Brechts Theatertheorie der Verfremdung

Und deren Anwendung im "Leben des Galilei"


Hausarbeit, 2004

19 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhalt

1. Einführung

2.1. Kritik des aristotelischen Theaters
2.2. Theorie der Verfremdung
2.3. Mittel der Verfremdung
2.4. Historisierung
2.5. Unterhaltungstheater – Lehrtheater

3.1. Leben des Galilei – Entstehung
3.2. Epische Elemente in Leben des Galilei
3.3. Historisierung in Leben des Galilei
3.4. Einfühlung und Distanz in Leben des Galilei

4. Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einführung

„Der heutige Mensch, lebend in einer sich rapid ändernden Welt und sich selber rapid ändernd, hat kein Bild dieser Welt, das stimmt und auf Grund dessen er mit Aussicht auf Erfolg handeln könnte.“[1]

Bertolt Brecht ist der Überzeugung, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Wissenschaft der Gesellschaft gegenüber der Wissenschaft der Natur erheblich im Verzug ist.

Das Theater soll dazu dienen den Menschen ein „praktikables Weltbild“[2] zu vermitteln. Die bestehende Theaterlandschaft mit langer Tradition, festen Formen und Darstellungsmitteln, die von bürgerlichen Theoretikern entwickelt worden waren, ist aber dazu nicht geeignet.

Brecht schließt daraus, dass es mit den alten, eingefahrenen dramatischen. Mitteln nicht möglich sei, aktuelle Probleme wie Krieg und Klassenkämpfe auf der Bühne darzustellen:

„Zunächst stellte sich heraus, daß das Theater, als bloße Maschinerie betrachtet, technisch auf dem Stand geblieben war, den es etwa um 1830 erreicht hatte.“[3]

Im ersten Teil der vorliegenden Arbeit möchte ich mich den Konsequenzen widmen, die Brecht vollzieht: dem radikalen Bruch mit der Tradition der Dramatik und Erarbeitung einer Dramentheorie, die er selbst episch oder anti-aristotelisch nennt.

Der zweite Teil versucht die Frage zu beantworten, in wieweit sich diese Theorie in der Umsetzung des Leben des Galilei widerspiegelt, einem Stück, das von den bürgerlichen Kritikern des brechtschen V-Effektes gerade wegen dessen scheinbaren Fehlen positiv rezensiert wurde.

2.1. Kritik des aristotelischen Theaters

In seiner Kritik der aristotelischen Theaterkonzeption wendet sich Brecht weniger gegen die strikt geforderten drei Einheiten von Zeit, Ort und Handlung, sondern gegen das Mittel der Katharsis, das auch Lessing aufgenommen hat:

„Der Zuschauer soll sich mit dem Dargestellten identifizieren und durch die Katharsis zu einem humanen Menschen veredelt werden.“[4]

Die von Aristoteles in der „Poetik“ beschriebene Einfühlung wird so ein entscheidendes Element des bürgerlichen Theaters in Europa.

Der Schauspieler verwandelt sich während seines Auftrittes vollständig in den Helden, versucht das Bühnengeschehen möglichst real darzustellen und mittels dieser Mimesis wird der Zuschauer in die Position gebracht, die vorgetäuschte Wirklichkeit als die Wirklichkeit selber anzuerkennen.

Die gleichen Gefühle und Erfahrungen, die der Schauspieler auf der Bühne präsentiert, werden zu eigenen Gefühlen und Erfahrungen, der Zuschauer soll sich mit dem Helden identifizieren und somit eine Katharsis, eine seelische Läuterung durch Furcht und Mitleid, herbeigeführt werden. Doch je mehr das Publikum zum Mitfühlen gebracht wird, desto weniger hat es die Möglichkeit, die dargestellten Vorgänge selbst zu reflektieren und zu kritisieren, selbst zu denken und daraus zu lernen.

So betrachtet es Brecht, der viele Experimente anderer Stückeschreiber beobachtet, als

„das größte aller denkbaren Experimente“[5]

die Einfühlung selbst aufzugeben.

An ihre Stelle soll Distanz als Voraussetzung für kritische Betrachtung gesetzt werden, der Zuschauer nicht

„aus seiner Welt in die Welt der Kunst entführt, (…) [sondern] in seine reale Welt eingeführt werden“[6]

er soll nicht eingelullt, sondern aufgerüttelt und -geweckt werden.

Doch bedeutet dieser bewusste Verzicht auf die Einfühlung nicht gleichzeitig einen Verzicht auf Emotionen, wie Brecht von Kritikern vorgeworfen wurde. Denn die Verlagerung von Gefühl auf Vernunft ist, wie Brecht selbst immer wieder beteuert, eine „Akzent- oder Gewichtsverschiebung“[7]. Die Änderungen seien theater- immanenter Art, wobei

„eine Unmasse von alten Regeln (…) natürlich ganz unverändert“ bleibt.[8]

2.2. Theorie der Verfremdung

Mit dem Verzicht auf die Einfühlung will Brecht den Zuschauern eine untersuchende, kritische Haltung gegenüber dem Bühnengeschehen ermöglichen; statt Illusionen zu schaffen, verdeutlichen, dass die dargestellten Vorgänge nicht tragisch und unveränderbar sind.

Die von Brecht entwickelte Theatertheorie der Verfremdung dient als Mittel zur praktischen Umsetzung dieser Ideen, wobei auch Brecht, wie er selber bekennt, natürlich Quellen für seine Konzeption hat:

„…lese ich nach die Darstellungen anderer Völker und Zeitalter. (…) genau prüfend die jeweilige Technik…“[9]

Auf Brechts Bühne soll alles scheinbar

„Natürliche (…) das Moment des Auffälligen bekommen.“[10]

Dargestellte Vorgänge sind nicht selbstverständlich, sondern erklärungsbedürftig, diese Technik, die Verfremdung, soll beim Zuschauer Neugier und Staunen auslösen. In seinem Spiel muss der Schauspieler verdeutlichen, dass das Verhalten seiner Rollenfigur nicht als die einzig mögliche Reaktion, sondern als eine von vielen möglichen erkannt wird.

„Das, was er nicht macht, muß in dem enthalten und aufgehoben sein, was er macht.“[11]

Dieses Vorgehen nennt Brecht das Fixieren des Nicht-Sondern.

Die Figur auf der Bühne ist abhängig von den Verhältnissen, in denen sie sich befindet – das Sein bestimmt das Bewusstsein – aber sowohl Figur als auch Verhältnisse sind auch anders denkbar. So wird der Zuschauer mit einer veränderbaren Welt konfrontiert und soll daraus Konsequenzen für seine eigenen politischen Entscheidungen treffen.

Der Gegensatz zum dramatischen Theater ist augenfällig: während dieses zur Identifikation mit dem Helden einlädt, bietet das epische Theater dem Zuschauer die Möglichkeit, seinen Standpunkt selbst zu wählen; er ist nicht passiver Rezipient, sondern wird zum aktiven Denken und Handeln aufgefordert. So wird die Aktivität geweckt, statt verbraucht, es werden keine Erlebnisse der Protagonisten, sondern Erkenntnisse über das wirkliche Leben vermittelt, statt mit Suggestion arbeitet Brecht mit Argumenten.[12]

Dabei sollen die Schauspieler erklärtermaßen vermeiden, ihre Rolle besonders lebensecht darzustellen und die Betrachter in den Bann zu ziehen, ganz im Gegenteil: die 4. Wand, die Begrenzung zwischen Publikum und Bühne, soll niedergerissen werden.

Das Theater soll niemals verbergen, dass es Theater ist,

„ Kurz gesagt: der Schauspieler muß Demonstrant bleiben; er muß den Demonstrierten als eine fremde Person wiedergeben…“[13]

2.3. Mittel der Verfremdung

Um zu verhindern, dass es auf der Bühne zur restlosen Verwandlung des Darstellers in die darzustellende Person kommt, musste also das Bühnengeschehen verfremdet werden. Brecht benutzte dazu verschiedene Mittel, die er in der Neuen Technik der Schauspielkunst beschreibt.

Die Voraussetzung ist, dass der Schauspieler selbst in der Vorbereitung seiner Rolle das Stück

„in der Haltung des Staunenden und Widersprechenden“[14]

liest, kritisch und selbstkritisch soll er das Verhalten seiner Rollenfigur untersuchen.

So rät er den Schauspielern bei der Probe zur Überführung in die dritte Person und in die Vergangenheit sowie zum Mitsprechen von Regieanweisungen. So soll eine distanzierte Haltung aufgebaut werden.

Als konkreten Rat spricht Brecht außerdem aus, die Versform des Stückes bei Proben in einfacher Prosa wiederzugeben, welche, zu einer noch stärkeren Verfremdung, auch mit dem Dialekt des Schauspielers gesprochen werden kann.

Bei der eigentlichen Aufführung benutzt das epische Theater die so genannten Verfremdungseffekte (V-Effekte), die Distanz - als das Gegenmittel zur Einfühlung - schaffen.

Sie sollen die Illusionen brechen und können z.B. aus einem Ansager, oder kommentierenden Erzähler bestehen. Andere Mittel des epischen Theaters sind zusätzliche Informationen durch Spruchbänder, Plakate, Chöre oder Projektionen.

Vor allem aber stellt Brecht immer wieder sich selbst und seine Werke in Frage, legt diese nicht in die Schublade und lässt sie dort verstauben, sondern überarbeitet Geschriebenes stets neu – das Leben des Galilei etwa existiert in drei verschiedenen Versionen.

Ähnlich der Figur des Galilei hinterfragt also auch Brecht alles, Anna Seghers schreibt dazu in einem Essay:

„Brecht sagte einmal zu mir, ich dürfe keinen einzigen Satz nachlässig schreiben. (…) Man dürfe keinen Satz stehen lassen, ohne ihn noch und noch einmal zu prüfen.“[15]

[...]


[1] BRECHT, Bertolt: Werke Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe [ im Folgenden: Berliner und Frankfurter Ausgabe ] Band 22, S. 548.

[2] Berliner und Frankfurter Ausgabe Band 22, S. 550.

[3] BRECHT, Bertolt: Gesammelte Werke in 20 Bänden [ im Folgenden: GW ] GW 15 S. 237.

[4] LESSING, Gotthold Ephraim: Hamburgische Dramaturgie, S.313.

[5] BRECHT, Bertolt: GW 15, S.300.

[6] BRECHT, Bertolt: GW 15, S.301.

[7] GRIMM, Reinold: Der katholische Einstein: Brechts Dramen- und Theatertheorie, S. 25.

[8] GW 16, S. 816 .

[9] GW 9, S.789.

[10] GW 15, S.265.

[11] GW 15, S.343.

[12] Vgl. GW 17, S. 1009-1010.

[13] GW 16, S. 553.

[14] GW 15, S.343.

[15] WITT, Hubert: Erinnerungen an Brecht, S. 284.

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Details

Titel
Brechts Theatertheorie der Verfremdung
Untertitel
Und deren Anwendung im "Leben des Galilei"
Hochschule
Universität Trier
Veranstaltung
Brecht
Note
2,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
19
Katalognummer
V114767
ISBN (eBook)
9783640162192
ISBN (Buch)
9783640164004
Dateigröße
467 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Brechts, Theatertheorie, Verfremdung, Brecht
Arbeit zitieren
Lena Otter (Autor:in), 2004, Brechts Theatertheorie der Verfremdung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/114767

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