Tiere gibt, die dieser Theorie zufolge intelligenter seien als ein Mann. Folgendes Zitat fasst die Entwicklung dieser Theorie treffend zusammen. „Dieser Beweis diente erklärtermaßen dazu, die emanzipatorischen Bestrebungen

von Frauen nach Zugang zur universitären Ausbildung abzuwehren. Er geriet ins Wanken, als ein Blick ins Tierreich offenbarte, dass Elefanten dem männlichen Menschen in puncto Gehirngewicht haushoch überlegen sind. Da das männliche Geschlecht sich mit diesem Vergleich nicht recht anfreunden konnte, wurde das Gehirngewicht durch das Körpergewicht dividiert. Als sich dabei allerdings herausstellte, dass Frauen im Vergleich zum Körpergewicht ein größeres Gehirn haben, wurde diese Theorie revidiert und die bei Männern größeren Frontallappen zum Ursprungsort geistiger Fähigkeiten erklärt. Die

männliche Wissenschaftswelt konnte erleichtert aufatmen – allerdings nur so lange, wie die aktuelle Theorie die Überlegenheit männlicher Intelligenz nicht in Frage stellte.14

Wale und Elefanten haben also rein anatomisch mehr Hirnmasse als Männer. Da diese Erkenntnis den Mann benachteiligte, wurde diese Theorie verworfen um glaubwürdigeren Theorien zugunsten des Mannes Platz zu machen. Die Aussage, dass ein weibliches Gehirn rein anatomisch kleiner ist, wurde also falsch interpretiert, um nicht zu sagen missbraucht, um sozial geschaffene Gegebenheiten zum Nachteil der Frauen biologisch zu rechtfertigen. Vor einigen Jahrzehnten noch wurden Frauen an Hochschulen nicht zugelassen und durften nicht wählen gehen, mit der Begründung, Frauen seien aufgrund ihrer biologischen Beschaffenheit dem Mann geistig unterlegen. Weiter hieß es, Frauen seien unstetig und könnten der Belastung einer höheren Schulbildung nicht standhalten, da ihr Fortpflanzungsapparat Schaden nehmen könnte. Fausto-Sterling dokumentiert einen Fall aus der Politik in den USA aus den sechziger Jahren, indem eine Frau in ihrem politischen Amt von ihren männlichen Kollegen nicht ernst genommen und abgewertet wurde, da sie monatlichen hormonellen

Schwankungen unterliege, die ihren Geist und ihre Zurechnungsfähigkeit trüben.15 Dabei lassen heutzutage einige neue Studien aus der Männerforschung vermuten, dass auch Männer ein Klimakterium durchmachen und hormonellen Schwankungen unterworfen sind, die sich auf die Stimmung auswirken können.16 Dennoch verdient eine Frau in Österreich auch heute noch durchschnittlich für dieselbe Leistung in derselben Position weniger als ein Mann.

Bei einem geschichtlichen Rückblick speziell auf die Geschlechterproblematik bezogen erscheint es mir sinnvoll, Sigmund Freud zu erwähnen, den Begründer der Psychoanalyse und Entdecker des Unbewussten.17 Eine seiner am meisten bezweifelten Theorien ist der so genannte Penisneid, der in der psychischen Entwicklung von Mädchen symmetrisch der Kastrationsangst der Jungen gegenübersteht. Die Auswertung seiner Analysen ergab in seinen Augen, dass psychisch fehlgeleitete Handlungen von Frauen oft auf die mangelhafte psychische Verarbeitung dieser Evidenz eines fehlenden Penis am eigenen Körper und eines hieraus angeblich resultierenden Neidgefühls zurückgehen.

Die so genannte Kastrationsangst beim Buben ist ebenfalls ein Konzept aus der Psychoanalyse und wurde von Sigmund Freud geprägt. Seiner Ansicht nach löst die Entdeckung des anatomischen Geschlechtsunterschieds beim Kleinkind eine Entwicklung aus, die für das Durchlaufen der ödipalen Phase entscheidend ist. Diese ist bei Mädchen und Jungen unterschiedlich, beruht aber auf der Gemeinsamkeit, dass, so Freud, Kinder beiderlei Geschlechts den Besitz eines Penis als den Normalfall betrachten. Die Beobachtung, dass einige Menschen einen Penis besitzen und andere nicht, führt nun beim Mädchen zu Penisneid und zur Ablehnung der Mutter, da das kleine Mädchen die Mutter dafür verantwortlich macht, selbst keinen Penis zu besitzen. Durch die Zuwendung des Mädchens zum Vater gerät es in die ödipale Situation, in der der gegengeschlechtliche Elternteil begehrt wird. Für den kleinen Jungen hat die Entdeckung des Geschlechtsunterschieds eine andere Bedeutung. Wenn manche Menschen keinen Penis haben, sieht er sich selbst ebenfalls vom möglichen Verlust des Penis bedroht. Diese Kastrationsangst führt dazu, dass der Junge in der ödipalen Phase den Wunsch nach der Mutter aufgibt, weil er befürchtet, dass der Vater, dem er physisch noch nicht gewachsen ist, ihn kastrieren könnte, wenn er die Konkurrenz um die Mutter nicht freiwillig beendet. Normalerweise gelingt es dem Jungen, dieser Situation eine positive Wendung zu geben, indem er sich mit dem Vater identifiziert, weil er sich wünscht, wie der Vater zu sein.18 Das Mädchen bzw. die Frau hingegen konzentriert sich auf ihren

Wunsch nach einem Kind, um den Verlust auszufüllen. Wobei Freud der Frau die passive Rolle der Wartenden zuteilt und die Vagina als Herberge des Penis beschreibt, die sonst leer wäre.19

Die geschichtliche Entwicklung der Rezeption von Geschlecht zeigt, dass das Weibliche als das unkomplette Männliche betrachtet und definiert wurde. Daraus resultiert unsere heutige Problematik in Bezug auf unser existierendes Geschlechtermodell mit seinen Zuschreibungen und Benachteiligungen. Beziehungen zwischen den Geschlechtern in unserer Gesellschaft sind immer noch hierarchisch strukturiert. Der Feminismus stößt sich daran, dass ein kontinuierliches Machtgefälle zuungunsten der Frau herrscht.

2.2 Die Debatte über Sex und Gender

Da in der deutschen Sprache keine Begriffe für die soziale und biologische Unterscheidung von Geschlecht existieren, griff der Feminismus in den siebziger Jahren die Differenzierung von sex und gender aus dem Amerikanischen auf. Die Unterscheidung sex-gender wurde bereits Mitte der fünfziger Jahre in den USA im Zusammenhang mit einer Studie über Transsexualität getroffen und durch die Weiterentwicklung in einer Studie von dem

Psychoanalytiker Robert Stoller im Jahr 1968 bekannt.20 Der Begriff sex bezeichnet das nach außen hin erkennbare biologische Geschlecht, die anatomische und physiologische Ebene.

Mit gender hingegen ist die soziale Rolle gemeint, also das kulturell variable Geschlecht mit seinen geschlechtsspezifischen Rollenerwartungen. Der Begriff Geschlechterrolle definiert sich folglich durch die für das jeweilige Geschlecht als angemessen betrachteten oder kulturell erwarteten Verhaltensmerkmale, wie z.B. Einstellungen, Interessen, Charakter- eigenschaften oder Fähigkeiten.

Die begriffliche Differenzierung der sozialen und biologischen Komponente der Geschlechtlichkeit wurde von der feministischen Theorie aufgegriffen, um damit als analytische Kategorie die soziale Konstruiertheit von „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ aufzudecken und sich gegen den herrschenden Geschlechterdiskurs und seine biologistischen Vorannahmen zu richten. Die feministische Theorie versteht gender bzw. die soziale Geschlechtsidentität als interaktive Konstruktionen, die in einem lebenslangen Prozess hergestellt, reproduziert und dargestellt werden. In diesem Zusammenhang lassen sich zwei Aspekte von gender feststellen. Gender bezeichnet zunächst den sozialen und kulturellen Aspekt, der auf biologischen Unterschieden basiert. Weiters wird gender in seiner Definition als sozialer Status auch als ein Organisationsprinzip von Gesellschaften verstanden. Folglich kann gender als eine Institution bezeichnet werden, die Strukturen für Verhaltenweisen im Alltagsleben (Familie, Beruf, Politik etc.) vorgibt. Es ist ein Prozess der sozialen Konstruktion, welcher sämtliche Aspekte unseres Lebens strukturiert und regelt.

Die soziale Konstruktion von Geschlecht muss sowohl auf institutioneller Ebene, als auch auf individueller Ebene des interaktiven Alltagshandelns erkannt werden. Beide wirken gemeinsam als Voraussetzung für die Herstellung und Produktion von Hierarchien innerhalb des Geschlechterverhältnisses. Gender auf institutioneller Ebene fungiert bei uns als Prozess der Schaffung sozialer Unterschiede. Gender auf individueller Ebene wird lebenslang in der Interaktion erlernt und reproduziert.

Es prägt das Individuum bezüglich seiner eigenen Identität und Persönlichkeit, der Handlungs-, Denk- und Gefühlsmuster, die innerhalb gesellschaftlich normierter Rahmen stattfinden, selbst wenn diese bewusst bekämpft werden.21 Somit entwickelte sich gender zu einem zentralen Punkt der Frauenforschung und Feministischen Soziologie. Mit der Bezeichnung „Feministische Soziologie“ knüpfe ich an Brigitte Brück an, die diese Bezeichnung für eine soziologische/sozialwissenschaftliche Perspektive, die explizit Frauen und ihre Lebenswelt in den Mittelpunkt der Betrachtung und Analyse stellt, verwendet.22 Das Ziel dieser Perspektive ist die „Sichtbarmachung und Beseitigung von patriarchalen Strukturen in unserer Gesellschaft, durch die die Gruppe der Männer aufgrund ihres Geschlechts höher gewertet und die der Frauen in allen bedeutenden gesellschaftlichen Bereichen nachgeordnet wird.23

3. Die Relevanz der Kategorie „Geschlecht“

Bevor ich mit der Darlegung meines theoretischen Gerüstes anfange, möchte ich in diesem Kapitel die Relevanz der Kategorie Geschlecht für unser Leben erörtern sowie die sozialen Grundlagen zur Herausbildung einer Geschlechtsidentität aufzeigen. Im Anschluss wird dann verständlich, was mit kleinen Mädchen und mit kleinen Buben seit den ersten Sekunden ihres Lebens passiert und wie das angelernte Verhalten bis ins Erwachsenenalter und in eine Partnerschaft hinein mitgenommen wird. Mit diesem Kapitel möchte ich außerdem eine biologisch begründete Argumentation von Geschlecht entkräften und zeigen, in welchem Ausmaß soziale Einflüsse von Geburt an auf jeden Menschen einwirken und ihn prägen. Ich möchte verdeutlichen, dass es unmöglich ist, Geschlecht ausschließlich biologisch zu betrachten, da die Möglichkeit nicht besteht, einen Menschen zu finden, der sich jeglichem sozialen Lernen entzogen hat. Ich werde zeigen, dass soziale Prozesse sofort nach der Geburt einsetzen und für den Rest des Lebens bestehen bleiben.

Zunächst möchte ich den Begriff der Sozialisation und deren geschlechtsspezifische Ausprägung erklären. Sozialisation besteht laut Hurrelmann aus dem Bereich der Erziehung, der eine Persönlichkeit prägt, sowie dem Einfluss weiterer Umweltfaktoren, die auf das Individuum einwirken.24 Ein Individuum muss sich in jedem Fall mit den Normen und Handlungsmustern seiner Gesellschaft auseinandersetzen. Sozialisation wird durch den Prozess gekennzeichnet, „in dem ein Mensch zum integrierten Angehörigen seiner kulturellen und gesellschaftlichen Bezugsgruppe wird25.

Die Kategorie gender ist aus unserer kulturellen und gesellschaftlichen Bezugsgruppe nicht wegzudenken. Lorber verdeutlicht das anhand einiger Überlegungen. Heutzutage ist es undenkbar, dass ein Kind mit uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen aufwächst. Die erste Frage nach der Geburt ist immer, ob es sich um einen Buben oder ein Mädchen handelt. Kindergarten, Schule, Beruf – alle Lebensbereiche verlangen nach der Beantwortung dieser Frage. Wenn man sich das vergegenwärtigt, begreift man langsam die tiefe Verwurzelung von gender in unserem Denken. Jeder Mensch muss sich einer Geschlechterkategorie zuordnen. Der Geschlechterdualismus lässt nicht zu, dass ein Kind nicht in eine Geschlechterkategorie zuzuteilen ist. Sind die Geschlechtsorgane eines Neugeborenen nicht eindeutig, werden sie durch operative Eingriffe eindeutig gemacht. Damit die in Folge stattfindende soziale Einordnung eindeutig ist, werden dem biologischen Geschlecht Eigenschaften zugeschrieben, die das soziale Geschlecht eindeutig machen sollen. Dabei gibt es das uns bekannte und so verinnerlichte Zwei-Geschlechter-System wie bereits erwähnt erst seit dem 18. Jahrhundert. Die Modelle und Definitionen haben sich verändert, die Körper aber nicht. Nur die Kategorisierung, die Zuschreibungen und die Bezeichnungen sind anders, gibt Lorber zu bedenken. Deswegen ist aus der Sicht der soziologischen Frauenforschung die Sozialisation die wichtigste Komponente bei der Herausbildung der Geschlechtsidentität.

Da Geschlecht die zentrale Kategorie eines Menschen darstellt, ist auch diese Variable einem Sozialisationsprozess unterworfen. Um diese Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit zu beschreiben, werden Stereotype herangezogen. Stereotype oder Klischees sind stark schematisierte Vorstellungen über Verhaltensmerkmale anderer Menschen, Gruppen, usw. (ein Spielraum ist aber dennoch vorhanden).

Geschlechterstereotype berücksichtigen keine individuellen Unterschiede, sondern kategorisieren Menschen in lediglich zwei Gruppen und das sozial geteiltes Wissen über die charakteristischen Merkmale von Frauen und Männern.26 Bei jeder dieser Kategorien werden bestimmte Merkmale vermutet. Diese Geschlechterstereotype sind jedoch nur auf ein kulturell geschlossenes System bezogen, da verschiedene Kulturen unterschiedliche Stereotype haben, die sich nicht durch global geltende Geschlechterrollen abdecken lassen, auch wenn sie sich teilweise ähneln. Deswegen kann bei geschlechtsspezifischen Zuschreibungen von keiner Konstante gesprochen werden. Die einzige Konstante ist diejenige, dass Männlichkeit und Weiblichkeit in jeder uns bekannten Gesellschaft aufeinander bezogen sind und zu den Grundkategorien der individuellen Identitätsbildung gehören. In welcher Art und Weise und mit welchen spezifischen Zuschreibungen, variiert jedoch durch die Jahrhunderte und Kulturen. Die Frauenforschung kritisiert, dass dennoch die Primärunterteilung generell anhand der biologischen Geschlechtsmerkmale erfolgt.

Folgende Karikatur eignet sich meiner Meinung nach optimal als Anschauungsmaterial für den Prozess der Geschlechterkonstruktion, da auf den ersten Blick vermittelt wird, wie Mann und Frau wahrgenommen werden und welches Bild sich Kinder zum Vorbild nehmen. Die Grafik verdeutlicht anschaulich vorherrschende Rollenbilder von einem typischen Mann und einer typischen Frau.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Herausbildung der Geschlechtsidentität27

Der Körper der Frau hat weiche Konturen, der des Mannes ist hart. Die Eigenschaften der Frau sind in Kleinbuchstaben geschrieben, während dem Mann Hauptwörter in dicken Großbuchstaben zugeschrieben werden. Diese optische Darstellung verdeutlicht, dass der Mann über der Frau steht.

In den skizzierten Körpern sind folgende geschlechtsspezifische Eigenschaften zu lesen:

Frau: geduldig, liebevoll, mütterlich, naiv, anspruchslos, schuldbewusst, nachgiebig, anschmiegsam, bescheiden, treu, unterwürfig, verträglich, nimmermüde, immerfroh, feinfühlig, sanftmütig, ausgeglichen, sinnlich und warmherzig

Mann: Sieg, Chef, King, Karriere, Wut, Hart, Fick, Peng Peng, Befehl, Verantwortung, Wille und Technik

3.1 Kleine Mädchen, kleine Buben

Schon bei den Lieblingsspielen dreijähriger Kinder zeigt sich ein Geschlechtsunterschied, so Faulstich-Wieland. Bei Mädchen sind Spiele wie Vater-Mutter-Kind, Puppenküche oder

„Kaufladen spielen“ beliebt, während Buben lieber Indianer, Cowboy oder „Räuber und Gendarm“ spielen. Somit werden Eigenschaften wie Aggression oder Fürsorglichkeit früh trainiert. Die Autorin bezieht sich bei ihrer Argumentation auf die Ergebnisse der Shell-Studie von 1992, die in folgenden Tabellen zusammengefasst sind. Die deutschen Shell-Studien gibt es seit 1952. Sie widmen sich den Einstellungen Jugendlicher und junger Erwachsener. Zentrale Themen sind jugendliche Werteinstellungen, Orientierungen im politischen

Handlungsraum, Religion, Lebenslaufereignisse, Entwicklungsverläufe, Jugendkulturstile und soziale Differenzen.28

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Freizeitaktivitäten von Jungen und Mädchen/ Shell-Studie29

Vergleicht man die Tabellen miteinander, so zeigen die genannten Tätigkeiten der Kinder bereits sehr deutlich geschlechtsspezifische Vorlieben. Mädchen üben jene Eigenschaften ein, die als typisch weiblich gelten, während Buben ihre männlichen Verhaltensweisen wie Dominanz und Aktivität trainieren, so Faulstich-Wieland.

Schon gegenüber Säuglingen gibt es Interaktionsformen und Verhaltensinterpretationen, die mit dem angenommenen Geschlecht des Kindes variieren. So genannte Baby-X-Studien haben ergeben, dass Erwachsene mit ein und demselben Säugling, der einmal als Bub und einmal als Mädchen deklariert wurde, verschieden interagierten und auch das Verhalten des Säuglings hinsichtlich des angenommenen Geschlechts beschrieben.30 Die Studien haben daher die Bezeichnung Baby-X erhalten. Ein Säugling mit der Geschlechtsvariable X wird unterschiedlichen Probanden auf den Arm gelegt. Es wird ihnen das gegenteilige Geschlecht des Babys genannt und analysiert, ob dessen Verhalten hinsichtlich des genannten Geschlechts beschrieben wird. Dasselbe Baby wird unter Angabe seines richtigen Geschlechts wieder den Probanden auf den Arm gelegt. Dann wird geprüft, ob sich die Angaben der Probanden über das Baby mit der Nennung des Geschlechtes verändern, obwohl es sich um den selben Säugling handelt. Diese Studien lassen vermuten, dass Säuglinge von der ersten Sekunde ihres Lebens an geschlechtesspezifisch behandelt werden und den Säuglingen bereits geschlechtsspezifische Eigenschaften zugeschrieben werden.

Ursula Scheu stellte bereits in den siebziger Jahren fest, dass frühere empirische Studien zum Thema geschlechterspezifische Sozialisation erst Wochen oder Monate nach der Geburt einsetzten und dadurch zu der Schlussfolgerung gelangten, dass es sich bei den Unterschieden um naturgegebene Unterschiede handelte. Auf dieser Überlegung aufbauend startete sie ihre Studien, indem sie Säuglinge und ihr Umfeld direkt nach der Geburt beobachtete. So konnte sie belegen, dass Kinder von Anfang an bereits auf ihre Geschlechterrolle getrimmt werden.31 Sie stellte Unterschiede bei Krankenschwestern, Ärzten und Eltern im Umgang mit den Säuglingen fest. Weitere Untersuchungen (H.A. Moss, Brunet, Lezine) zeigen, dass Bezugspersonen neugeborene Buben statistisch gesehen häufiger in den Arm nehmen und sich mehr mit ihnen beschäftigen als Mädchen und dass Mädchen auch seltener und kürzer gestillt werden als ihre männlichen Pendants.

Des Weiteren werden Mädchen im Alter von 1-1½ Monaten stärker akustisch stimuliert, so Moss, während Buben eher optische Reize wie Mobiles vorgesetzt bekommen.32

Im Rahmen der bereits erwähnten Shell-Studie von 1992 wurden weiters Erziehungsziele erfragt. Eltern betonen hierbei oft und gerne, dass sie ihre Kinder vorurteilsfrei erziehen. Es wurden 3001 deutsche Frauen u.a. nach der Wichtigkeit von Erziehungszielen für Mädchen und Jungen befragt. Obwohl alle Eltern betonten, ihre Kinder geschlechtsneutral zu erziehen, ergab die Befragung der Mütter folgendes:

Zärtlichkeit lag bei den Mädchen mit 73% an erster Stelle, bei den Jungen mit 59,7% an neunter Stelle. Als ein weiteres Beispiel zitiert sie aus der Shell-Studie, dass Mädchen im Schnitt bereits mit 12,8 Jahren im Haushalt helfen müssen, während Jungen erst mit 14 mit anpacken müssen.33 Hier zeigt sich bereits deutlich die Einteilung des Weiblichen zum privaten Bereich es existiert eine deutliche Verbindung zwischen Mädchen/Frau und Küche/Hausarbeit. Auch wenn die Bezugspersonen in Gesprächen und Interviews immer wieder beteuern, dass ihre Töchter ohne ihr Zutun und bei gleicher Ermunterung zu den selben Spielen dennoch geschlechtsspezifische Interessen entwickeln, so beschreibt Marianne Grabrucker in ihrem Tagebuch ein Beispiel, das unterbewusstes Verhalten der Eltern vermuten lässt. Ihr fiel auf, dass sie zwar versucht hatte, ihre kleine Tochter für Technik zu begeistern, indem sie ihr durchaus einen Hammer, Werkzeug und dergleichen auf Wunsch zur Verfügung stellte, jedoch ihr nicht zeigte, wie man damit umgeht, wohingegen sie bei einem Puppenhaus anfing, ihr liebevoll zu veranschaulichen, wie man damit spielt. Bei ihren Beobachtungen fand sie heraus, dass bei Buben in Technikfragen auf den Vater oder einen anderen männlichen Ansprechpartner verwiesen wird, während das Mädchen technische Sachen zwar bestenfalls zur Verfügung gestellt bekommt, ihr aber nicht gezeigt wird, wie man damit spielt. Das Mädchen spürt die Langeweile und das Desinteresse der Mutter und hört freiwillig auf, sich dafür zu interessieren, so Grabrucker.34

Bilden beschreibt denselben Sachverhalt. Mütter scheinen Befragungen zu Folge keine Unterschiede beim Geschlecht während der Erziehung zu machen und versuchen sehr auf das individuelle Kind einzugehen, aber Beobachtungsstudien zur emotionalen und körperlichen Sozialisation zeigen, dass Erwachsene gerade bei Säuglingen schon mit geschlechterbezogenen Zuschreibungen und Erwartungen an diese herangehen.

[...]


1 vgl. Hagemann-White 1984

2 http://www.spw.de/124/Frauenbewegung_Subjekt.php 10.06.2005

3 Becker-Schmidt & Axeli Knapp 2000, S.29

4 Brück 1992, S.45

5 Kreckel 1992, S.17

8 vgl. Becker-Schmidt & Axeli Knapp 2000

9 Lorber 1999, S.60

10 Lorber 1999, S.155

11 Heintz 1997, S.55f

12 vgl. Laqeur 1992

13 vgl. Fausto-Sterling 1988

14 J. Möbius 1905 in Brück 1992, S.53

15 vgl. Fausto-Sterling 1988, S.181

16 vgl. Meryn 1999, S.72

17 vgl. Brück 1992

18 vgl. Kremser-Springer in Mixa u.a. 1996

19 Freud in Brück 1992, S.50

20 vgl. Stoller 1968

21 vgl. Lorber 1999

22 vgl. Brück 1992

23 Brück 1992, S.10

24 vgl. Hurrelmann 1976

25 Faulstich-Wieland 1999, S.49

26 vgl. Eckes in Becker 2004, S.165

27 Brück 1992, S.86f

28 vgl. http://www.shell-jugendstudie.de/ (10.06.2005)

30 vgl. Bilden 1991 und Fausto-Sterling 1988

31 vgl. Scheu 1983

32 vgl. Belotti 1985, S.22f

33 vgl. Faulstich-Wieland in Scarabath 1999

34 vgl. Grabrucker 1985 in Scarabath 1999

Ende der Leseprobe aus 120 Seiten

Details

Titel
Die Geschlechterkonstruktion durch Beziehungsratgeber
Untertitel
Wird auf dem Mars tatsächlich besser eingeparkt als auf der Venus?
Hochschule
Universität Wien  (Institut für Soziologie)
Note
3,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
120
Katalognummer
V115375
ISBN (eBook)
9783640163489
ISBN (Buch)
9783640164738
Dateigröße
1393 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Geschlechterkonstruktion, Beziehungsratgeber
Arbeit zitieren
Mag. Josefina Krapinger (Autor:in), 2006, Die Geschlechterkonstruktion durch Beziehungsratgeber, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/115375

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