Wandernde Identitäten - Immigrantenbilder in der argentinischen Gegenwartsliteratur

Am Beispiel von "Luz de las crueles provincias" von Héctor Tizón und "El verdugo en el umbral" von Andrés Rivera


Magisterarbeit, 2001

129 Seiten, Note: 1,4


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung: Herbeigeschriebene Einwanderer

I. Eine Literatur der Einwanderung
1.1. Die Emergenz der Einwanderungsliteratur
1.2. Das Projekt der Nation und die Immigration
1.3. Bilder von Einwanderern
1.4. Familienbiographie als subversive Geschichtsschreibung

II. Héctor Tizón: Die bikulturellen Spuren der Migranten
2.1. Aus der Perspektive der ‘Anderen’
2.2. Schreiben auf der Grenze
2.3. Der Werkzusammenhang
2.3.1. Die Verunsicherung der Repräsentation in La casa y el viento
2.3.2. Fiktion als Widerstand: Hombre que llega a un pueblo
2.4. Wandernde Identitäten: Luz de las crueles provincias
2.4.1. Titel
2.4.2. Struktur
2.4.3. Das Bild der Auswanderung
2.4.4. Die Aushöhlung der migrierenden Identitäten
2.4.5. Immigration als Geschichte einer späten Emanzipation
2.4.6. Im dunklen Herzen der Provinzen
2.4.7. Der Richter und der leere Koffer: den Verlust erzählen
2.4.8. Das nicht gelebte Leben: Migration des Selbst

III. Andrés Rivera: Revolutionäre Einschreibungen
3.1. Die drohende Grenze
3.1.1. Zum Begriff der ‘jüdischen Identität’
3.1.2. Die jüdisch-argentinische Literatur
3.1.3. Einschreibungen
3.2. El verdugo en el umbral als aleph proletario
3.2.1. Struktur
3.2.2. Das Bild der Juden in der Erzählung der Mutter
3.2.3. Die Erzählung des Vaters
3.2.4. Das Leben in Buenos Aires
3.2.5. Die Einwanderung aus der Sicht der Mutter
3.2.6. Die Notizen des Sohnes

Schluss: Momente des Interkulturellen

Bibliographie

Einleitung Herbeigeschriebene Einwanderer

Emigrar

Es volver a nacer

con un miedo que se sabe que es miedo,

es enfrentar un mundo distinto

donde se acaban los silencios.

Es también pagar muchos precios,

entre ellos, separarnos...

Enero me hizo emigrante

dejando todo lo vivido en el recuerdo.

Angélica Karina Fernández Carpio[1]

Argentinien war – und ist de facto noch heute – ein Einwanderungsland. Gleich nach der Unabhängigkeit wurden Gesetze erlassen, um die Einwanderung zu ermöglichen und zu fördern. Man dachte, das ausgedehnte Staatsgebiet sei nur durch einen massiven Bevölkerungsanstieg zu konsolidieren. Die Vordenker des liberalen und modernen Argentiniens aus der Generation von 1830, Domingo F. Sarmiento und Juan Bautista Alberdi, sahen in den Einwanderern die dringend benötigten Agenten des Fortschritts. Das eigentliche Dilemma der argentinischen Nation beschrieb Sarmiento durch die Gegenüberstellung der beiden Konzepte civilización und barbarie. Die Europa zugewandte Hafenstadt Buenos Aires stand in seiner Sicht für die Zivilisation, die Provinzen für die Barbarei, die es zu ‘zivilisieren’ galt. Innerhalb der élite letrada wurde dieser Gegensatz zur Diskurs bestimmenden Dichotomie.[2] Auch die Einwanderungsfrage provozierte je nach ideologischem Standpunkt des Autors gleichermaßen Schmähschriften wie Apologien.

So tauchte die Figur des Einwanderers in der argentinischen Literatur bereits auf, bevor die ersten bedeutenden Kontingente von Einwanderern ins Land kamen. Das Projekt einer modernen europäisierten Nation war von Anfang an untrennbar mit der Massenim­migration verbunden. Der Bruch mit der kolonialen Vergangenheit und der kreolischen Oligarchie konnte nur durch die Einwanderung herbeigeführt werden. Die diskontinuier­lichen Biographien der Einwanderer standen symbolisch für den von den liberalen Politi­kern angestrebten gesellschaftlichen Umbruch.

In dem Moment, in dem die Einwanderung tatsächlich einsetzte, wurde auch das Bild des Einwanderers in der Literatur korrigiert: Zu den Projekten der Vordenker kamen die Beschreibungen der Zeitgenossen. Die Einwanderung wurde nicht mehr nur von außen, sondern auch von innen gesehen. Autoren aus der herrschenden Klasse schrieben in der Abwehr jener neuen ‘Barbaren’, die massenhaft ins Land kamen und sich kaum um die kulturellen Besitzstände der kreolischen Eliten zu kümmern schienen. Autoren, die selbst oder deren Eltern eingewandert waren, beschrieben die Brüche und Widersprüche in den Biographien der Immigranten, die Anpassungsschwierigkeiten an das unbekannte Umfeld, das Nichtverstehen und die daraus resultierende Notwendigkeit des Übersetzens sowie die neu entstehenden sozialen Konflikte. Die Transformation der argentinischen Gesellschaft war eingeleitet und fand in der Figur des Einwanderers ihre emblematische Gestalt. Das heutige Argentinien ist undenkbar ohne die Beiträge der Einwanderer, die argentinische Literatur undenkbar ohne die Texte, in denen die Einwanderung thematisiert wird und mit denen Einwanderer selbst versucht haben, sich einzuschreiben.

Eine Literatur der Einwanderung bezeichnet einen Textkorpus, der sowohl die Texte über Einwanderer als auch die von den Einwanderern und den nachfolgenden Generationen geschriebenen Texte umfasst, sofern sie sich auf die Einwanderung beziehen. Mit dem Ende der Massenimmigration hat auch die Literatur der Einwanderung ihre Art, über dieses gesellschaftliche Phänomen zu sprechen, verändert. Die in der Arbeit besprochenen Autoren Héctor Tizón und Andrés Rivera lassen ihre Handlung zwar zur Zeit der Masseneinwanderung beginnen, bei beiden erhält diese geschichtliche Situation jedoch eine besondere Bedeutung für die Gegenwart. Im Argentinien der 90er Jahre, das noch immer unter dem traumatisierenden Schock der letzten Militärdiktatur steht, operationalisieren die beiden Autoren die Erinnerung an die Einwanderung im Sinne einer subversiven Historiographie, die auch das Problem der Repräsentation mitbedenkt. Dieser politische Anspruch Tizóns und Riveras führt zu einer Verschiebung der geschichtlichen Perspektive von den großen sozialen Akteuren zu den Marginalisierten und damit zu einer Geschichte der Besiegten, einer Counter-History.[3] Das Sprechen aus der Sichtweise der Einwanderer wird bei Rivera zu einem Sprechen aus einer subalternen Position, zu einem Gegensprechen wider die disziplinierenden und assimilierenden Kräfte aus der dominanten Gesellschaftsschicht. Bei Tizón wird das Marginale bildlich geführt: Er lässt seine Protagonisten in die Grenzregion des Landes migrieren – in jenen Raum der Begegnung und Wanderung zwischen den Kulturen.

So stehen die Auseinandersetzungen Tizóns und Riveras mit dem Thema Einwanderung in Luz de las crueles provincias[4] und El verdugo en el umbral[5] den Werken Sarmientos und Alberdis historisch gegenüber. Das Vorausblickende der Vordenker trifft auf die Rückschau der Nachwelt. Das Projekt der Einwanderung trifft auf die Projekte der Einwanderer. Die herbeigeschriebenen Einwanderer begegnen den tatsächlichen, und die offizielle Geschichtsschreibung wird mit einer Geschichte von unten konfrontiert.

Auf beide hier besprochene Romane lässt sich die von Deleuze und Guattari gebildete Kategorie der littérature mineure anwenden, da in ihnen der Versuch unternommen wird, eine minderheitliche Kultur nicht exotistisch zu repräsentieren, sondern aus ihr heraus zu schreiben.[6] Die Differenz der minderheitlichen Kultur wird in den Diskurs der dominanten Kultur eingeschrieben, indem man sich ihrer Sprache und Ausdrucksformen bedient. Die durch die soziale und politische Marginalisierung erfahrene Deterritorialisierung wird somit im Akt des Schreibens reterritorialisiert und als Widerstandspraxis gegen die Hegemonie einer nationalen Kultur gestellt. Die Geschichten der Individuen bekommen dadurch eine Repräsentationsfunktion im Sinne eines Fürsprechens für die minoritäre Kultur.

Im ersten Kapitel werde ich näher auf die Verbindung von Einwanderung und Literatur im Fall Argentiniens und die dazu vorliegenden Studien eingehen. Die verschiedenen Einwanderungswellen haben auch zu unterschiedlichen literarischen Herangehensweisen geführt. In der gegenwärtigen Literatur lassen sich zwei Tendenzen ausmachen: Zum einen eine Neubewertung der Einwanderung aus einer veränderten geschichtlichen Perspektive – dem Exil vieler Nachfahren von Immigranten –, zum anderen – und das scheint eher ein Phänomen der literarischen Subkulturen zu sein – die Auseinandersetzung mit den heutigen Einwanderern aus den lateinamerikanischen Nachbarstaaten.

Perspektivisch möchte ich die Kategorie der Literatur der Einwanderung zu einer Literatur der Migration erweitern. Dabei kann gerade die Auseinandersetzung mit dem Werk Tizóns wertvolle Anregungen bieten, wie Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der literarischen Verarbeitung der verschiedenen Arten von Wanderungsbewegungen – Immigration, Migration innerhalb der Landesgrenzen, Exil und deren jeweilige kulturelle und interkulturelle Implikationen – zu theoretisieren sind.

Im zweiten Kapitel werde ich Luz de las crueles provincias als Dokument eines besonderen Einwanderungsschicksals lesen. Die Protagonisten kommen buchstäblich in die Zone der Grenze, in jenen Raum der von Sarmiento aufgemachten Dichotomie civilización vs. barbarie. Der Roman von Héctor Tizón soll die Vergleichsfolie in formaler und ästhetischer Hinsicht für den im dritten Kapitel behandelten Roman El verdugo en el umbral von Andrés Rivera bilden.

Im Schlusskapitel werde ich die Unterschiede deuten, die sich bei der Lektüre der beiden Romane ergeben und dabei auch auf ihre unterschiedlichen Poetiken eingehen. Als kleinen Ausblick verweise ich exemplarisch auf zwei jüngere Autoren, die gerade das interkulturelle Moment in der Auseinandersetzung mit den Einwanderern aufsuchen: Marcelo Birmajer und Wáshington Cucurto.

I. Kapitel Eine Literatur der Einwanderung

1.1. Die Emergenz der Einwanderungsliteratur

Eine Literatur der Einwanderung ist eine Literatur der Einschreibungen, eine Literatur der Spuren und Brüche, der Mischungen und der Neusetzungen. Einwanderer vollziehen die Bewegung vom Vertrauten ins Fremde, indem sie sich in eine neue Umwelt begeben – und doch schaffen sie es paradoxerweise ihr Leben lang nicht, dort anzukommen. Folge dieser fortwährenden Deplacierung ist, dass die bestehenden Zuschreibungen des ‘Eigenen’ und des ‘Anderen’ problematisch werden. Die Frage nach der Identität bekommt im fremden Umfeld eine andere symbolische Aufladung als im vertrauten Kontext. Ist das Fraglose der Lebenswelt erst einmal verlassen und das Individuum bidirektionalen Fremdheitserfahrungen ausgesetzt, erweist sich Identität als ein im Wandel befindliches, zweiteiliges Symbolsystem, das sich im steten Austausch des Selbst mit seiner Umwelt formiert.[7] Die Einwanderungsliteratur emergiert als ein Raum, in dem diese Neubestimmung der migrierenden Identitäten zum Ausdruck gebracht wird.[8]

Wenn in einer Nation Immigration zu einem Massenphänomen wird, können – wie im Fall Argentiniens – zwei gleichzeitig ablaufende Prozesse ausgemacht werden: die dem Einwanderer abverlangte Anpassung an das neue kulturelle und gesellschaftliche Umfeld und die Anpassung dieser Umwelt an die Einwanderer und deren kulturelle Beiträge.

In der Literatur der Einwanderung ist das Bild des Immigranten beständig Veränderungen unterworfen. Die Repräsentationen von Einwanderern werden im Diskurs für und wider die tatsächlichen Immigranten eingesetzt. Der Einwanderer wird so zu einer Figur des Diskurses, die als Projektionsfläche für unterschiedliche und zum Teil gegenläufige politische und gesellschaftliche Vorhaben fungiert.

In Argentinien taucht der vorgestellte Immigrant in der Literatur vor dem wirklichen Immigranten auf.[9] Sarmiento und Alberdi schreiben ihn herbei, um die Modernisierung des Landes einzuleiten. Die Emergenz der Literatur der Migration geht also von Anfang an mit dem Modernisierungsprojekt einher. María Teresa Gramuglio wertet folgerichtig das Thema der Einwanderung hinsichtlich seiner gesellschaftlichen und kulturellen Relevanz als gleichbedeutend mit Rosismus, Peronismus und dem Exil vieler Autoren während der letzten Militärdiktatur.[10]

Die Literatur der Einwanderung stellt einen symbolischen Raum zur Verfügung, in dem die durch die Einwanderung entstandenen sozialen und kulturellen Konflikte ausgetragen, vermittelt und synthetisiert werden. Gramuglio sieht den besonderen Stellenwert dieser Literatur darin, dass sie oftmals aus einer Situation der persönlichen Betroffenheit heraus entstanden ist – in ihrer Vision der Immigration korrelieren das individuelle und das nationale Projekt in der Frage nach den eigenen Ursprüngen und deren Bedeutung für die Bestimmung der argentinischen Identität:

La inmigración emerge como un tema literario fuertemente enlazado a un nudo de obsesiones recurrentes que tocan, en muchos casos, nuestras historias familiares y personales. Historias dolorosas de desarraigos y asimilaciones que, que si por un lado remiten a la incontestada e incontestable pregunta sobre los orígenes, por el otro, proyectadas sobre lo social, problematizan incesantemente las claves de la configuración de la Argentina moderna y la constitución de esa figura inasible llamada identidad nacional.[11]

1.2. Das Projekt der Nation und die Immigration

Argentinien entstand 1810 als eigenständiger Staat nach seiner Unabhängigkeit von der spanischen Krone und seiner Herauslösung aus der alten kolonialen Einheit Virreinato del Río de la Plata. Ein Jahr nach der Trennung von Spanien wurde die erste Staatsbürgerschaft an einen Ausländer erteilt,[12] 1812 das erste Gesetz erlassen, das Einwanderung legalisieren und fördern sollte. Dies stand im Gegensatz zu der vorherigen Politik der Abwehr von Ausländern, welche die Kolonialverwaltung verfolgt hatte. Das Thema der Einwanderung verweist also direkt zurück auf die Ursprünge der argentinischen Nation. Einwanderung wurde als ein Mittel angesehen, sich von Spanien zu emanzipieren, und gleichzeitig stellten die Einwanderer die dringend benötigten Arbeitskräfte dar, mit denen Industrialisierung und Modernisierung des Landes eingeleitet werden sollten.[13] Der Bürgerkrieg und die nachfolgende Diktatur des Caudillos Manuel Rosas beendeten dieses Projekt, ehe es in die Tat umgesetzt werden konnte. Erst nach der Niederschlagung Rosas’ 1851 in Caseros begann eine zahlenmäßig bedeutende Einwanderung.[14]

Bei Sarmiento und Alberdi, den Vordenkern des modernen argentinischen Staates, finden wir die Hoffnung auf Besserung der Zustände in der Figur des europäischen Einwanderers verkörpert. Sarmiento legte seine Ansichten zu den kulturellen Defiziten der argentinischen Bevölkerung in seinem Hauptwerk Facundo dar.[15] Die fiktive Biographie eines Caudillos aus der Provinz ist Zustandsbeschreibung und Zukunftsvision der argentinischen Nation zur Zeit des Rosas-Regimes. Geschrieben im chilenischen Exil, in das er sich auf der Flucht vor dem Zugriff des Diktators begeben hatte, ist es auch eine Streitschrift gegen Rosas, der ihm als idealtypischer Repräsentant jener barbarie vorkommen musste. Die im Vergleich mit den europäischen Metropolen diagnostizierte Rückständigkeit der argentinischen Nation erklärt Sarmiento – ganz dem biologistischen Denken seiner Zeit verhaftet – aus den Mentalitätsstereotypen von Spaniern und Indios. Der Gaucho als ein Zwischenwesen, das aus der Verbindung der beiden Bevölkerungsgruppen hervorgegangen war, erschien ihm suspekt und undisziplinierbar. So ist es nicht verwunderlich, dass er nach einer Europareise, die seine Nationalstereotypen noch festigte, ganz auf die ‘Veredelung’ der argentinischen Bevölkerung durch gut ausgebildete nord- und mitteleuropäische Einwanderer setzte und sich als Modell einer Einwanderungsgesellschaft die Vereinigten Staaten von Amerika vornahm.[16]

Der Leitspruch des anderen Theoretikers des Einwanderungsprojektes, Juan Bautista Alberdi, war Gobernar es poblar.[17] Das nationale Territorium, das in erster Linie in Form eines erhobenen Anspruchs auf der Landkarte bestand, musste nicht nur gegen das expandierende Chile gesichert werden, sondern auch gegen die zum Teil Widerstand leistenden indigenen Ethnien.

Für die Konsolidierung dieser Nation und seiner kulturellen Identität sollten sich zwei Entwicklungen als entscheidend herausstellen: zum einen die territoriale Integration des Staatsgebietes durch die Verschiebung der Grenze in die Länder der indigenen Ethnien,[18] zum anderen die Ausrichtung der argentinischen Nation hin zu einer weißen europäischen Nation. Diesem Wunsch nach Zugehörigkeit zum Zentrum des Weltgeschehens stand in der biologistischen ‘Logik’ jener Zeit der Bevölkerungszensus entgegen. 1850 waren die meisten der eine Million Argentinier Mestizen. Nur eine massive Einwanderung aus mittel- und nordeuropäischen Ländern hätte die Bevölkerungszusammensetzung in die gewünschte Richtung führen können. Die rassistischen Motive für die Anwerbung von europäischen Einwanderern wurde in dem Argument rationalisiert, dass jene weniger Anpassungsschwierigkeiten zu bewältigen hätten als außereuropäische Einwanderer.

Wie so oft klaffen Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander: Die meisten Menschen, welche die beschwerliche Atlantiküberquerung mit dem Ziel auf ein Land auf sich nahmen, von dem sie wenig bis gar nichts wussten, waren aus den unteren Gesellschaftsschichten süd- und osteuropäischer Länder.[19]

Dennoch wurde Argentinien in der Literatur lange Zeit so dargestellt, wie es sein sollte, nicht, wie es tatsächlich war. In der vorgestellten Gemeinschaft[20] des Nationalstaates zirkulieren Selbstbeschreibungen, die nicht mit dem Bestehenden übereinstimmen. Aus dieser Divergenz von Selbstbild und Ist-Zustand ergibt sich der Zwang zu handeln und Veränderungen in Richtung auf das Gewünschte anzustreben. Gerade in der Literatur der 1830er Generation erscheint Argentinien als ein noch fast amorphes, beliebig formbares Land. Die Spuren der präkolumbischen Kulturen, der spanischen Kolonisation und der mestizischen Gaucho-Kultur werden paradoxerweise einerseits als flüchtig und unbedeutend, andererseits aber als hinderlich für den Aufbau der Nation beschrieben.[21] Durch eine gezielte Einwanderungspolitik sollten sie überschrieben werden. Gleichwohl wird in der Beschreibung des Landes, das sich jenseits des konsolidierten Staatsgebietes befindet, die Metapher der Wüste, desierto, verwendet. Gewaltsame Eingriffe in dort bereits bestehende kultu­relle Organisationsformen konnten so gerechtfertigt werden: Denn wo nichts ist, kann auch nichts zerstört werden.

1.3. Bilder von Einwanderern

In der argentinischen Literatur oszilliert das Bild des Einwanderers zwischen den beiden Polen der Abwehr und der Überhöhung. Je nach ideologischem Standpunkt des Autors und seiner Stel­lung zur kreolischen Oligarchie, die ihre gesellschaftliche Hegemonie zunehmend bedroht sieht, werden aus den Einwanderern Agenten des Fortschritts und des für den Übergang in die Moderne notwendigen gesellschaftlichen Wandels oder umstürzlerische Ausländer, die mit einer ganzen Palette rassistischer Vorurteile konfrontiert werden und denen im Falle einer Auflehnung gegen die herrschenden Verhältnisse die umgehende Ausweisung droht.

In der Studie von Gladys S. Onega wird dieses oft wechselnde Bild der Einwanderung in der argentinischen Literatur zwischen 1880 und 1910 nachgezeichnet.[22] Die untersuchten Texte aus dem genannten Zeitraum stammen von kreolischen Argentiniern. Sie zeigen das Bild zeitgenössischer Beobachter der Einwanderung und der durch sie ausgelösten gesellschaftlichen Konflikte auf. Eine andere Studie von German García steckt den Zeitrahmen weiter.[23] Da er den Korpus erweitert, indem er auch die von Einwanderern geschriebenen Texte erfasst, kann García soweit gehen, die Romane nach bestimmten Motiven und Fragestellungen zu klassifizieren. Dadurch entsteht eine Typologie des Einwanderungsromans, in der sich zwei Kategoriensysteme ausdifferenzieren: Zum einen die Einteilung der Werke hinsichtlich ihres Erzählfokusses, zum anderen hinsichtlich der verwendeten Stereotypen in der Darstellung des Lebensweges der Einwandererfiguren.[24]

García und Onega, wie auch Eduardo Siverino,[25] untersuchen aber nicht nur Prosawerke, sondern auch andere Textsorten, angefangen von den essayistischen Werken der Ideologen des Einwanderungsprojektes, Sarmiento und Alberdi, über die propagandistischen Werke der Gegner einer massenhaften Einwanderung, die ihr rassistisches Menschenbild an ihren Romanfiguren zu beweisen suchten, bis zu den ersten Erzählungen und kabarettistischen Theaterstücken, den sainetes, die sich kostumbristisch[26] mit den durch die Einwanderung ausgelösten Veränderungen des Alltagslebens in Argentinien beschäftigen.

Die Frage nach dem Warum einer erneuten Beschäftigung mit der Einwanderung in der argentinischen Literatur liegt nach Durchsicht der beiden Studien, die den jeweils von ihnen ausgewählten Zeitraum breit abdecken, nahe. Die großen Einwanderungswellen sind vorbei, die argentinische Kultur hat viele der Beiträge der Einwanderer integriert. Dennoch taucht das Thema der Ein­wanderung in der Gegenwartsliteratur immer wieder auf.[27] Die Nachfahren jener Einwanderer, die während der Militärdiktatur ins Exil getrieben wurden, haben begonnen, sich literarisch mit der eigenen Herkunft auseinanderzusetzen, und dabei wird die Erinnerung an die Geschichte ihrer eingewanderten Eltern und Großeltern zu einem Vehikel dafür, Fragen nach dem Zusammmenhang von Identität und Immigration neu zu stellen.[28]

Der Generationswechsel hat sowohl bei den eingewanderten Familien als auch bei denjenigen, die über Einwanderung schreiben, dazu geführt, dass das Gefühl unmittelbarer Betroffenheit einer Beobachtung aus der Distanz gewichen ist. Der blinde Fleck der Einwanderer und ihrer damaligen Gegner und Apologeten kann in der Beobachtung durch die nachfolgenden Generationen sichtbar gemacht werden. Jenseits von politischen Kämpfen und Fragen der Reglementierung und Disziplinierung kommt eine Literatur der Einwanderung nun dazu zu fragen, wie die Gesellschaft durch die Immigration verändert worden ist, wie sich die Brüche der individuellen Biographien in die Geschichte der Nation eingeschrieben haben. Und sie beschäftigt sich statt mit den materiellen Details der Einwanderung mit den neuen Formen der Einschreibung und den sich daraus ergebenden, veränderten Ausgangsbedingungen für die nachfolgende, im Land geborene Generation. Wenn die Einwanderung zudem im größeren Kontext des Übertritts von großen Teilen der argentinischen Gesellschaft in die Moderne betrachtet wird,[29] kann die ideologische Bedingtheit der Immigrantenbilder in den Projekten der Modernisierer erkannt werden.

Es ist jetzt an der Zeit zu fragen, wie sich die Beiträge der Einwanderer zu einem nationalen Kanon stellen, worauf sie Bezug nehmen, was sie verwerfen, welche anderen kulturellen Traditionslinien sie einbringen und wie sich das ganze Feld der Intertextualität verändert, das sich durch die migrierenden Texte neu zusammensetzt. Die Einwanderung hat nicht nur neue Inhalte, sondern auch neue Codes, Sprachen und kulturelle Zeichensysteme mit sich gebracht. Sie stellt eine Form der gesellschaftlichen Umwälzung dar, zu deren Repräsentation erst neue literarische Formen gefunden werden müssen.

1.4. Familienbiographie als subversive Geschichtsschreibung

Immigration wird in der Literatur der 90er Jahre als ein generationenübergreifendes Phänomen dargestellt. Einwanderung vollzieht sich nicht nur in einer Generation, sondern sie wirkt sich auch auf die nachfolgende, zweite Generation aus, genauso wie Vorstellungen der im Ursprungsland verbliebenen Eltern in den Einwanderern weiterwirken. Folgerichtig werden in den neueren Texten die individuellen Geschichten der Einwanderer in den größeren Zusammenhang der Geschichten ihrer Familien gestellt.

Das Spannende an den Einwanderungsgeschichten besteht darin, die Bruchstellen beim Übertritt von der einen Gesellschaft in die andere zu untersuchen, von dem vertrauten kulturellen Umfeld der Eltern in das eines neuen Landes, in dem die Figuren zuerst einmal fremd sind und sich alle Beziehungen selbst schaffen müssen. Die Einwanderung führt zu einem Bruch mit der Elterngeneration, die zurückgelassen wird, und gleichzeitig beinhaltet sie auch eine Kontinuität, weil bestimmte kulturelle Setzungen der Eltern und des Ur­sprungslandes mitgenommen werden, weiterwirken und, in veränderte Zusammen­hänge eingebracht, zu einer Markierung des eigenen Fremdseins werden. Dabei kann die Literatur für die Einschreibungsversuche der Immigranten in Dienst genommen werden: Denn sie eröffnet die Möglichkeit, die veränderte und sich verändernde Identität zu bestimmen und zu bestätigen.

Die Notwendigkeit einer solchen Auseinandersetzung mit Identität ergibt sich aus dem Umstand, dass die Identität der Einwanderer weder mit der einheimischen noch mit der des Herkunftslandes gleichzusetzen ist. Da diese sich aus ihrer Beziehung zu beiden bestimmt, ist sie immer eine von beiden zu unterscheidende dritte. Homi K. Bhabha beschreibt den Migranten als Bewohner eines Third Space, eines nicht essentialistischen Raumes auf der Grenze zwischen den Kulturen.[30] Die Konzepte des Third Space und der Inbetweeness müssen, angewandt auf die argentinische Situation, insoweit erweitert werden, als dass es sich bei diesem Dazwischensein um einen konstitutiven Ort handelt, von dem aus die argentinische Identität in und nach den großen Einwanderungswellen neu konstruiert wurde. Die Beiträge der Einwanderer wurden aber nur zum Teil miteinbezogen. Ein großer Anteil stieß auf Ablehnung und ging in jene ‘unterirdische’ Tradition ein, die nur durch eine Counter-History wieder ans Tageslicht gebracht werden kann.

Die erneute Hinwendung zum Thema der Einwanderung hat in der zeitgenössischen argentinischen Literatur noch andere Gründe. Nachdem die erste Welle der Literatur der Einwanderung noch vorausblickend mit dem Thema umgegangen ist, entstehen die heutigen Romane zu einer Zeit, in der das Projekt der nationalen Konsolidierung und Modernisie­rung mit durchaus fragwürdigem Erfolg beendet worden ist. Die neuere Auseinandersetzung geht weit über eher autobiographische Texte zur Einwanderung hinaus. Aus der Retrospektive kommen heutige Autoren zu einer neuen Herangehensweise an das Thema: Im Sinne eines subversiven Geschichtsprojektes wird der offiziellen Version von Geschichte ein Bild der Einwanderung entgegengesetzt, das Konflikte und Brüche in den Lebenswegen der Immigranten bestehen lässt und diese nicht in eine wie auch immer geartete Vorstellung einer homogenen argentinischen Identität zu integrieren sucht.

Der Umstand, dass viele der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter und insbesondere diejenigen, die sich in Führungspositionen befanden, Einwanderer waren, kann zu zwei unterschiedlichen Deutungen führen. Aus der Sicht der ‘offiziellen’ Geschichte, die eine Geschichte der Rechtsnormen und Verbote ist,[31] werden Einwanderer als Rädelsführer gesellschaftszersetzender Umtriebe beschrieben, aus der Perspektive eines subversiven Geschichtsprojektes – der kleinen Geschichten – können genau dieselben Einwanderer als Pioniere des gesellschaftlichen Wandels auftreten. So initiieren sie notwendige gesellschaftliche Transformationen, und ihr bereits in Europa herausgebildetes Klassenbewusstsein und ihr Wissen über gewerkschaftliche und politische Aktionsformen helfen, die argentinische Nation so weiterzuentwickeln, dass den populären Klassen mehr Partizipationsmöglichkeiten zur Verfügung stehen.

Eine Literatur mit einem politischen Anspruch hat sich notwendigerweise mit den Bruchstellen der Geschichte einer Gesellschaft zu beschäftigten. Dazu gehören die diskontinuierlichen Biographien der Einwanderer ebenso wie gesellschaftliche Umwäl­zungen: die Militärputsche und die nachfolgenden Diktaturen, die Guerra sucia, der schmutzige Krieg während der Militärdiktatur 1976-1983 gegen die eigene Bevölkerung und die wechselhafte Geschichte der peronistischen Bewegung. Sowohl Tizón als auch Rivera[32] fordern für ihre Literatur einen politischen Anspruch ein, wenn sich dieser auch bei beiden unterschiedlich auf ihre ästhetischen Ansätze auswirkt.

Die in der Arbeit besprochenen Romane verweisen auf eine lateinamerikanische, ‘engagierte’ Literaturtheorie. Um nicht wieder den von Roberto Schwarz angeprangerten Theoriemissbrauch zu betreiben, indem man as idéas fora de lugar verwendet und die Hierarchisierung von Zentrum und Peripherie perpetuiert, ist es wichtig, diesen spezifischen Theoriehintergrund anzuerkennen und die Werke in erster Linie an diesem zu messen.[33] Obwohl die Romane von Tizón und Rivera in den 90er Jahren geschrieben wurden, liegen ihre Entstehungsbedingungen in der Zeit vor der letzten Militärdiktatur, in einer Zeit, in der ein nicht unbedeutender Anteil von Intellektuellen und Künstlern in die Aktionen der Stadtguerilla involviert war und sich darin deren erweitertes – politisches – Kunstverständnis ausdrückte.[34] Der angestrebte gesellschaftliche Wandel wurde durch die Metapher der ruptura beschrieben, die der Bewegung der Avantgarde entlehnt wurde. Der Bruch mit der unterdrückerischen Gesellschaftsordnung ging einher mit der Ablehnung der realistischen Darstellungstradition, deren affirmatives Potential als systemerhaltend kritisiert wurde.

Die Betrachtung der Literatur wurde im Argentinien der 60er und 70er Jahre stark durch die Auseinandersetzung der Literaturwissenschaft mit dem historischen Materialismus geprägt. Noé Jitrik beschreibt das Verhältnis von Literatur und Gesellschaft, indem er mit dem Begriff der Arbeit in beiden Bereichen operiert.[35] Er verwirft das Konzept der künstlerischen Schöpfung, creación artística, und schlägt vor, den Begriff der Produktion auf das Kunstschaffen anzuwenden. Jitrik geht es darum, die Verbindung von literarischer Produktion und gesellschaftlicher Produktion sichtbar zu machen. Er lehnt es ab, ein direktes Abbildungsverhältnis anzunehmen, denn die Idee einer in der Literatur gespiegelten Realität mache die spezifisch literarischen Operationen unsichtbar, die Literarizität erzeugen. Aufgabe der literarischen Produktion sei es: “[p]roducir un conocimiento generalizable, partícipe de un trabajo global de conocimiento de lo real”.[36]

Unter literarischer Produktion versteht Jitrik Schreibweisen, die mit den ihnen eigenen Operationen das Gegebene in Neues verwandeln und die von sozial determinierten Regeln, Konnotationen und Metaphern ausgehen, diese aber einem Prozess der significación, Sinngebung-Sinnverschiebung, unterwerfen, der ein neues Ereignis herbeiführt. Die Schrift befindet sich somit immer zwischen Widerspruch und Bestätigung. Damit die Literatur ihr Potential zur Veränderung realisiert, muss der Prozess der Sinngebung-Sinnverschiebung beständig in Gang gehalten werden.

Übertragen auf die Literatur der Einwanderung bedeutet dies, dass immer neue Werke über aktuelle und vergangene Einwanderungswellen, Exile, Migrationen und Vertreibungen geschrieben werden müssen, damit die Erinnerung an die Bruchstellen der nationalen Identität wach gehalten wird. Eine Literatur der Einwanderung entwirft eine andere, eine prekäre Vision der nationalen Identität, die den Homogenisierungsversuchen von Seiten der politischen Eliten entgegenläuft, indem sie den Identitäten der Menschen ihre Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit belässt und die Nation als heterogen und kulturpluralistisch beschreibt. Eine Literatur der Einwanderung fasst unterschiedlichste Stimmen zu einem alternativen Kanon zusammen, der den Anspruch der Immigranten auf ihre eigene Kultur und Herkunft einlöst und ihr Recht auf ihre Differenz verteidigt.

II. Kapitel Héctor Tizón: Die bikulturellen Spuren der Migranten

2.1. Aus der Perspektive der ‘Anderen’

Der Roman Luz de las crueles provincias[37] nimmt sowohl im Werk Tizóns als auch in der Literatur der Einwanderung eine besondere Stellung ein: Die in LCP dargestellten Einwanderer wählen eine ungewöhnliche Route.[38] Statt in die Küstenregion gehen sie in den Nordwesten des Landes – entgegen der Abwanderungsbewegung der dort ansässigen Bevölkerung.[39] Aber nicht nur der Handlungsort, auch die Erzählperspektive ist gegenüber anderen Immigrationsgeschichten verschoben. Indem Tizón das Geschehen an die Peripherie der argentinischen Nation verlegt und den Lebensweg seiner Protagonisten aus der Perspektive der lokalen Kultur, also der ‘Anderen’, erzählt, erzeugt er eine neue Sicht auf die Einwanderung, die sich wesentlich von Einwanderungsgeschichten aus der Perspektive der Immigranten oder der kulturellen Eliten des Ziellandes unterscheidet. So folgt in LCP eine kollektive und vernakulare Erzählstimme den bikulturellen Spuren der Migranten – Spuren, in denen sich Elemente aus der Kultur ihres Herkunfts- und ihres Bestimmungslandes überlagern.

Diese ungewöhnliche Fokussierung der Einwanderungsgeschichte wird nachvollziehbar, wenn man LCP in den Kontext anderer Werke Tizóns setzt, in denen ebenfalls Wanderungsbewegungen thematisiert werden. In Folge dieser Beschäftigung mit seinem Werk lässt sich der Versuch einer Neukonzeption des Begriffs der Literatur der Einwanderung unternehmen, indem Einwanderungsliteratur zum Begriff der Migrationsliteratur erweitert wird, die auch die literarische Auseinandersetzung mit Deplacierungen innerhalb von nationalstaatlichen Grenzen und den Gang ins Exil einschließt. Diese bei Tizón ausgedrückte Generalisierbarkeit der einzelnen Wanderungsbewegungen wird durch eine gemeinsame anthropologische Dimension bedingt: In letzter Konsequenz wird das Dasein des Migranten als conditio humana gesetzt. Das Immigrantenbild geht im Menschenbild auf, der Tizón’sche Mensch ist ein ewiger Wanderer, ein rastloser Nomade, ein Vertriebener und Verfolgter.

Ich werde im Folgenden zuerst auf Tizóns literarische Auseinandersetzung mit der minoritären Kultur der Nordwestprovinzen und der dieser zugrundeliegenden Poetik eingehen, danach werde ich LCP in den Werkzusammenhang stellen und untersuchen, worin einige der Besonderheiten seines Immigrantenbildes bestehen.

2.2. Schreiben auf der Grenze

In LCP wird die Geschichte einer Immigrantenfamilie von einem peripheren Erzählstandort aus geschildert. Dieser Perspektivenwechsel erklärt sich aus Tizóns Faszination für die Grenze als Ort des Kulturkontaktes.[40] Bei ihm bezeichnet der Begriff der frontera die Grenzregion Argentiniens, während límite die eigentliche Grenzlinie markiert. Sich auf der frontera zu befinden, bedeutet, gleichzeitig in und außer Landes zu sein, die Konstruktionen der nationalen Identität auf ihre Konstruiertheit hin untersuchen und eine neue grenzüberschreitende Identität im Austausch mit den Kulturen jenseits der límite (er)finden zu können. Tizóns kritische Aufladung des Begriffs der frontera zeigt aber auch auf, wie die von Europa ausgehende Unterscheidung Zentrum / Peripherie pflichtschuldig auf die lokalen Verhältnisse abgebildet wurde. Als Zentrum wurde das nach Europa orientierte Buenos Aires gesetzt, an die Peripherie verortete man die vermeintlich rückständigen Nordwestprovinzen.

Auch in der Beschreibung der lokalen Kultur kann das Bild der frontera produktiv gemacht werden: Zum einen ist die orale Literatur des Nordwestens im nationalen Kulturdiskurs gegenüber kulturellen Praktiken marginalisiert, die sich der Schriftlichkeit bedienen, zum anderen ist die Grenzregion Ort der Begegnung und Vermischung der indigenen und der hispanokreolischen Kultur, der volkstümlichen, ‘populären’ und der elitären, ‘hohen’ Kultur. Der Nordwesten stellt sich somit als heterogenes Element einer als ‘rein’ und in Kontinuität zur europäischen Kultur vorgestellten argentinischen Kultur entgegen.

Obwohl sich Tizón auf diesen peripheren Raum als Handlungsort seiner Werke beschränkt, kann er aber nicht – wie Manzoni[41] und Tendler[42] herausarbeiten – ohne weiteres in die Tradition regionalistischer Autoren eingeordnet werden. Vielmehr distanziert sich Tizón explizit von einer Kategorisierung als Schriftsteller des regionalismo. Zum einen wendet er sich gegen die Bestimmung jedweder Literatur als regional durch eine kulturelle Elite, die Romane von Schriftstellern aus den Provinzen als regionalistisch in Opposition zu einer vermeintlich von Buenos Aires ausgehenden Nationalliteratur setzt[43] und damit meist eine Abwertung verbindet,[44] zum anderen kritisiert er Autoren, die sich selbst affirmativ auf die Tradition des lateinamerikanischen regionalismo berufen.

Den Bruch mit der Art, wie die vorangegangenen Generationen regionalistischer Schriftsteller den Nordwesten Argentiniens und seine minoritäre Kultur repräsentiert haben, formuliert die 1944 entstandene Gruppe La Carpa wie folgt: “Por eso proclamamos nuestro más absoluto divorcio con es floración de poetas ‘folkloristas’ que ensucian las experiencias del arte y del sabor popular utilizándolos de ingredientes supletorios de su impotencia lírica”.[45] Tizón selbst nahm ab 1955 an der Gruppe um die Zeitschrift Tarja teil, die wie La C arpa den Versuch unternahm, jenseits volkstümelnder Klischees in und über die Provinzen zu schreiben. In seinen Romanen und Erzählungen machte er sich daran, die Sprache einer – aus seiner damaligen Sicht – untergehenden Kultur aufzuzeichnen und zu erinnern. Wie der brasilianische Kritiker Antonio Cândido lehnt Tizón den paisajismo der regionalistischen Schriftsteller als ein Zugeständnis an den kulturellen Kolonialismus der städtischen Zentren gegenüber den ländlichen Gebieten ab.[46] So gibt es in den Romanen Tizóns keine beobachteten Landschaften, sondern das beschriebene Land ist immer schon ein gefühltes und gelebtes Terrain. An die Stelle der Beschreibungen tritt – wie Tendler zeigt – eine Arbeit mit der Geschichte und den Geschichten der Region aus einem synchronen, kollektiven Gedächtnis heraus, das andere Ereignisse erinnert als die diachrone, offizielle Historiographie: “historia real, historias contadas y oídas, leyendas, la gran historia de los derrotados que no llegó a escribirse”.[47]

Tizón versucht sich an einer bikulturellen Schreibweise, die beide Kulturen, die nationale Kultur und die minoritäre indigene und mestizische Kultur, verarbeitet:[48] “El discurso de Tizón [...] se construye sobre el dialogismo cultural que se caracteriza por enfrentar las formas de cada una de estas culturas”.[49] Er zeigt aber auch auf, an welchen Stellen in diesem Dialog zwischen den Kulturen nicht auflösbare, nicht vermittelbare Differenzen bestehen – Konflikte, die in der Vision des frühen Tizón längerfristig auf das Untergehen der schwächeren Kultur oder ihrer vollständigen Assimilierung durch die dominante Kultur hinausliefen.

Die Romane, die Tizón nach seinem Exil in Europa verfasst hat, führen nicht mehr die unausweichliche Akkulturation der Bewohner der Puna vor, sondern favorisieren eine Interpretation der kulturellen und sozialen Transformationen als Transkulturation und Hybridisierung.[50] Auf inhaltlicher Ebene stellt er die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen dar. Damit knüpft Tizón in seiner Beschreibung der unterschiedlichen Kulturen, die in seinen Romanen zusammentreffen, an Nestor Canclinis Verständnis der lateinamerikanischen Kultur als heterogen und pluralistisch an: Canclini fordert in Culturas híbridas[51] statt von der lateinamerikanischen Moderne von Modernitäten zu sprechen. Es gebe sowohl unterschiedliche Stadien in der Entwicklung hin zur modernen Gesellschaft als auch unterschiedliche Modernisierungsgeschwindigkeiten.

Das tragische Moment in LCP besteht darin, dass Menschen aus einer rückständigen Region Europas – wenn wir ein lineares und progressives Entwicklungsmodell eurozentristischen Zuschnitts anlegen – in eine noch rückständigere Region Argentiniens gelangen und das entgegen ihrer Hoffnung, durch die Auswanderung ihre wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation verbessern zu können. Damit wird das eigentliche Drama des enttäuschten Einwanderungsprojekts vorgeführt, indem den Schilderungen der Anwerbungskommissionen der vermeintlich paradiesische Zustände im Land eine Sicht der Einwanderer entgegengehalten wird.

2.3. Werkzusammenhang

Das Werk Tizóns lässt sich – nach Adrián Pablo Massei – in zwei Blöcke einteilen.[52] Der Bruch zwischen beiden fällt mit einem bedeutenden Einschnitt in Tizóns eigener Biographie zusammen: seinem Gang ins Exil während der letzten Militärdiktatur. Damit fügt sich Tizón in eine ganze Reihe argentinischer Intellektueller in der ‘Diaspora’ ein, die zumeist selbst Nachfahren von Einwanderern waren. Das Exil wurde in Folge zu einem wichtigen Topos der zeitgenössischen argentinischen Literatur. María Teresa Gramuglio schlägt deshalb vor, das Exil der Immigrantennachfahren als das Bild einer umgekehrten Immigration zu deuten,[53] das – wie Leonardo Senkman für den Fall der argentinischen Autoren jüdischer Abstammung zeigt – zu einer erneuten Beschäftigung und Identifikation mit der Herkunft der eigenen Vorfahren geführt hat.[54] Die Abbildung dieser gegenläufigen geschichtlichen Ereignisse aufeinander kann an den Werken, die Tizón während und nach seinem Exil verfasst hat, vorgenommen werden. La casa y el viento, El hombre que llega a un pueblo und LCP setzen sich mit Exil, Migration und Immigration auseinander. Wenn man nun im Sinne von Gramuglio das Exil als ein umgekehrtes Bild der Einwanderung liest, kann man damit eine Anthropologie von Wanderungsbewegungen formulieren, die darauf abzielt, unterschiedliche Arten von Deplacierung gemeinsam zu theoretisieren.

In den Nach-Exil-Romanen reflektiert Tizón auch verstärkt seine Rolle als Schriftsteller. Hatte er vorher in seiner Romantrilogie Sota de bastos, caballo de espadas / Casabindo / El cantar del profeta y el bandido versucht, die vergessene Geschichte der Region der Puna aufzuzeichnen, so ist es nun dieses Selbstverständnis als Chronist der mündlich weitergegebenen Geschichten von Aufständen und ‘unerhörten’ Ereignissen, das in den neueren Romanen problematisiert wird: die Rolle des Schriftstellers als Vermittler zwischen einer oralen Kultur und einer Schriftkultur, zwischen den indigenen und mestizischen Bewohnern der Puna und den Einwohnern der großen Städte im Süden, die hauptsächlich europäischer Abstammung sind.

Bikulturelle Schreibweisen dienen Tizón hierbei, das Randständige in den hegemonialen Diskurs einzuschreiben. Die Stärke solcher Schreibweisen besteht darin, dass sie nicht versuchen, auf der Ebene des Inhaltlichen Topographien des Anderen zu erstellen, indem sie Landschaften beschreiben und dazu die indigenen Namen der Naturphänomene und die geographischen Toponyme auflisten, sondern dass sie versuchen, auf formaler Ebene Mischformen der beiden kulturellen Schreibweisen zu (er)finden. Das Orale der schriftlosen indigenen Kulturen und die von ihnen hervorgebrachten literarischen Formen –Märchen, Geistergeschichten, ätiologische Geschichten um Naturphänomen, Refrains, Reime, Volkslieder, etc. – finden dabei ihren Weg in den Roman, der als Form aus der hegemonialen okzidentalen Kultur übernommen wird.

Das Problem, das sich einem Autor stellt, der über schriftlose Kulturen schreibt, ist: Wie kann er die Stimmen dieser Menschen in einem ihrer Welt fremden Medium nachschöpfen, ohne dabei zu versuchen – wie in den Bewegungen des Indigenismus und des Criollismus – das ‘Andere’ für das ‘Eigene’ zu vereinnahmen, indem es in eine in Abgrenzung zur madre patria Spanien entworfene Nationalkultur eingefaltet wird. Der Unterschied zwischen dem Schriftsteller und der Kultur ohne Schrift bleibt auch im Fall Tizóns trotz dessen “compromiso subjetivo con el otro“ weiter bestehen.[55] Tizóns angestrebter Rolle als Chronist der Puna[56] muss die Erkenntnis entgegengehalten werden, dass dabei die Illusion einer verschriftlichten Oralität bzw. einer oralen Schriftlichkeit[57] erzeugt wird, die es kritisch zu hinterfragen gilt, nicht zuletzt, weil Protagonisten und Rezipienten seiner Werke aus zwei voneinenander verschiedenen kulturellen Sphären kommen und somit eine autochthone Perspektive auf eine eurozentristische trifft.

Tizón bewegt sich in der Darstellung der Kultur der Puna stets auf dem schmalen Grad zwischen einem strategischen Essentialismus und einem kulturellen Pluralismus. Ein strategischer Essentialismus setzt aus einer subalternen Position heraus bestimmte kulturelle Praktiken als homogenes Erbe und löscht dabei die Erinnerung an die sozialen Konflikte zur Zeit ihrer Entstehung aus. Ein kultureller Pluralismus duldet das Nebeneinander verschiedener kultureller Praktiken, läuft allerdings beständig Gefahr, den feindlichen Übernahmeversuchen, der Hegemonie der einen oder anderen Kultur nichts entgegen setzen zu können. Ihn streitbar zu machen und gleichzeitig von einem Verständnis von Kultur als einem im Wandel befindlichen, bedeutungsstiftenden Symbolsystem auszugehen, ist die schwierige Aufgabe, der sich Tizón in seinen neueren Texten stellt.

2.3.1. Die Verunsicherung der Repräsentation in La casa y el viento

1976 begibt sich Tizón selbst auf Wanderschaft: Er flieht vor der Militärdiktatur nach Spanien. Auch der Erzähler in La casa y el viento bricht auf, um das Land zu verlassen. Eine Begründung für sein Exil liefert er lapidar im letzten Absatz des Romans: “No quise seguir viviendo entre violentos y asesinos”.[58] So wird Tizóns erster Roman, der im Ausland entsteht, zu einer Auseinandersetzung mit seinem Gang ins Exil. In La casa y el viento steht das Haus für die Heimat, die verlassen wird, und der Wind für die Geschichte, die auch bis in jene abgelegenen Gegenden vordringt.[59] Der Ich-Erzähler geht aber nicht auf direktem Wege über die Grenze, vielmehr nähert er sich ihr im Verlauf des Romans spiralförmig an. Die Erzählung hört in dem Moment auf, in dem der Protagonist die endgültige Reise Richtung Grenze antritt. Vorher begibt er sich aber auf eine Erkundungsfahrt durch die Heimat. Die Orte, die verlassen werden, müssen noch einmal erlebt werden, bevor sie endgültig zu Orten der Erinnerung werden können.

Weil die eigene Geschichte zu nahe, zu bedrohlich ist – er wird verfolgt –, spürt der Ich-Erzähler anderen Geschichten nach. Erst diese Geschichten der ‘Anderen’ ermöglichen es ihm überhaupt zu schreiben und sich dabei seiner Entfremdung von seiner Umwelt bewusst zu werden. Schon vor dem Grenzübertritt fühlt er, dass er auch selbst ein anderer geworden ist, ein Fremder in der eigenen Heimat, ausgeschlossen von jenen Kräften, die darüber bestimmen, was publiziert, aufgezeichnet und geschrieben werden darf.

Seine Erinnerungsarbeit hat den Charakter des Endgültigen. Es wird ein Ort verlassen, auf den Erzähler danach keinen realen Zugriff mehr hat. Das Exil verschiebt somit das bisherige Leben in die Erinnerung und in den Bereich des Gefühls. Das Ungewisse, das vor dem Ich-Erzähler liegt, bietet keinen Möglichkeit der Verwurzelung, und so sind es gerade jene biographisch gewachsenen Bindungen mit der Heimat, die aufgelöst werden müssen:

Cuando decidí partir, dejar lo que amaba y era mío, sabía que era para siempre, que no iba a ser una simple ausencia sino un acto irreparable, penoso y vergonzante, como una fuga. [...] Pero antes de huir quería ver lo que dejaba, cargar mi corazón de imágenes para no contar ya mi vida en años sino en montañas, en gestos, en infinitos rostros; nunca en cifras sino en ternuras, en furores, en penas y alegría. La áspera historia de mi pueblo.[60]

In dem Roman werden die beiden Orte des hier und des dort konstruiert, die das Exil bestimmen. Die kollektive Geschichte des dort soll ins Gedächtnis gerufen werden, gerettet und bewahrt im Proceso de reorganización nacional – wie die Selbstbezeichnung des letzten Militärregimes lautete. Die Reise geht zuerst in die Vergangenheit an den Geburtsort des Ich-Erzählers. Dabei erhält die Auseinandersetzung mit dem Marginalen eine politische Bedeutung: In einer Zeit, in der die Militärregierung eine Neubestimmung der nationalen Kultur verfügt, die auf Ausschluss basiert, wird jegliche alternative kulturelle Schreibweise zu einer Widerstandspraxis gegen die Repression. Die Stimmen der ‘Anderen’ die vom Ort des Marginalen ausgehen, erinnern an die zum Schweigen und zum Verschwinden gebrachten Stimmen. Durch die überlebensnotwendige Flucht vom Regime wird einmal mehr bewiesen, dass Tizón gleichzeitig innerhalb wie außerhalb der Gemeinschaft steht, über die er schreibt. Er stellt für die Militärregierung in seiner selbstgesuchten Rolle als Chronist der peripheren Kultur eine Gefahr dar – seine Heterodoxie birgt Widerstandspotential. Die Stimme eines Autor, der in seiner vermittelnden Rolle erst dem ‘Anderen’ zum Sprechen verhilft, muss ausgelöscht werden.

Der Weg ins Exil fällt dem Schriftsteller aber nicht leicht – schließlich ist sein Schreiben aufs Engste verbunden mit der Region und den Menschen, die er verlässt. Das Exil bedeutet somit einen Bruch mit dem bisherigen Werk, welcher die Auseinandersetzung mit der Rolle des Schriftstellers als Vermittler zwischen zwei cosmovisiones disímiles[61] ins Zentrum des künftigen Schreibens rücken soll:

A partir de la casa y el viento, desaparece ese papel desproblematizado del Tizón cronicador, el cual da paso a una actitud más consciente de la posición ambigua del escritor de textos biculturales o híbridos, en los cuales el intento de reivindicar una cultura marginada se ve siempre mediatizado por la visión que imponen los códigos pertenecientes al ‘modelo escriptural de importancia’, según los términos de Lienhard.[62]

2.3.2. Fiktion als Widerstand: Hombre que llega a un pueblo

Tizóns 1987 veröffentlichter Roman Hombre que llega a un pueblo schildert das Schicksal eines flüchtigen Mannes, der ein abgelegenes Dorf erreicht, dessen Bewohner seit Jahren auf die Ankunft eines Priesters warten.[63] Der Mann wird für den langersehnten Geistlichen gehalten, und er spielt die ihm zugedachte Rolle mit. Obwohl er in einer Lüge lebt, wird er dennoch zu einem Verfechter der Kultur der Dorfbewohner und organisiert den lokalen Widerstand gegen ein Straßenbauprojekt, das Dorf und Umland erschließen und an die argentinischen Metropolen anbinden soll.

Wieder finden wir die Bewegung der Verteidigung und Erinnerung einer verschwindenden Kultur – einer lokalen Kultur, die in der Vision Tizóns durch die Abwanderung der Bevölkerung in die großen Städte des Tieflandes und ihren Anschluss an den nationalen Wirtschafts- und Kulturraum in die Krise gerät. Die Begegnung der beiden Kulturen löst vielschichtige Prozesse des Wandels und der Aneignung neuer kultureller Praktiken aus. Verkürzend wäre es hier, von einer bloßen Einverleibung der ethnischen durch die nationale Kultur zu sprechen und dabei zu übersehen, dass die Dorfbewohner die Veränderungen der Modernisierung, die technischen Geräte und neuen Lebensformen, durchaus für sich und ihre Anliegen zu instrumentalisieren verstehen. Die lokale Kultur wandelt sich, dennoch geht sie nicht vollständig in der nationalen auf, sondern gerät in ein komplexes Abhängigkeitsverhältnis zu ihr.

Auch in der Figur des falschen Priesters können wir eine Auseinandersetzung mit der Figur des Migranten erkennen. Der flüchtige Dieb kommt aus dem Tiefland, aus einer anderen Kultur, kann lesen und schreiben und versteht es, sich den Dorfbewohnern als eine eklektische Mischung aus Intellektuellem und Prediger, Rebellen und Konservativem zu präsentieren. In der Figur des falschen Priesters verkörpert sich die problematische Rolle des Schriftstellers in einer oralen Kultur. Auch Tizóns eigene Erfahrung der Rückkehr aus dem Exil lässt sich in einer zweiten Deutungsebene im Roman ausmachen. Der Heimkehrer hat sich durch das Exil verändert, der Ort, an den er zurückkehrt, trägt die Spuren jener Gewalt, die ihn ausgestoßen hat, noch immer in sich. So kann er sich nur mit Hilfe der Fiktion an eine Gemeinschaft anpassen, die ihn von sich selbst enfremdet, indem sie ihn zu einem der ‘Anderen’ gemacht hat.

2.4. Wandernde Identitäten: Luz de las crueles provincias

In LCP greift Tizón wieder das Thema der Migration auf. Die Protagonisten des Textes sind ein einwanderndes Ehepaar aus Italien. Protagonistin ist aber auch wieder – worauf Manzoni zurecht hinweist – die Region des argentinischen Nordwestens, die als “zona constituida como espacio cerrado, como territorio excluido de la modernización”[64] mit der Ankunft von Ausländern konfrontiert wird. In LCP werden über die beiden Figuren zwei Geschichten erzählt: Zum einen schildert der Text die zunehmende Fragmentierung der Identität des Mannes, zum anderen die späte Emanzipation seiner Frau, die es – anders als er – zumindest schafft, sich an das neue soziale Umfeld anzupassen.

Tizón stellt dem Roman ein Motto voran, in dem versucht wird, den Wahrheitsstatus der Geschichte von Anfang an festzuschreiben: “Esta historia ocurrió hace muchos años, cuando nuestros padres eran niños o muchachos [...]”.[65] Dennoch wird bereits im folgenden Teilsatz das Geschehen wieder in einen fiktionalen Zusammenhang überführt. Sind wir durch den Bezug auf die eigenen Eltern kompromittiert, deren Erfahrungen und Erlebnisse gleichsam als Wahrheit zu setzen, wird dennoch für uns ein fiktiver Zeitrahmen gewählt: “y podría comenzar para nosotros, los que aquí los conocimos, al atardecer de un mes de abril –aunque en realidad era mucho antes– [...]”[66] Das Umschlagen der Wahrheit wiederholt sich nochmals in dem in Parenthese gesetzten Einwand. Wir finden bereits in diesem Motto eine kollektive Erzählstimme, die wie in vielen Romanen der lateinamerikanischen Literatur den Akt des Erinnerns in einer bedrohten Gemeinschaft bezeugt. Eine Gemeinschaft spricht gegen die kulturell und politisch hegemonialen Mächte, die sie unterscheiden und gleichzeitig danach trachten, deren Traditionslinie, deren Differenz, in einem homogenisierten nationalen Projekt aufgehen zu lassen. Die kollektive Erzählerstimme ist eine mögliche literarische Form einer bikulturellen Schreibweise. So kann eine andere, eine eigene ‘kleine Geschichte’[67] aus dem Gestus der persönlichen Betroffenheit geschrieben werden, um die Eigenarten der lokalen Kultur(en) des argentinischen Nordwestens, seiner indigenen und mestizischen Bevölkerung, zu verschriftlichen.

[...]


[1] “Auswandern / ist wiedergeboren werden / mit einer Angst, die weiß, dass sie Angst ist / ist einer neuen Welt entgegen treten / in der die Stille aufhört / ist auch viele Verluste in Kauf nehmen/ darunter: unsere Trennung // Januar machte mich zu einer Auswanderin / die alles Gelebte der Erinnerung überließ”, Angélica Karina Fernández Carpio, En silencio, Buenos Aires, Ediciones Co, 1995, S. 47.

[2] Den Begriff Diskurs benutze ich anlehnend an Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a. M., Fischer, 1991.

[3] Zum Begriff der Counter-History siehe die Auseinandersetzung zwischen David Biale und Amos Funkenstein. Entwickeln die beiden Autoren diesen Begriff aus einem religiösen Kontext, möchte ich ihn dahingehend erweitern, dass er auch auf die Schreibung des kulturellen Gedächt­nisses einer marginalisierten Kultur anwendbar ist. Sowohl Tizón als auch Rivera beziehen sich in ihrer Version der Geschichte auf bekannte Ereignisse, die aber in der ‘offiziellen’ Geschichte meist unterschlagen werden oder einen anderen Stellenwert zugewiesen bekommen. Es geht ihnen wie Biale darum, eine unterirdische Geschichte zu Tage treten zu lassen, die die ‘offizielle’ Ge­schichte unterminiert: “I distinguish counter-history from revisionism by claiming that a coun­ter-history finds the truth in a subterranean tradition that must be brought to light [...] Counter-history is a type of revisionist historiography, but where the revisionist proposes a new theory or finds new facts, the counter-historian transvalues old ones”, David Biale, Counter-History and Jewish Polemics Against Christianity: The Sefer toldot yeshu and the Sefer zerubavel, <http://www.press.jhu.edu/journals/jewish_social_studies/v006/6.1biale02.html>.

[4] Héctor Tizón, Luz de las crueles provincias, Buenos Aires, Alfaguara, 1999 (1.Ausgabe 1995).

[5] Andrés Rivera, El verdugo en el umbral, Buenos Aires, Alfaguara, 1994.

[6] “Eine kleine oder mindere Literatur ist nicht die Literatur einer kleinen Sprache, sondern die einer Minderheit, die sich einer großen Sprache bedient [...] Das sind also die drei charakteristischen Merkmale einer kleinen Literatur: Deterritorialisierung der Sprache, Kopplung des Individuellen ans unmittelbar Politische, kollektive Aussageverkettung”, Gilles Deleuze/ Felix Guattari, Für eine kleine Literatur, Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1976, S. 24 ff.

[7] Michel Laronde formuliert in seiner Untersuchung zum Roman beur, wie solch ein zweiteiliges Identitätskonzept aussehen könnte: “Le concept d’Identité implique l’individu dans deux types de relations au Monde: une relation intérieure, celle qui joint l’individu au Monde et que j’appellerai la part collective de l’identité; une relation extérieure, celle que le détache du Monde et que j’appellerai la part individuelle de l’identité [kursiv im Text , meine Anm. ]”, Michel Laronde, Autour du roman beur. Immigration et Identité, Paris, Editions L’Harmattan, 1993, S. 17.

[8] Zum Begriff der Emergenz siehe: Thomas Wägenbaur, Emergenz der Kommunikation (aus dem Beobachterparadox). Sechs einführende Bemerkungen, im Manuskript vorliegend, Vortrag im Rahmen der Tübinger Tagung zum Begriff der Emergenz 1999. Emergenz ist demnach ein fortwährender Prozess, in dem sich ein System in der selbstreferentiellen Relationierung seiner Elemente als autopoeitisch und operational geschlossen gegenüber seiner Umwelt ausdifferenziert. Kultur emergiert als ein System, das 1. „im Unterschied zu allen anderen Beobachtungsoperationen [...] laufend an der Entdeckung [seiner] jeweiligen blinden Flecken [arbeitet]“, und 2. „innerhalb der Gesellschaft einen Bruch [markiert], indem [es] z.B. auf Versprechungen und Möglichkeiten verweist, die diese nicht gehalten oder wahrgenommen hat (kulturelles Gedächtnis)“, Wägenbaur, Emergenz, op.cit., S. 8.

[9] “Negli anni ‘70 (1870) quando inizia l’immigrazione di massa il tema dell’immigrante ha già svolto un ruolo fondamentale nella programmazione liberale della nuova Argentina. In fatti in questo paese l’immigrante teorico precede l’immigrante reale [kursiv im Text, meine Anm. ]” . Vanni Blengino, “Immigrazione italiana, letteratura e identità nazionale argentina”, in: Nova Americana, Nummer 3, 1980, Turin, Giulio Einaudo Editore, S. 331–353, hier: S. 332. Diese Vorzeitigkeit ist charakteristisch für die künstlerische Avantgarde in Argentinien, die gesellschaftliche und politische Zustände vorwegnimmt. Dabei beziehen sie sich auf Modelle und Errungenschaften aus den Metropolen, übernehmen diese aber nicht identisch, sondern passen sie an den eigenen kulturellen Kontext und die von ihnen diagnostizierte gesellschaftliche Rückständigkeit an. Beatriz Sarlo hat in ihrem Buch La imaginación técnica. Sueños modernos de la cultura argentina (Buenos Aires, Ediciones Nueva Visión, 1992) darauf hingewiesen, dass die Autoren des Modernismo – besonders Roberto Arlt – ihre Protagonisten durch modernste Stadtlandschaften schicken zu einer Zeit, in der Buenos Aires von seiner Materialstruktur her noch erhebliche Ähnlichkeiten mit der kolonialen Metropole aufwies. Die in Los siete locos (Buenos Aires, Losada, 1997, 1. Auflage: 1929) beschriebenen Wolkenkratzer und modernen Massenverkehrsmittel entstammen mehr der Einbildungskraft des Autors als des tatsächlichen Stadtbildes in jener Zeit. Vgl. Jorge F. Liernur/ Graciela Silvestri, El umbral de la metrópolis. Transformaciones técnicas y cultura en la modernización de Buenos Aires (1870–1930), Buenos Aires, Editorial Sudamericana, 1993.

[10] María Teresa Gramuglio, “Notas sobre la inmigración”, in: Punto de Vista, Nr. 22, Dez. 1984, 6. Jahrgang, Buenos Aires, S. 13-15, hier: S. 13.

[11] “Die Einwanderung kommt als ein literarisches Motiv auf, das fest mit einem Bündel bekannter Obsessionen verknüpft ist, die in vielen Fällen unsere und die Geschichten unserer Familie berühren. Schmerzvolle Geschichten der Entwurzelung und Assimilation, die zwar auf der einen Seite auf die unbeantwortete und unbeantwortbare Frage nach den Ursprüngen verweisen, auf der anderen Seite aber, übertragen auf die Gesellschaft, ohne Unterlass die zentralen Punkte der Gestaltung des modernen Argentiniens und die Zusammensetzung der Figur der sogenannten nationalen Identität problematisieren”, Gramuglio, Notas, op.cit., S. 13. Alle Übersetzungen von ursprünglich spanischsprachigen Zitaten in der vorliegenden Arbeit stammen von mir.

[12] Für Details siehe: Jorge Carlos Mitre, “La inmigración argentina y la identidad nacional”, in: Historia, Nr. 26, Juni-August 1987, 7. Jahrgang, Buenos Aires, S. 43-58.

[13] Für Tulio Halperin Donghi bekommen die Einwanderer im Rahmen der Modernisierung dadurch eine besonders wichtige Rolle, dass man ihnen vielfältige soziale und diskursive Funktionen zuweisen kann: “A lo largo de todo el siglo XIX la inmigración fue considerada – en la Argentina más aún que en el resto de América española – un elemento esencial en la creación de una sociedad y una comunidad política modernas. [...] Las razones para el surgimiento de un consenso tan vasto y duradero en torno de una política que no podía sino introducir cambios cataclísimos en la sociedad argentina son necesariamente complejas: [...] otras (acaso más importante) se vinculan con la complejidad – a menuda contradictoria – de las funciones asignadas a los inmigrantes en el proceso de modernización de los que todos coincidían en considerarlos un ingrediente esencial” “Das ganze 19. Jahrhundert über wurde die Einwanderung – in Argentinien mehr als im Rest Hispanoamerikas – als wesentliches Element für die Schaffung einer modernen Gesellschaft und politischen Gemeinschaft angesehen [...] Die Gründe für das Aufkommen eines solch breiten und dauerhaften Konsenses über eine Politik, die zu nichts anderem als zu umwälzenden Veränderungen in der argentinischen Gesellschaft führen konnte, sind notwendigerweise komplex: [...] andere (wahrscheinlich die wichtigeren [Gründe]) führen die (manchmal widersprüchliche) Komplexität der Funktionen an, die den Immigranten im Modernisierungsprozess zugewiesen wurden, wobei alle darin übereinstimmen, sie für einen wesentlichen Bestandteil zu halten”, Tuli H. Donghi, “¿Para qué la inmigración? Ideología y política inmigratoria y aceleración del proceso modernizador: El caso argentino (1810–1914)”, in: Jahrbuch für Geschichte von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Lateinamerikas, Richard Konetzke/ Hermann Kellenbenz (Hrsg.), Band 13, Köln, Böhlau Verlag, 1976, S. 437-489, hier: S. 435.

[14] Grundlage hierfür war die 1853 verabschiedete Verfassung, in der es im Artikel 25 heißt: “El Gobierno Federal fomentará la inmigración europea y no podrá restringir, limitar, ni gravar con impuesto alguno la entrada en el territorio argentino a los extranjeros que traigan por objeto labrar la tierra, mejorar las industrias e introducir y enseñar las ciencias y las artes” “Die Bundesregierung hat die europäische Einwanderung zu fördern und darf den Zuzug von Einwanderern, die mit dem Ziel ins Land kommen, die Erde zu bebauen, die Industrien zu verbessern und Wissenschaften und Künste einzuführen und zu lehren, weder einschränken noch begrenzen, noch mit einer Steuer erschweren”, zitiert nach: Mitre, Inmigración, op.cit., S. 45.

[15] “El mal que aqueja a la República Argentina es la extensión: el desierto la rodea por todas partes y se le insinúa en las entrañas: la soledad, el despoblado, sin una habitación humana, son por lo general, los límites incuestionables entre unas y otras provincias […] La ciudad es el centro de la civilización argentina, española, europea; allí están los talleres de las artes, las tiendas del comercio, las escuelas, los colegios, los juzgados, todo lo que caracteriza, en fin, a los pueblos cultos” “Die Krankheit, an der die Republik Argentinien leidet, ist ihre Ausdehnung: Die Wüste umgibt sie von allen Seiten, und sie deutet sich in ihrem Innersten an: Die Einsamkeit, die unbevölkerten Gegenden ohne menschliche Behausung stellen für gewöhnlich die unbestreitbaren Grenzen von einer zur anderen Provinz dar [...] Die Stadt ist das Zentrum der argentinischen, spanischen, europäischen Zivilisation; dort befinden sich die Werkstätten der Handwerker, die Geschäfte des Handels, die Grund- und weiterführenden Schulen, die Gerichte, alles, was letztlich die kultivierten Völker auszeichnet”, Domingo Faustino Sarmiento, Facundo. Civilización y barbarie, Roberto Yahni (Hrsg.), Madrid, Ediciones Cátedra S. A., 1997, S. 56 u. 66.

[16] Dabei nahm Buenos Aires als Ort der Kulturbegegnung eine Sonderstellung ein – dort waren Europäisierung und Enthispanisierung bereits weit vorangeschritten: “El contacto con los europeos de todas las naciones es mayor aún desde el principio que en ninguna parte del continente hispanoamericano: la desespañolización y la europeificación se efectúa en diez años de un modo radical, sólo en Buenos Aires se entiende” “Der Kontakt mit Europäern aus allen Nationen ist von Anfang an größer als in anderen Teilen des hispanoamerikanischen Kontinents: Die Enthispanisierung und die Europäisierung vollziehen sich innerhalb von zehn Jahren derart radikal, nur in Buenos Aires versteht sich”, Sarmiento, Facundo, op.cit., S. 174 f.

[17] “Regieren ist Bevölkern”. Alberdi entwickelt die Grundlagen seines Einwanderungsprojekts in: Juan Bautista Alberdi, „Bases y puntos de partida para la organización de la República Argentina“, in: Obras completas, ders., Band VI, El Mercurio, 10. und 11. August 1845, zitiert nach: Gladys S. Onega, La inmigración en la literatura argentina (1880–1910), Buenos Aires, Centro Editor de América Latina S.A., 1982, S. 30.

[18] Jens Andermann entwickelt in seiner Dissertation das Modell einer historischen Abfolge von drei Dispositiven in der argentinischen Literatur, die durch eine jeweils unterschiedliche Anwendungsweise der Dichotomie von civilización vs . barbarie im Prozess der Konsolidierung der argentinischen Nation und ihren inneren und äußeren Grenzen bestimmt ist: apercepción, apreciación und apoderación, Apperzeption, Wertschätzung, Aneignung. Diese drei Dispositive beschreiben die unterschiedlichen (Be)Wertungen des als Wüste imaginierten und de facto noch nicht ins Staatsgebiet eingegliederten Landesinneren. Jens Andermann, Mapas de poder. Una arquelogía literaria del espacio argentino, Dissertation am Lateinamerikainstitut der FU-Berlin, als Manuskript vorliegend, 1999.

[19] Selbst der einstige Befürworter Sarmiento stellte in einer seiner letzten Schriften desillusioniert das Scheitern des Einwanderungsprojektes fest: “Lo más atrasado de Europa, los cam­pesinos y gente ligera de las ciudades, es lo primero que emigra” “Der rückständigste Bevölkerung Eu­ropas, Landarbeiter und moralisch zweifelhafte Leute aus den Städten, ist die erste, die auswandert”, El Diario, 12 de septiembre de 1887, zitiert nach: Francesca Campolucci, “La inmi­gración en la literatura”, in: Proyecto Emigración–Inmigración/Progetto Emigrazione-Immigra­zione. Página de concultación sobre la emigración italiana a la Argentina, <http://www.quipo.it/scripts/progettoemigrazione/publichomees.asp>.

[20] Benedict Anderson, Immagined Communities, dt. Ausgabe: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Berlin, Ullstein, 1998.

[21] Sarmiento setzte mit seiner Gegenüberstellung von civilisazión und barbarie im Untertitel seines Hauptwerkes Facundo die Leitdifferenz, die auf die Gegensätze Stadt / Land, eingeborene / eingewanderte Bevölkerung, Bildungselite / populäre Massen etc. angewandt werden konnte. “Ma è D. F. Sarmiento che nel Facundo con la sua opposizione centrale fra civiltà e barbarie pone i termini di un problema, di un dilemma, che si risolve nello scontro schematizzabile in due spazi culturali che si escludono puntualmente e che diviene l’opposizione centrale che investe le più diverse sfere della realtà argentina. Civiltà vs. barbarie / città vs. pampa (deserto) / cittadino vs. gaucho / sedentario vs. nomade / costituzione vs. caudillismo ecc. Questa opposizione rimarrà un punto di riferimento teorico inevitabile non solano per il liberalismo del secolo XIX ma per gli stessi patriti operai (socialista e comunista) nati dal seno dell’immigrazione europea [kursiv im Text, meine Anm.]”, Blengino, Immigrazione, op.cit., S. 332 f. Blengino stellt in diesem Text die Verschiebung der Binarität von Zivilisation / Barbarei im Hinblick auf die neue Situation der Einwanderung dar: Der aussterbende Gaucho wurde plötzlich zu einem Symbol der argentinischen Zivilisation, während dem Einwanderer die Attribute eines kulturlosen Barbaren zugeschrieben wurden. Zu dem Zeitpunkt, als es den Gaucho schon fast nicht mehr gab, wurde er so zu einem Bild des Argentiniers an sich. 1872 erschien mit José Hernández’ Martín Fierro die Epopöe des Gauchos. Das Bild des Gauchos, der einige Jahre zuvor noch als rückständig und unzivilisiert beschrieben und in der Campaña al desierto sogar bekämpft wurde (sofern er sich mit den indigenen Völkern verband), bekam jetzt im Kontext der Masseneinwanderung eine neue Funktion: In den kulturellen Kämpfen, die die Alteingesessenen gegen die der argentinischen Kultur und Tradition unkundigen Neuankömmlinge ausfochten, wurde der Gaucho zur symbolischen Waffe gegen die befürchtete Überfremdung (extranjerización) der eigenen Kultur. Dabei gab man den Einwanderern die Schuld an den gesellschaftlichen Umbrüchen. Doch waren gerade diese eine Folge des von der liberalen Oligarchie im Rahmen der angestrebten Modernisierung des Landes eingeleiteten, gesellschaftlichen Wandels. “El Gaucho como arquetipo nacional, es una ocurrencia de Ricardo Rojas y Leopoldo Lugones, quienes en el Centenario, toman la perfecta invención de José Hernández, cuando la ciudad propone a los intelectuales el enigma de lo que será éste país y los intelectuales deciden responderlo armando una hipótesis cultural cuyo fundamento sería la poesía gauchesca” “Der Gaucho als nationaler Archetyp entspringt einer Idee von Ricardo Rojas und Leopoldo Lugones, die im Jahr des Centenario die perfekte Erfindung José Hernández’ übernehmen, zu einem Zeitpunkt, als die Stadt den Intellektuellen das Rätsel aufgibt, zu bestimmen, was aus diesem Land werden soll, und die Intellektuellen daraufhin entscheiden, eine kulturelle Hypothese in die Welt zu setzen, dessen Grundlage die poesía gauchesca sein würde”, Beatriz Sarlo, Borges, un escritor en las orillas, Buenos Aires, Ariel, 1995, S. 23 f.

[22] Onega, Inmigración, op.cit.

[23] German García, El inmigrante en la novela argentina, Buenos Aires, Librería Hachette, 1970.

[24] García unterscheidet zum einen sechs mögliche Herangehensweisen an den Immigrationsroman: 1. hinsichtlich der Einwanderungsroute, 2. der ethnischen Zugehörigkeit der Protagonisten, 3. als literarisches Werk, 4. als Erfolgsgeschichte bzw. Geschichte eines Scheiterns, 5. hinsichtlich der ausgelösten gesellschaftlichen Umwälzungen, 6. im Blick auf die nachfolgende Generation. Zum anderen versucht er, die Romane nach Motiven zu sortieren (viaje, desembarco, hotel de inmigrantes, la colonia, el arrabal, conventillos, trata de blancas, los oficios [Reise, Ankunft, Stadt, die Agrarkolonie, der Vorort, Pensionen, Prostitution, die Berufe]), García, El inmigrante, op.cit., S. 26 ff.

[25] Eduardo Siverino, “Algunos momentos del proceso inmigratorio en la literatura argentina”, in: Revista Universitaria de Letras de Mar del Plata, Mar del Plata, Vol. I, Nr. 2, Okt.-Nov. 1979.

[26] Der Costumbrismo in der argentinischen Literatur ist aufs engste mit dem erwachenden Nationalbewusstsein verbunden und den Versuchen, sich auch auf dem Feld der Zeichen von Spanien zu lösen. Schriftsteller des argentinischen Naturalismus wie Fray Mocho begannen besonders ‘argentinisch’ zu schreiben: Tier- und Pflanzennamen sowie Toponyme dienten dazu, das nationale Territorium zu beschreiben. Die schriftliche Fixierung der Eigenarten der argentinischen Varietät des Spanischen und besonders ‘argentinische’ Themen wie die Geschichten von orilleros, Gauchos und Messerstechern sollten eine eigenständige kulturelle Identität konstituieren.

[27] Nur ein paar Romane aus den letzten Jahren: Alicia Steimberg, Músicos y relojeros. Su espirtú inocente, Buenos Aires, Planeta, 1994; Antonia dal Massato , Oscuramente fuerte es la vida, Buenos Aires, Planeta, 1990; María Angélica Scotti, Diarios de ilusiones y naufragios, Buenos Aires, Emecé, 1996; Pedro Orgambide, Hacer la América, Buenos Aires, Bruguera, 1984; Anna Kazumi Stahl, Catástrofes naturales, Buenos Aires, Editorial Sudamericana, 1997, Gladys Onega, Cuando el tiempo era otro: una historia de infancia en la pampa gringa, Buenos Aires, Grijlbo Mondadori, 1999.

[28] Vgl. zur Rolle des Exils in der neueren jüdisch-argentinischen Literatur: Leonardo Senkman, “La nación imaginaria de los escritores judíos latinamericanos”, in: Revista Iberoamericana, Vol. LXVI, Nr. 191, April-Juni 2000, Pittsburgh, S. 279-298.

[29] Canclinis These von den verschiedenen, in einer Gesellschaft nebeneinander bestehenden Modernitäten möchte ich mich auch für den Fall Argentiniens anschließen. Bei Tizón wird diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen zu einem wesentlichen Moment der Inszenierung der interkulturellen Begegnung. Siehe: Nestor Canclini, Culturas híbridas. Estrategias para entrar y salir de la modernidad, Buenos Aires, Editorial Sudamericana, 1992.

[30] Homi K. Bhabha, The location of culture, New York und London, Routledge, 1994.

[31] Die 1902 verabschiedete Ley No. 4144, die sogenannte Ley de Residencia, ermöglichte die Ausweisung von Ausländern, „cuya conducta comprometa la seguridad nacional o perturbe el orden público“ „deren Verhalten die nationale Sicherheit gefährdet oder die öffentliche Ordnung stört“. 1910 wurde durch die Ley de defensa social genauer festgelegt, welche Art Ausländer besonders unerwünscht waren: “anarquistas y demás personas que profesan o preconizan el ataque por cualquier medio de fuerza o violencia contra los funcionarios públicos o los gobiernos en general o contra las instituciones de la sociedad” “Anarchisten und andere Personen, die gewaltsame Angriffe jeglicher Art gegen öffentliche Funktionsträger oder die Regierung oder gesellschaftliche Institutionen ausüben oder befürworten”, zitiert nach: Enrique Oteiza/ Susana Novick/ Roberto Aruj, Inmigración y discriminación. Políticas y discursos, Buenos Aires, Grupo Editor Universitario, 1997, beide Zitate: S. 141.

[32] “Yo creo que los hombres no pueden renunciar a eso. Hoy a eso se llama utopía [...] El hombre tiene una tendencia – no quiero volverme filosófico ahora – pero pareciera que es más fácil ser perverso que ponerse a cambiar el mundo” “Ich glaube nicht, dass die Menschen auf das verzichten können, was man heute Utopie nennt [...] Der Mensch hat eine Neigung – ich möchte jetzt nicht philosophisch werden – aber es scheint, als ob es leichter wäre, pervers zu werden, als sich daran zu machen, die Welt zu ändern”, Andrés Rivera im Gespräch mit Julio Rudman, <http://www.alphalibros.com.ar/otros3.htm>.

[33] Roberto Schwarz, As idéas fora de lugar, englische Ausgabe: Misplaced Ideas. Essays on Brazilian Culture, London und New York, Verso, 1992.

[34] Siehe: Arno Münster, Argentinien – Guerilla und Konterrevolution. Arbeiterkämpfe gegen oligarchische Diktatur und Gewerkschaftsbürokratie, München, Trikont, 1977.

[35] Noé Jitrik, Producción literaria y producción social, Buenos Aires, Editorial Sudamericana, 1975.

[36] “ein verallgemeinerbares Wissen zu erzeugen, das zu einer globalen Erkenntnisarbeit beiträgt”, Jitrik, Producción, op.cit., S. 51.

[37] Tizón, Luz, op.cit. Im Folgenden mit LCP abgekürzt. Die in diesem Kapitel im Text stehenden Seitenangaben beziehen sich auf entsprechende Stellen in LCP. Die deutschen Übersetzungen der Zitate stammen von mir. Der Titel lautet übersetzt “Licht der grausamen Provinzen“.

[38] “La incorporación del inmigrante europeo al espacio provinciano es una novedad en la narrativa tizoniana” “Die Einbeziehung des europäischen Einwanderers in den Raum der Provinzen stellt eine Neuheit in Tizons Narrativik dar”, Celina Manzoni, “Escritura de Héctor Tizón”, in: Hispamerica, 25. Jahrgang, Nummer 73, Buenos Aires, 1996, S. 29-37, hier: S. 33.

[39] “[E]sos italianos [...] realizan un trayecto diferente de la gran corriente migratoria y también es su proyección; mientras aquellos iban de la aldea a la ciudad y en su desplazamiento, sus pérdidas y nuevas adquisiciones contribuían a la exasperada transformación urbana [...] éstos van de la aldea al fundo y en ese espacio toda modificación es lenta y superficial” “Diese Italiener verwirklichen eine Route, die sich von den großen Einwanderungsströmen unterscheidet – eben so ihre Projektion; während jene vom Dorf in die Stadt kamen und ihre Verluste und Erwerbungen während ihres Ortswechsels zum atemlosen städtischen Wandel beitrugen, gelangen erstere vom Dorf auf eine Hazienda, und an jenem Ort ist jede Veränderung langsam und oberflächlich”, Manzoni , Escritura, op.cit., S. 33.

[40] “Para mí, la frontera es, ante todo, misteriosa. Porque no es el país sino su límite y eso la emparienta con lo extranjero, con otras culturas, con otras formas de ver y de sentir. Por eso se la asocia con el intercambio pero además, la frontera es muy significativa también como imagen del borde, de la cornisa” “Für mich ist die Grenzregion in erster Linie geheimnisvoll. Weil es sich bei ihr nicht um das Land, sondern um seine Grenze handelt, und das verschwägert sie mit dem Ausland, mit anderen Kulturen, mit anderen Formen des Sehens und Empfindens. Deshalb verbindet man mit ihr Austausch, aber darüber hinaus ist die Grenze sehr bedeutsam als Bild des Randes, des Simses”, Raquel Garzón, “El viajante que robaba cartas de amor”, in: Clarin digital, 29. August 1999, <http://www.clarin.com.ar>.

[41] Celina Manzoni, “Héctor Tizón y la superación del regionalismo”, in: hispanorama, Spezialnummer Argentina, 1983, S. 126-128.

[42] Elida Tendler, “La configuración del paisaje, una operatoria transcultadora en la escritura de Héctor Tizón”, in: Cuadernos de Literatura, Nummer 4, Instituto de Letras, Facultad de Humanidades, Universidad Nacional del Nordeste, Resistencia, Chaco, 1989, S. 153-166.

[43] “Por lo general a dicha producción se la designa como literatura regional y se la hace funcionar como opuesta a la literatura nacional” “Im Allgemeinen verleiht man der genannten Produktion das Etikett der Regionalliteratur und lässt sie in Opposition zur Nationalliteratur funktionieren”, Manzoni, Tizón, op.cit., S. 126.

[44] “La atribución de regionalidad a un texto, un autor, un movimiento, suele arrastrar matices de disminución; la región y lo que en ella se inscribe conformarían así el espacio de lo pequeño, lo trivial, lo pueblerino y lo no trascendente” “Wenn einem Text, einem Autor, einer Bewegung Regionalität zugeschrieben wird, wird damit meist ein Abwertung verbunden; die Region und alles, was sich in sie einschreibt, formieren den Raum des Kleinen, des Trivialen, des Dörflichen und des Nichttranszendenten”, Manzoni , Escritura, op.cit., S. 29.

[45] “Deshalb erklären wir unsere absoluteste Trennung von jenem Aufblühen ‘volkstümlicher’ Dichter, die das Kunsterleben und den Volksgeschmack beschmutzen, indem sie diese als Zutaten für ihr dichterisches Ungenügen missbrauchen”, zitiert nach: Manzoni, Tizón, op.cit., S. 127.

[46] “Esta actitud [...] redunda en servir a un lector urbano europeo o artificialmente europeizado, la realidad casi turística que le gustaría ser en América. Sin darse cuenta el nativismo más sincero se arriesga a hacerse manifestación ideológica del mismo colonialismo cultural” “Diese Haltung erschöpft sich darin, einem städtisch-europäischen oder künstlich europäisiertem Leser eine fast touristische Wirklichkeit zu servieren, die dieser gerne in Amerika sähe. Ohne es selbst zu bemerken, läuft gerade der aufrichtigste Nativismus Gefahr, zu einer Manifestation jenes kulturellen Kolonialismus zu werden”, Antonio Cândido, “Literatura y subdesarrollo”, in: América Latina en su literatura, César Fernandez Moreno (Hrsg.), México, Siglo XXI, 1977, S. 349, zitiert nach: Tendler, Configuración, op.cit., S. 156.

[47] “die wirkliche Geschichte, erzählte und gehörte Geschichten, Legenden, die große Geschichte der Besiegten, die nie geschrieben wurde”, Tendler, Configuración, op.cit., S. 156.

[48] “El discurso narrativo de Héctor Tizón [...] como texto literario es un espacio bifronte, ya que por una parte es expresión de una concepción estética particular y por otra, escritura de experiencias ideológicas de una comunidad. Construye así un espacio literario enraizado en dos culturas y un lenguaje que, para expresarla, debe buscar una nueva organización” “Der erzählerische Diskurs Héctor Tizóns stellt als literarischer Text einen doppelt begrenzten Raum dar, da er zum einen der Ausdruck eines besonderen ästhetischen Konzepts und zum anderen die Verschriftlichung der ideologischen Erfahrungen einer Gemeinschaft ist. Er konstruiert so einen literarischen Raum, der in zwei Kulturen verwurzelt ist und eine Sprache, die eine neue Organisation suchen muss, um dies ausdrücken zu können”, Nilda María Flawiá de Fernández, “La narrativa de Héctor Tizón: voces y versiones de una cultura silenciada”, in: Discursos de oralidad en la literatura rioplatense del siglo XIX al XX, Walter Bruno Berg/ Markus Klaus Schäffauer (Hrsg.), Tübingen, Narr, 1999, S. 218.

[49] “Der Romandiskurs Tizóns [...] errichtet sich auf der Basis eines interkulturellen Dialoges, der die jeweiligen Ausdrucksformen beider Kulturen einander gegenüberstellt”, Fernández, La narrativa, op.cit., S. 227.

[50] Tizón äußert sich zum Wandel seiner Ansichten wie folgt: “Cuando empecé a escribir, yo sentía que pertenecía a una región del país destinada a perder sus formas culturales propias y nació en mi cierta pretensión de anticuario: la idea de conservar voces destinadas a morir, no por buenas o malas, sino porque el mundo cambia y el cambio arrastra consigo muchas cosas. [...] Después, el tiempo me enseñó que lo que tiene que perderse se pierde, aunque el voluntarismo pretenda lo contrario. Y que, paradójicamente, nada muere del todo cuando el cambio y la mixturación enriquecen” “Als ich zu schreiben anfing, fühlte ich, dass ich zu einer Region des Landes gehörte, die dazu verdammt war, ihre eigenen kulturellen Formen zu verlieren, und so entstand in mir das Ansinnen eines Antiquars: die Idee, die zum Sterben verurteilten Stimmen aufzubewahren, nicht weil sie gut oder schlecht wären, sondern weil sich die Welt verändert und der Wandel viele Dinge mit sich fortreißt. Danach lehrte mich die Zeit, dass das, was verschwinden muss, verschwindet, auch wenn der gute Wille das Gegenteil zu erreichen sucht. Und dass, paradoxerweise, nichts vollständig verschwindet, wenn die Kulturen durch den Wandel und die Vermischung reichhaltiger werden”, Garzón, El viajante, op.cit.

[51] Die Modernisierung der Moderne erreichte nicht alle gleichermaßen: ”La conclusión es que la cultura moderna ha sido compartida por una minoría [...] y que las culturas étnicas o locales no se fusionaron plenamente en un sistema simbólica nacional, aunque tampoco ya pueden ser ajenas de él. Ni el proyecto modernizador ni el unificador triunfaron totalmente [...] no llegamos a una modernidad, sino a varios procesos desiguales y combinados de modernización [kursiv im Original, meine Anm.]” “Die Schlussfolgerung besteht darin, anzunehmen, dass die moderne Kultur nur von einer Minderheit geteilt wurde und dass die ethnischen oder lokal begrenzten Kulturen nicht vollständig in einem nationalen Symbolsystem aufgingen, auch wenn sie nicht mehr weit von ihm entfernt sein können. Weder siegte das Projekt der Modernisierung noch das der Vereinigung vollständig. Wir haben nicht eine Moderne erreicht, sondern mehrere ungleiche und verbundene Prozesse der Modernisierung”, Canclini, Culturas, op.cit., S. 146.

[52] Adrián Pablo Massei, Héctor Tizón. Una escritura desde el margen, Córdoba, Alción Editora, 1998.

[53] Gramuglio, Notas, op.cit., S. 13.

[54] Senkman, La identidad, op.cit.

[55] “der subjektiven Bekenntnis zum Anderen”, Lienhard, Martin, La voz y su huella. Escritura y conflicto étnico-social en América Latina (1492-1988), La Habana, Casa de las Américas, 1990, S. 190, zitiert nach: Massei , Margen, op.cit., S. 35.

[56] “Su discurso une, de manera natural, hombre y mito, creación e historia, y se constituye en una permanente indagación de los contextos culturales. Es el recipiente de la memoria colectiva, canal de múltiples y ricas versiones de formas culturales diferentes. [Tizón] es el escribiente, por así decirlo, de esa civilización” “Sein Diskurs vereint auf natürliche Weise Mensch und Mythos, Schöpfung und Geschichte, und konstituiert sich in einer ständigen Erforschung der kulturellen Kontexte. Er ist das Gefäß des kollektiven Gedächtnisses, der Kanal vielfältiger und unterschiedlicher kultureller Formen”, Fernández, La narrativa, op.cit., S. 220.

[57] Siehe Lienhard (1990), S. 171, zitiert nach: Massei , Margen, op.cit., S. 36.

[58] “Ich wollte nicht mehr zwischen Gewalttätern und Mördern leben”, Héctor Tizón, Obras escogidas. I. Cuentos y novelas, Buenos Aires, Perfil Libros, 1998, S. 451.

[59] “La casa en la novela es la patria, la matriz, la cueva, y el viento es la Historia. Cuando uno sale como el topo, o como el recién nacido de la cueva, el viento de la Historia tienda a zamarrearlo, a jugar, a batirlo, a proyectarlo [...] [Der Roman La casa y el viento, meine Anm.] es la historia de un hombre que quiere recorrer, a partir de su casa cerrada, para siempre, tal vez, un paisaje humano y geográfico que quizá ya no va a ver nunca más” “Das Haus in dem Roman steht für das Vaterland, die Gebärmutter, die Höhle, und der Wind für die Geschichte. Wenn man wie ein Maulwurf oder ein Neugeborenes aus seiner Höhle kriecht, beginnt der Wind der Geschichte einen hin und her zu schütteln, mit einem zu spielen, einen zu schlagen, einen zu projizieren. Der Roman erzählt die Geschichte eines Mannes, der, ausgehend von seinem vielleicht für immer verschlossenen Haus, eine menschliche und geographische Landschaft bereisen möchte, die er möglicherweise nie wiedersehen wird”, “Héctor Tizón en diálogo con Celina Manzoni: “Crear una armonía y vivir en ella”, in: Tiempo Argentino, Buenos Aires, 13. November 1983, zitiert nach: Manzoni , Escritura, op.cit., S. 33.

[60] “Als ich mich dazu entschied aufzubrechen, das, was ich liebte und was mir gehörte, zurückzulassen, wusste ich, dass es für immer sein würde, dass es sich um keine bloße Abwesenheit handeln würde, sondern um eine nicht wieder gutzumachende, schmerzhafte und beschämende Handlung wie eine Flucht. Aber davor wollte ich noch einmal sehen, was ich zurückließ, mein Herz mit Bildern beladen, um mein Leben nicht mehr in Jahren zu zählen, sondern in Gebirgen, in Gesten, in unzähligen Gesichtern; nie in Zahlen, sondern in Zärtlichkeiten, in Begeisterung, in Freud und Leid. Die harte Geschichte meines Volkes”, Tizón, La casa, op.cit., S. 361

[61] “ungleiche Weltanschauungen”, Massei , Margen, op.cit., S. 95.

[62] “Nach La casa y el viento verschwindet diese nichtproblematisierte Rolle Tizóns als Chronist, was bei ihm Platz macht für ein bewussteres Verständnis der mehrdeutigen Stellung des Autors von bikulturellen oder hybriden Texten, in denen der Versuch der Verteidigung einer marginalen Kultur sich immer als vermittelt herausstellt – vermittelt durch die Sichtweise, die durch die Codes des – nach Lienhard – ‘bedeutenderen Schriftmodells’ auferlegt wird”, Massei , Margen, op.cit., S. 112.

[63] Héctor Tizón, Hombre que llega a un pueblo, Buenos Aires, Legasa, 1987.

[64] “eine Zone, die als abgeschlossener Bereich konstituiert wird, als ein von der Moderne ausgenommenes Territorium”, Manzoni , Escritura, op.cit., S. 32.

[65] “Diese Geschichte fand vor vielen Jahren statt, als unsere Eltern noch Kinder waren”, LCP, S. 13.

[66] “und könnte für uns anfangen, wir, die wir sie hier kennen gelernt hatten, eines Abends im Monat April – auch wenn es in Wirklichkeit viel früher gewesen ist”, LCP, S. 13.

[67] Den Begriff der kleinen Geschichte möchte ich in Anlehnung an den Deleuzeschen Begriff der kleinen Literatur / littérature mineure bilden. Die kleine(n) Geschichte(n) sind randständige Versionen von gesellschaftlichen und historischen Prozessen, die in der ‘großgeschriebenen’ Geschichte verschwiegen werden oder deren offizielle Niederschrift ideologisch im Sinne der dominanten Kultur verzerrt ist. Kleine Geschichten drücken dagegen immer eine kulturelle und politische Abweichung vom hegemonialen Diskurs aus.

Ende der Leseprobe aus 129 Seiten

Details

Titel
Wandernde Identitäten - Immigrantenbilder in der argentinischen Gegenwartsliteratur
Untertitel
Am Beispiel von "Luz de las crueles provincias" von Héctor Tizón und "El verdugo en el umbral" von Andrés Rivera
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Institut für Allgemeine und Vergleichende literaturwissenschaften)
Note
1,4
Autor
Jahr
2001
Seiten
129
Katalognummer
V114369
ISBN (eBook)
9783640150182
ISBN (Buch)
9783640150441
Dateigröße
945 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Wandernde, Identitäten, Immigrantenbilder, Gegenwartsliteratur
Arbeit zitieren
M.A. Timo Berger (Autor:in), 2001, Wandernde Identitäten - Immigrantenbilder in der argentinischen Gegenwartsliteratur, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/114369

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