Aggression - Theorie und Theorie in der Praxis


Bachelorarbeit, 2008

60 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


0. Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Begriffsdefinition und –Abgrenzung
2.1 Aggressivität
2.2 Aggression
2.3 Aggressives Verhalten
2.4 Gewalt
2.5 Zwischenfazit

3. Verschiedene Theorien zur Entstehung aggressiven Verhaltens
3.1 Die Triebtheorie
3.2 Die Frustrations-Aggressions-Theorie
3.3 Die Lerntheorie
3.4 Zwischenfazit

4. Empirische Befunde
4.1 Kriminalstatistik
4.2 Genetische, hormonelle und biologische Einflussfaktoren
4.3 Psychische Einflussfaktoren
4.4 Soziale Einflussfaktoren
4.5 Temporäre Verschiebung gewalttätigen Verhaltens
4.6 Rollenverhalten und die Gleichaltrigengruppe
4.7 Einfluss und Auswirkungen medialer Gewaltdarstellungen
4.8 Zwischenfazit

5. Prävention: Anti-Aggressivitäts-Training (AAT)

6. Lehrerinbefragung
6.1 Vorbemerkung
6.2 Noltings Befragung
6.3 Eigene Befragung und deren qualitative Inhaltsanalyse
6.4 Unterschiede und Gemeinsamkeiten
6.5 Zwischenfazit

7. Resümee

8. Literaturangaben

9. Anhang

1. Einleitung

Aggression ist seit Menschengedenken ein zentrales Thema des Lebens. Ob in biblischen Geschichten, in Darstellungen antiker Kunst oder in der Kunstgeschichte allgemein; Aggression ist seit jeher ein wichtiges, weil Menschen gefährdendes und ein zugleich äußerst menschliches Thema, das „bibliotheksfüllend“ (Nolting, 1997, S.15) ist. In den folgenden Ausführungen geht es ausschließlich um schädliche Aggression, nicht um die jedem Menschen vertraute Form von Aggression, die lebensimmanent ist.

In Zeiten erhöhter Jugendkriminalität, zahlenmäßig gestiegener und an Schulen gemeldeter Gewalttaten, der alltäglich spürbar gestiegenen Zahl von gewalttätigen Übergriffen unter Gleichaltrigen und Bandengruppierungen, die ein hohes Gewaltpotential besitzen, stellt sich zunächst die Frage, wie es zu dazu kommt, die Frage nach dem ‚Warum’. Nicht erst seit den Vorfällen an der Rütli-Schule stößt dieses Thema auch auf mediales Interesse.

„Das hier ist brutaler Krieg. Sie bewaffnen sich mit Messern, Pistolen und Knüppeln, schlagen sich krankenhausreif, erpressen Schutzgelder. An vielen Schulen herrschen Angst und Schrecken“ (Schubarth, 1994, S.21).

Diese erschreckende wie polarisierende Aussage ist wohl die Spitze eines Eisbergs, den zu ergründen diese Arbeit zum Ziel hat. Aggression ist ein so wichtiger wie facettenreicher Gegenstand des gewöhnlichen Miteinanders und vor allem der alltäglichen pädagogischen Arbeit. Das Phänomen Aggression und das des aggressiven Verhaltens sollen hier folgendermaßen erörtert werden. Zunächst soll klar gemacht werden, was mit welchem Begriff überhaupt ausgesagt wird, also was beispielsweise aggressives Verhalten von Aggression unterscheidet. Des Weiteren soll geklärt werden, wie es zu aggressivem Verhalten kommt, welche psychologischen Theorien es zur Erklärung aggressiven Verhaltens gibt. Außerdem wie sich aggressives Verhalten äußern kann, wie es tatsächlich auftritt, welche Faktoren Einfluss auf geäußertes aggressives Verhalten haben und was präventiv und intervenierend gegen aggressives Verhalten getan werden kann.

Wissen an sich und die Generierung dieses Wissens werden durch Umweltgegebenheiten beeinflusst. Derlei Umweltgegebenheiten zeigen sich im Alltag und in der Realität diffus und chaotisch, wohingegen sie in der Wissenschaft einer bestimmten Systematik unterliegen. (vgl. Hierdeis, Hug, 1996, S.60).

Besonders soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse in der Praxis zur Erklärung des Alltags dienen, inwieweit Wissen, das systematisch erschlossen wurde, in diffusen Alltagssituationen zur Erklärung herangezogen wird. Hierzu wird eine Studie von Hans-Peter Nolting vorgestellt, an die sich eine eigens durchgeführte Befragung einer Lehrerin anschließt. Diese Ergebnisse der Antworten der exemplarisch ausgewählten Lehrerin werden dann anschließend mit den Ergebnissen der umfangreicheren Befragung nach Nolting verglichen. Es sollen also Erkenntnisse darüber entstehen, ob Aggressionen angeboren, Resultat von Frustrationen oder erlernt sind und vor allem wie dieses Wissen (in einem exemplarisch ausgewählten Praxisalltag) zur Erklärung aggressiven Verhaltens angewandt wird.

Wie oben erwähnt ist dieses Themas durch sehr häufig stattfindende Gewalttaten von steter Aktualität, wodurch sich eine Relevanz zur Bearbeitung des Themas einstellt. Viel entscheidender aber waren eigene Erfahrungen in der Praxis und die Absicht, im Förderbereich für soziale und emotionale Entwicklung zu arbeiten, in dem Aggression zum Alltag gehören. In der praktischen Arbeit entstand der Anspruch, mit aggressiven Verhaltensweisen förderlich umzugehen, wozu eine situativ angemessene Erklärung der gezeigten Aggression eine Voraussetzung ist. So entstand neben der Frage nach der Erklärung für aggressives Verhalten, die Frage, wie sich professionelle Pädagogen diese Verhaltensweisen erklären. Diesen Fragen wird im Folgenden nachgegangen.

2. Begriffsdefinition und –Abgrenzung

Aufgrund dessen, dass die Begrifflichkeiten Aggressivität, Aggression, Aggressives Verhalten und Gewalt häufig synonym verwendet werden, es also zu einigen Unwägbarkeiten bei der Verwendung jener Begriffe kommt, scheint es angebracht und notwendig, Definitionen der eben genannten Begriffe vorweg zu stellen.

2.1 Aggressivität

Der Begriff der Aggressivität ist, wie es bei allen übrigen Bestimmungen zu diesem Thema ähnlich ist, schwer zu fassen. Selg versteht ihn am ehesten als Persönlichkeitsfacette und zwar als die „erschlossene, überdauernde Bereitschaft zu aggressivem Verhalten“ (vgl. Selg, 1993, nach Biedermann/Plaum, 1999, S.10). Folgt man einer anderen Quelle gelangt man zu ähnlichem Schluss, da hier diese von Selg benannte „Bereitschaft“ als „Einstellung“ wiederfindet. Aggressivität wird als eine inne wohnende Grundeinstellung und Grundstimmung in Bezug auf Denken, Fühlen und Handeln aufgefasst (vgl. Allgeuer, 1998). Aggressivität an sich ist also nicht Aggression oder gar aggressives Verhalten, sondern eine Bereitschaft dazu, aggressiv zu handeln, aggressiv auf die jeweilige (die Aggression auslösende) Situation zu reagieren und sollte demzufolge auf keinen Fall synonym mit Aggression gebraucht werden (vgl. ebd. & vgl. wikipedia.de).

2.2 Aggression

Unter dem Substantiv Aggression wird ursprünglich „Angriff“, „Angriffslust“ oder „Kriegsbereitschaft“ verstanden, was sich auf das lateinische ‚aggredi’ zurückführen lässt, was eine zielgerichtete Handlungsweise beschreibt, wie „herangehen“, „annähern“, „sich einer Herausforderung stellen“ (vgl. Rumpf, 2002, S. 11) und „Dinge in Angriff nehmen“ (Ahrbeck, 2001, S.227). Aggredi wiederum lässt sich in das Präfix „ad“ (zu, hin, nach, heran) und in den Wortstamm „gradi“ (schreiten, festen Schrittes gehen) aufschlüsseln (vgl. Biedermann/Plaum, 1999, S.10). Auf diese Art und Weise wird ein Begriff erläutert, welcher Aktivitätsformen zu beschreiben sucht und demnach nicht mit dem gängigen Aggressionsbegriff gleichgesetzt werden darf. Es muss also differenziert werden zwischen offensivem, aktiven Verhalten, das durchaus positive Eigenschaften mit sich bringt wie Selbstsicherheit, Direktheit, Ehrlichkeit, und tatsächlichem aggressiven Verhalten, das immer die Intention hat jemandem oder Etwas, also einem Organismus oder einer Gegenständlichkeit, Schaden zuzufügen (vgl. Allgeuer, 1998). Aggressionen treten bei Menschen entweder gegenüber anderen Individuen auf, gegenüber sich selbst in Form von autoaggressivem Verhalten oder eben gegenüber Dingen. Diese Aggression kann sich gestisch, mimisch, verbal und natürlich körperlich zeigen, allerdings wird an einigen Stellen in der Literatur betont, dass es sich um keinen exakten Begriff handelt. Der Begriff beschreibt eine Gruppe von Verhaltensweisen, die darauf ausgerichtet sind, anderen Personen Schaden zu zufügen (vgl. Merkens, 1989, S. 17). Ähnlich findet sich eine Bezeichnung hierzu auch an anderer Stelle. So wird Aggression als Überbegriff für jegliches, fremdschädigendes Verhalten, ob direkt oder indirekt, ob psychisch oder physisch anerkannt (vgl. Biedermann/Plaum, 1999, S. 11). Des Weiteren wird der Initiator einer aggressiven Auseinandersetzung als Aggressor bezeichnet (vgl. ebd.).

2.3 Aggressives Verhalten

In der Fülle verschiedener Begriffsbestimmungen von aggressivem Verhalten ist eine Gemeinsamkeit aller Definitionsversuche festzustellen, die da wäre, dass aggressives Verhalten immer mit einer Schädigungsabsicht geschieht. Aggressives Verhalten kann hingegen „auch die Hilflosigkeit eines Kindes verdeutlichen oder der brutalen Durchsetzung eigener Interessen dienen“ (Petermann, Petermann, 2005, S. 3), kann allerdings auch als eine ungewöhnliche Form der Kontaktaufnahme verstanden werden und als Signal begriffen werden, dass es eine Krise im sozialen Umfeld des sich aggressiv Verhaltenden geben könnte (vgl. ebd.). Aggressives Verhalten gilt allgemein als streitsüchtiges, herausforderndes Verhalten (vgl. Biedermann/Plaum, 1999, S. 10). Im Alltagsdenken wird der Begriff Aggression mit bestimmten Verhaltensweisen assoziiert. Zu diesen prototypischen Vorstellungen von Aggression zählen Verhaltensweisen, wie Treten, Kneifen, Schlagen und Beißen, welche von Emotionen wie Wut oder Verärgerung begleitet sind. Darüber hinaus gibt es die indirekte, soziale und relationale Aggression, die in der Literatur als unprototypisch bezeichnet wird. Diese Verhaltensweisen treten kombinierter maßen zu Tage und schließen einander nicht aus (vgl. Scheithauer, 2003, S.119 & Petermann, Petermann, 2005, S. 4ff.).

Eine instrumentell motivierte aggressive Verhaltensweise hat stets ein bestimmtes Ziel vor Augen, das zu erreichen das sich aggressiv verhaltende Individuum sucht, wozu alle aggressiven Ausdrucksformen (auf diesen Begriff wird weiter unten genauer Bezug genommen) auftreten können. Diese Verhaltensweise lässt sich als feindselig bezeichnen, weil dem Opfer direkter Schaden zugefügt wird (vgl. Petermann, Petermann 2005, S.4 & Merkens, 1989, S. 21ff).

Affektiv aggressives Verhalten ist stets impulsiv, tritt unkontrolliert und ungeplant auf, ist also emotionsgeleitet und als Reaktion auf eine Bedrohung oder Provokation zu verstehen. Hier zeigen sich aufgrund der Unkontrollierbarkeit eher direkte Ausdrucksformen aggressiven Verhaltens, wie offen, reaktiv, verbal und körperlich aggressives Verhalten (vgl. Petermann, Petermann 2005, S.4 & Merkens, 1989, S.21ff).

Relationale Aggression liegt beispielsweise vor, wenn über soziale Geflechte versucht wird, einer anderen Person Schaden zuzufügen, wie etwa durch Gerüchte streuen oder Lügen verbreiten (vgl. Petermann, Petermann, 2005, S.5) Dieses Verhalten ist zielgerichtet und vollzieht sich häufig in Gleichaltrigengruppen und bezieht sich meist auf Akzeptanz und Zugehörigkeit, so werden auf diese eben beschriebene Weise Personen aus einer Gruppe ausgeschlossen (vgl. Scheithauer, 2003, S.119). Dieses Verhalten wird auch als verdeckt, eher kontrolliert und indirekt bezeichnet (vgl. Petermann, Petermann, 2000, S.11).

Bei der imitativen Aggressivität verbündet sich die Person mit einem aggressiven Modell, zur Unterstützung und Verstärkung seiner eigenen aggressiven Antriebsdynamik. Die identifikative Aggressivität bezieht sich auf gruppenverstärkte Aggressionsformen, in denen das Individuum neue Verhaltensweisen und Aggressionsvarianten erprobt und verinnerlicht (vgl. Merkens, 1989, S. 21ff).

Neben diesen aggressiven Verhaltensweisen sind verschiedene Ausdrucksformen aggressiven Verhaltens dokumentiert worden, die kombiniert auftreten und sich gegenseitig keinesfalls ausschließen, was den Charakter des aggressiven Verhaltens aufzeigen soll.

Mit aktiv wird stets der Initiator einer aggressiven Handlung bezeichnet, mit passiv hingegen das Opfer, das geschädigt wird. Von initiativem aggressiven Verhalten wird dann gesprochen, wenn durch aggressives Verhalten eine Interaktion initiiert wird, von reaktivem aggressiven Verhalten, wenn die betreffende Person auf eine tatsächliche oder scheinbare Bedrohung reagiert. Parteiergreifend ist aggressives Verhalten dann, wenn aus der Beobachterrolle, also zunächst eher unbeteiligt am Geschehen, Partei für den Aggressor ergriffen wird, das initiativ, aktive aggressive Verhalten desjenigen also gutgeheißen wird. Weiter unterschieden wird zwischen offenem und verdeckt-hinterhältigem aggressiven Verhalten. Ersteres ist für jeden Beteiligten direkt erkennbar und richtet sich offen gegen eine andere Person. Dies wird als feindselig, trotzig, impulsiv und unkontrolliert beschrieben. Die letztere Variante dagegen ist verschlagener, nicht beobachtbar und ebenso schlecht nachweisbar, da es der sich aggressiv verhaltenden Person darum geht, das Opfer in eine ungünstige Situation zu bringen, was als instrumentell und eher kontrolliert beschrieben wird. Ähnlich verhält es sich mit der Ausdrucksform des räuberischen aggressiven Verhaltens, das dann vorliegt, wenn die aggressiven Verhaltensweisen kontrolliert, zielorientiert, geplant und versteckt ablaufen. Zuletzt wird an dieser Stelle zwischen verbal und körperlich aggressivem verhalten unterschieden (vgl. Petermann, Petermann, 2005, S.4+5 & vgl. Scheithauer, 2003, S.119).

Aggressives Verhalten resultiert demnach aus einer zunächst innewohnenden Aggressivität, also der Bereitschaft zu aggressivem Handeln, wird durch den einen oder anderen Faktor ausgelöst oder provoziert, womit es dann erst zum aggressiven Verhalten kommt, das sich wiederum durch oben beschriebene verschiedene Verhaltensweisen äußern kann und durch die jeweiligen Ausdrucksformen unterschiedliche Gesichter bekommt.

Forschungsarbeiten zufolge weisen Menschen, welche eher zu der einen oder der anderen Form von Aggression neigen, verschiedene Persönlichkeitsmerkmale auf. Beispielsweise gaben Menschen an, die auf emotionaler Ebene gemeinhin stark situativ reagieren, dass sie zu impulsiver Aggression neigen. Gegenüber dem gaben Menschen, die angaben eher instrumentell aggressiv zu reagieren, zu, dass Gewalt häufig gerechtfertigt sei und bewerteten aggressives Verhalten als positiv. Diese Befunde zeigen, dass nicht alle Arten der Aggression aus denselben zugrunde liegenden Persönlichkeitsfaktoren hervorgehen. Um diesen Abschnitt abschließend den relativen Charakter von Aggression aufzuzeigen: auch die mildesten, ruhigsten Menschen, deren Potential zu aggressivem Verhalten bislang getestet wurde, wiesen in gewissen Situationen Tendenzen zu aggressivem Verhalten auf (vgl. Gerrig, Zimbardo, 2004, S. 807f).

2.4 Gewalt

Im Gegensatz zum Begriff der Aggression, lässt sich der Terminus Gewalt weniger eindeutig wortgeschichtlich herleiten und erklären, da dieser Begriff in der deutschen Sprache einer Mehrdeutigkeit unterliegt und am ehesten im Sinne von Machtausübung verstanden werden kann. Ursprünglicher Weise geht der Begriff Gewalt auf das hochdeutsche Verbum ‚waltan’ zurück, was „stark sein“ oder „beherrschen“ bedeutet. Der Herkunft nach kann das Wort im Sinne rechtsstaatlicher Machtausübung verstanden werden, wie Staatsgewalt, öffentliche Gewalt, rechtssprechende Gewalt, etc. Danach tauchten erstmals Deutungen diesen Begriffs auf, die einen aktiven Prozess beschrieben und Komponenten der Gewalttätigkeit in den Bedeutungsvordergrund schoben (vgl. Biedermann/Plaum, 1999, S.10). Mittlerweile ist in deutschen Gefilden „eine Bedeutungsverengung zugunsten der zweiten Variante“ (Esser & Dominikowski, 1993, S.27 nach Biedermann/Plaum, 1999, S.10) festzustellen. In anderen Sprachen ist der Sinn des Ausdrucks Gewalt klarer getrennt und abgesteckt. So wird beispielsweise im Lateinischen zwischen ‚potestas’ (Kraft, Macht, Amtsgewalt) und ‚violenta’ (Gewalttätigkeit, Tücke) unterschieden. Aus diesen Begriffen gingen die englischen Inhalte des Begriffs hervor. ‚Power’ und ‚violence’, wie auch im Französischen ‚le pouvoir’ und ‚la violence’ (vgl. Biedermann/Plaum, 1999, S.10). Die Begriffsbestimmung des Terminus Gewalt ist außerdem deshalb problematisch, da er, je nach Erkenntnisinteresse, in verschiedene Kontexte eingebettet wird, was insbesondere Probleme bei der statistischen Erfassung von Gewalt zu Problemen führt. Als Gewaltformen werden psychische oder physische, personale oder strukturelle (oder auch kulturelle), statische oder dynamische sowie direkte oder indirekte unterschieden. Ein engerer Gewaltbegriff, auch als „materialistische Gewalt“ bezeichnet, beschränkt sich auf die zielgerichtete, direkte physische Schädigung einer Person. Der weiter gefasste Gewaltbegriff bezeichnet zusätzlich die psychische Gewalt, etwa in Form von emotionaler Vernachlässigung oder Deprivation, und in seinem weitesten Sinn die „strukturelle Gewalt“. Zudem fällt Vandalismus unter diesen Gewaltbegriff, wenngleich sich die Einwirkung nicht direkt gegen Personen richtet. Auch aufgrund dieser Vielfältigkeit der Semantik entstehen immer wieder Missverständnisse im Dialog über Gewalt, da Menschen durchaus verschiedene Dinge beschreiben können, wenn sie davon reden, Gewalt erfahren zu haben. Gewalt muss immer im historischen und sozialen Kontext stehen und sich daraus erklären, um den Begriff signifikanter zu gestalten (vgl. Hanke, 1998, S. 25 ff.). Gewalt liegt immer dann vor, „wenn Menschen so beeinflußt werden, daß ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung“ (Galtung, 1971, S.57, nach Hanke, 1998, S. 42). Das wiederum bedeutet im Umkehrschluss auch, dass Menschen, die physische Gewalt gegenüber anderen Menschen ausüben, um beispielsweise etwas zu erreichen (siehe instrumentelle Aggression), und diese Gewaltausübung eigentlich und ursprünglich nicht ihrem Potential im Bezug auf soziale Kontakte und Interaktionen entspricht, selber unter einer Form der Gewalt leiden.

2.5 Zwischenfazit

Gewalt ist als eine Teilkomponente von aggressivem Verhalten zu verstehen, das wiederum aus inne wohnender Aggressivität und einem auslösenden Effekt heraus entstehen kann. Im folgenden der vorliegenden BA-Arbeit werden die Termini aus oben ausreichend dargestellten Gründen wie folgt verstanden und auf dieser Basis mit ihnen weitergearbeitet: Aggressives Verhalten und Gewalt, ob physisch oder psychisch, ob relational oder direkt, sind Verhaltensweisen, die mit einer Gerichtetheit stattfinden, jemanden oder etwas zu schädigen. „Aggression besteht in einem gegen ein Organismus oder ein Organismussurrogat gerichteten Austeilen schädigender Reize“ (Selg u.a., 1988, S.14 nach Nolting, 1997, S.23).

3. Verschiedene Theorien zur Entstehung aggressiven Verhaltens

Der folgende Teil dieser Arbeit ist eine Akzentsetzung auf bestimmte Positionen und stellt gängige Theorien dar. Keinesfalls wird hier der Anspruch verfolgt, sämtliche Bedingungsfaktoren oder theoretische Konzepte zur Entstehung von aggressiven Verhaltensweisen aufzuzeigen, denn dieser Anspruch könnte Bibliotheken füllen. So wird das Hauptaugenmerk auf drei Theorien gelegt, welche die am häufigsten herangezogenen Erklärungen von aggressiven Verhaltensweisen sind.

3.1 Die Triebtheorie

Um die Triebtheorie darzustellen, bedarf es der Erwähnung zweier Männer, die sich um die Entwicklung jener verdingten, auch und vor allem im Bezug auf „triebtheoretische Ansätze zur Erklärung sozial-schädlicher Reaktionsbereitschaften“ (Biedermann/Plaum, 1999, S.16): Sigmund Freuds psychoanalytischer Ansatz und der ethologische Ansatz nach Konrad Lorenz.

Beide im Folgenden aufgezeigten triebtheoretischen Ansätzen gehen von einem erblich weitergegebenen, dem Menschen inne wohnenden Aggressionspotential aus, das sich für aggressives Verhalten eines Menschen verantwortlich zeigt. Der Mensch sei demnach auf biologische Weise zu seinem, ungeachtet der jeweiligen Intensität, aggressiven Verhalten bestimmt (vgl. Biedermann/Plaum, 1999, S.16). Anders ausgedrückt gehen triebtheoretische Erklärungsansätze von der Vermutung aus, dass der Mensch, gesteuert von Trieben (Freud) und Instinkten (Lorenz), in bestimmten Schlüsselsituationen dem Drang ausgesetzt ist, sich zielgerichtet aggressiv zu verhalten. Zur Auslebung dieses Drangs, also auch um von ihm befreit zu werden, wenn auch nur für kurze Zeit (s.u.), verhalten sich Menschen, triebtheoretisch erklärt, aggressiv, was nicht zuletzt auch unter dem Einfluss erbgenetischer Anteile geschehen soll (vgl. Biedermann/Plaum, 1999, S.17). Also liegt die Gemeinsamkeit der beiden Modelle darin begründet, dass sie ein „einfaches Energiemodell zur analogen Beschreibung“ (Mummendey, 1983, nach Biedermann/Plaum, 1999, S. 19) aggressiver Handlungen gebrauchen, d.h. dass auch Konrad Lorenz davon ausgeht, es würden kontinuierlich aggressive Triebenergien erzeugt, die sich bis zur Entladung über einen bestimmten Zeitraum aufstauen. (Heckhausen, 1989, nach Biedermann/Plaum, 1999, S. 19) Auch wird in diesem Kontext vom „hydraulischen Modell“ gesprochen, weil die Stauung der Energie der Stauung des Dampfes in einem Dampfkessel gleichkomme (vgl. Scheithauer, 2003, S. 71).

Freuds psychoanalytische Triebtheorie unterscheidet zunächst zwischen zwei angeborenen Trieben, welche da der Eros (Lebens- und Sexualtrieb) und der Thanatos (Todes- und Aggressionstrieb) wären, die alle Verhaltensweisen des Individuums in einem gegensätzlichen Zusammenspiel bestimmen. Das heißt, dass jeder Verhaltensweise, egal ob mit liebevoller oder zerstörerischer Intention, diese beiden Grundtriebe als Antrieb vorausgehen. „Der eine dieser Triebe ist ebenso unerlässlich wie der andere, aus dem Zusammen- und Gegeneinanderwirken der beiden gehen die Erscheinungen des Lebens hervor.“(Freud, 1942, nach Hanke, 1998, S.69).

Dieses Zusammenspiel ist auch von Nöten, da das eigentliche Ziel des Thanatos die Selbstvernichtung ist, weswegen er nie allein für sich wirkt und nur in Verbindung mit libidinöser Energie, also zusammen mit dem lebenserhaltenden Trieb, dem Eros, auftritt. Der Eros leitet die zerstörerischen Energien des Thanatos über das Muskelsystem nach außen ab, womit Aggression zu Tage treten. „Der Aggressions- oder Destruktionstrieb ist also der abgelenkte Todestrieb des Menschen“ (Nolting, 1997, S.53).

Der nächste wichtige Aspekt Freuds Theorie ist die Vorstellung von einem sich stetig aufladenden aggressiven Energiehaushalt, der, unabhängig von äußeren Bedingungsfaktoren und Umwelteinflüssen, sich zu einem Triebdrang entwickelt, bis es zur Entladung dieser Energie kommt. Diese Entladung hat stets den Abbau des durch die aufgeladene Energie entstandenen Spannungsverhältnisses zum Ziel (vgl. Hanke, 1998, S.69). Eben jene Entladung ist nach Baron die Vermeidung der Selbstvernichtung, weswegen beispielshalber Abwehrmechanismen wie Verschiebungen nach außen für das Individuum notwendig sind, was wiederum der Grund für Aggressionen gegenüber anderen Individuen sein kann (vgl. Biedermann/Plaum, 1999, S.17). Wie genau der Spannungsabbau aussieht, ist nicht starr definiert, da sich die Triebentladung in vielerlei Hinsicht äußern kann. So sind zerstörerische oder verletzende Verhaltensweisen gegenüber anderen Individuen möglich, ebenso wie diese Aggressionen gegen Objekte gerichtet sein können, wenn jene mit aggressiver Energie besetzt werden. Kann Energie nicht nach außen verschoben werden, gegen andere oder Objekte, wird die Energie gegen sich selbst gerichtet. So kann verhinderte Aggression zu Selbstaggression werden (vgl. Hanke, 1998, S.69). Durch eine aggressive Handlung wird die aggressive Triebenergie abgebaut, der entstandene Spannungsstau reduziert sich, womit auch die Wahrscheinlichkeit für zeitnah und neuerlich auftretende Aggressionen verringert werden (vgl. Hanke, 1998, S.70).

Aggressive Verhaltensweisen treten bereits in den frühsten Phasen der Persönlichkeitsentwicklung auf. So lassen sich nach Freuds Verständnis von Aggression drei markante Phasen, in Anlehnung an die triebtheoretischen Entwicklungsphasen des Kindes, unterscheiden: Die orale Phase beinhaltet laut Freud, neben den üblich bekannten aggressiven Äußerungen wie Schreien und Strampeln, das Trinken an der Mutterbrust aggressive Komponenten, wie z.B. Beißen und Kauen (vgl. Myschker, 2005, S. 385) In der analen Phase erreicht die Aggressionsentwicklung bereits einen ersten Höhepunkt, da in der Reinlichkeitserziehung der Wille des Kindes und jener der Eltern das erste Mal in entgegengesetzten Richtungen aufeinanderprallen. (vgl. Myschker, 2005, S. 385) In der ödipal-phallischen Phase treten bereits komplexere aggressive Tendenzen auf, die einerseits auf eine ungestört libidinöse Beziehung zu beiden Elternteilen, andererseits aber auch auf die Beseitigung des gleichgeschlechtlichen Elternteils (Ödipusproblematik) abzielen. (ebd.)

In der ethologischen Triebtheorie nach Lorenz wird in Bezug auf Aggressionen von Instinkthandlungen gesprochen, die als Anpassung an die Umweltbedingungen gewertet werden, was wiederum der Artenerhaltung dienen sollte und an anderer Literaturstelle als erfahrungsunabhängige Verhaltensdisposition bezeichnet wird (vgl. Biedermann/Plaum 1999, S.18 & vgl. Scheithauer, 2003, S.69 & vgl. Ahrbeck, 2001, S.227). Zerstörerisches aggressives Verhalten wird als Fehlfunktion eines Instinktes aufgefasst, der prinzipiell der Selbsterhaltung seiner selbst und der Artenerhaltung seiner Gattung dienen soll. Instinkte, also auch aggressives Verhalten, werden in diesem Zusammenhang als biologische Notwendigkeit verstanden, auch wenn sie fehlfunktional bedingt auftreten (vgl. Scheithauer, 2003, S. 70 f). Der Tierforscher Lorenz legte diesen Instinkten vier Annahmen zugrunde.

Erstens seien die Instinkthandlungen in verschiedene Klassen eingeordnet, für die es jeweils einen angeborenen Auslösemechanismus gäbe, der allerdings erst dann ausgelöst wird, wenn eine bestimmte Schwelle, eine Hemmung überwunden wird.

Zweitens müssen Ereignisse der Umwelt vom Individuum auf eine bestimmte Weise klassifiziert werden, damit ein Instinkt einer bestimmten Klasse auftreten kann. Diese Wahrnehmung wird als Schlüsselreiz bezeichnet.

Drittens gilt für jede Klasse der Instinkthandlungen, dass pro Zeiteinheit im Organismus aktionsspezifische Energie produziert wird, welche durch eine zielgerichtete Aktion, also eine Instinkthandlung wieder reduziert wird. Kommt es nicht zur Instinkthandlung, weil der dafür notwenige Schlüsselreiz ausbleibt, bleibt die produzierte Energie im Organismus und bewirkt einen kontinuierlich anwachsenden Druck auf den Auslösemechanismus im Lebewesen. Das notwendige Mindestmaß an aufgestauter aktionsspezifischer Energie, das für die Auslösung einer Instinkthandlung nötig ist, variiert bei verschiedenen Schlüsselreizen. Die Stoßkraft jeden Schlüsselreizes ist um so größer, je geringer der notwendigerweise vorhandene aktionsspezifische Energievorrat ist.

Viertens gilt, dass sich der Effekt von aufgestauter Energie und Schlüsselreiz summieren. Wenn der Effekt des Schlüsselreizes und das Level der aufgestauten aktionsspezifischen Energie in der Summe kleiner sind als der Widerstand des angeborenen Auslösemechanismus, tritt keine Instinkthandlung zu Tage. Ist die Summe jener beiden Erstgenannten aber größer als die Widerstand des Auslösemechanismus, tritt die Instinkthandlung auf, in ihrer Intensität korrelierend zur summierten Energie des Schlüsselreizes und der aufgestauten aktionsspezifischen Energie

(vgl. hierzu: Lorenz, 1953, et al., nach Hanke, 1998, S. 70f).

Diese hier geschilderten Zusammenhänge werden als hydro-mechanisches Modell bezeichnet (siehe auch Scheithauer weiter oben), das Lorenz auf den Menschen und die Tierwelt anwendete, da er argumentierte, dass sowohl Mensch als auch Tier aufgestaute, überschüssige Energie in Aggressionen verausgaben. Überschüssig ist die Energie dann, wenn es zu keinem ausreichenden Schlüsselreiz gekommen ist und dann werden diese Energien abgelassen und zwar „ohne erkennbaren äußeren Anreiz“ (Hanke, 1998, S.71).

Darüber hinaus erlang Lorenz aufgrund der Katharsis-Hypothese Popularität. Sie besagte, dass kleinere, gesteuerte Aggressionsentladungen das Auftreten großer, unkontrollierbarer Aggressionen unwahrscheinlicher machen würden oder diese gefährlichen Aggressionen auf diese Weise gar verhindert werden könnten. Beispielsweise wurde Sport als sozialverträglicher Aggressionsabbau ersonnen, denn hier konnten Aggressionen in kleinen Dosen durch körperliche Ertüchtigung abgebaut werden (vgl. Biedermann/Plaum, 1999, S.21). Allerdings konnte diese Hypothese die Fachwelt nie gänzlich überzeugen und ist im Laufe der Zeit empirisch eindeutig widerlegt worden (vgl. Biedermann/Plaum, 1999, S.21 & vgl. Hanke, 1998, S.72 & vgl. Scheithauer, 2003, S.71).

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Ende der Leseprobe aus 60 Seiten

Details

Titel
Aggression - Theorie und Theorie in der Praxis
Hochschule
Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover  (Institut für Sonderpädagogik)
Note
1,3
Autor
Jahr
2008
Seiten
60
Katalognummer
V115329
ISBN (eBook)
9783640159345
ISBN (Buch)
9783640160174
Dateigröße
1436 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
- Stringente Theorieanalyse - übersichtliche, sinnvolle Struktur - inhaltsanalytisch richtig - sehr gute empirische Zusammenstellung
Schlagworte
Aggression, Theorie, Praxis, Psychologie, Pädagogische Psychologie
Arbeit zitieren
Moritz Prien (Autor:in), 2008, Aggression - Theorie und Theorie in der Praxis, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/115329

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