Soziale Ordnungen im Spiegel der Märchen


Hausarbeit (Hauptseminar), 2007

21 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Realitätsbezüge im Märchen

3 Das soziale Milieu der Märchen und Märchenträger
3.1 Die soziale Position der Märchenträger seit dem späten 18. Jahrhundert
3.2 Das soziale Milieu der Märchenhelden
3.3 Der Märchenalltag als Spiegel der sozialen Wirklichkeit der Erzähler
3.4 Die Welt des Hofes als Spiegel der sozialen Wirklichkeit der Erzähler

4 Der soziale Aufstieg des Helden als zentrales Thema des Märchens

5 Sozialkritik im Märchen
5.1 Märchenvarianten vom starken Hans
5.2 Märchenvarianten vom Gevatter Tod
5.3 Märchenvarianten von der klugen Bauerntochter
5.4 Umformungsprozesse als Spiegel gesellschaftlicher Bedingungen

6 Sozialisation im und durch das Märchen
6.1 Die Thematisierung der Sozialisation im Märchen
6.2 Märchen als Sozialisationsmittel

7 Schluss

8 Literatur

1 Einleitung

„...und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“

Mit diesem Satz enden sehr viele Märchen. Ein Satz, der darauf hinweist, dass Märchen in der Regel einen glücklichen Schluss haben, dass die Bösen bestraft und die Guten belohnt werden. Ein Satz, der jedoch auch das Zeitlose dieses Erzählgenres impliziert. Die Märchenhandlung „war einmal“[1] und die Helden leben vielleicht noch heute. Jahreszahlen werden genauso wenig genannt wie genaue Ortsbezeichnungen.

Hinzu kommt, dass Hexen, sprechende Tiere, Zauberer, Riesen und Fabelwesen im Märchen ebenso selbstverständlich sind wie Verwandlungen und andere Wunder. Kurz: Die Märchenwelt ist eine phantastische Welt, die auf dem ersten Blick nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben scheint.

Auf der anderen Seite sind es jedoch Menschen, die Märchen gestalten, erzählen und tradieren. Reale Menschen mit einem realen Leben in einer realen Welt. Es ist geradezu unvorstellbar, dass diese ihre soziale Wirklichkeit nicht in die Erzählinhalte einbringen.

Mit genau dieser Thematik beschäftigt sich die vorliegende Arbeit, die den Titel „Soziale Ordnungen im Spiegel der Märchen“ trägt. Da es sich dabei um ein sehr weites Forschungsfeld handelt, wird versucht, sich unter möglichst unterschiedlichen Aspekten mit der Fragestellung auseinanderzusetzen.

So soll in einem ersten Punkt zunächst das bereits angesprochene Problem der Realitätsbezüge untersucht werden. Sind Märchen tatsächlich so phantastisch und unwirklich wie oft angenommen oder enthalten sie realistische Elemente, die über das soziale Leben der Märchenträger Aufschluss geben können?

Das zweite Kapitel setzt sich mit dem sozialen Milieu im Märchen und dem der Erzähler beziehungsweise Hörer auseinander. Dabei wird sich herausstellen, dass seit dem späten 18. Jahrhundert insbesondere Menschen aus den unteren gesellschaftlichen Bevölkerungsschichten als Märchenträger fungierten. Anhand unterschiedlicher Beispiele soll gezeigt werden, dass sich das soziale Milieu der Trägergruppen sowohl in der Charakterisierung des Helden als auch in der Beschreibung des täglichen Lebens und in der Darstellung der höfischen Welt im Märchen widerspiegelt.

Zentrales Thema sehr vieler Märchen ist der soziale Aufstieg des Helden. Ob dieser König wird oder lediglich ein eigenes Grundstück bekommt, hängt wiederum von der sozialen Wirklichkeit der Märchenträger ab. Je größer die gesellschaftliche Not, desto realistischer wird der soziale Aufstieg in der Regel dargestellt.

Im vierten Punkt der Arbeit geht es um sozialkritische Aspekte im Märchen. Anhand der Märchenvarianten vom starken Hans, vom Gevatter Tod und von der klugen Bauerntochter soll exemplarisch gezeigt werden, dass sowohl direkte als auch indirekte Kritik an bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen zentraler Bestandteil vieler Märchen ist. Mit der Frage, warum in einigen Sammlungen sozialkritische Aspekte nicht aufgenommen oder im Nachhinein abgeschwächt wurden, beschäftigt sich dabei ein eigener Abschnitt.

Der letzte Punkt setzt sich schließlich mit der Sozialisation im und durch das Märchen auseinander. Dabei geht es insbesondere um die Frage, inwieweit im Märchen die persönliche Entwicklung des Helden thematisiert wird. Zudem soll gezeigt werden, wie Märchen seit dem 17. Jahrhundert als Sozialisationsmittel eingesetzt wurden und werden.

Ein Blick auf die Literatur zeigt, dass sich bisher nur wenige Autoren explizit mit dem Thema „Soziale Ordnungen im Spiegel der Märchen“ auseinandergesetzt haben. Zwar existiert eine gleichnamige Publikation[2], bestehend aus zwei Bänden, doch erscheint diese Untersuchung aufgrund ihrer offensichtlich an populärwissenschaftlichen Maßstäben orientierten Methodik, Auswertung und Interpretation völlig ungeeignet als Basis der vorliegenden Arbeit. Vielmehr wurden zur Erarbeitung zentraler Thesen Werke renommierter Märchenforscher, insbesondere „Märchen und Wirklichkeit“ von Lutz Röhrich[3] sowie die Habilitationsschrift „Der soziale Gehalt und die soziale Funktion der deutschen Volksmärchen“ von Waltraud Woeller[4], ausgewertet. Zudem dienten verschiedene Beiträge der „Enzyklopädie des Märchens“[5] als grundlegende Literatur. Die verwendeten Märchenbeispiele wurden überwiegend unterschiedlichen Ausgaben der Grimmschen „Kinder- und Hausmärchen“[6], der Sammlung „Plattdeutsche Volksmärchen aus Ostpreußen“ von Hertha Grudde[7] sowie der von Waltraud Woeller herausgegebenen Publikation „Deutsche Volksmärchen von arm und reich“[8] entnommen.

2 Realitätsbezüge im Märchen

Wie bereits in der Einleitung konstatiert, wird Märchen, insbesondere Zaubermärchen, in der Regel ein sehr geringer Realitätsbezug zugeschrieben.[9] Typisch sind diesbezüglich Begriffsbestimmungen und Aussagen wie: „Unter einem Märchen verstehen wir eine mit dichterischer Phantasie entworfene Erzählung besonders aus der Zauberwelt, eine nicht an die Bedingungen des wirklichen Lebens geknüpfte wunderbare Geschichte.“[10] Das Märchen biete „phantastisch wunderbare Begebenheiten, die sich in Wahrheit nicht ereignet haben und nie ereignen konnten, weil sie Naturgesetzen widerstreiten.“[11] Oder: „Ihre Handlung [der Märchen] vollzieht sich weithin in einer Welt des Wunderbaren, in der alles möglich erscheint, ohne daß man Anstoß daran nimmt oder das phantastische Geschehen in Frage stellt.“[12]

Tatsächlich finden Leser und Hörer zahlreiche Beispiele für das Übernatürliche und Phantastische der Märchenwelt. So wundert sich niemand über sprechende und wie Menschen agierende Tiere, über Gestalten des Jenseits, die ganz selbstverständlich Kontakt zu lebenden Personen aufnehmen, oder über Verwandlungen von Tier zu Mensch und umgekehrt.

Soll das Märchen jedoch in seinem gesamten Spektrum bestimmt und verstanden werden, reichen Definitionen wie „unwirklich“ oder „wunderbar“ nicht aus, da auch das Phantastische seine Grenzen hat. Es gibt Dinge, die selbst im Zaubermärchen unwirklich erscheinen würden.[13] Lutz Röhrich, einer der renommiertesten Forscher auf diesem Gebiet, kommt sogar zu dem Schluss, dass es „gerade das Eigentümliche am Märchen“ sei, „daß es nicht so stark von der Realität abweicht, daß man es nicht noch gerne glauben möchte.“[14]

So ist das Phantastische, wenn nicht glaubwürdig, so doch sinnvoll in dem Sinn, dass es „die Ordnung und Harmonie der Märchenwelt nicht beeinträchtigt“.[15] Vielmehr folgt es einer bestimmten Logik.

Darüber hinaus ist jedes Volksmärchen aber auch direkt mit der Wirklichkeit verbunden. Die Helden sind in der Regel keine übernatürliche Wesen, sondern reale Menschen wie Könige, Prinzessinnen, Stiefmütter, Handwerker oder Bauern. Auch der Ausgangspunkt des Märchens ist meist eine real-mögliche Situation.[16] „Erst im Verlauf der Erzählung wird dann die äußere Wirklichkeit verlassen, zu der aber die Handlung am Schluß vielfach wieder zurückkehrt.“[17] Märchen geben häufig Erfahrungen wieder, zeigen realistische Konflikte und berichten von privaten sowie gesellschaftlichen Verhältnissen.[18]

Zusammenfassend kann in Bezug auf den Realitätsgehalt im Märchen festgehalten werden, dass „real-mögliche und real-unmögliche Geschehnisse“[19] nebeneinander stehen. „So ist das Volksmärchen phantastisch und realistisch zugleich, und diese Mischung macht einen wichtigen Teil seines Wesens aus.“[20]

Die real-möglichen Elemente des Märchens können Aufschluss geben über das soziale Milieu, soziale Ordnungen und Sozialkritik aus Sicht der jeweiligen Märchenträger, zu denen sowohl Erzähler und Gestalter als auch Hörer und Leser gehören. Letztere haben insofern Einfluss auf Märcheninhalte, als sie diese akzeptieren oder ablehnen können.[21]

3 Das soziale Milieu der Märchen und Märchenträger

3.1 Die soziale Position der Märchenträger seit dem späten 18. Jahrhundert

Die Märcheninhalte und ihre Verortung in ein bestimmtes soziales Milieu hängen vor allem „von den Lebensumständen der Trägerschichten und ihrer Stellung in der Gesellschaft ab“.[22] So kann das soziale Milieu der Märchenträger als Grundlage für die Realitätsbezüge in den Erzählungen angesehen werden. Mit anderen Worten: Märchen reflektieren unterschiedlich deutlich die Lebensverhältnisse und Anschauungen der jeweiligen Trägergruppen.[23] Dabei ist davon auszugehen, dass es sich in den meisten Fällen „um eine unbewußte Anpassung des Erzählers an die Wirklichkeit, in der er lebt“,[24] handelt.

Setzt man sich mit der Darstellung des sozialen Milieus im Märchen auseinander, ist demnach die Untersuchung von Beruf und gesellschaftlicher Position der Trägergruppen ein erster Schritt.[25] Ein Problem, das sich in diesem Zusammenhang ergibt, ist, dass die Märchensammlungen des 18., 19. und des beginnenden 20. Jahrhundert – anders als heute gefordert und üblich – in der Regel keine detaillierten Angaben zu Erzähler und Erzählsituation enthalten.[26] So müssen, wo dies möglich ist, die betreffenden Informationen „aus den beigefügten Vorworten, Anmerkungen und gelegentlichen Hinweisen erschlossen werden.“[27] Eine Auswertung dieser Angaben ergibt, dass seit dem späten 18. Jahrhundert, insbesondere aber seit Mitte des 19. Jahrhunderts, hauptsächlich Vertreter der unteren sozialen Bevölkerungsschichten als Märchenträger fungieren.[28] Darunter finden sich sehr häufig Kleinbauern, Knechte, Dienstmädchen, Tagelöhner, Fischer, Hirten, Wald- und Fabrikarbeiter sowie Wanderhandwerker wie Maurer, Schuster und Schneider.[29] „Diese wählten in der Regel nicht nur die Helden ihrer Erzählungen unter ihresgleichen, sondern zeichneten auch das Milieu nach, dem sie entstammten beziehungsweise in dem sie agierten.“[30]

[...]


[1] Viele Märchen beginnen mit der bekannten Formel „Es war einmal...“.

[2] Nitschke, August: Soziale Ordnungen im Spiegel der Märchen. Stuttgart, Bad Canstatt 1976/77.

[3] Röhrich, Lutz: Märchen und Wirklichkeit. 4., unveränderte Auflage. Wiesbaden 1979.

[4] Woeller, Waltraud: Der soziale Gehalt und die soziale Funktion der deutschen Volksmärchen. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 10. I. Teil: Heft 4/5 (1961), S. 395-459; II. Teil: Heft 2 (1962), S. 281-307.

[5] Brednich, Rolf Wilhelm (Hg.): Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Begründet von Kurt Ranke. Berlin, New York 1977-2006.

[6] Grimm, Jacob/Grimm Wilhelm (Hgg.): Kinder- und Hausmärchen. Vergrößerter Nachdruck der zweibändigen Erstausgabe von 1812 und 1815 nach dem Handexemplar des Brüder Grimm-Museums Kassel mit sämtlichen handschriftlichen Korrekturen und Nachträgen der Brüder Grimm. Band 1. Göttingen 1986; Grimm Jacob/Grimm Wilhelm (Hgg.): Kinder- und Hausmärchen. Gesamtausgabe. Bindlach 2006.

[7] Grudde, Hertha (Hg.): Plattdeutsche Volksmärchen aus Ostpreußen. Nachdruck der Ausgabe Königsberg 1931. Hildesheim, Zürich, New York 1985.

[8] Woeller, Waltraud (Hg.): Deutsche Volksmärchen von arm und reich. 5. Auflage. Berlin 1979.

[9] Vgl. Neumann, Realitätsbezüge, Sp. 388.

[10] Bolte, J./Polivka, G.: Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Band 4. Leipzig 1930, S. 4. Zitiert nach Röhrich: Märchen und Wirklichkeit, S. 1.

[11] Bolte, J.: Name und Merkmale des Märchens. Helsinki 1920, S. 38. Zitiert nach Röhrich: Märchen und Wirklichkeit, S. 1.

[12] Neumann: Realitätsbezüge, Sp. 388.

[13] Vgl. Röhrich: Märchen und Wirklichkeit, S. 2f.

[14] Röhrich: Märchen und Wirklichkeit, S. 3.

[15] Röhrich: Märchen und Wirklichkeit, S. 3.

[16] Vgl. Röhrich: Märchen und Wirklichkeit, S. 3.

[17] Röhrich: Märchen und Wirklichkeit, S. 3.

[18] Vgl. Wollenweber: Märchen und Sprichwort, S. 19.

[19] Röhrich: Märchen und Wirklichkeit, S. 3.

[20] Röhrich: Märchen und Wirklichkeit, S. 3.

[21] Vgl. Woeller: Der soziale Gehalt, S. 414.

[22] Neumann: Soziales Milieu, Sp. 918.

[23] Vgl. Neumann: Soziales Milieu, Sp. 918.

[24] Röhrich: Märchen und Wirklichkeit, S. 209.

[25] Vgl. Röhrich: Märchen und Wirklichkeit, S. 207.

[26] Vgl. Woeller: Der soziale Gehalt, S. 456.

[27] Woeller: Der soziale Gehalt, S. 456.

[28] Vgl. Neumann: Soziales Milieu, Sp. 919; Röhrich: Märchen und Wirklichkeit, S. 209; Woeller: Der soziale Gehalt, S. 456.

[29] Vgl. Neumann: Soziales Milieu, Sp. 919; Röhrich: Märchen und Wirklichkeit, S. 207ff.; Woeller: Der soziale Gehalt, S. 456.

[30] Neumann: Soziales Milieu, Sp. 919.

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Soziale Ordnungen im Spiegel der Märchen
Hochschule
Otto-Friedrich-Universität Bamberg
Veranstaltung
S: Märchen als volkskundliche Erzählform: Forschungsgeschichte, Typen und Motive
Note
1,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
21
Katalognummer
V115017
ISBN (eBook)
9783640163076
ISBN (Buch)
9783640164493
Dateigröße
474 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Soziale, Ordnungen, Spiegel, Märchen, Erzählform, Forschungsgeschichte, Typen, Motive
Arbeit zitieren
Ann-Kathrin Thoennes (Autor:in), 2007, Soziale Ordnungen im Spiegel der Märchen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/115017

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