Prospekthaftung und Kapitalerhaltung


Studienarbeit, 2006

39 Seiten, Note: 13 Punkte


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

A. Einleitung: Problemaufriss
I. Der Kapitalerhaltungsgrundsatz
II. Kapitalmarktinformationshaftung (Prospekthaftung)
1. §§ 44, 45 BörsG
2. §§ 13, 13 a VerkProspG
3. §§ 37 b, c WpHG
4. Bürgerlich-rechtliche Ansprüche
III. Konflikt zwischen Anleger- und Gläubigerschutz

B. Diskussionsstand
I. Kein Konflikt mangels Aktionärsstellung im Zeitpunkt der Pflichtverletzung?
II. Ausnahmsweise zulässiger Erwerb eigener Aktien gem. §§ 57 I 2, 71 I Nr. 1 AktG?
III. Die zwei grundsätzlichen Gegenpositionen
1. Absoluter Vorrang der Kapitalerhaltung
2. Absoluter Vorrang der Kapitalmarktinformationshaftung (Prospekthaftung)
a) Rechts- und wirtschaftspolitische Argumente
b) Lex specialis derogat legi generali
c) Der Aktionär als Drittgläubiger?
d) Das Zufälligkeitsargument des BGH
e) Besondere Schutzbedürftigkeit des Anlegers
3. Stellungnahme zu den grundsätzlichen Gegenpositionen
IV. Zwischenergebnis
V. Vermittelnde Ansichten
1. Differenzierung nach Art des Erwerbs
a) Originärer Erwerb
b) Derivativer Erwerb
c) Mittelbares Bezugsrecht als originärer oder derivativer Erwerb?
aa) Originärer Erwerb
bb) Derivativer Erwerb
cc) Stellungnahme
2. Lösung des Konflikts auf der Rechtsfolgenseite
a) Begrenzung der Haftung auf das freie Vermögen
b) Begrenzung auf 10 % des Grundkapitals analog § 71 II 1 AktG
c) Insolvenzrechtlicher Rangrücktritt
d) Keine Haftung bei Regressmöglichkeit
e) Die Ansicht C. Schäfers
f) Die Ansicht Zieglers
aa) Verstoß gegen § 71 AktG
bb) Kein Verstoß gegen § 57 AktG
VI. Bewertung und Stellungnahme
1. Unzulänglichkeiten der vermittelnden Ansichten
a) Keine Haftungsbeschränkung
b) Zufallsergebnisse nach der Ansicht Zieglers
c) Irrelevanz bestehender Regressmöglichkeiten
d) Kein Rangrücktritt in der Insolvenz
2. Praktische Irrelevanz der reichsgerichtlichen Differenzierung
3. Der Aktionär als Drittgläubiger
4. Keine verbandsrechtlichen Beschränkungen
VII. Kein Verstoß gegen Kapitalerhaltungsvorschriften bei Haftungsfreistellung

C. Zusammenfassung

A. Einleitung: Problemaufriss

Zwischen den folgenden zwei konträren Aussagen des Reichsgerichts einerseits und des Bundesgerichtshofs andererseits liegen mehr als hundert Jahre. Dennoch könnten sie den Konflikt, der seit dieser Zeit Rechtsprechung und Wissenschaft beschäftigt, kaum treffender widerspiegeln.

„Die (…) zum Schutze des mit der Aktiengesellschaft kontrahierenden Publikums (…) getroffenen Vorschriften, können auch nicht dadurch außer Wirksamkeit gesetzt werden, daß im Einzelfalle ein Aktionär durch schuldhaftes Verhalten der Gesellschaftsorgane zu seiner Beteiligung veranlaßt worden ist“.[1]

Es „…besteht (…) bei der kapitalmarktbezogenen (…) Beeinträchtigung der Willensfreiheit des Anlegers durch das Leitungsorgan kein Anlass, die Gesellschaft wegen des aktienrechtlichen Vermögensbindungsgrundsatzes von jeglicher Ersatzverpflichtung freizustellen…“.[2]

I. Der Kapitalerhaltungsgrundsatz

§ 57 AktG besagt, dass den Aktionären die Einlagen nicht zurückgewährt werden dürfen. Dabei kommt es nach einhelliger Meinung nicht auf die Rückgewähr der ursprünglich geleisteten Einlagen an.[3] § 57 AktG ist vielmehr als umfassendes Verbot jeder wertmäßigen Beeinträchtigung des Gesellschaftsvermögens zu verstehen. Umfasst ist jede Leistung, die aufgrund der mitgliedschaftlichen Beziehung zur AG gewährt wird (causa societatis) und die nicht innerhalb des ausgewiesenen und festgestellten Bilanzgewinns erfolgt bzw. gesetzlich zugelassen ist.[4] Anders als bei der GmbH ist also hier nicht nur das statutarische Grundkapital vor Ausschüttungen geschützt.[5] Damit stellt diese Vorschrift die tragende Säule des aktienrechtlichen Gläubigerschutzes dar, indem sie das Gesellschaftsvermögen vor dem Zugriff der Aktionäre schützt und so dafür Sorge trägt, dass den Gläubigern der AG die einmal aufgebrachte Haftungsmasse als Kompensation für die fehlende persönliche Haftung der Aktionäre auch tatsächlich erhalten bleibt.[6]

Flankiert wird dieses Prinzip der Kapitalerhaltung unter anderem durch die Vorschriften der §§ 71 ff. AktG. Der Erwerb eigener Aktien durch die AG ist ebenfalls als grundsätzlich unzulässige Einlagenrückgewähr anzusehen (vgl. § 57 I 2 AktG), weil die Zahlung des Erwerbspreises außerhalb des Bilanzgewinns erfolgt.[7] Der Ratio legis entsprechend fällt unter das Erwerbsverbot damit jeder Übergang von Aktien auf die AG, gleich, ob er willentlich, oder kraft Gesetzes erfolgt.[8] Von diesem unzulässigen Rückerwerb eigener Aktien normiert § 71 AktG einige wenige Ausnahmen. Die Vorschrift dient damit ebenfalls dem Kapitalschutz zu Gunsten der Gesellschaftsgläubiger.[9]

II. Kapitalmarktinformationshaftung (Prospekthaftung)

Neben der Sicherung der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarktes dienen kapitalmarktbezogene Informationspflichten auch dem für die Funktionsfähigkeit notwendigen Anlegerschutz.[10] Die Tatsache, dass auf informationseffizienten Märkten die Kurse von der derzeitigen Informationslage abhängen, erfordert es, diejenigen, die über diese Informationen verfügen, dazu zu veranlassen, die Gesamtheit der gegenwärtigen und zukünftigen Anleger mit allen kursrelevanten Informationen zu versorgen.[11] So sollen bestehende Informationsasymmetrien ausgeglichen werden. Diesem Zweck dienen die Informationspflichten, die der Gesetzgeber vor allem dem Emittenten als „cheapest cost avoider“[12] auferlegt hat. Dies gilt gleichermaßen für Primär- und Sekundärmarkt.[13] Gehen alle relevanten Informationen wahrheitsgemäß in den Preis ein, spiegelt der Kurs des Wertpapiers optimalerweise den „wahren Wert“ wider, so dass der Adressat der Information auf dieser Grundlage seine Anlageentscheidung treffen kann. Darauf, dass dies der Fall ist, soll der Anleger vertrauen dürfen.[14]

Damit dieses Vertrauen der Anleger nicht allzu oft enttäuscht wird, bedarf es eines effizienten Sanktions- und Haftungssystems, um den ständigen Informationsfluss sicher zu stellen.[15]

Dieses Haftungs- und Sanktionssystem für fehlerhafte und unterlassene Kapitalmarktinformationen hat in den letzten Jahren eine deutlich umfassendere Ausgestaltung erfahren, als dies bisher der Fall gewesen ist. Zahlreiche spezialgesetzliche Vorschriften sehen nunmehr eine Schadensersatzhaftung vor. Die wichtigsten seien nachfolgend kurz genannt.[16] Dabei werden Tatbestandsmerkmale und Rechtsfolgen nur insoweit dargestellt, als sie für die Problemlösung relevant sind.

1. §§ 44, 45 BörsG

Die durch das 3. Finanzmarktförderungsgesetz (FMFG)[17] grundlegend reformierten Vorschriften der §§ 44, 45 BörsG, die unmittelbar nur auf zum amtlichen Markt zugelassene Wertpapiere anwendbar sind,[18] sehen eine gesamtschuldnerische Schadensersatzhaftung der Prospektverantwortlichen und Erlasser für unrichtige und/oder unvollständige Prospektangaben vor. Erlasser ist dabei neben dem die Börsenzulassung mitbeantragenden Institut vor allem der Emittent, also regelmäßig die AG, der zuzulassenden Wertpapiere.[19] Derjenige, der innerhalb von 6 Monaten nach Prospektveröffentlichung Aktien des Emittenten erworben hat und noch im Besitz derselben ist, kann vom Haftpflichtigen Erstattung des Erwerbspreises und der mit dem Erwerb verbundenen üblichen Kosten gegen Rückgabe der Wertpapiere verlangen.[20] Der Erwerbspreis ist dabei durch die Höhe des ersten Ausgabepreises begrenzt. Hat er die Aktien bereits wieder veräußert, kann er nach § 44 II BörsG die Differenz zwischen Erwerbs- und Veräußerungspreis ersetzt verlangen. Eines früher erforderlichen „Besitzes“ der Aktien bedarf es zur Geltendmachung des Ersatzanspruchs heute nicht mehr.[21]

2. §§ 13, 13 a VerkProspG

Auf genau dieselben Rechtsfolgen verweisen die §§ 13, 13 a VerkProspG. Dieser Anspruch steht dem Erwerber unabhängig davon zu, ob es sich um eine Anlage am organisierten oder nicht-organisierten Markt handelt, sofern der Prospekt unrichtig bzw. unvollständig war. Ergänzend sieht § 13 a VerkProspG auch noch eine Haftung für die pflichtwidrige Nichterstellung eines Verkaufsprospekts vor.

3. §§ 37 b, c WpHG

Weiterhin enthalten die durch das 4. FMFG[22] neu eingefügten §§ 37 b, c WpHG eine Schadensersatzhaftung für einen schuldhaften Verstoß gegen die sekundärmarktbezogenen Informationspflichten aus § 15 WpHG.[23] Anspruchsgegner ist hier allerdings ausschließlich der Emittent, der wegen fehlerhafter, unrichtiger oder unterlassener kursrelevanter Ad-hoc-Veröffentlichungen zum Ersatz desjenigen Schadens verpflichtet ist, der dem Anleger dadurch entsteht, dass er seine Aktien zu teuer gekauft bzw. zu billig verkauft hat.[24] Umstritten ist der Umfang dieses Schadensersatzanspruchs. Teilweise soll der Anleger nur die Differenz zwischen tatsächlichem Preis der Investition bzw. Desinvestition und dem Preis, wie er sich bei ordnungsgemäßem Publizitätsverhalten gebildet hätte erhalten.[25] Nach anderer Ansicht soll der Anleger alternativ die Erstattung des Erwerbspreises Zug um Zug gegen Herausgabe der Wertpapiere verlangen können.[26] Da es aber in beiden Fällen zu einer Leistung an den Gesellschafter kommt, steht eine mögliche Verletzung des Kapitalerhaltungsgrundsatzes in jedem Fall zur Diskussion.

4. Bürgerlich-rechtliche Ansprüche

Des Weiteren können auch bürgerlich-rechtliche Anspruchsgrundlagen, insbesondere § 823 II BGB i.V.m. einem Schutzgesetz,[27] § 826 BGB und §§ 311, 280 BGB in Betracht kommen.[28] Die Aktiengesellschaft hat dann analog § 31 BGB für den aus der Pflichtverletzung ihrer Organe entstehenden Schaden einzustehen.[29] Liegen die jeweiligen Tatbestandsvoraussetzungen vor, ist der Anspruchsinhaber nach § 249 BGB dann so zu stellen, wie er stehen würde, wenn die Prospektverantwortlichen ihre Pflicht zur fehlerfreien Information erfüllt hätten.[30] Dem Anleger ist also der Erwerbspreis gegen Rückgabe der Aktien zu erstatten. Bei bereits erfolgter Weiterveräußerung muss er sich den hieraus erzielten Preis anrechnen lassen.[31]

III. Konflikt zwischen Anleger- und Gläubigerschutz

Unabhängig davon, welche Anspruchsgrundlage im Einzelfall einschlägig ist, wird die Gesellschaft bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen dazu verpflichtet, eine Leistung an den Anleger zu erbringen. Diese Leistungen verringern das Gesellschaftsvermögen. Da die Schadensersatzberechtigten aufgrund ihrer Anlageentscheidung Aktionäre der Gesellschaft geworden sind oder es schon vorher waren, unterliegen sie gleichzeitig dem aktienrechtlichen Kapitalerhaltungsgrundsatz.[32] Damit könnte sich die Schadensersatzleistung als verbotene Einlagenrückgewähr darstellen, weil § 57 AktG jede gegenwertlose Leistung außerhalb des Bilanzgewinns verbietet. Auch stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zu § 71 I AktG, wenn die AG aufgrund eines Schadensersatzanspruchs dazu verpflichtet wird eigene Aktien zurückzunehmen. Auch mit dieser Norm könnten kapitalmarktrechtliche Schadensersatzansprüche in Konflikt geraten.[33] Das hier zu Tage tretende Problem, das angesichts der zahlreichen gesetzlichen Neuerungen auch deutlich an praktischer Bedeutung gewonnen hat, liegt damit in der Schnittstelle zwischen Aktien- und Kapitalmarktrecht. Soll das grds. anlegerorientierte Kapitalmarktrecht den Einschränkungen des Kapitalerhaltungsgrundsatzes unterworfen werden? Und wenn ja, in welchem Umfang? Oder ist der gläubigerschützende Kapitalerhaltungsgrundsatz, sofern er anwendbar ist, zu Gunsten des geschädigten Anlegers einzuschränken? In welche Richtung dieser Konflikt zwischen Anleger- und Gläubigerinteressen aufzulösen ist, soll in der nun folgenden Darstellung erörtert werden. Zwar trat der Konflikt zum ersten Mal im Zusammenhang mit der Prospekthaftung auf,[34] beschränkt sich aber nicht auf diese, wie insbesondere die neuere Rechtsprechung belegt.[35] Bisher wurde die Kollision von Kapitalmarktrecht und Aktienrecht meist nur am Beispiel einzelner Schadensersatzanspruchsgrundlagen diskutiert.[36] Inwieweit die hier vorgebrachten Argumente allgemein für das Verhältnis von Kapitalmarktinformationshaftung und Kapitalerhaltung fruchtbar gemacht werden können, wird im Folgenden unter Berücksichtigung der einschlägigen Literatur und Rechtsprechung, insbesondere des jüngst erschienen Urteils des BGH untersucht.[37]

B. Diskussionsstand

I. Kein Konflikt mangels Aktionärsstellung im Zeitpunkt der Pflichtverletzung?

Vereinzelt wird schon das Vorliegen eines Konflikts zwischen Anleger- und Gläubigerschutz negiert. Begründet wird dies damit, dass das fehlerhafte Informationsverhalten zeitlich vor dem Aktienerwerb und damit vor dem Erwerb der mitgliedschaftlichen Stellung liege.[38] Diese Position überzeugt nicht. Allein auf das zeitliche Moment abstellend ist sie zu formal und vermag nicht zu begründen, warum auch Altaktionären ein Schadensersatzanspruch wegen fehlerhaften Kapitalmarktinformationen zustehen kann.[39] So stünden nach dieser Ansicht Altaktionären, die aufgrund eines fehlerhaften Prospekts Aktien im Rahmen einer Kapitalerhöhung erwerben, keine Ansprüche zu, weil sie ja schon Aktionäre waren. Auch hätte ein Anleger, der i.R.d. §§ 37 b I Nr. 2, 37 c I Nr. 2 WpHG die Finanzinstrumente zu „billig verkauft“ hat, keinen Schadensersatzanspruch, wohingegen derjenige, der nach §§ 37 b I Nr. 1, 37 c I Nr. 1 WpHG zu „teuer gekauft“ hat, schadensersatzberechtigt wäre. Ein solch zufälliges Auseinanderfallen der Rechtsfolgen beider Tatbestandsalternativen, dürfte schwerlich dem Willen des Gesetzgebers entsprechen.[40] Auch findet § 57 I AktG grundsätzlich im Hinblick auf Zahlungen Anwendung, die nach Beendigung der Aktionärsstellung erfolgt sind, so dass auch bei zwischenzeitlichem Verkauf der Aktien ein möglicher Verstoß gegen den Kapitalerhaltungsgrundsatz im Raum bleibt.[41]

II. Ausnahmsweise zulässiger Erwerb eigener Aktien gem. §§ 57 I 2, 71 I Nr. 1 AktG?

Der Erwerb der Aktien im Wege schadensersatzrechtlicher Naturalrestitution könnte als ausnahmsweise zulässiger Erwerb angesehen werden, weil er notwendig ist, um einen schweren unmittelbar bevorstehenden Schaden von der Gesellschaft abzuwenden (§ 71 I Nr. 1 AktG). Dann würde es sich nach § 57 I 2 AktG nicht um eine verbotene Einlagenrückgewähr handeln, so dass der Konflikt durch bloße Subsumtionsarbeit beigelegt werden könnte.

Eine solche Argumentation geht jedoch fehl. Liegt der Tatbestand einer Kapitalmarktinformationshaftung vor, handelt es sich bereits um eine bestehende rechtliche Verpflichtung und nicht um einen unmittelbar bevorstehenden Schaden.[42] Die rechtlich gebotene Pflicht Schadensersatz zu leisten, kann aber nicht gleichzeitig als Schaden der Gesellschaft angesehen werden, sondern ist insoweit bloßer Rechtsreflex.[43] Auch bleibt fraglich, wie ein Erwerb der Aktien einen Schaden soll abwenden können.[44]

Einer entsprechenden Anwendung bzw. einer extensiven Auslegung des § 71 I Nr. 1 AktG steht der Grundsatz entgegen, dass Ausnahmetatbestände restriktiv auszulegen sind.[45]

Die Möglichkeit, den Haftungstatbestand selbst als eine ungeschrieben Ausnahme i.S.d. § 71 I AktG anzusehen,[46] scheitert am abschließenden Charakter des § 71 I AktG,[47] welcher durch den Wortlaut („nur“) des § 71 I 1 AktG noch bekräftigt wird.[48]

Letztlich spricht gegen eine wie auch immer geartete Heranziehung des § 71 I AktG, dass diese in dem Moment versagt, wo der Anleger lediglich einen Differenzschaden geltend macht, was nach Ansicht des BGH alternativ möglich sein soll.[49] Eine Subsumtion unter § 71 I AktG würde hier schon an einem Erwerb eigener Aktien durch die AG scheitern, den der Wortlaut des § 71 I AktG eindeutig voraussetzt. Damit bliebe jedenfalls ein nicht durch einen Ausnahmetatbestand gedeckter Verstoß gegen das Verbot der Einlagenrückgewähr bestehen.

Der Konflikt kann damit nicht über eine Anwendung der §§ 57 I 2, 71 I AktG aufgelöst werden.

III. Die zwei grundsätzlichen Gegenpositionen

Wie schon die beiden eingangs zitierten Passagen aus den Gerichtsentscheidungen deutlich gemacht haben, lassen sich zunächst zwei grundsätzliche Gegenpositionen voneinander unterscheiden.

1. Absoluter Vorrang der Kapitalerhaltung

Das Reichsgericht ging zunächst von einem unbedingten Vorrang der Kapitalerhaltungsvorschriften aus und zwar unabhängig davon, ob die Gesellschafterstellung durch Zeichnungserwerb oder durch Aktienerwerb auf dem Sekundärmarkt erlangt wurde.[50] Eine Haftung der Gesellschaft für ein Fehlverhalten ihrer Organe gegenüber dem Aktionär würde zu einer Ausschüttung von Gesellschaftsvermögen führen, das eigentlich dem Gläubigerzugriff vorbehalten sei.[51] Darin liege ein Verstoß gegen § 213 HGB a. F.[52] Der Gläubigerschutz sei deshalb höher zu bewerten als das Interesse des einzelnen Anlegers, wobei ausgeschlossen sei, dass der Geschädigte durch seine Beteiligung zugleich ein Gläubigerrecht erlangen könnte.[53]

Auch Lutter schien wohl davon auszugehen, dass Prospekthaftungsansprüche notwendigerweise am Verbot der Einlagenrückgewähr scheitern müssten.[54] Er begründete dies damit, dass die durch die 2. EG-Richtlinie[55] geänderten §§ 57, 71 AktG im Verhältnis zu den §§ 45, 46 BörsG a. F. leges posteriores seien und diese deshalb verdrängen müssten.[56] Gleiches könnte damit auch für das Verhältnis zu Ansprüchen aus §§ 823 ff. BGB begründet werden, die im Vergleich zu den aktienrechtlichen Vorschriften ebenfalls leges priores wären.

Auch Horn spricht sich, jedenfalls de lege ferenda et corrigenda, für einen Vorrang des Gläubigerschutzes und damit gegen eine Emittentenhaftung aus.[57] Die drohenden Schadensersatzklagen könnten zu einem „Ausbluten“ der Gesellschaft führen und so die Funktionsfähigkeit des Marktes beeinträchtigen.[58] Die Informationspflichten dienten aber gerade auch dem Schutz dieser Funktionsfähigkeit, welcher durch ein zu scharfes Haftungssystem konterkariert werden könnte.

2. Absoluter Vorrang der Kapitalmarktinformationshaftung (Prospekthaftung)

Demgegenüber steht die Ansicht, die allen kapitalmarktrechtlichen Ansprüchen uneingeschränkten Vorrang gegenüber den §§ 57, 71 AktG gewährt.[59] Im Einzelnen lassen sich folgende Argumente hören.

a) Rechts- und wirtschaftspolitische Argumente

Zunächst wird vorgebracht, dass der Aktionär schutzwürdiger als ein Fremdkapitalgeber sei, da er Risikokapital zur Verfügung stelle. Dieses Anlagerisiko sei unbefristet. Im Gegensatz zu Fremdkapitalgebern, die eine feste Verzinsung ihrer Forderung erhielten, verfügten die Anleger nur über eine ungewisse Dividendenberechtigung.[60]

Des Weiteren fördere ein ausgeprägter Anlegerschutz mittelbar auch den Gläubigerschutz, da er die Bereitschaft potentieller Anleger Risikokapital zu investieren, erhöhe.[61] Zudem sei ein übertriebener Gläubigerschutz hinsichtlich der zunehmenden Globalisierung unter wettbewerbsrechtlichen Gesichtspunkten bedenklich. Im ständigen Kampf um neue Eigenkapitalgeber könnte ein zu schwach ausgeprägter Anlegerschutz dem Finanzmarkt Deutschland empfindliche Nachteile bringen und die Investitionsbereitschaft hemmen.[62]

Aus diesem Grund sei eine schadensersatzrechtliche Gleichbehandlung von Eigen- und Fremdkapitalgebern angebracht.

b) Lex specialis derogat legi generali

Die Befürworter eines absoluten Vorrangs von Schadensersatzansprüchen der Anleger führen vor allem an, dass die kapitalmarktrechtlichen Vorschriften im Vergleich zu den §§ 57, 71 AktG die spezielleren Normen seien.[63] Die §§ 57, 71 AktG untersagen schlechthin jeden Vermögenstransfer zwischen AG und Gesellschafter außerhalb des Bilanzgewinns. Indes beschränkten sich die kapitalmarktrechtlichen Vorschriften einzig auf den Fall, dass ein Anleger wegen einer vorsätzlichen bzw. grob fahrlässigen fehlerhaften bzw. unterlassenen Information einen Schaden erleidet.[64]

Dieses Argument werde durch die Gesetzesbegründung noch zusätzlich bekräftigt. Dort heißt es zu § 45 BörsG, dass sich die Emittentin gegenüber dem Anspruchsteller „…nicht auf die aktienrechtlichen Verbote der Einlagenrückgewähr gem. § 57 I 1 AktG und des Verbots des Erwerbs eigener Aktien berufen…“[65] kann. „Die in § 45 BörsG getroffenen Regelungen enthalten insoweit abschließende Spezialregelungen, die den soeben erwähnten allgemeinen Grundsätzen vorgehen.“[66] An einer genauen Erläuterung des Spezialitätsgedankens fehlt es indes. Dennoch soll dieser Wille des Gesetzgebers auf andere kapitalmarktrechtliche Schadensersatzansprüche übertragbar sein. Zwar ließe die Gesetzesbegründung zu §§ 37 b, c WpHG einen ähnlich klaren Willen des Gesetzgebers vermissen.[67] Allerdings sehen die §§ 37 b, c WpHG anders als die §§ 44, 45 BörsG und §§ 13, 13 a VerkProspG allein eine Emittentenhaftung vor. Ließe man diese Haftung am Kapitalerhaltungsgebot scheitern, verbliebe für §§ 37 b, c WpHG kein eigenständiger Anwendungsbereich. Dem Gesetzgeber einen solchen Willen zu unterstellen, wäre verfehlt.[68]

[...]


[1] RGZ 54, 128 (132), gemeint ist hier v. a. § 213 HGB a. F., der Vorgängernorm des § 57 AktG.

[2] BGH NJW 2005, 2450 (2452)=NZG 2005, 672 (674)=BB 2005, 1644 (1646).

[3] Hüffer, § 57 AktG, Rn. 2; Henze, in: Großkomm, § 57 AktG, Rn. 8.

[4] Renzenbrink/Holzner, BKR 2002, 434, 435; Henze, in: Großkomm, § 57 AktG, Rn. 4; Horn, FS Ulmer, 817, 826.

[5] Schmidt, S. 890.

[6] Bezzenberger, S. 72; Henze, in: Großkomm, § 57 AktG, Rn. 7.

[7] Ziemons/Herchen, HdBdAG, I, Rn. 5.690.

[8] Schwark, FS Raisch, 269, 278; Gebauer, S. 100.

[9] Hüffer, § 71 AktG, Rn. 1.

[10] Vgl. hierzu ausführlich Brellochs, S. 14 ff.; Kümpel, S. 30 ff.; Langenbucher, ZIP 2005, 239, 239; Reichert/Weller, ZRP 2002, 49, 53.

[11] Veil, BKR 2005, 91, 91; Baums, ZHR 167 (2003), 138, 143.

[12] Hopt/Voigt, in: Hopt/Voigt, S. 113.

[13] Hopt/Voigt, in: Hopt/Voigt, S. 3.

[14] Hopt/Voigt, in: Hopt/Voigt, S. 3.

[15] Hahn, S. 185.

[16] Andere Prospekthaftungsnormen sind etwa § 20 I KAGG und § 12 I i.V.m. § 15 i AuslInvestmG.

[17] BGBl. I 1998, S. 529 ff.

[18] Schwark/ Schwark, §§ 44, 45 BörsG, Rn. 4.

[19] Groß, §§ 44, 45 BörsG, Rn. 31.

[20] Schwark/ Schwark, §§ 44, 45 BörsG, Rn. 60.

[21] Gebauer, S. 51.

[22] BGBl. I 2002, 2010 ff.

[23] Ehricke, in: Hopt/Voigt, S. 249.

[24] Schwark/ Zimmer, §§ 37 b, c WpHG, Rn. 3.

[25] So etwa Langenbucher, ZIP 2005, 239, 241; Schäfer, in: Marsch-Barner/Schäfer, § 16, Rn. 26; Kort, NZG 2005, 496, 497.

[26] Möllers, JZ 2005, 75, 79; de lege ferenda differenzierend und auf den Einzelfall abstellend Veil, BKR 2005, 91, 97.

[27] So z. B. §§ 263, 263 a StGB, §§ 399, 400 AktG.

[28] Ehricke, in: Hopt/Voigt, S. 222.

[29] So z. B. in OLG Frankfurt ZIP 2005, 710.

[30] BGH NJW 2005, 2450, 2451; OLG Frankfurt a. M. AG 2006, 584, 585.

[31] BGH NJW 2005, 2450, 2451.

[32] Langenbucher, ZIP 2005, 239, 239.

[33] Vgl. Schwark, FS Raisch, S. 269, 269; Dühn, S. 89.

[34] RGZ 71, 79.

[35] OLG Frankfurt a. M. ZIP 1999, 1005=AG 2000, 132; OLG Frankfurt a. M. ZIP 2005, 710; BGH NJW 2005, 2450; sowie zuletzt OLG Frankfurt a. M. AG 2006, 584.

[36] Zur Prospekthaftung siehe Ellenberger und Schwark, FS Raisch, S. 269 ff.; zur Ad-hoc-Haftung siehe Mörsdorf und Dogan; zu §§ 13, 13 a VerkProspG siehe Ziegler, NZG 2005, 301; zu §§ 826, 31 BGB siehe Möllers, BB 2005, 1637.

[37] Vgl. Fn. 2.

[38] OLG Frankfurt a. M. ZIP 2005, 710, 713; Krämer/Baudisch, WM 1998, 1161, 1167.

[39] Die Möglichkeit eines Ersatzanspruchs von Altaktionären sogar für den unterlassenen Verkauf spricht der BGH in BGH NJW 2005, 2450, 2453 in einem obiter dictum für den Bereich der §§ 826, 31 BGB an.

[40] Langenbucher, ZIP 2005, 239, 242; Möllers, BB 2005, 1637, 1640.

[41] Hüffer, § 57 AktG, Rn. 14; Dühn, S. 92.

[42] Dühn, S. 90.

[43] Schwark, FS Raisch, 269, 278; Krämer/Baudisch, WM 1998, 1161, 1163.

[44] So auch Gebauer, S. 199.

[45] Dühn, S. 91.

[46] So Schäfer/ Hamann, §§ 45, 46 BörsG a. F., Rn. 48; wohl auch Veil, ZHR 167 (2003), 365, 389, Fn. 22.

[47] Ziegler, NZG 2005, 301, 302.

[48] Dühn, S. 91.

[49] BGH NJW 2005, 2450, 2453.

[50] RGZ 54, 128, 130; 62, 29, 29.

[51] RGZ 54, 129, 132; 62, 29, 30.

[52] Hierbei handelt es sich um die Vorgängernorm von § 52 AktG 1937 bzw. § 57 AktG 1965.

[53] RGZ 54, 129, 132.

[54] KK- Lutter, § 71 AktG, Rn. 69 a. E.

[55] Zweite gesellschaftsrechtliche Richtlinie v. 13. 12. 1976 (77/91/EWG), Text und Durchführungsgesetz bei Lutter, ZGR, Sonderheft 1, S. 173 ff.

[56] Vgl. Fn. 54.

[57] Horn, FS Ulmer, S. 817, 827; ders., Europ. FinanzmarktR., S. 7.

[58] So Horn, FS Ulmer, S. 817, 827, der sich aus diesem Grund im Anschluss an die Regierungskommission Corporate Governance für eine reine Organhaftung ausspricht, vgl. Baums, Rn. 187; ebenso Rieckers, BB 2002, 1213, 1220; kritisch auch Hutter/Leppert, NZG 2002, 649, 654.

[59] Hüffer, § 57 AktG, Rn. 3; Dogan, S. 232; Ellenberger, S. 76; Assmann/Schneider/ Sethe, §§ 37 b, c WpHG, Rn. 6; Hopt/Voigt, WM 2004, 1801, 1803; Hopt, in: Baumbach/Hopt, § 44 BörsG, Rn. 5; Hutter/Stürwald, NJW 2005, 2428, 2431; i. E. auch Renzenbrink/Holzner, 2002, 434, 441.

[60] So Henze, in: GroßKomm, § 57 AktG, Rn. 20; Keusch/Wankerl, BKR, 2003, 744, 745; Renzenbrink/Holzner, BKR 2002, 434, 437; Erwe, WuB I G – 2.98, 891, 892; Krämer/Baudisch, WM 1998, 1161, 1165.

[61] OLG Frankfurt a. M. ZIP 2005, 710, 713; Schwark/ Zimmer, §§ 37 b, c WpHG, Rn. 13; Henze, in: GroßKomm, § 57 AktG, Rn. 20.

[62] Fleischer, F 73; Keusch/Wankerl, BKR, 2003, 744, 745; Renzenbrink/Holzner, BKR 2002, 434, 437.

[63] LG Frankfurt a. M. ZIP 1998, 641, 645; Groß, §§ 44, 45 BörsG, Rn. 14; Ellenberger, S. 76; Renzenbrink/Holzner, BKR 2002, 434, 436; Möllers, BB 2005, 1637, 1640; Erwe, WuB I G – 2.98, 891, 892; Krämer/Baudisch, WM 1998, 1161, 1164; Hommelhoff/van Aerssen, EWiR § 57 AktG 1/98, 579, 580; Kort, NZG 2005, 496, 498; Schwark/ Zimmer, §§ 37 b, c WpHG, Rn. 11; Fuchs/Dühn, BKR 2002, 1063, 1070.

[64] So Krämer/Baudisch, WM 1998, 1161, 1164; Ellenberger, S. 76.

[65] BT-Drs. 13/8933, S. 54, 78, linke Spalte.

[66] Siehe Fn. 65.

[67] Renzenbrink/Holzner, BKR 2002, 434, 436.

[68] BGH NJW 2005, 2450, 2452; Fleischer, ZIP 2005, 1805, 1810; Möllers, BB 2005, 1637, 1640; Horn, FS Ulmer, 817, 827; Keusch/Wankerl, BKR 2003, 744, 746.

Ende der Leseprobe aus 39 Seiten

Details

Titel
Prospekthaftung und Kapitalerhaltung
Hochschule
Universität Mannheim
Veranstaltung
Seminar
Note
13 Punkte
Autor
Jahr
2006
Seiten
39
Katalognummer
V114436
ISBN (eBook)
9783640152803
ISBN (Buch)
9783640154869
Dateigröße
582 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Prospekthaftung, Kapitalerhaltung, Seminar
Arbeit zitieren
Sebastian Röder (Autor:in), 2006, Prospekthaftung und Kapitalerhaltung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/114436

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