Die Lebenssituation und Orientierung von Mädchen und Jungen mit türkischem Migrationshintergrund


Examensarbeit, 2008

61 Seiten, Note: Befriedigend


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Migration
2.1 Begriffserklärung „Migration“
2.2 Geschichte der Migration aus der Türkei
2.3 Begriffserklärung „Jugendliche Personen mit Migrationshintergrund“

3. Lebenssituation von Jungen und Mädchen mit türkischem Migrationshintergrund
3.1. Konfrontation mit alltäglichem Rassismus
3.2 Das familiäre Zusammenleben
3.2.1 Elterliche Erziehungsgrundsätze
3.2.2 Geschlechtsspezifische Erziehung
3.2.3 Religiöse Erziehung
3.3 Die Schulsituation von Mädchen und Jungen mit türkischem Migrationshintergrund
3.4 Familiäre Unterstützung während der Ausbildung
3.4.2 Hilfe bei der beruflichen Orientierung

4. Wünsche und Orientierung von Mädchen und Jungen mit türkischem Migrationshintergrund
4.1 Wünsche im Hinblick auf die Wohnsituation und Freizeitgestaltung
4.2 Integrationswünsche
4.3 Formen religiöser Orientierung

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Das Thema, wie die deutsche Gesellschaft mit Migrantinnen und Migranten umgehen solle und wie sich ihre Integration zu gestalten habe, wird in der Öffentlichkeit nachwievor rege diskutiert. An jenen Diskursen ist frappant, dass man die Zugewanderten oftmals als gesellschaftliches Problem betrachtet. – So werden sie beispielsweise zu (potentiellen) Kriminellen oder Trägern fundamentalistischen Gedankenguts erklärt. Welche Geschichten und Schicksale sich hinter dieser anonymisierten Masse der Migranten verbergen, wie sie ihre Lebenssituation beurteilen und welche Wünsche sie haben, wird hingegen seitens der Presse und Politik eher selten thematisiert.

Dabei hat die Migrationsforschung in den vergangenen Jahren wertvolle Beiträge zur Lebenssituation von Zugewanderten in Deutschland geliefert. In diesem Zusammenhang sind auch Studien entstanden, die explizit die Lebensrealität von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Migrationshintergrund fokussieren. Beispielhaft genannt sei hier die 2005 erschienene Untersuchung von Ursula Boos-Nünning und Yasemin Karakaçoglu Viele Welten leben, die sich mit der Lebenssituation zugewanderter Mädchen und jungen Frauen befasst. Insbesondere den Perspektiven junger Erwachsener mit Migrationshintergrund hat sich Barbara Schramkowski unter dem Titel Integration unter Vorbehalt gewidmet. Ihre Studie wurde 2007 publiziert. 2002 wurden gleich zwei Untersuchungen veröffentlicht, die sich mit der Bedeutung des Islams für jugendliche Migrantinnen und Migranten beschäftigen. Gritt Klinkermann setzt sich dabei aus geschlechtsspezifischer Perspektive mit den Modernen Formen islamischer Lebensführung bei sunnitisch geprägten Türkinnen auseinander. Wie junge Muslime ihre (religiöse) Lebensführung in der Diaspora gestalten, erörtert Hans-Ludwig Frese in seiner Studie Den Islam ausleben.

Das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit gilt im Besonderen der größten in Deutschland lebenden Migranten-Gruppe: den Türkinnen und

Türken. Der Auseinandersetzung mit ihrer Lebensrealität, aber auch mit ihren Wünschen und (religiösen) Wertvorstellungen, wird ein Kapitel zum Begriff der Migration vorangestellt. In diesem Kontext skizziere ich zugleich die Geschichte der Migration von Türkinnen und Türken nach Deutschland, die in den 1960er Jahren begann.

Im dritten Kapitel der Arbeit wird dargestellt, in welcher Form und in welchem Umfang die jungen Migrantinnen und Migranten mit dem alltäglichen Rassismus konfrontiert werden, wie sie von ihren Eltern erzogen werden und welche Rolle dabei die Religion spielt und wie sie ihre Wohnsituation beurteilen. Ein weiterer Abschnitt setzt sich zudem dezidiert mit der Ausbildungssituation von jungen türkischen Migrantinnen und Migranten in Deutschland auseinander. Um ihren Bildungsgrad und beruflichen Werdegang herauszuarbeiten, stelle ich Vergleiche zur Bildungssituation anderer Migranten-Gruppen und der deutscher Jugendlicher an.

Das vierte Kapitel widmet sich dann den Wünschen, die junge Migrantinnen und Migranten im Hinblick auf ihre Freizeitgestaltung und Wohnsituation haben. In diesem Zusammenhang wird ebenfalls dargelegt, wie sich Jugendliche und junge Erwachsene mit Migrationshintergrund eine gelungene Integration vorstellen. Einen weiteren Fokus lege ich an dieser Stelle auf den Stellenwert, den die Religion im alltäglichen Leben der jugendlichen Türkinnen und Türken einnimmt. Es wird beleuchtet, wie sie sich dem Islam intellektuell annähern, inswiefern sie sich an religiösen Wertvorstellungen orientieren und in welcher Form sie diese in ihren Alltag integrieren.

Die Lebensrealität, Wünsche und Wertvorstellungen junger Migrantinnen und Migranten werden dabei aus geschlechtsspezifischer Perspektive betrachtet. Dank der umfangreichen wissenschaftlichen Beiträge ließ sich der geschlechtsspezifische Blick auf die zuvor skizzierte Arbeitsthematik bis auf einen Punkt einhalten. – Während der Recherche bin ich auf keine Studien gestoßen, die sich so explizit mit den Wünschen von türkischen Jungen und jungen Männern befassen wie dies beispielsweise in der Untersuchung von Ursula Boos-Nünning und Yasemin Karakaçoglu im Hinblick auf die Wünsche junger Migrantinnen der Fall ist.

Im Fazit wird die in der Arbeit beschriebene Lebensrealität junger Türkinnen und Türken in Deutschland mit ihren Wunschvorstellungen konfrontiert. Ich gehe der Frage nach, inwiefern und an welchen Stellen Wunsch und Realität bei den Jugendlichen und jungen Erwachsenen besonders weit auseinanderklaffen bzw. an welchen Punkten sich eine Annäherung von Erträumtem und Gegebenem abzeichnet.

2. Migration

2.1 Begriffserklärung „Migration“

Der Terminus „Migration“ ist auf das lateinische Wort „migrare bzw. migratio“ zurückzuführen und bedeutet Wanderung, wandern oder wegziehen (vgl. Han 2005, S. 7 ; Haubner 2005, S. 5). Dieser Begriff hat aber durch das oft gebrauchte englische Wort „Migration“, sowohl in der Begriffssprache der Sozialwissenschaften als auch in der deutschen Alltagssprache seinen Platz längst eingenommen (vgl. Han 2005, S. 7; Haubner 2005, S. 5). Im Bereich der Sozialwissenschaften ist unter der Definition der Migration generell Bewegungen von Personengruppen und Personen aufzufassen, die einen dauerhaften Wohnortwechsel in Anspruch nehmen (vgl. ebd.). Auf Empfehlung der Vereinten Nationen wurde von Migration bei einem Wohnortwechsel, der länger als 5 Jahre andauerte, gesprochen; seit 1960 wird ein Wohnortwechsel von mindestens 5 Jahren als Migration definiert (vgl.ebd.)

Und seit dem Jahr 1998 werden die Menschen als Migranten bezeichnet, die mindest für den Zeitraum von einem Jahr den ständigen Wohnsitz von ihrem Herkunftsland in ein anderes Land verlegen (vgl. Han 2005, S. 7).

Die Gründe für die Migrationsbewegungen sind entweder von gesellschaftlich- struktureller oder persönlicher Natur. Dabei wirken mehrere Ursachen ökologischer, politischer, wirtschaftlicher, kultureller, ethnischer und sozialer Art zusammen und sie lösen am Ende die oben erwähnten Migrationsbewegungen aus (vgl. Han 2005, S. 8 ; Haubner 2005, S. 5)

Die Geschichte und Effekte der Arbeitsmigration sind vom Anlass und der Rechtslage her unterschiedlicher als die der Flucht- und Zwangsmigration

(vgl. Haubner 2005, S. 5).

Den Anstoß zu einer „grenzüberschreitender Arbeitsmigration“ gibt der Bedarf an Arbeitskräften eines wirtschaftlich wachsenden Landes, wenn dieser durch die einheimische Bevölkerung nicht kompensiert werden kann (vgl. ebd.).

Sowie dies bei der Arbeitsmigration aus der Türkei auch der Fall war und in der globalen Migrationsgeschichte eine beachtliche Rolle gespielt hat. Daher werde ich im Folgenden kurz auf die Arbeitsmigration aus der Türkei eingehen.

2.2 Geschichte der Migration aus der Türkei

Auf der ganzen Welt setzte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine Arbeitsmigration ein. Viele westliche Länder, unter ihnen auch Deutschland, die in den 1950/60er Jahren industriell fortgeschritten waren, konnten ihren Arbeitskräftemängel durch die eigene einheimische Bevölkerung nicht abdecken, weil ihr Wirtschaftswachstum zu groß war. Deshalb waren sie auf die Arbeiter aus dem Ausland angewiesen. (vgl. Haubner 2005, S. 5 ; Jamin 1999, S. 146).

Aufgrund dieses Faktums schloss die Bundesrepublik Deutschland mit einer Reihe von Staaten Anwerbeverträge ab, die die staatlich organisierte Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften beabsichtigte. Deshalb wurden der Reihe nach zuerst mit Italien (1955), Spanien und Griechenland(1960), der Türkei(1961), Marokko (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und mit dem damaligen Jugoslawien (1968) entsprechende Vereinbarungen getroffen (vgl. Jamin 1991, S. 146). Die Anwerbung der ausländischen Arbeiter wurde von der „Bundesanstalt für Arbeit“ in Zusammenarbeit mit ihren in den Anwerbeländern ansässigen Außenstellen organisiert und durchgeführt (vgl. Haubner 2005, S. 7).

Obwohl es bereits Mitte der 1950er Jahre in Nord-, Mittel- und Westeuropa zur ersten Welle der türkischen Massenarbeitsmigration kam, kann von einer Arbeitsmigration aus der Türkei in großem Ausmaß erst nach 1961 die Rede sein (vgl. Karakaçoglu 2007 S. 1054 ; Boos- Nünning/ Karakaçoglu 2005, S. 57). Genau in diesem Jahr wurde zwischen der BRD und der Türkei ein beidseitiger (bilateraler) Anwerbevertrag unterzeichnet, der eine auf zwei Jahre beschränkte Beschäftigung der türkischen Gastarbeiter zum Ziel hatte. Die im gleichen Jahr in Kraft tretende Verfassung der neuen türkischen Republik erlaubte gleichzeitig den türkischen Bürgern ohne Genehmigung der staatlichen Ämtern ins Ausland aufzubrechen (vgl. Boos- Nünning/ Karakaçoglu 2005, S. 57).

Diese Entwicklung kam den verarmten Teilen der türkischen Bevölkerung gerade recht, da sie Auswege herbeisehnten, die sie aus ihrer miserablen finanziellen Situation und ihrer strukturellen Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung retten könnten (vgl. Haubner 2005, S. 7). Sie wollten dadurch in kürzerer Zeit viel Geld verdienen und heimkehren, um dann zur Erweiterung und Verbesserung ihrer ökonomischen Existenzgrundlagen einen Beitrag zu leisten (vgl. ebd.). Sowohl die türkische Republik als auch die Bundesrepublik Deutschland wollten von diesem Sachverhalt profitieren. Der türkische Staat beabsichtigte einerseits mit diesem befristeten Arbeitskräftetransport vor allem die Entlastung seines einheimischen Arbeitsmarktes. Andererseits wollte er auch dringend benötigte Devisen ins Land holen lassen. Außerdem sollten die nach Deutschland entsendeten Arbeitskräfte durch ihren Aufenthalt erworbenen Qualifikationen bei der Modernisierung der einheimischen Wirtschaft einsetzen (vgl. Jamin 1991, S.147; Karakaçoglu 2007, S. 1055). Deutschland hatte wiederum den Vorteil daran, dass es seinen Arbeitskräftemangel für seine Industrie dadurch wettmachen konnte.

Die türkische Arbeitsmigration in die BRD wurde von beiden Seiten zunächst als eine zeitlich begrenzte Maßnahme angesehen. Die Grundidee dieser Maßnahme war, diese Menschen für eine befristete Zeit beschäftigen zu lassen und nach Ablauf ihrer Arbeitsverträge sie wieder nach Hause zu schicken (vgl. Boos- Nünning/ Karakaçoglu 2005, S. 57; Haubner 2005, S. 8). Im Laufe der Zeit machte zeichnete sich aber ab, dass sich der Aufenthalt der türkischen Arbeiter1 in Deutschland verlängern würde. Beide Seiten hatten die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Denn weder der deutschen Industrie noch den türkischen Arbeitnehmern kam das sogenannte Rotationsprinzip zu Gute.

Für die deutschen Arbeitgeber waren die türkischen Arbeitnehmer als eingearbeitete Arbeitskräfte mittlerweile unverzichtbar geworden. Und türkische Gastarbeiter2 waren deshalb für einen längeren Verbleib in Deutschland, weil sie ihre Sparziele in vorgesehener Zeitspanne nicht verwirklichen konnten (vgl. Boos- Nünning/ Karakaçoglu 2005, S. 57;

Haubner 2005, S. 8). So kamen die ersten Gastarbeiter in die BRD. Ein weiterer Teil der Türken kam dann in Folge der Familienzusammenführung nach Deutschland, insbesondere durch die vielzitierte Heiratsmigration (vgl. Karakaçoglu 2007, S. 1055)

Danach kam es im Jahre 1970 zu einem Anwerbestopp (vgl. Karakaçoglu 2007, S. 1055), bei dem dann die als „Ölkrise“ bekannte wirtschaftliche Krise eine erhebliche Rolle spielte (vgl. Haubner 2005, S. 11) Die Abwehrhaltung der Bevölkerung insbesondere gegenüber Türken und die damit verbundene Besorgnis der Bundesregierung über importierte soziale Probleme durch Konflikte zwischen der einheimischen und der zugewanderten Bevölkerung waren weitere Aspekte des Anwerbestopps.

Später kamen Türken nach Deutschland, die illegal arbeiten wollten, da die Aufenthaltsfrist ihres Touristenvisums abgelaufen war. Ihnen folgten politische Flüchtlinge aus der Türkei, die hauptsächlich nach den Militärputschen von 1972 und 1980 die Zuwanderung in die BRD antraten, um dort politisches Asyl zu erwerben. Der größte Teil von ihnen machten Kurden und christlichen Assyrer aus, die aus den östlichen Regionen der Türkei stammen (vgl. Karakaçoglu 2007, S. 1054). Seither vollzieht sich ein sozialer Wandel im Leben der türkischen Migranten und sie stehen immer im Fokus von gesellschaftlichen Konfrontationen über Migration und Integration. Es geht kaum ein Tag vorbei, ohne dass die Deutschlandtürken Gegenstand von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen im Kontext der Migration und Integration sind (vgl. ebd.). In diesem Zusammenhang ist es besonders wichtig in den folgenden Kapiteln einen Blick auf die Lebenssituation und Orientierung der Jugendlichen mit türkischem Migrationshintergrund im Hinblick auf Bildung, Ausbildung, Wohnsituation und Religion zu werfen.

2.3 Begriffserklärung „Jugendliche Personen mit Migrationshintergrund“

Laut der Begriffsbestimmung des Statischen Bundesamtes ist ein Individuum mit den folgenden Eigenschaften als „Person mit Migrationshintergrund“ zu bezeichnen:

1. die Person nicht auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland geboren wurde und 1950 oder später zugewandert ist und/ oder
2. die Person keine deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder eingebürgert wurde
3. Darüber hinaus haben Deutsche einen Migrationshintergrund, wenn ein Elternteil der Person mindestens eine der unter (1.) oder (2.) genannten Bedingungen erfüllt (vgl. 7. Bericht der Beauftragten der
4. Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland 2007, S. 14ff)

3. Lebenssituation von Jungen und Mädchen mit türkischem Migrationshintergrund

3.1. Konfrontation mit alltäglichem Rassismus

Laut Barbara Schramkowski versteht man unter Altgasrassismus in erster Linie die alltägliche Erfahrung von Menschen, die einen Migrationshintergrund haben, aufgrund der ihnen zugeschriebenen Andersartigkeit strukturell wie institutionell diskriminiert zu werden. Die Autorin weist in diesem Kontext auf die Wichtigkeit hin, die dem Attribut „alltäglich“ zukommt. Spricht man von Rassismus, würden unter diesem Begriff hauptsächlich gewalttätige, ausschließlich offene Übergriffe gegenüber Individuen mit Migrationshintergrund gefasst. Daher würden alltägliche, oftmals unterschwellige Ausgrenzungserfahrungen durch Angehörige der Mehrheitsgesellschaft in ihrer diskriminierenden Dimension nicht berücksichtigt. – Genaue diese Diskriminierungserfahrungen würden aber im Leben vieler Personen mit Migrationshintergrund eine enorme Relevanz einnehmen.3

Die rassistischen Handlungs- und Denkmuster von Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft, die im Alltag vorkommen, beruhen – so Schramkowski – auf uneindeutigen, mit ethnischen Zugehörigkeiten gekoppelten Ideen darüber, wer als „deutsch“ und damit als ein Mitglied der Aufnahmegesellschaft Akzeptanz findet. Anhand dessen ließen sich Definitionen von Andersartigkeit und manchmal auch von bestimmten individuellen Eigenarten miteinander kombinieren, die man nicht als „deutsch“ beschreibt. Demnach seien die Alltagsrassismen als Stolpersteine für den Prozess der Integration zu betrachten. Diese im Alltag erfahrenen Rassismen würden bei der Vergrößerung der sozialen Distanz zwischen den Mitgliedern der Majoritätsgesellschaft und Migranten eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen (vgl. Schramkowski 2007, S. 26).

Die Erfahrung von Migranten, wegen ihres fremdländischen Äußeren aufzufallen und – gemessen an den gesellschaftlichen Normen – als andersartig eingestuft und angesprochen zu werden, nennt man in diesem Zusammenhang Salienzerfahrung. Als die Kategorie der Bewertung lässt man laut Schramkowski die nicht-deustche Herkunft in den Vordergrund treten und dadurch wird ein Spektrum von undurchdachten Vermutungen, Stereotypen, Vorurteilen und Ideen von Merkmalen einer solchen Person abgerufen. Hierdurch würden Migranten das Gefühl gewinnen, sich vom Großteil der Gesellschaft zu unterscheiden und sich zu ihr nicht zugehörig zu fühlen. Die in alltäglichen Situationen gestellten Fragen würden sich immer wieder um Themen drehen, die mit der Herkunft verbunden sind und die wiederum des Öfteren mit besonderen Erklärungsaufforderungen einhergingen. Wenn Menschen mit Migrationshintergrund nicht den standardisierten Vorstellungen von dem entsprechen, was als „deutsch“ klassifiziert wird oder aber ihr Name auf eine ausländische Herkunft hindeutet, müssen sie oftmals – so Schramkowski – auf Fragen reagieren, die nahezu mythisch aufgeladen sind. Hierdurch würden Personen mit Migrationshintergrund in eine Verteidigungssituation gedrängt werden. Sie müssten sich beispielsweise gegen gängige Klischees wehren und sich dafür rechtfertigen, weshalb sie diesen nicht entsprechen. (vgl. ebd., S. 69).

Schramkowski verweist darauf, dass das Ausmaß rassistischer Erfahrungen im Alltag mehrfach mit der Offensichtlichkeit der „Fremdheit“ ansteigt: Hier besteht – so die Autorin – die Gefahr für Menschen, die man auf den ersten Blick als „anders aussehend“ wahrnimmt, Opfer despektierlicher

Zuschreibungen zu werden. Ein aktuelles Beispiel stellt in diesem Zusammenhang die „Kopftuch-Debatte“ dar. Mit dem Kopftuch werden laut Schramkowski im hegemonialen Diskurs primär Zuschreibungen negativer Art verbunden und es gilt als Sinnbild für die durch islamische Traditionen unterprivilegierte Frau. Infolge dessen seien die Kopftuchträgerinnen Diskriminierungen ausgeliefert, die sie dann in ihrem Alltag machen und sehr oft erdulden müssen, als „fremd“ abgestempelt zu werden (vgl. ebd., S.69ff.).

Schramkowiski thematisiert zudem den zentralen Stellenwert, den Institutionen im Hinblick auf den alltäglichen Rassismus haben. Sie haben – so Schramkowski – die Macht, die Gesellschaftsordnung unter ethnischen Gesichtspunkten zu gliedern und hierdurch für die Institution oder den einzelnen Akteur vorteilhafte Hierarchien zu stabilisieren. Die alltägliche Diskriminierung verläuft laut der Autorin auf verschiedenen Ebenen und ist unterschiedlich motiviert. In der Rassismusforschung differenziere man daher zwischen intentionaler und nicht-intentionaler sowie individueller und struktureller Diskriminierung. So verschiedenartig die diskriminierenden Handlungen seien, so unterschiedlich seien auch ihre Folgen für die Opfer von Diskriminierung. Laut Schramkowski beziehen sich jene Konsequenzen auf folgende Bereiche: im politischen Bereich als Einschränkungen bzw. Ausschluss aus politischen Entscheidungsprozessen und von staatsbürgerlichen Rechten;

-im juristisch- legalen Bereich als ungleiche Behandlung durch aufenthaltsrechtliche Einschränkungen;
-durch soziale Interaktionen und Vereinigungen im privaten Zusammenleben und
-im institutionell- strukturellen Bereich (vgl. ebd. ,S.72).

In welcher Form jugendliche Migrantinnen und Migranten mit dem alltäglichen Rassismus konfrontiert werden und welche Konsequenzen sie aus diesen Erfahrungen ziehen, arbeitet die Autorin durch Interviews heraus. So wird dem Leser bzw. der Leserin Cem vorgestellt, der nicht viel Kontakt zu „Deutschen“ habe. Dies sei für ihn sehr bedauerlich, weil sich durch die fehlenden Freundschaften zwischen Einwanderern und Einheimischen und somit fehlende Kommunikation zwischen den Individuen, die eventuell Vorurteile gegeneinander haben, Muster des rassistischen Denkens im Alltag festigen würden.

Cem gibt an, dass dies die Menschen daran hindere, am Anderen positive Seiten zu sehen und Gemeinsamkeiten zu erkennen. Dabei macht Cem für die Schwierigkeiten im sozialen Integrationsprozess nicht nur Handlungsund Denkmuster von Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft verantwortlich, sondern weist er darauf hin, dass die Eingewanderten ebenso daran beteiligt seien. Es sei für ihn sehr bitter und kränkend die Erfahrung in der Schule machen zu müssen, dass er immer „ne Mauer zwischen uns“, den „türkischen Schülern und den „deutschen Schülern“, bemerkt habe. Er ergänzent dazu, dass er permanent mit seiner Zwillingsschwester zusammen gewesen sei: „Und wir haben uns eigentlich fast kaum Gedanken gemacht, ob wir Freunde haben oder nicht.“ Trotzdem hat diese „Mauer“ – so Schramkowsiki – dazu beigetragen, dass Cem lediglich mit Kindern mit türkischem Migrationshintergrund zusammen war, die auch

...gespürt [haben], dass viele Kinder uns nicht aufnehmen wollten oder vielleicht gar nicht wussten, wie sie aufnehmen sollten, wie sie die Tore öffnen sollten. Und wir wussten wahrscheinlich auch nicht, wie wir die Tore öffnen könnten. Wir könnten ja auch mal schauen, ob’s überhaupt zugeschlossen ist oder nicht, wir könnten auch mal selber reinschauen.“ (vgl.ebd. , S. 165-166).

[...]


1 Aus Gründen der Lesbarkeit wird die männliche Form benutzt, gemeint sind damit immer beide Geschlechter

2 „Der überwiegende Teil der in den europäischen Einwanderungsländern lebenden Türken ist aus ökonomischen Motiven im Zuge der selektiven, als zeitlich befristet geplanten und staatlich gelenkten Arbeitskräfteanwerbung in west-, Mittel- und Nordeuropa seit Ende der 1950er Jahre zugewandert oder stammt von diesen Arbeitsmigranten ab. Der Begriff des „Gastarbeiters“ ist auf diesen Kontext zurückzuführen.“ Zitiert nach: Karakaçoglu 2007, S. 1054.

3 Zur Erfahrung alltäglicher Diskriminierung siehe auch: Sauer, Martina – Integrationsprobleme, Diskriminierung und soziale Benachteiligung junger türkeistämmiger Muslime, in: von Wensierski, Hans Jürgen; Lübcke, Claudia (Hrsg.) – Junge Muslime in Deutschland. Lebenslagen, Aufwachprozesse und Jugendkulturen, Opladen & Famington Hills 2007, S. 348f.

Ende der Leseprobe aus 61 Seiten

Details

Titel
Die Lebenssituation und Orientierung von Mädchen und Jungen mit türkischem Migrationshintergrund
Hochschule
Universität Bremen
Note
Befriedigend
Autor
Jahr
2008
Seiten
61
Katalognummer
V113949
ISBN (eBook)
9783640136872
ISBN (Buch)
9783640137091
Dateigröße
571 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Lebenssituation, Orientierung, Mädchen, Jungen, Migrationshintergrund
Arbeit zitieren
Taki Karakus (Autor:in), 2008, Die Lebenssituation und Orientierung von Mädchen und Jungen mit türkischem Migrationshintergrund, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/113949

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