Russische Gewerkschaften und das System Sowjetunion in der Perestrojka

Versuch einer Annäherung aus systemtheoretischer Sicht


Hausarbeit (Hauptseminar), 2008

43 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1) Einleitung: methodische Vorüberlegungen zur Systemtheorie

2) Die Selbstbeschreibung des Systems
2.1) Der Staatsaufbau
2.2) Die Ideologie
2.3) Zwischenfazit

3.) Die Gewerkschaften im System Sowjetunion
3.1) Die Gewerkschaften vor der Perestrojka
3.2) Die Gewerkschaften in der Perestrojka
3.2.1) Die Gewerkschaften vor 1989
3.2.2) Die veränderte Rolle der Gewerkschaften seit den Streiks von 1989

4) Fazit

5) Literaturverzeichnis

Russische Gewerkschaften und das System Sowjetunion in der Perestrojka. Versuch einer Annäherung aus systemtheoretischer Sicht.

1) Einleitung: methodische Vorüberlegungen zur Systemtheorie.

Die durch Gorbatschow eingeleitete Phase der Perestrojka wird in der Forschung als Transformationsprozess der Sowjetunion vom totalitären Sozialismus hin zu demokratischen Strukturen gedeutet und mit dem Begriff des Systemwandels umschrieben.

Seit Stalin hatte sich in der sowjetischen Politik das Primat der Schwerindustrie gegenüber der Konsumgüterindustrie durchgesetzt, was seit Breschnew zu Versorgungsengpässen und -lücken führte. War die Sowjetunion seit 1949 als Atommacht neben den USA zur militärischen Supermacht geworden, so zeigte sich doch schon bald, dass ihre Wirtschaftskraft insgesamt nicht stark genug war, um dem Anspruch auf Großmachtstatus dauerhaft gerecht werden zu können, die Verwaltungsstrukturen waren erstarrt und ineffizient und die Staatsideologie reglementierte das Leben der Sowjetbürger in allen Bereichen des Lebens.

Obwohl man den Problemstau der Sowjetunion immer wieder mit verschiedenen Reformansätzen zu beheben versuchte, brachte erst die Zeitspanne seit Gorbatschows Amtsantritt als Generalsekretär der KPdSU im März 1985 bis zum Ende der Sowjetunion 1991 eine Veränderung1, die in der umfassenden Umgestaltung des wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Lebens mündete, bis schließlich die Systemreformen in den Systemwandel übergingen.

Möchte man untersuchen, welche Rolle die russischen Gewerkschaften in diesem Systemwandelprozess gespielt haben, ist es sicher sinnvoll, einen Moment innezuhalten und sich zuerst darüber Aufschluss zu geben, wie ein System strukturiert ist und funktioniert, um Systemwandelerscheinungen anschließend klarer erfassen zu können.

Um Spekulation und methodologischem Wildwuchs vorzubeugen, kann man sich an soziologischen und politikwissenschaftlichen Theorien orientieren, die sich mit der Beschaffenheit von Systemen befassen. Auf soziologischer Seite sind hier vor allem Gabriel Almond, Talcott Parsons und Niklas Luhmann zu nennen, die aus politikwissenschaftlicher Perspektive vor allem durch David Easton ergänzt werden.

Bezieht man sich auf diese Vorarbeiten, wird nur zu schnell deutlich, dass keine dieser Theorien einen umfassenden Erklärungsanspruch einlösen kann. Vielmehr stehen je verschiedene Fragestellungen im Brennpunkt des Interesses und die unterschiedlichen Erklärungsansätze sind naturgemäß einseitig ausgerichtet. Reicht aber kein Beschreibungsversuch alleine aus, Struktur und Funktionsweise eines Systems in der Art zu veranschaulichen, dass er für eine konkrete Fragestellung mit Gewinn herangezogen, also operationalisierbar gemacht werden kann, so scheint es legitim, die Theorien, woimmer möglich, miteinander zu verbinden. Damit kann man etwa die Systemtheorie Luhmannscher Prägung, deren Leistung es einerseits ist, so abstrakt zu sein, dass sie auf jede Gesellschaft und jedes System anwendbar ist2, deren Grenze aber auch genau darin besteht, zu abstrakt zu sein, um den Einzelfall greifbar zu erklären3, an die neuere Politikwissenschaft anschließen, welche sie um die Untersuchung von Institutionen, Parteien und Verbänden, Gesellschaftsstrukturen, gesellschaftliche Verhaltensweisen und Mentalitäten bereichert.4 Ebenso findet die Ebene der politischen Entscheidungsträger, die bei Luhmann vernachlässigt wird, in akteurszentrierten Modellen mehr Berücksichtigung, wie etwa in der Elitenforschung.5

Die Komplementarität der Ansätze erkennen auch Merkel im Hinblick auf politikwissenschaftliche Systemuntersuchungen6 und Sandschneider7 und sprechen sich für eine integrative Theorie aus, welche die Vorteile der verschiedenen Theorien verbindet.

Das ist natürlich nicht möglich, ohne die Widersprüche innerhalb und zwischen Denkmodellen zu harmonisieren. Das mögen Systemtheoretiker schmerzlich bedauern, doch gibt es m.E. keine Alternative. Ich stelle daher im besten Wissen um die methodische Problematik meines Vorgehens das Substrat meiner Lektüre verschiedener systemtheoretischer Modelle vor, um anschließend zu versuchen, das Ergebnis für die Rolle der russischen Gewerkschaften im Systemwandelprozess der Sowjetunion fruchtbar zu machen.

Zentral (und schwer zu beantworten) ist die Frage, was ein System eigentlich ist. Hier muss man die auf den ersten Blick selbstverständliche, aber basale Antwort geben, dass ein System vor allem durch seine Systemgrenzen bestimmt wird, also durch die Unterscheidung von System und Umwelt.8 Luhmann greift bei der Entwicklung seiner Systemtheorie auf die Systemforschungen des Neurobiologen Humberto Maturana zurück und überträgt die Erkenntnisse, die dieser über die systemische Funktionsweise lebender Organismen gewonnen hatte, auf soziale Systeme9, doch hier muss meiner Ansicht nach eine wichtige Differenzierung herausgehoben werden: Biologischen Organismen sind in ihrer Existenz naturgemäß feste Systemgrenzen vorgegeben, was auf soziale Systeme so nicht zutrifft. Soziale Systeme müssen ihre Systemgrenzen selbst ziehen, d.h. müssen festlegen, was zum System und was zur Umwelt gehört, müssen sich - mit Luhmanns Worten - ausdifferenzieren. Das bedeutet, dass man nicht mit Systemgegebenheiten rechnen darf, sondern dass es im Gegenteil von der Position des Beobachters abhängt, was er als zum System gehörig identifiziert und was nicht. Das mag für die Fragestellung noch einmal wichtig werden.

Weiterhin kann man über das System aussagen, dass es aus verschiedenen Elementen besteht, die voneinander abhängig sind und miteinander agieren10, aus Elementen also, die miteinander in Beziehung stehen, und das über das Mittel der Kommunikation.11 Damit hat man sich dem Strukturbegriff angenähert, denn Strukturen sind die Verbindungen (also die Kommunikationsakte) zwischen den Elementen des Systems12, die sich mit einem gewissen Grad von Stetigkeit/ Routine verfestigt haben.13 Wichtig ist es, zwischen dem System und seinen Strukturen zu unterscheiden: Nicht die Strukturen sind das System, im Gegenteil: Strukturen können sich wandeln14, müssen sogar, um auf die Herausforderungen der Umwelt zu reagieren, die an das System in Form von Inputs herangetragen werden. Unabhängig vom Strukturwandel bleibt das System jedoch in der Regel bestehen.15 Strukturwandel und Systemwandel sind also nicht unbedingt miteinander gekoppelt16, und ein System wandelt sich erst dann, und an dieser Stelle kann ich bereits auf die obige Feststellung über die Bedeutung der Position des Beobachters zurückkommen, wenn zudem ein Paradigmenwechsel stattfindet, wenn also ein System anders interpretiert wird.17

Um die Arbeit, die ja einer historischen Fragestellung folgt, nicht mit soziologischen Überlegungen zu überfrachten, möge es bei dieser kurzen systemtheoretischen Skizze bleiben.

Anhand dieser kurzen Einführung ist es aber möglich, die Fragen zu entwickeln, deren Beantwortung sich diese Arbeit zur Aufgabe macht, denn sie ergeben sich aus den theoretischen Reflexionen:

So muss zuerst untersucht werden, wie sich das politische System „Sowjetunion“ in der Perestrojka selbst beschreibt, wo es also seine Systemgrenzen sieht. In dem darauf folgenden Schritt wird man der Frage nachgehen müssen, welchen Stellenwert die Gewerkschaften in dieser Selbstbeschreibung des Systems einnehmen, ob sie sich also innerhalb der Systemgrenzen befinden oder ob sie nicht zum System gehören. Es muss die Art der Verbindung der Gewerkschaften mit dem System herausgestellt, wie im Anschluss daran die Funktion ermittelt werden, welche die Gewerkschaften in der Perestrojka erfüllen. Auch ist die Frage von Interesse, wie das System mit den Gewerkschaften umgeht und zum Schluss wird versucht werden, den Beitrag zu bewerten, welchen die Gewerkschaften zum Systemwandel geleistet haben.

2) Die Selbstbeschreibung des Systems

2.1) Der Staatsaufbau

Möchte man sich mit staatlichen Systemen beschäftigen, liegt es nahe, sich vorab mit deren Verfassung auseinanderzusetzen, weil sie, soziologisch gesprochen, nichts anderes ist, als die für alle Bürger verbindliche Art, wie das System seine Grenzen setzt, sich also selbst beschreibt.

Ein Blick auf die Verfassung lohnt sich gerade für den Zeitraum von Gorbatschows Amtsführung, weil sie innerhalb dieser sechs Jahre von 1985 bis 1991 nicht weniger als fünf Mal revidiert wurde. Das zeigt, dass die Phase der Perestrojka unter anderem einen Umbau am Staatsapparat bedeutete, wie im Folgenden kurz gezeigt werden wird.

Die Struktur der staatlichen Leitungsorgane der einzelnen Unionsrepubliken wird von der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken festgelegt18, so dass der organisatorische Aufbau des Regierungssystems in allen Unionsrepubliken übereinstimmt. Ebenso entsprechen sich auch der Aufbau der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken als ganzer und derjenige der verschiedenen Unionsrepubliken, weswegen sowohl auf Unionsebene wie auch auf Republikebene das gleiche strukturelle Gefüge entgegentritt.

Die Verfassung von 1977 stellt die UdSSR als Sowjetsystem vor, also als ein System gestaffelter Verwaltungsorgane, die in Anlehnung an die aus den russischen Revolutionen von 1905 und 1917 hervorgegangenen Arbeiterräte „Sowjets“ genannt wurden.

Höchstes Leitungsorgan ist der Oberste Sowjet19, der sich auf Unionsebene noch einmal in die beiden Kammern des Unionssowjets und des Nationalitätensowjets untergliedert.20 Er gibt die Rahmenrichtlinien der Politik vor21, teilt sich mit anderen Institutionen das Recht auf Gesetzesinitiative22, besitzt aber das alleinige Recht, eine Gesetzesvorlage zum Gesetz zu erheben.23 Zur Bearbeitung der laufenden Angelegenheiten gründet er verschiedene Kommissionen24 ; ebenso wählt er sich aus seinen Reihen ein Präsidium, das für die Zeit zwischen den Plenartagungen dessen Funktion übernimmt25 und bildet den Ministerrat26, das höchste Organ der Exekutive.27 Die nachgeordneten Sowjets auf der Ebene von Regionen, Gebieten, Bezirken, Rayons, Städten, Stadtbezirken und ländlichen Ortschaften gestalten die Politik auf lokaler Ebene, indem sie die Beschlüsse der übergeordneten Organe umsetzen und an die örtlichen Gegebenheiten anpassen.28 Das ist das Prinzip des „Demokratischen Zentralismus“29, das in sowjetischen Augen demokratische Elemente mit einer starken zentralen Leitung optimal verbindet. Als genuin basisdemokratisches Element wird zum Schluss hervorgehoben, dass die Deputierten der Sowjets aller Ebenen vom Volk direkt gewählt werden.30

Die erste Revision dieser Verfassung vom 01.12.1988 reorganisiert den Staatsaufbau. Als neues „höchstes Organ der Staatsgewalt“ sieht sie den Kongress der Volksdeputierten der UdSSR vor31, ein Gremium, das an der Stelle des früheren Obersten Sowjets nun die Rahmenrichtlinien der Politik festlegt.32 Wie bisher gehen die Deputierten aus territorialen und national-territorialen Wahlkreisen hervor, werden allerdings um eine dritte Kammer ergänzt, deren Abgeordnete durch die gesellschaftlichen Organisationen gestellt werden.33 Ein Oberster Sowjet existiert noch immer, allerdings werden dessen Deputierte nicht mehr direkt durch das Volk, sondern durch den Kongress der Volksdeputierten gewählt34, ebenso wie auch sein Vorsitzender und dessen Stellvertreter.35 Auch sein Präsidium wählt er nicht mehr selbst, sondern es geht Kraft Amtes aus dem Obersten Sowjet hervor.36

Zwar wird der Kongress der Volksdeputierten als „höchstes Organ der Staatsgewalt bezeichnet37, doch die Rolle des Parlaments kommt dem Obersten Sowjet zu38, der mit einer Reihe von Kompetenzen ausgestattet ist, die das Regierungsgeschehen konkret lenken39, auch wenn er sich das Recht auf Gesetzesinitiative weiter mit anderen Institutionen teilen muss.40 Während das Präsidium des Obersten Sowjets ein eher organisatorisches Gremium mit der Aufgabe ist, die Arbeit des Kongresses der Volksdeputierten und des Obersten Sowjets zu gewährleisten41, so ist auf die starke Stellung des Vorsitzenden des Obersten Sowjets hinzuweisen, welcher die Funktion eines Staatsoberhauptes wahrnimmt42 und damit das Präsidium des Obersten Sowjets als kollektive Staatsführung ablöst.43 Eine Begrenzung seines Einflusses ist aber darin zu sehen, dass seine Dekrete und Verordnungen vom Obersten Sowjet kassiert werden können44, wie auch darin, dass er vom Kongress der Volksdeputierten der UdSSR jederzeit abberufen werden kann.45

Diese Änderungen sind nicht leicht zu bewerten. Das erkennt man schon daran, dass die Meinungen der Osteuropa-Experten in dieser Frage auseinandergehen. So sind sich die Teilnehmer der erweiterten Redaktionskonferenz der Zeitschrift „Osteuropa. Zeitschrift für Gegenwartsfragen des Ostens“, einer wissenschaftlichen Plattform, auf der die Gegenwartspolitik Osteuropa kontrovers beleuchtet wird, einig darüber, dass die Rolle der staatlichen Organe gegenüber der KPdSU aufgewertet wird46 und man kann in der Tat dieser Meinung sein, wenn man etwa sieht, wie die KPdSU im Wahlverfahren zu den Wahlen des Kongresses der Volksdeputierten der UdSSR nur als eine unter anderen gleichwertigen gesellschaftlichen Organisationen das Recht hat, eine bestimmte Anzahl von Kandidaten zu stellen. Man kann hier den Versuch erkennen, Partei-, und Staatsapparat voneinander zu trennen47, doch bin ich generell mit Meissner einer Meinung, welcher in der Verfassungsänderung von 1988 eine starke zentralistische Tendenz ausmacht.48 Denn nicht nur gibt es nun einen „Staatspräsidenten“ mit weitreichenden Befugnissen, sondern zwischen Volk und Obersten Sowjet wurde das Gremium des Volksdeputiertenkongresses geschoben, so dass das basisdemokratische Moment der Direktwahl in diesem Fall verlorengeht. Folgt man Meissner, dann hatte sich Gorbatschow das Regierungssystem noch zentralistischer gewünscht, als es letztlich umgesetzt wurde.49 Ein gezielt demokratischer Umbau des Sowjetsystems scheint mir nicht vorgenommen worden zu sein. Möglich ist immerhin, dass für Gorbatschow die starke Stellung des Vorsitzenden des Obersten Sowjets nur Mittel zur Umsetzung der Politik der Perestrojka war, besetzte er doch selbst diese Position seit dem 01.10.1988 und hatte er doch zuvor schon bewiesen, dass er es verstand, seine eigene Machtposition durch gezielte Personalpolitik auszubauen.50

Wendet man sich nun den Änderungen zu, welche an der Verfassung Ende 1989 vorgenommen wurden, so fällt auf, dass es keine größeren Umgestaltungen der Struktur des Staatsaufbaus gibt, sondern dass es sich eher um Bestimmungen handelt, die im Geist der Verfassungsänderung von 1988 stehen. So wird auch hier an verschiedener Stelle die Bedeutung des Kongresses der Volksdeputierten hervorgehoben51, doch wird den Unionsrepubliken gleichzeitig die Freiheit eingeräumt, selbst darüber zu entscheiden, ob sie Kongresse der Volksdeputierten einrichten möchten. Dass Kongresse der Volksdeputierten in den Verfassungen der Unionsrepubliken nicht mehr als verbindlich vorgeschrieben sind, ist sicherlich vor dem Hintergrund der Autonomiebestrebungen der Unionsrepubliken zu sehen, die man an das Sowjetregime zu binden sucht, indem man ihnen begrenzte Autonomie gewährt.52 Auch kann es als Zugeständnis an den politischen Spielraum der Unionsrepubliken gedeutet werden, dass auch das Präsidium des Obersten Sowjets nicht mehr automatisch vom Kongress der Volksdeputierten gewählt werden muss, sondern dass vielmehr auf die Bestimmungen der Unionsrepubliken Rücksicht genommen werden muss.53 Für diese Art der Rücksichtnahme auf die Wünsche der einzelnen Nationalitäten ließen sich sicher noch weitere Beispiele anführen, doch mögen diese genügen.

Im Hinblick auf die staatlichen Organe ist bemerkenswert, dass der Oberste Sowjet, dessen Macht 1988 begrenzt wurde, 1989 wieder eine souveränere Politik führen kann, da man ihn von der Rechenschaftspflicht gegenüber dem Kongress der Volksdeputierten entbindet.54 Damit wird gleichzeitig der Vorsitzende des Obersten Sowjets der Rechenschaftspflicht gegenüber dem Obersten Sowjet enthoben und der Wortlaut des Artikels nähert sich dem der Verfassung von 1977 wieder an. Da zudem der Oberste Sowjet der Regierung55 nun das Misstrauen aussprechen kann56, kann man in allem diesem eine Stärkung der Position des Obersten Sowjets und seines Vorsitzenden sehen.

Die Tendenz zur stärkeren Zentralisierung setzt sich auch in den Verfassungsänderungen vom 14.03.1990 fort, weil nun das Amt eines Präsidenten der UdSSR geschaffen wird, der die Aufgaben übernimmt, die zuvor dem Obersten Sowjet zukamen57 und damit weitreichende Vollmachten in der Hand eines Mannes gebündelt werden. Die starke Rolle des Präsidenten zeigt sich auch darin, dass er sich in vielen Fällen ein Vorschlagsrecht vorbehält58 oder Entscheidungen mit seiner Mitwirkung getroffen werden, welche zuvor das entsprechende Organ allein fällen konnte.59 Der Oberste Sowjet dagegen ist ein reines Parlament und dessen Vorsitzender übt nur noch organisatorische Tätigkeiten aus.60

Fast schon erübrigt es sich, zu erwähnen, dass Gorbatschow das Präsidentenamt vom März 1990 bis Dezember 1991 selbst innehatte, er also seine eigene Position selbst gestaltet hat.

An dieser Stelle ist es sinnvoll, Bilanz zu ziehen. Ausgangspunkt war der Versuch zu prüfen, wie in der Phase der Perestrojka das System seine eigenen Grenzen setzt, um Systemwandelprozesse besser erkennen zu können. Bereits an diesen kurzen Ausführungen kann man sehen, dass sich die Strukturen des Systems gewandelt haben, weil staatliche Organe reorganisiert und ihre Zuständigkeitsbereiche verändert wurden. Allein mit Blick auf die staatlichen Organe kann man sich der Forschung jedoch nicht anschließen, die eine Wendung vom Totalitarismus zur Demokratie ausmacht. Denn die Verfassung läuft auf die Bündelung der Entscheidungsbefugnisse hinaus, und, gesetzt den Fall, dass linientreue Kommunisten die Schlüsselpositionen der Regierung besetzen, lässt eigentlich nichts auf die Abkehr Russlands vom Sozialismus schließen. Dazu kommt, dass Zugeständnisse an die separatistischen Tendenzen der Unionsrepubliken eher den Charakter defensiver Modernisierung tragen, also eher als erzwungene Zugeständnisse in einer Krisensituation zu werten sind, denn als angestrebte Politik.

Das mag auch den eigenartigen Umstand erklären, dass auf den erweiterten Redaktionskonferenztagungen der Osteuropa-Experten von 1986 bis 1991 die Verfassungsänderungen überhaupt nicht diskutiert wurden und das Interesse sich dagegen eher an Personenkonstellationen und wechselnden Machtverhältnissen festmachte.

Es wäre allerdings falsch zu sagen, dass es keine demokratische Öffnung gegeben habe, nur findet diese keinen unmittelbaren Ausdruck im Staatsaufbau. Entscheidend ist der Komplex der Ideologie61, der Mentalität, welche das Herzstück der UdSSR bildet. Hier gibt es durchaus Wandelerscheinungen, die sich an der schrittweisen Ablösung von kollektiven Eigentumsformen, an der Einführung marktwirtschaftlicher Methoden und an der Erosion des Einflusses der KPdSU von der „führende[n] und lenkende[n] Kraft der sowjetischen Gesellschaft, der Kern ihres politischen Systems, der staatlichen Organe und gesellschaftlichen Organisationen“62 bis zu ihrer Degradierung zu einer unter anderen Parteien in einem Mehrparteiensystem63 zeigen.

Deswegen ist es im Hinblick auf die Selbstbeschreibung des Systems wichtig, nicht nur den Staatsaufbau zu betrachten, sondern zu untersuchen, wie Gorbatschow selbst das Sowjetregime bezeichnete. Seine Redebeiträge sind sehr aufschlussreich.

[...]


1 Segbers, Klaus: Der sowjetische Systemwandel. Frankfurt/Main 1989, S. 335.

2 Berg-Schlosser, Dirk; Stammen, Theo: Einführung in die Politikwissenschaft. München 2003, S. 161f.

3 Merkel, Wolfgang: Struktur oder Akteur, System oder Handlung. Gibt es einen Königsweg in der sozialwissenschaftlichen Transformationsforschung? In: Ders.: Systemwechsel 1. Theorien, Ansätze und Konzepte der Transitionsforschung. Opladen 1996, S. 322.

4 Berg-Schlosser, Stammen, S. 169.

5 Bos, Ellen: Die Rolle von Eliten und kollektiven Akteuren in Transitionsprozessen. In: Merkel, Wolfgang: Systemwechsel 1. Theorien, Ansätze und Konzepte der Transitionsforschung. Opladen 1996, S. 81-109.

6 Merkel, 304, 321.

7 Sandschneider, Eberhard: Systemtheoretische Perspektiven politikwissenschaftlicher Transformationsforschung. In: Merkel, Wolfgang (Hrsg.): Systemwechsel 1. Theorien, Ansätze und Konzepte der Transitionsforschung. Opladen 1996, S. 42f.

8 Baraldi, Claudio; Corsi, Giancarlo; Esposito, Elena: GLU. Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Frankfurt/Main 1998, S. 195.

9 Abels, Heinz: Einführung in die Soziologie. Bd. 1: Der Blick auf die Gesellschaft. März 2001, S. 224f.

1 0 Berg-Schlosser, Stammen, S. 162.

1 1 Luhmann, Niklas: Die Politik der Gesellschaft. Hrsg. von André Kieserling. Frankfurt/Main 2000, S. 16.

1 2 GLU, S. 184.

1 3 Thierry, Peter: Moderne politische Theorie. In: Mols, Manfred; Lauth, Hans-Joachim; Wagner, Christian (Hrsg.): Politikwissenschaft. Eine Einführung. Paderborn, München, Wien, Zürich 1994, S. 212.

1 4 Luhmann, S. 411f.

1 5 GLU, S. 184.

1 6 Natürlich ist denkbar, dass ein Strukturwandel einem Systemwandel vorausgeht, denn Strukturen erfüllen die Funktion, die Forderungen der Umwelt im politischen System zu Outputs zu verarbeiten und damit das System zu legitimieren und stabilisieren. Gelingt ihnen das nicht, werden sie sich wandeln, gelingt es ihnen dann immer noch nicht, kann ein Systemwandel eintreten.

1 7 GLU, S. 124-127.

1 8 Verfassung der UdSSR von 1977, Art. 73. Dazu Brunner, Georg; Meissner, Boris (Hrsg.): Die Verfassungen der kommunistischen Staaten. Paderborn, München, Wien, Zürich 1979.

1 9 Ebd., Art. 137.

2 0 Ebd., Art. 109.

2 1 Ebd., Art. 108.

2 2 Ebd., Art. 113.

2 3 Ebd., Art. 114.

2 4 Ebd., Art. 125.

2 5 Ebd., Art. 119, 120, 122.

2 6 Ebd., Art. 129.

2 7 Ebd., Art. 128.

2 8 Ebd., Art. 146.

2 9 Ebd., Art. 3.

3 0 Ebd., Art. 96.

3 1 Revidierte Verfassung der UdSSR vom 01.12.1988, Art. 108. Dazu: http://www.verfassungen.de/su/udssr77-leiste.htm; letzter Zugriff am 03.01.2008. Dieser Internetressource sind auch alle weiteren Änderungen an der Verfassung der UdSSR von 1977 entnommen.

3 2 Ebd., Art. 91, 108.

3 3 Ebd., Art. 109.

3 4 Ebd., Art. 91.

3 5 Ebd., Art. 120, 108.

3 6 Ebd., Art. 118.

3 7 Ebd., Art. 137.

3 8 Meissner, Boris: Gorbatschows Umbau des Sowjetsystems I. In: Osteuropa. Zeitschrift für Gegenwartsfragen des Ostens 39.2 (1989), S. 616.

3 9 Revidierte Verfassung der UdSSR vom 01.12.1988, Art. 113.

4 0 Ebd., Art. 114.

4 1 Ebd., Art. 118.

4 2 Ebd., Art. 120, 121.

4 3 Verfassung der UdSSR von 1977, Art. 121.

4 4 Revidierte Verfassung der UdSSR vom 01.12.1988, Art. 113; Meissner I, S. 617.

4 5 Ebd., Art. 120; Meissner I, S. 616.

4 6 König, Helmut: Vom Aufbruch zum Umbruch? Zur jüngsten Entwicklung in der Sowjetunion und in Osteuropa. Bericht über die erweitere Redaktionskonferenz 1989. In: Osteuropa 39.2 (1989), S. 825.

4 7 Meissner I, S. 615.

4 8 Ders., ebd.

4 9 Ders., ebd., S. 616f.

5 0 König, Helmut: Ein Jahr Gorbatschow. Bericht über die erweitere Redaktionskonferenz 1986. In: Osteuropa 36.2 (1986), S. 837ff.; Meissner I, S. 603ff., Ders.: Gorbatschows Umbau des Sowjetsystems III. In: Osteuropa 39.2 (1989), S. 874, 877. Im ähnlichen Sinn nominierte die KPdSU perestrojkatreue Delegierte für den Kongress der Volksdeputierten. Dazu Meissner, Boris: Gorbatschows Umbau des Sowjetsystems II. In: Osteuropa 39.2 (1989), S. 705ff.

5 1 Revidierte Verfassung der UdSSR vom 20.12.1989, Art. 91, 137.

5 2 Dazu Ebd., Art. 138.

5 3 Ebd., Art. 91.

5 4 Ebd., Art. 144.

5 5 D.h. dem Ministerkabinett der UdSSR; dazu Revidierte Verfassung der UdSSR vom 14.03.1990, Art. 77.

5 6 Revidierte Verfassung der UdSSR vom 20.12.1989, Art. 130.

5 7 Revidierte Verfassung der UdSSR vom 14.03.1990, Art. 127c. Vgl. mit der Revidierten Verfassung der UdSSR vom 01.12.1988, Art. 113.

5 8 Revidierte Verfassung der UdSSR vom 14.03. und 26.12. 1990, Art. 113.

5 9 Revidierte Verfassung der UdSSR vom 14.03.1990, Art. 125.

6 0 Ebd., Art. 119.

6 1 Dazu auch Buchholz, Arnold: Perestrojka und Ideologie. Grundsatzfragen von Systemerhaltung und Systemwandel in der Sowjetunion. In: Osteuropa. Zeitschrift für Gegenwartsfragen des Ostens 37.2 (1987), S. 574.

6 2 Verfassung der UdSSR von 1977, Art. 6.

6 3 Revidierte Verfassung der UdSSR vom 14.03.1990, Art. 6.

Ende der Leseprobe aus 43 Seiten

Details

Titel
Russische Gewerkschaften und das System Sowjetunion in der Perestrojka
Untertitel
Versuch einer Annäherung aus systemtheoretischer Sicht
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg  (Historisches Seminar)
Veranstaltung
Zwischen defensiver Modernisierung und Systemwandel. Reformversuche in Russland von Alexander II. bis Gorbatcev
Note
1,5
Autor
Jahr
2008
Seiten
43
Katalognummer
V115131
ISBN (eBook)
9783640165346
ISBN (Buch)
9783640165391
Dateigröße
529 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Russische, Gewerkschaften, System, Sowjetunion, Perestrojka, Zwischen, Modernisierung, Systemwandel, Reformversuche, Russland, Alexander, Gorbatcev
Arbeit zitieren
Sonja Riedel (Autor:in), 2008, Russische Gewerkschaften und das System Sowjetunion in der Perestrojka, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/115131

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