Kindheit im Mittelalter


Seminararbeit, 1999

18 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Hauptteil
2.1 Das Bild des weiblichen Kindes im frühen Mittelalter
2.2 Die Erziehung der Mädchen
2.3 Die Entwicklungsphase „puerita“ am Beispiel des Mädchens
2.4 Der Übergang zur adolescencia – Heirat

3. Schlussbetrachtung

4. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Es wachsen Glaub und Unschuld nur am Baume

Der Kindheit noch; jedoch sie währen nicht,

Bis ihre Wangen sind bedeckt vom Flaume.[1]

In diesem Zitat von Dante (1265-1321) spiegelt sich deutlich die Ambivalenz des Kindheitsbildes im Mittelalter, was sich sowohl auf Erziehungstheorien als auch auf das Verhalten gegenüber Kindern auswirkte. Anhand dieses Zitat wird ebenfalls deutlich, daß Kinder im Mittelalter in bezug auf den Charakter keineswegs als unterentwickelt galten. Es wurde durchaus erkannt, daß jede Entwicklungsstufe ihre spezifischen Eigenarten mit sich bringt.

Wie aber wurden diese Erkenntnisse bezüglich der Erziehung in die Praxis umgesetzt? Wie trat man den Kindern, besonders in der zweiten Entwicklungsphase, während des Übergangs vom Kind zum Erwachsenen, gegenüber, und welche Wertvorstellungen wurden hierbei besonders betont?

Diese Seminararbeit wird sich mit den genannten Punkten genauer befassen, wobei der Schwerpunkt auf der Entwicklung des namenlosen Mädchens in Hartmanns von Aue „Der arme Heinrich“ liegt.[2] Deshalb sollen vor allem auch gewisse Ähnlichkeiten in Persönlichkeitsstruktur und gesellschaftliche Normen in Bezug auf die Erziehung von Mädchen Erwähnung finden. Hierbei steht nicht die adlige Gesellschaft, sondern – gemäß den Lebensumständen der oben genannten – das bäuerliche Leben des frühen Mittelalters im Vordergrund. In Übereinstimmung mit dem Alter des Mädchens soll vor allem die zweite Entwicklungsstufe, die sogenannte puerita, behandelt werden, die das siebte bis vierzehnte Lebensjahr umfaßt.

Die zeitliche Begrenzung rechtfertigt sich einerseits aus der Wirkungszeit Hartmanns, da dessen literarische Werke zur Zeit der hochhöfischen Epoche entstanden sind; andererseits es auch nicht angebracht scheint, die Lebensbedingungen des gesamten Mittelalters gleichzusetzen, da man durchaus einen allmählich fortschreitenden Strukturwandel beobachten kann.[3]

Die Literaturlage kann hierbei als sehr gut gelten, was wohl auch daran liegen mag, daß sich dieses Thema unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachten läßt. Besonders seit Mitte der siebziger Jahren, angeregt durch Philippe Ariès[4] und Edward Shorter[5], fand eine kontinuierliche Diskussion über die unterschiedlichen Betrachtungsweisen statt. Allerdings sind deren Ansichten inzwischen weitgehend überholt, da man heute davon ausgeht, daß auch im Mittelalter Kinder Zuneigung und Liebe seitens ihrer Eltern erfuhren und eine eigenständige Identität entwickeln konnten. Dieser These zufolge konnten im Rahmen dieser Seminararbeit vor allem die neueren Werke von Shulamith Shahar[6] und Klaus Arnold[7] als Arbeitsbücher dienen.

2. Hauptteil

2.1 Das Bild des weiblichen Kindes im frühen Mittelalter

„[...] das kleine Mädchen [begann] alt zu werden in der Reife ihrer Tugenden und ihrer Haltung und in der Wahrnehmung von Wunderbarem“, schrieb ein Biograph über die sechsjährige Katharina von Siena.[8] Mit diesem Zitat läßt sich eine typische Anschauungsweise des Mittelalters verdeutlichen: die hier genannte Tugendhaftigkeit dieser künftigen Heiligen hat nichts mehr mit einem Kind im ursprünglichen Sinne zu tun, sondern stellt sich bereits in jungen Jahren als gealtert und weit über das normale Maß hinausgehend gereift dar. Dieses Topos des puer senex, was soviel bedeutet wie das „greise Kind“, wurde in der mittelalterlichen Literatur häufig benutzt und verdeutlicht die Auffassung, daß das Kind, in Anlehnung an Aristoteles, keine edlen und selbstlosen Taten begehen könne. Auch das Mädchen in Hartmanns „Der arme Heinrich“ steht unter diesem puer senex-Topos, da ihr Wunsch in den Tod zu gehen, um Heinrich und ihre eigene Seele zu retten, kaum als typisches Verlangen einer Zwölfjährigen gelten kann. Auch ihr „großer Monolog“, der als „Herzstück“ der Erzählung betrachtet wird, gab Anlaß zur Diskussion, da er vielfach als „Bruch in der Personengestaltung“ getadelt wurde[9]. Unter dem Gesichtspunkt einer religiösen Eingebung allerdings zeigt sich eine logische Konsequenz ihres Handelns, die in diesem Monolog ihren Ausdruck findet. Martin H. Jones urteilt über die Redekunst des Mädchens folgendermaßen: „For all that the maiden impresses us with her eloquence, it is ultimately as one who is unreservedly responsive to God´s will that she plays her part.“[10] Der Autor selbst verweist darauf, daß das Mädchen nicht aus einer kindlichen Laune heraus handelt, sondern ihre Gesinnung von göttlicher Inspiration herrührt:

Swie starke ir daz geriete

diu kindische miete,

iedoch geliebete irz aller meist

von gotes gebe ein süezer geist.

(V. 345-349)

David Duckworth stellt dieses Handeln als „[...] a useful pointer to the future, a trait of her character having tremendous relevance for her decision to offer her life [...]“ dar.[11] Zu diesem Zeitpunkt ist das Mädchen nicht älter als acht Jahre. Trotzdem zeichnet sich hier schon der Charakterzug ab, der sie auch später dazu veranlassen wird, freiwillig den Tod zu wünschen. In diesem Sinne beschreibt er das Mädchen als „[...] indeed prompted by the Holy Ghost [...]“ und des weiteren „[...] that her decision is an ingenuous response to divine persuasion.“[12] Dieser Gesichtspunkt, der dem Mädchen durchaus einen eigenen Willen anerkennt, da immerhin von ihrer eigenen „decision“ die Rede ist, verdient Beachtung, obwohl die Kinderseele überwiegend als noch etwas Weiches und Formbares angesehen wurde. Der griechische Kirchenlehrer Johannes Chrysostomos verglich die Kinderseele sogar mit einer Perle, die es zu formen gelte, ehe sie hart werde.[13]

Dieses Beispiel zeigt einmal mehr, daß man Kindern gegenüber ein keineswegs gleichgültiges Verhalten zutage legte, sondern sich der Pflicht und Verantwortung jungen Menschen gegenüber bewußt war. Auch Klaus Arnold betont des öfteren, daß ein Kind mitnichten „[...] das ungeliebte Wesen [...]“ gewesen sei, sondern sich im Gegenteil etliche Belege für deren Zuwendung und Fürsorge finden.[14] So zeigen Aufforderungen an Mütter, ihre Kinder selbst zu stillen und Pflegehinweise für das kleine Kind, daß die Thematik des sorgsamen Umgangs mit den Kindern an die Eltern weiterzugeben. Diese Aufforderungen stammen überwiegend von Theologen. Insofern haben insbesondere Religion und Glauben dazu beigetragen, das Kind nicht nur als unvollkommenen Menschen zu betrachten, sondern im Gegenteil die Kindheit als Zeit der Reinheit und Unschuld zu betonen. Einerseits war zwar das negative Bild des Kindes im Mittelalter stark von den Ansichten des Heiligen Augustinus beeinflußt worden, andererseits aber vernachlässigte man bei dieser einseitigen Betrachtungsweise seine Überzeugung eines zwar in Sünde geborenen Kindes, das aber nach der Taufe unschuldiger als die Erwachsenen sei.[15]

[...]


[1] Dante: Die göttliche Komödie. Übertragen von Wilhelm G. Hertz, Frankfurt am Main 1955, Paradies, 27. Gesang, S. 395.

[2] Hartmann von Aue: Der arme Heinrich, hg. von Ursula Rautenberg, Stuttgart 1993.

[3] Das frühe Mittelalter wird hier über den Zeitraum vom 7. bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts definiert, die hochhöfische Epoche (1180 bis 1250) deckt sich dementsprechend mit diesem Geschichtsabschnitt.

[4] Philippe Ariès: Geschichte der Kindheit, München 1976³.

[5] Edward Shorter: Die Geburt der modernen Familie, Hamburg 1977.

[6] Shulamith Shahar: Kindheit im Mittelalter, München 1991.

[7] Klaus Arnold: Kind und Gesellschaft in Mittelalter und Renaissance. Beiträge und Texte zur Geschichte der Kindheit, Paderborn 1980.

[8] Zitiert nach Shahar: Kindheit im Mittelalter, S. 20.

[9] Hartmann von Aue: Der arme Heinrich. Nachwort, S. 119.

[10] Martin H. Jones: The Maiden in `Der arme Heinrich´. In: Hartmann von Aue. Changing Perspectives. London Hartmann Symposium 1985, hgg. von Timothy McFarland und Silvia Ranawake, Göppingen 1988, S. 231.

[11] Duckworth, David: The lepper and the maiden in Hartmann´s Der arme Heinrich, Göppingen 1996, S.74.

[12] Derselbe, S. 69.

[13] Zitiert nach Klaus Arnold: Kind und Gesellschaft in Mittelalter und Renaissance, Quellenanhang, S.95.

[14] Derselbe, S. 82.

[15] Zitiert nach Shahar: Kindheit im Mittelalter, S. 21.

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Kindheit im Mittelalter
Hochschule
Universität Karlsruhe (TH)  (Literaturwissenschaft)
Veranstaltung
Mediävistik II
Note
1,7
Autor
Jahr
1999
Seiten
18
Katalognummer
V115327
ISBN (eBook)
9783640166008
ISBN (Buch)
9783656561743
Dateigröße
381 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kindheit, Mittelalter, Mediävistik
Arbeit zitieren
M.A. Mia Gerhardt (Autor:in), 1999, Kindheit im Mittelalter, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/115327

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