Nietzsches ewige Wiederkunft

Existentielle Intuition mit wissenschaftlichen Hintergedanken


Hausarbeit (Hauptseminar), 2002

41 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitung

2 Der Gedanke der ewigen Wiederkunft – Literarische Präsentation
2.1 Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben
2.2 Die fröhliche Wissenschaft
2.3 Also sprach Zarathustra
2.3.1 Vom Gesicht und Räthsel
2.3.2 Der Genesende

3 Die Lehre von der ewigen Wiederkunft – Wissenschaftliche Hintergedanken
3.1 Naturwissenschaft
3.1.1 Der Energieerhaltungssatz
3.1.2 Finalität vs. Aeternität
3.1.3 Konsequenzen dieser Weltkonzeption
3.2 Exkurs: Eine neue Metaphysik des Werdens
3.3 Ist die Lehre von der ewigen Wiederkehr beweisbar?
3.4 Kritik der ewigen Wiederkunft
3.4.1 Danto
3.4.2 Simmel
3.4.3 Prinzip der Identität der Indiszernibilien

4 Die ewige Wiederkehr der Differenz
4.1 Identität und Differenz
4.2 Existentielle Differenz

5 Schlussbetrachtung

6 Literatur

1 Einleitung

Mit Nietzsches Denken werden für gewöhnlich vier Etikette in Verbindung gebracht. In beliebiger Reihenfolge werden der „Tod Gottes“, der „Wille zur Macht“, der „Übermensch“ und die „ewige Wiederkunft“ als diejenigen Aspekte aufgezählt, ohne die über ihn nicht zu reden sei. Die Verkündung vom „Tod Gottes“ und die damit einhergehende Rede vom „Antichristen“ sind aufgrund ihrer provokanten Art zu Berühmtheit gelangt. Der „Übermensch“ und der „Wille zur Macht“ sind zwei Begriffe, die zu ideologischer Propaganda missbraucht wurden. Die „ewige Wiederkunft“ dagegen hatte für Nietzsche selbst die größte Bedeutung. An diesem „Gedanken der Gedanken“[1] hat er sich die letzten acht Jahre seines bewussten Lebens abgearbeitet. Er hat diesen Gedanken förmlich gelebt und gelitten.

Zu großen Teilen bleibt das unter diesem Begriff Zusammengefasste eine Privatangelegenheit Nietzsches. In den Nachgelassenen Fragmenten seiner Werke finden sich etliche Passagen, die sich mit diesem Gedanken auseinandersetzen. Dort findet auch fast ausschließlich die Erörterung des naturwissenschaftlichen Potentials des Gedankens statt, während in den Veröffentlichungen das existentiell Bedrohliche und das moralisch Entmutigende zur Sprache kommt.

Das Ziel dieser Arbeit ist es, diese beiden sehr unterschiedlichen Aspekte des für Nietzsche so wichtigen Gedankens herauszustellen und zu erörtern. Zunächst wird der Gedanke in den literarischen Veröffentlichungen gesucht und erklärt werden. Daraufhin werden die für diesen Gedanken bedeutendsten Stellen des Nachlasses dazu verwendet, die mathematisch-naturwissenschaftliche Dimension aufzuweisen. Es wird der Frage nach der Plausibilität der zu dem Gedanken gehörenden Argumente gestellt werden. Zusätzlich wird auf die Konsequenz für die Metaphysik und den Identitätsbegriff eingegangen. Zum Schluss der Arbeit wird schließlich das merkwürdige Nebeneinander von autorisierter Veröffentlichung und privatem Nachlass diskutiert. Es wird nach Gründen gesucht werden, die diese Trennung im Werk Nietzsches erzeugt haben könnten.

2 Der Gedanke der ewigen Wiederkunft – Literarische Präsentation

2.1 Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben

Als Publikation findet sich der Gedanke der ewigen Wiederkehr erstmals in vagen Andeutungen in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung. In dem philosophischen Essay Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben macht sich Nietzsche zum Fürsprecher des Vergessens und des Unhistorischen. Er unterscheidet in seiner Kritik des historischen Bewusstseins ein dreifaches Verhältnis des historischen Wissens zum Leben: das „monumentalistische“, das „antiquarische“ und das „kritische“.[2]

Die monumentalische Art der Historie zu begegnen, dient der Erörterung zufolge jenem gegenwärtig Lebenden, dem der Sinn nach großen Taten steht. Eine zyklische Kosmologie schleicht sich hier als Bedingung für eine solche Betrachtungsweise ein. Der Blick in die Geschichte und der von dort erklingende Ruhm herausragender Persönlichkeiten lehre, dass Großes schon einmal möglich war und noch einmal möglich sein könnte. Dies ist aber nur dann selbstverständlich, wenn die Geschichte periodisch begriffen wird:

„Im Grunde ja könnte das, was einmal möglich war, sich nur dann zum zweiten Mal als möglich einstellen, wenn die Pythagoreer Recht hätten zu glauben, dass bei gleicher Constellation der himmlischen Körper auch auf Erden das Gleiche, und zwar bis auf’s Einzelne und Kleine sich wiederholen müsse (…).“[3]

Innerhalb eines solchen zyklischen Kosmos herrscht eine Art vollkommener Kau­sali­tät, so dass jedes monumentale Ereignis als ein „Effekt“ (in) der Historie gesehen werden muss. Das Feiern eines historischen Mo(nu)ments gilt dann einem „Effekt an sich“, d.h. einem sichtbar gewordenen Referenzpunkt der Geschichte – einem Beweis der Ewigkeit der historischen Wiederholung.

Nietzsche ist sich der Gültigkeit dieser kosmischen Bedingung nicht sicher. Daher redet er im Konjunktiv. Es scheint ihm aber nicht ausgeschlossen, dass darüber einmal vollständige wissenschaftliche Klarheit herrschen wird. Dazu ist es nötig, dass „die Astronomen wieder zu Astrologen“[4] werden, dass also aus Wähnen Wissen wird. Dann besteht aber die Gefahr, dass die monumentalistische Betrachtung hinfällig wird. Ist sie doch eine Vernachlässigung der causae zu Gunsten der effecti. Die ganze Wahrheit über jede einzelne Tatsache und jeden einzelnen Zusammenhang von Ursache und Wirkung würde das historische Gebirge mächtig einebnen und den Monumenten ihre Eigentümlichkeit und Einzigartigkeit nehmen.

2.2 Die fröhliche Wissenschaft

Nach dieser kurzen Andeutung im Jahr 1873 verschwindet die Vorstellung von einer sich wiederholenden Ewigkeit aus Nietzsches Veröffentlichungen. Die nächsten Erwähnungen lassen neun Jahre auf sich warten. In der 1882 veröffentlichten Fröhlichen Wissenschaft finden sich die nächsten wichtigen Passagen. Der Beginn des dritten Buches ist ein aufschlussreicher Kommentar zu dem Zusammenhang des Todes Gottes und dem Gedanken der ewigen Wiederkehr. Im ersten Aphorismus dieses Buches schreibt Nietzsche von der Wirkmacht Gottes über seinen Tod hinaus. Vor dem Licht der Aufklärung werde er sich noch Jahrtausende lang verstecken und als Schatten an den Wänden der Höhlen der Menschen erscheinen.

Gleich im folgenden Aphorismus führt Nietzsche erstmals seinen Gedanken von der ewigen Wiederkunft aus. Er ist an dieser Stelle noch nach Art eines Korrekturhinweises formuliert. Positiv wird nur verkündet, dass die Welt auf chaotische Art und Weise in alle Ewigkeit wiederkehrt. Den Rest des Aphorismus bestreiten Hinweise dahingehend, wie dieses kosmische Gesetz nicht zu verstehen ist. Weder sei das All eine teleologische „Maschine“, noch dürfe ihm ein Kreis als Bewegungsform zugrunde gelegt werden. Ordnung und Schönheit werden aus diesem Weltentwurf verbannt. Ebenso die Vorstellung, dass dem sich ewig wiederholenden „Spielwerk“ eine Melodie abzugewinnen ist oder dass Naturgesetze die Welt erklären könnten. All diesen Irrtümern ist aus dem Weg zu gehen, soll die Natur effektiv und rückstandslos „entgöttlicht“ werden. Die ewige Wiederkehr ist ein erster Ersatz für die gescheiterten, theologischen Erklärungsversuche der Welt. Noch ist sie allerdings recht unausgereift.

Es vergehen etliche Aphorismen bis es zu einer weiteren bedeutenden Erwähnung des Gedankens kommt. Am Schluss des vierten Buches der Fröhlichen Wissenschaft eröffnet Nietzsche in dramatischer Weise die moralische Dimension des Gedankens. In der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung hat er noch für den „überhistorischen Standpunkt“ plädiert, der in der Frage liegt, ob man das Leben noch einmal zu durchleben wünsche. Das Unhistorische war das wirksame Gegengift gegen die übergroße „Last des Vergangenen“. Nun stellt sich heraus, dass das, was dem überhistorischen Standpunkt in den Blick gerät, viel schwerer wiegt, als alles andere:

„(…) die Frage bei Allem und Jedem „willst du diess noch einmal und noch unzählige Male?“ würde als das grösste Schwergewicht auf deinem Handeln liegen! Oder wie müsstest du dir selber gut werden, um nach Nichts mehr zu verlangen, als nach dieser letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung? –“[5]

Nietzsche weiß an dieser Stelle noch nicht, was an solch einem Gedanken wünschenswert sein könnte. Noch scheint er kein Ersatz zu sein für die Vorstellung eines verpflichtenden Schöpfergottes. Daher wird das Folgende als der Beginn einer Tragödie markiert: „Incipit tragoedia“ ist der Titel des letzten Aphorismus im vierten Buch der Fröhlichen Wissenschaft. Bis auf kleine Abweichungen wird er in der ersten Vorrede des Zarathustra wiederholt und endet in beiden Fällen mit der Signatur „Also begann Zarathustra’s Untergang“.[6]

Allerdings wird sich zeigen, dass auch die Einschätzung des Zarathustra als ein Untergangsbericht eine Frage der Perspektive ist. In der Vorrede zur zweiten Ausgabe zur Fröhlichen Wissenschaft schreibt Nietzsche:

„„Incipit tragoedia“ – heisst es am Schlusse dieses bedenklich-unbedenklichen Buchs: man sei auf seiner Hut! Irgend etwas ausbündig Schlimmes und Boshaftes kündigt sich an: incipit parodia, es ist kein Zweifel …“[7]

Zwischen Parodie und Tragödie hat sich der Zarathustra geschoben. Sein Erscheinen liegt chronologisch zwischen der ersten und zweiten Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft und damit vor der Erweiterung durch das fünfte Buch. Es ist anzunehmen, dass Zarathustra einen Ausweg aus der Tragödie des Nihilismus gefunden hat.

2.3 Also sprach Zarathustra

Also sprach Zarathustra kann mit gutem Recht als Nietzsches Hauptwerk bezeichnet werden. In Form eines „durchdachten Systems von Gleichnissen“[8] wird seine ganze Philosophie auf originelle und tiefsinnige Weise aufgenommen und vollendet. Die darauf folgenden Werke gelten Nietzsche selbst nur noch als Anmerkungen zum Zarathustra und setzen dessen Verständnis voraus.[9]

Die aphoristisch-essayistische Rede, die bis dahin die Schriften bestimmt hat, wird nun durch die Sprache des Dithyrambus ersetzt. Diese Liedform diente bereits den Griechen zum Lobgesang des Dionysos. Nietzsche synthetisiert diese dem Dionysos geweihte Sprache mit der der Evangelien. Es handelt sich bei dem Zarathustra um einen Gegenentwurf zu den Guten Nachrichten eines Matthäus, Markus, Lukas oder Johannes. In zahllosen Nachahmungen, Umkehrungen oder Parodien von Bibelpassagen setzt Nietzsche dem Christentum zu. Er selbst versteht sich ausdrücklich als Erneuerer dieser überholten Sinnstiftung.

Unter den zahlreichen Andeutungen, die Nietzsche bezüglich des Gedankens der ewigen Wiederkehr im Zarathustra macht, lassen sich zwei Passagen hervorheben. Es sind diejenigen Textstellen in seinem veröffentlichten Werk, die als die ordentliche, öffentliche Verkündigung gelten können. Was in dem metaphern- und allegorienüberladenen Untergangsszenario des Zarathustra immer wieder durchschimmert, kommt im „Gesicht des Einsamsten“ im Kapitel „Vom Gesicht und Räthsel“ und im Gespräch Zarathustras mit seinen Tieren im Kapitel „Der Genesende“ zu seiner deutlichsten Aussprache. Wenn es sich auch bei diesen Passagen nicht um die Formulierung einer wissenschaftlichen Theorie handelt, so lässt sich hier doch am besten dechiffrieren, was bis dahin nur erahnt werden konnte.

2.3.1 Vom Gesicht und Räthsel

Der Zarathustra in „Vom Gesicht und Räthsel“ befindet sich im Zustand einer schweren Erkrankung. Schon vor einiger Zeit hat er sich an einem Gedanken infiziert, mit dem sich seither sein Immunsystem abmüht. Die Kunde vom Tod Gottes im Herzen, überfällt ihn immer wieder Schwindel und Erbrechen. Er diagnostiziert die „drehende Krankheit“ oder auch die „grosse See-Krankheit“, die durch diese Vorstellung ausgelöst wird.[10] Zarathustra ahnt, aber verdrängt die Konsequenz all dessen, bis ihm ein Wahrsager erklärt, was der nächste Schritt in der Gleichung ist:

„Eine Lehre ergieng, ein Glaube lief neben ihr: „Alles ist leer, Alles ist gleich, Alles war!“

Und von allen Hügeln klang es wieder: „Alles ist leer, Alles ist gleich, Alles war!“[11]

Diese Prophetie geht ihm sehr nahe und stürzt ihn in eine tiefe Depression. Er irrt umher, isst und trinkt nicht und sinkt schließlich ohnmächtig zusammen. Mit einem wirren Traum in Erinnerung wacht er auf. Derart angeschlagen überkommen den Propheten Zarathustra heftigste Zweifel, ob er den Menschen überhaupt noch etwas außer pessimistischen Erkenntnissen zu verkünden habe. Trotz eindringlicher Aufforderung seiner „stillsten Stunden“, seinem mystischen Alter Ego, nun endlich mit der Sprache heraus zu kommen, verlässt ihn der Mut zu jeder weiteren Verkündung seines tiefen Gedankens und er beschließt, sich noch einmal in die Einsamkeit zurückzuziehen.

Einen ersten Eindruck davon, was er nicht offen aussprechen will, gibt Zarathustra im Rätsel vom „Gesicht des Einsamsten“.[12] Noch geschwächt und voller Angst vor neuen Attacken auf Gleichgewicht und Magen zieht er es vor, das Geheimnis um seinen großen Gedanken erraten statt erschließen zu lassen. Er erzählt Seeleuten von einem ersten Gegenmittel, das er erfolgreich gegen den „Geist der Schwere“, den Grund seines Leidens eingesetzt hat. Allen Bedrückungen und Alpträumen zum Trotz habe er entdeckt, dass ihn sein „Mut“ nicht verlassen habe. Dieser starke Halbbruder des Willens ist es, den der Zarathustra im „Gesicht des Einsamsten“ als wirksames Antidepressivum gegen den pessimistischen Nihilismus erkannt hat. Mutig kann er seine Angst herausfordern: „Zwerg! Du! Oder ich!“[13] Es ist kein gemeinsames Existieren von lähmender Angst und schaffendem Willen möglich. Der „Zwerg“, dieses kleine, lähmende, einsam machende Attribut seines wichtigen Gedankens, springt Zarathustra daraufhin von der Schulter. Er ist doch neugierig, was es mit diesem „abgründlichen Gedanken“ auf sich hat.

Anhand des zufällig vor ihnen aufgetauchten Tores erklärt Zarathustra ihm, was ihn seit einiger Zeit nicht in Ruhe lässt. Angenommen, das Tor sei ein janusköpfiger Augenblick über dem Weg der Zeit, so müsse sich der Blick vom Tor aus in zwei ewig lange Gassen verlieren. Der Zwerg zieht voreilig seinen Schluss: „… die Zeit selber ist ein Kreis.“[14] Das ist es aber nicht, worauf Zarathustra hinaus will. Viel wichtiger ist ihm, dass alle Dinge miteinander „verknotete“ sind. Wenn alles mit allem verbunden ist, so kann der Zeit nicht mehr ein simpler Kreis untergeschoben werden. Eher muss ein unendlich großes Chaos an zusammenhängenden Kreisen vermutet werden. Diese erzeugen kein harmonisches Bild mehr, sondern lediglich die Vermutung, dass alles und jeder ewig wiederkommen muss.

Ob der Zwerg diesen Schluss noch vernommen hat, oder ob er sich schon zuvor davongemacht hat, konnte Zarathustra nicht beobachten. Jedenfalls sei er mit dem plötzlichen Heulen eines Hundes verschwunden gewesen. Die mutige Verkündung des Gedankens hatte ruinöse Folgen für dessen beängstigende Bedeutung. Der Hund nun habe beobachten müssen, wie ein junger Hirte an einer schweren, schwarzen Schlange gewürgt habe.

In der zweiten Episode seiner Vision berichtet Zarathustra, wie er schließlich auch den Ekel vor seinem Gedanken überwunden habe. Dem Hirten habe er angewidert und voll Mitleid zugeschrien, er solle der Schlange den Kopf abbeißen. Dieser sei dem Rat gefolgt und wie verwandelt aufgesprungen. Erlöst von der ekelhaften Schlange sei er in ein nie gehörtes Lachen ausgebrochen, dem Zarathustra jetzt noch nachhänge.

2.3.2 Der Genesende

Neben der Rede „Vom Gesicht und Räthsel“ bildet „Der Genesende“ das eigentliche Schlüsselkapitel der Auseinandersetzung Zarathustras mit seinem schwersten Gedanken. Sie nimmt in ihren verschiedenen Versionen von hermetischen und poetischen Formulierungen die Gestalt eines immer wieder aufs Neue verschobenen Aufschubes an. Wenn man Nietzsches Ausführungen in Ecce homo aufgreift, so gleicht nicht nur die Entstehung des Zarathustra der Schwangerschaft eines Elefantenweibchens, sondern auch das Hervorbringen seines Hauptgedankens erscheint wie eine äußerst komplizierte Geburt.[15]

„Der Genesende“ erzählt sowohl von der Niederkunft Zarathustras als auch vom Heraufrufen des „abgründlichen“ Gedankens. Beides deckt sich mit der Überschrift des Kapitels, die das als „leiblichen Prozess der Gesundung“[16] umschreibt. In Nietzsches umfassender Metaphorik gilt auch die Schwangerschaft als eine Krankheit.[17] Auch nach einer solchen ist eine Phase der Rekonvaleszenz vonnöten. Einen Eindruck der heilenden Wirkung der Aussprache hat die enigmatische Rede „Vom Gesicht und Räthsel“ bereits gegeben. Zarathustra ist auf dem Weg, sich gründlich auszukurieren.

Der Begriff der Genesung wird von dem Philologen Nietzsche mit viel Geschick erkannt und gewählt. Die Wortherkunft vom Griechischen nostos (Rückkehr, Heimkehr) her weist deutlich darauf hin, dass jede Genesung die Wiederkehr der Gesundheit vorbereitet. So transportiert Nietzsche den Gedanken der ewigen Wiederkunft über die Hintertür der Etymologie zusätzlich ins Werk. Dies ist einer jener versteckten Hinweise auf den so gut geschützten Hauptgedanken des Zarathustra, die „der an Heimlichkeiten so reiche und aller Heimlichkeit so frohe Geist Nietzsche“[18] seinen Lesern zu geben liebt.

Das Kapitel beginnt mit einem erneuten schweren Anfall Zarathustras – der schwerste, der ihn seither heimgesucht hat. Unter furchtbarem Geschrei und wahnsinnigen Gebärden versucht er, seinen Gedanken zum Reden zu bringen. Doch als dieser zu sprechen ansetzt, verschlägt es Zarathustra die Sprache. Die Darstellung zeigt, wie Nietzsche seinen Protagonisten charakterisiert. Er präsentiert einen von einer Inspiration Affizierten, der nicht ganz Herr seiner selbst ist. Zarathustra wird zur Wirkung einer sich von ihm unterscheidenden, substantiierten Ursache, die zum wiederholten Mal von ihm Besitz ergreift.

Nietzsche hat sich selbst ebenso als „Medium“ einer Verkündung beschrieben, als welches er den Zarathustra „empfangen“ haben will. Er teilt Georg Brandes in einem Brief mit, wie ihm auf seinen Märschen jeder Satz dieses Werkes förmlich „zugerufen“ worden sei.[19] In Ecce homo gibt er eine genaue Beschreibung dieser Erfahrung der Inspiration, die extrem variierende Emotionen enthält:

„Eine Entzückung, deren ungeheure Spannung sich mitunter in einen Thränenstrom auflöst, bei der der Schritt bald unwillkürlich stürmt, bald langsam wird; ein vollkommenes Ausser-sich-sein, mit dem distinktesten Bewusstsein einer Unzahl feiner Schauder und Überrieselungen bis in die Fusszehen; eine Glückstiefe, in der das Schmerzlichste und Düsterste nicht als Gegensatz wirkt, sondern als bedingt, als herausgefordert, sondern als eine notwendige Farbe innerhalb eines solchen Lichtüberflusses; ein Instinkt rhytmischer Verhältnisse, der weite Räume von Formen überspannt – (…)“[20]

Sowohl Nietzsche als Person und Empfänger der Inspiration, als auch seine Empfindung in diesem ekstatisch-abgründigen Augenblick stellt sich als in sich differenziert dar: Alles ist in Bewegung und von Gegensätzlichkeit geprägt. In seiner psychopathologischen Studie attestiert ihm Wilhelm Lange-Eichbaum gar „Züge des schizophrenen Erlebens“.[21]

Nietzsche selbst wie auch Zarathustra zeigen sich als Effekt einer Bewegung, in deren repetitiver Form sich so etwas wie Persönlichkeit sedimentieren kann. Nietzsche, der sich wie kaum ein anderer gegen Kategorien wie Ich, Ego, Identität etc. ausgesprochen hat, öffnet das Denken für eine „ rechtmäßige Schizophrenie“[22], die von nun an als Beschreibung des „Ich“ verwendet wird.

Es ist Zarathustra im ersten Abschnitt des Kapitels unmöglich, seiner Inspiration gerecht zu werden und den Gedanken hervorzubringen. Gedankenstriche ersetzen die Rede: Der Gedankenstrich bleibt die adäquate und einzige Möglichkeit, einen Gedanken abzubilden. Nietzsche zeigt an dieser Stelle, wie er bei dem Versuch, eine individuelle Erfahrung in Schrift zu artikulieren, an eine Grenze stößt. Es ist die Grenze der begrifflichen Sprache. Diese Grenze setzt dem kurzen ersten Abschnitt des Kapitels ein Ende.

Der zweite Abschnitt zeigt Zarathustra, wie er vor Ekel und Enttäuschung in Ohnmacht fällt und sieben Tage zwischen Leben und Tod schwebt. Sieben Tage brauchte der jüdisch-christliche Gott für die Erschaffung der Welt. Sieben Tage dauert es, bis Zarathustra mit seinem Gegenentwurf aufwarten kann. Nietzsche denkt hier an die Schöpfung einer ganz neuen „Welt“: eines neuen Wertkosmos‘ – freilich ohne jüdisch-christlichen Gott.

Doch auch nach sieben Tagen kommt es nicht zu einer Artikulation des Gedankens in begrifflichen Worten. Der bildliche Diskurs von Zarathustras Tieren, dem Adler und der Schlange, füllt sein Schweigen. Sie fordern ihn auf, seine Erkenntnis mit der Welt zu teilen. Ihnen ist der Gedanke nichts Neues. Tanzt der Mensch „ über alle Dinge“, so tanzen ihnen „alle Dinge selber.“[23] Sie sind völlig in den natürlichen Kreislauf der Dinge integriert und kennen die Welt schon als jenen „Tanzboden göttlicher Zufälle“, als welchen sie Zarathustra kurz vor Sonnenaufgang erkannt hat.[24] Genauso wie sie auch Zarathustras schwersten Gedanken schon kennen und ihm in dichterischer Gleichnisrede vortragen:

„Alles geht, Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins.

Alles stirbt, Alles blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins.

Alles bricht, Alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins.

Alles scheidet, Alles grüßt sich wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins.

In jedem Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort. Die Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit.“[25]

[...]


[1] Nachlaß 1881, KSA 9, 11 [143], S. 496.

[2] Vgl. HL II, KSA 1, S. 258.

[3] HL II, KSA 1, S. 261.

[4] Ebd.

[5] FW IV 341, KSA 3, S. 570.

[6] Vgl. FW IV 342, KSA 3, S. 571.

[7] FW Vorrede I, KSA 3, S. 346.

[8] Löwith, Karl: Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Hamburg 1986. S. 64. Löwith betont, dass es sich nicht um ein „philosophisches System“ handelt, wie es von Nietzsche immer wieder kritisiert worden ist, sondern eher um eine „methodische Einheit“ einer Lehre. Vgl. dazu ebd. S. 16 f.

[9] Vgl. z.B. AC Vorwort, KSA 6, S. 167.

[10] Vgl. Za II, KSA 4, S. 110 ff.

[11] Za II, KSA 4, S. 172.

[12] Vgl. Za III, KSA 4, S. 197 ff.

[13] Za III, KSA 4, S. 198.

[14] Za III, KSA 4, S. 200.

[15] Vgl. EH Also sprach Zarathustra, KSA 6, S. 335 f.

[16] Gasser, Peter: Rhetorische Philosophie: Leseversuch zum metaphorischen Diskurs in Nietzsches „Also sprach Zarathustra“. Bern 1992. S. 115.

[17] Vgl. hierzu z.B. Za IV, KSA 4, S. 362: Wer gebären muss, der ist krank (…).

[18] Andreas-Salomé, Lou: Friedrich Nietzsche in seinen Werken. Frankfurt a. M./Leipzig 2000. S. 254.

[19] Vgl. Nietzsche an Georg Brandes, 10. April 1888, KSB 8, S. 287.

[20] EH Also sprach Zarathustra, KSA 6, S. 339.

[21] Vgl. Lange-Eichbaum, Wilhelm: Nietzsche – Krankheit und Wirkung. Hamburg 1947. 32 f.

[22] Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung. München 1997. S. 87. Meine Hervorhebung.

[23] Vgl. Za III, KSA 4, S. 272. Meine Hervorhebung.

[24] Vgl. Za III, KSA 4, S. 207 ff.

[25] Za III, KSA 4, S. 272 f.

Ende der Leseprobe aus 41 Seiten

Details

Titel
Nietzsches ewige Wiederkunft
Untertitel
Existentielle Intuition mit wissenschaftlichen Hintergedanken
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin
Note
1,0
Autor
Jahr
2002
Seiten
41
Katalognummer
V114288
ISBN (eBook)
9783640156153
ISBN (Buch)
9783640156276
Dateigröße
611 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Gutachter: "Die Arbeit hat mich - trotz des sperrigen Titels - fasziniert. Sie gehört sicher mit zu den besten Hausarbeiten, die ich bislang vorliegen hatte.
Schlagworte
Friedrich Nietzsche, ewige Wiederkunft, Existenz, Werden, Differenz, Danto, Simmel, Gilles Deleuze, Identität, Zarathustra, Nietzsche, Deleuze
Arbeit zitieren
Axel Schubert (Autor:in), 2002, Nietzsches ewige Wiederkunft, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/114288

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