Jungen - Das starke Geschlecht? Eine Untersuchung der Benachteiligungsdebatte im Koedukationsdiskurs


Examensarbeit, 2007

82 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einführende Worte

2. Untersuchung der Benachteiligungsdebatte im Koedukationsdiskurs
2.1 Der historische Verlauf der Koedukation im Rückblick
2.2 Das Forschungsfeld: Koedukation
2.3 Die abgehängten Jungen – Ergebnisse der nationalen und internationalen Leistungsmessungstests
2.3.1. Geschlechtsspezifische Leistungsunterschiede in der Grundschule
2.3.1.1. Erste Erhebungen an Grundschulen
2.3.1.2 Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung
2.3.2 Geschlechtsspezifische Leistungsunterschiede in der Sekundarstufe I
2.3.2.1 Die Hamburger Lernausgangslage (LAU)
2.3.2.2 Die Third International Mathematics and Science Study
2.3.2.3 Das Programme for International Student Assessment
2.3.3 Geschlechtsspezifische Leistungsunterschiede in der Sekundarstufe II
2.3.3.1 Die Third International Mathematics and Science Study
2.4 Analyse der Leistungskurswahlen der Jungen in der gymnasialen Oberstufe
2.5 Vom fächerspezifischen Selbstkonzept und Interesse der Jungen im Vergleich mit den Mädchen
2.5.1 Geschlechtsspezifische Interessengebiete
2.5.2 Das fächerspezifische Selbstkonzept im Vergleich
2.6 Der Einfluss der Lehrer und Lehrerinnen an der Entwicklung der persönlichen Identität der Jungen im Kontext der schulischen Sozialisation
2.7 Vom Selbstbild, der Berufsplanung und den Lebensvorstellungen der Jungen

3. Binnendifferenzierung. Eine Chance für Mädchen- und Jungenstunden?
3.1 Mädchenstunden – Jungenstunden
3.2 Koedukation – Wie stehen Mädchen und Jungen dazu?

4. Resümee

5. Literaturverzeichnis

1. Einführende Worte

Ein Rückblick auf die Geschlechterforschung zeigt, dass diese seit der Entstehung weiblich gefärbt ist. Daher orientierte sich die Genese der Geschlechterforschung auch lange Zeit an der Benachteiligung der Mädchen und der Frauen in allen Bereichen des alltäglichen Lebens. Die Fokussierung auf den weiblichen Bereich hat jedoch einen entscheidenden Nachteil. Dieser blendet den männlichen Bereich völlig aus. Sowohl in der Schul- als auch in der kritischen Geschlechterforschung fehlt ein systematisches und konkretes Wissen um Jungen in der Schule. Dies erstaunt umso mehr, da die Schule ein Ort der Auseinandersetzung mit dem Thema Geschlecht ist.

Dies wird damit begründen, dass sich ja seit jeher alles um den Mann beziehungsweise den Jungen gedreht hat. Doch hat sich die Zeit seit dem Beginn der Geschlechterforschung stark gewandelt. Die Frauen haben ihre Rechte im Bezug auf die Gleichberechtigung geltend gemacht und in vielen Bereich die Männer überholt oder zumindest eingeholt. Dies hat auch seine Berechtigung. Dennoch sollte man auch einen Blick auf den männlichen Bereich werfen und diesen nicht außer Acht lassen.

Ein Blick in die Klassenzimmer von der Grundschule bis in die gymnasiale Oberstufe genügt, um zu sehen, dass die Jungen immer mehr ins schulische Abseits geraten. Die letzten nationalen und internationalen Schulvergleichsuntersuchungen wie TIMSS, PISA, IGLU und LAU[1] haben gezeigt, wie vor allem Jungen immer weiter ins Hintertreffen geraten und auf lange Sicht „den Kürzeren ziehen werden“, um es salopp auszudrücken. Es ist hinreichend bekannt, das dies Auswirkungen auf die jungen Schüler haben wird. Doch woher kommt diese Abseitsstellung und wie beeinflusst sie das Verhalten und die Entwicklung der Schüler? Welchen Anteil haben die Schülerinnen und Lehrer und Lehrerinnen daran? Kann man daher von einer generellen Benachteiligung der Jungen in heutigen Bildungswesen sprechen? Diese Fragen zu beantworten, hat sich diese Arbeit zum Ziel gesetzt.

Dabei werde ich versuchen die Unterschiede der jugendlichen Interessen und der Selbstkonzepte der Kinder zu erfassen, den Einfluss der Bildungsinstitute zu untersuchen und Rückschlüsse daraus zu ziehen.

Ein weiterer Teil dieser Arbeit wird die Analyse der bekannten Vergleichsstudien, sowie der Bildungsbeteiligung der Jugendlichen sein. Zusätzlich soll betrachtet werden, ob eine eventuelle Trennung der Jungen und Mädchen im Schulalltag Sinn ergibt.

Die Praktika, die ich im vorschulischen sowie schulischen Bereich absolviert habe, haben mir die Diskrepanz zwischen den Koedukationstheorien und der Wirklichkeit in den Einrichtungen gezeigt. Es war zum Beispiel eine Selbstverständlichkeit, dass die Mädchen in der Kindertagesstätte, in der ich damals hospitierte, einmal in der Woche eine Mädchenstunde hatten. Die Jungen durften sich in der Zeit auf dem Bolzplatz mit dem Fußball vergnügen. In gewisser Weise hatten sie so auch ihre „Jungenstunde“. Doch wurden diese Stunden eigens für die Mädchen eingeführt. Die Jungen fragte man gar nicht, ob sie auch Interesse an einer solchen Stunde hätten. Es war niemanden zu dem damaligen Zeitpunkt bewusst, obgleich gerade die Jungen eine solche Stunde gebrauchen könnten. Es ist auch heute noch eine Selbstverständlichkeit die Mädchen zu fördern und ihnen somit zu helfen, gleichberechtigt zu sein. An diesem Punkt merkte ich, dass die viel zitierte Gleichberechtigung noch lange nicht erreicht worden ist.

Auch scheint es, als habe man versucht, den Mädchen eine neue Identität zu geben. Diese ist emanzipierter als das traditionelle Bild aus Wirtschaftswunderjahren. Damals wurden die Mädchen für die „Karriere“ an Herd und Waschschüssel erzogen. Heute besetzen sie Führungsposten und verdrängen immer mehr Männer aus den angestammten Bereichen. Ein Blick in die Lehrerzimmer der Grundschule offenbart ein weiteres Problem der Geschlechterforschung und dessen Streben nach einer größeren Beteiligung der Frauen im Berufsleben. Die einzigen Männer an Grundschulen sind oftmals nur noch der Rektor und der Hausmeister. Doch wem sollen sich die Jungen in den ersten vier Jahren ihrer schulischen Ausbildung bei Problemen offenbaren? Woher sollen die Jungen männliche Vorbilder beziehen, wenn nicht aus der Schule? Oft bleibt da nur noch das Fernsehen, wenn kein adäquater Ersatz für den fehlenden Vater vorhanden ist.

Die Medien zeichnen häufig ein Bild, welches das Schlimmste erwarten lässt. In den kommenden Jahren wird sich zeigen, wer das „schwache Geschlecht“ in der Schulbindung sein wird. Die Wirklichkeit scheint aber in Richtung der Jungen zu tendieren.

2. Untersuchung der Benachteiligungsdebatte im Koedukationsdiskurs

Es wurde bereits eingangs erwähnt, dass die Jungen immer mehr ins Abseits geraten. Doch wie spiegelt sich dieses Abdriften im täglichen Schulalltag wieder? Wie verhalten sich die Jungen im Gegensatz zu den Mädchen?

Um diese Fragen zu klären, werde ich das fächerspezifische Selbstkonzept der Jungen analysieren, auf die Interessenentwicklung der Jungen und Mädchen, sowie auf die Leistungskurswahlen der Jungen in der gymnasialen Oberstufe eingehen und der Einfluss der Lehrer und Lehrerinnen untersuchen. Doch zunächst werde ich die historische Entwicklung der Koedukation rückblickend skizzieren. Damit soll im Vorfeld ein Überblick über die Entwicklung gegeben werden.

2.1 Der historische Verlauf der Koedukation im Rückblick

Die Schulen waren nicht seit jeher koedukative Schulen. Sie entwickelten sich allmählich aus den getrenntgeschlechtlichen Schulen des Mittelalters. Zur damaligen Zeit durften nur die Jungen eine Schule besuchen. Den Mädchen blieb in aller Regel ein Besuch der Schule verwehrt. Somit waren die Schulen im Mittelalter reine Jungenschulen. Im Laufe der Zeit durften aber auch die Mädchen an der Bildung teilnehmen. Doch wurden diese oft auf eine höhere Töchterschule geschickt. Dort lernten sie das, was eine Frau für die Versorgung einer Familie benötigt (Nyssen 2004: S. 390). Lediglich in den Dorfschulen bestanden Klassen mit koedukativen Ansätzen. Diese wurden meist aus pragmatischen Gründen eingeführt, weil die Klassen einfach zu klein waren, um sie in reine Jungen- und Mädchenklassen aufzuteilen“.

Als in der Weimarer Republik die allgemeine Grundschule eingeführt wurde, war diese seit ihrem Ursprung eine koedukative Schule. Auch wenn man Jahrzehnte lang zwei Geschlechter zusammen unterrichtete und die dabei entstandenen Unterschiede registrierte, war dies dennoch nie Gegenstand einer wissenschaftlichen Forschung (Kaiser 2004: S. 372f.). Man akzeptierte diese Situation, hinterfragte sie aber nicht.

In den Reformprozessen der 1960/70 er Jahre wurde die Koedukation allmählich auch in den anderen Schultypen eingeführt. Dahinter stand die Idee, dass Jungen und Mädchen das Gleiche lernen sollten. In den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelte sich dann allmählich eine Geschlechterforschung. Diese war aber auf die Frau ausgerichtet und beschäftigte sich daher ausschließlich mit der problematischen Lage der Frauen in den Bildungseinrichtungen und der Gesellschaft. Diese stark emanzipatorische Frauenforschung legte ihren Schwerpunkt auf die Benachteiligung der Frauen in allen Bereichen der Bildung, auch wenn der Schwerpunkt weiterhin auf eine anzustrebende Gleichstellung zielte (Faulstich-Wieland 2003: S. 48f.). Doch erst in den darauf folgenden Jahren fand die Debatte um die Gleichstellung der Frau Einzug in wissenschaftliche Untersuchungen im Schulbereich.

So wurde Ende der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts auf dem „Frankfurter Grundschulkongress“ ein Forum für die Geschlechterfrage eingerichtet. Allerdings ging es damals noch nicht um grundlegende Bildungskategorien, sondern mehr um inhaltliche Fragen in der Pädagogik. Diese Situation blieb noch eine gewisse Weile bestehen. Lediglich auf separaten Kongressen und Forschungstagungen rückte die Geschlechterfrage immer weiter ins Diskussionsfeld. Doch auch hier erreichte die Diskussion nicht alle Bereiche der Bildung. Die Grundschule blieb außen vor. Vorrangig widmete man sich dem Sekundarbereich und der dort existierenden schulpädagogischen Geschlechterfrage. Auf Anregungen der Zeitschrift Grundschule bildete sich in Bielefeld eine Gruppe, die die Genderfrage in der Grundschule diskutierte und somit an die Öffentlichkeit brachte. Dies führte dazu, dass im Jahr 1995 die gleiche Zeitschrift eine Sammlung von Artikeln herausbrachte, die sich mit der Geschlechterperspektive in der Grundschule befassten. Die Themen deckten ein weites Spektrum ab, hatten jedoch die Mädchen in den Mittelpunkt gestellt.

In der Zwischenzeit wurde die Geschlechterfrage immer mehr beachtet und gewann zunehmend an Bedeutung. Der Schwerpunkt der Forschung liegt allerdings weiterhin im Sekundarbereich. Deshalb wurde die Debatte um die Geschlechterfrage in der Grundschule in Fachzeitschriften kontrovers diskutiert (Kaiser 2004: S. 373f.). Es wurde vor allem die geschlechtsneutrale Sichtweise in der etablierten Schulpädagogik kritisiert. Die abstrakte Subsummierung der Jungen und Mädchen als „Schüler“ werde, so die Kritik, weder den Mädchen noch den Jungen gerecht. Hinzu kam, dass die etablierte Schulpädagogik, obwohl formal der Anspruch der Gleichbehandlung existierte, die gesellschaftliche Geschlechterhierarchie reproduziert und als „heimlicher Lehrplan“ bezeichnet wurde. Nach der damaligen Kritik, transportiere der „heimliche Lehrplan“ Geschlechtsrollenstereotypen, kulturelle Wertvorstellungen und gefestigte Bilder von Mann und Frau meist ohne ein Zutun der Beteiligten. Dies galt es zu beseitigen, da dies die persönliche Entwicklung der Schülerinnen und Schüler beeinflusse[2].

Erst die wissenschaftliche Auseinandersetzung in den Erziehungswissenschaften mit der Koedukation erweiterte und differenzierte das Spektrum der Themen. Daraufhin wurde mit der Untersuchung der Geschlechtsdifferenzen bzw. –gleichheiten im Bildungssystem, der Gleichbehandlung von Mädchen und Jungen begonnen. Später kamen noch das Selbstbild der Schülerinnen und Schüler, eventuelle Möglichkeiten der Förderung und allgemeine Fragen der Didaktik hinzu. Das Hauptaugenmerk lag jedoch im Abbau der Geschlechtshierarchien (Nyssen 2004: S. 389 ff.).

Dies alles trug dazu bei, dass sich heute reflexiv und konstruktiv mit der Koedukation und den daraus resultierenden Ergebnisse befasst wird.

2.2 Das Forschungsfeld: Koedukation

Nach dem nun die Entwicklung der Koedukation rückblickend skizziert wurde, ist jedoch die Bedeutung und das eigentliche Forschungsfeld der Koedukation nicht beschrieben worden. Die Koedukation beschränkt sich nicht allein auf die Tatsache, dass Jungen und Mädchen gemeinsam unterrichtet werden. Viel mehr geht es in ihr auch darum, dass die aufgezeigten Probleme und die jeweiligen Lösungsvorschläge vielfältige Aspekte der Geschlechterverhältnisse betreffen. Dabei stößt das - als typisch weiblich gezeichnete - Bild der Frau immer wieder auf das gesellschaftlich akzeptierte Patriarchat, mit seiner bewussten und unbewussten Höherstellung der männlichen Leistung. Die Begründung, dies alles sei biologisch determiniert, greift jedoch schon früh zu kurz, da „Geschlecht“ vielmehr eine soziale Kategorie ist. Dementsprechend sind Weiblichkeit und Männlichkeit kulturell vermittelte Verhaltensmuster (Faulstich-Wieland 1991: S. 156). Die Koedukation ist demnach das Feld in der Geschlechterforschung zu Grunde gelegt. Diese untersucht zunehmend die

Frage, wie Männer und Frauen biologisch sowie kulturhistorisch zu dem geworden sind, was sie sind. Dabei ist es wichtig, die Standpunkte zu akzeptieren und sie zur Basis neuer kulturellen Veränderungen zu machen. Auf Gleichberechtigung soll dabei jedoch nicht verzichtet werden (Faulstich-Wieland 1991: S. 158).

Unsere Gesellschaft ist noch immer von männlichen Strukturen geprägt. Die Frauen nehmen dies als Anlass, um die ihnen zustehende Grundlage der gleichberechtigten Teilhabe einzufordern, was ihnen nicht verwehrt sei. Dies darf jedoch nicht als Kampf gegen alles Männliche verstanden werden, sondern als Versuch der Teilhabe am geschlechtlichen Umgang in der Gesellschaft. Dies ist der Punkt, an dem die Koedukationsdiskussion ansetzt. Die Sozialisation fängt bereits im Kindesalter an und geht über das Jugendalter hinaus, so dass die Koedukation von zentraler Bedeutung für die Ausprägung persönlicher Fähigkeiten, Einstellungen und Verhaltensweisen ist. Im schulischen Bereich ist sie daher besonders wichtig, da hier niemand an ihr vorbeikommt (Faulstich-Wieland 1991: S. 158).

Der schwere Weg zur Reflexiven Koedukation

Lange Zeit schien das Thema Koedukation keine große Rolle in der Pädagogik und in der Soziologie zu spielen. In den 1960er Jahren wurde begonnen die Koedukation in den Schulen einzuführen. Dies geschah vor allem in den Gymnasien und höheren Töchterschulen, da in den Volks- und Hauptschulen die gemeinsame Unterrichtung von Mädchen und Jungen schon lange Praxis war. Vorrangig machte man sich Sorgen, ob genügend Toiletten für die Mädchen vorhanden seien. Eine qualifizierte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Thema, obgleich sie vom Philologenverband gefordert wurde, gab es zur damaligen Zeit nicht (Faulstich-Wieland & Horstkemper 1995: S. 10). In den darauf folgenden Jahren wurde die Koedukation weiter in den Schulen umgesetzt. Jedoch wurden dort lediglich die Mädchen zu den Jungen gesetzt. Eine Veränderung der Lehrkonzepte fand nicht statt. Von einer Vorbereitung der Lehrenden nahm damals niemand Notiz. Erst in den 1980er Jahren, als die Frauenbewegung anfing, sich mit dem Thema auseinander zu setzen, rückte die Koedukation wieder in den Fokus der Debatte um gerechte Schulbildung. Jedoch waren die Forscherinnen der damaligen Zeit auf der Suche nach Gleichheit und fassten dabei vor allem die Diskriminierung als Ursprung der Benachteiligung ins Auge. (Faulstich-Wieland & Horstkemper 1995: S. 10 f.). Dieser kleine Kreis von Forscherinnen und Lehrerinnen diskutierte die ersten empirischen Forschungsergebnisse. Die ersten Studien befassten sich mit dem schulischen Interaktionsverhalten. Es wurde vor allem das Schüler-Schüler-Verhalten aber auch das Schüler-Lehrer-Verhalten betrachtet (Kreienbaum 1995: S. 21 f.) Doch diese ersten Studien waren nicht fehlerfrei. Besonders die Hessische Interaktionsstudie wurde stark kritisiert. In ihr wurde mittels Videoaufzeichnung das Interaktionsverhalten in einer Klasse aufgenommen und später ausgewertet. Die Ergebnisse wurden in der Fachwelt stark kritisiert. Die Kritik reichte vom mangelnden wissenschaftlichen Ansatz bis hin zu fragwürdigen Settings (Hoffmann 1994: S. 124 f.). Aber auch die Gewalt, die Mädchen immer wieder erfahren, war ein Schwerpunkt der Anfänge der Diskussion (Kreienbaum 1995: S. 22). Wenig später wurde der Fachwelt bewusst, dass Mädchen besonders in mathematisch-naturwissen-schaftlichen Bereichen benachteiligt werden und auch kaum für diese Themen gewonnen werden konnten (Faulstich-Wieland & Horstkemper 1995: S. 10 f.). Erst in der jüngsten Vergangenheit wurde bemerkt, dass aber Jungen ebenfalls benachteiligt sein könnten. Ausgelöst wurde dies durch die Veröffentlichung von Dieter Schnacks und Rainer Neutzlings Buch „Kleine Helden in Not“ und durch die Ergebnisse der jüngsten Schulleistungstest[3] (Faulstich-Wieland & Horstkemper 1995: S. 11).

Geschlechtshomogene Lerngruppen zu fordern war ein Resultat der Ergebnisse der Leistungstest und den daraus entstandenen Diskussionen. Sie erschienen vielen als gute Alternative zur Koedukation, um die Defizite der Jungen und der Mädchen auszugleichen. Eine Neuauflage der Mädchenschule wurde von den allermeisten abgelehnt, auch wenn dies vereinzelt gefordert wurde. Typisch für diese Debatte ist auch, dass auf die Jungenschule kein Blick geworfen wurde und die Interessen der Jungen somit zu einem großen Teil ausgegrenzt wurden. Viel stärker befasste man sich hingegen mit der Frage, ob eine Trennung nicht die stereotypen Zuschreibungen verstärke. Die Begründung für diese Annahme fußt auf der Abwesenheit des anderen Geschlechts und einer damit verbundenen Hervorhebung der Unterschiede. Um solchen Annahmen entgegenwirken zu können oder diese gar zu bestätigen, wurden erste Versuche mit der Trennung von Jungen und Mädchen durchgeführt. Besonders Hannelore Faulstich-Wieland und Astrid Kaiser taten sich auf diesem Gebiet hervor. Sie führten Versuche mit Jungen- und Mädchenstunden durch und analysierten die

Ansichten der Kinder zu diesem Thema (Faulstich-Wieland & Horstkemper 1995: S. 11 f.). Allmählich nahm nun auch die Öffentlichkeit Notiz von der Diskussion, die bis dahin nur in einem kleinen Kreis vor Geschlechterforschern und Pädagogen geführt wurde. Vor allem ein Bericht aus dem SPIEGEL (Nr. 38/1988) weckte das Interesse der breiten Öffentlichkeit und der Politik (Faulstich-Wieland & Horstkemper 1995: S. 12). Jedoch wurde die Diskussion in der Öffentlichkeit weit polarisierender geführt als in den Fachkreisen. Die Positionen verhärteten sich und man hielt diese Diskussion sogar für die „Gretchenfrage“, an der sich Fortschrittsdenker erweisen müssten (Kreienbaum 1995: S. 22 f.). Sogleich forderten auch die Lehrer und Lehrerinnen einschlägige Fort- und Weiterbildungsprogramme (Faulstich-Wieland & Horstkemper 1995: S. 12).

Letztendlich wurde aus der Debatte der Entschluss gefasst, dass man verstärkt auf die Differenzen eingehen und einen bewussten Umgang mit ihnen entwickeln müsse. Hier setzt eine gezielte Förderung der persönlichen Interessen an. Dabei ist es jedoch sinnvoll, auch die Jungen in die Förderung mit einzubeziehen und nicht erneut auszugrenzen, wie es in der Vergangenheit geschehen ist. In der heutigen Zeit ist man einhelliger Meinung, dass man die Koedukation differenziert betrachten sollte und sich konstruktiv mit ihr auseinander setzen muss. Die kritische Reflexion der Koedukation ist demnach der erste entscheidende Ansatz, die Koedukation mit sinnvollen Konzepten zu bereichern und auf ihrer Basis sinnvolle Schulangebote zu entwickeln (Faulstich-Wieland & Horstkemper 1995: S. 14 f.). Die so entstandene reflexive Koedukation gilt heute als Basis für schulische Bildung. Dabei ist jedoch wichtig, dass man die Geschlechterverhältnisse und deren Konstitutionsbedingungen ausreichend reflektiert. Doch an diesem Punkt ist die Praxis noch nicht sehr weit fortgeschritten. Erste Ansätze wurden vor allem im Grundschulbereich verwirklicht. Für den Bereich der Jugendlichen sind vor allem außerschulische Ansätze entwickelt und umgesetzt worden (Faulstich-Wieland 1994: S. 12). Ein Ziel soll es daher sein, für jede Alterstufe eine adäquate Konzeption zu erstellen, die die jeweiligen Ansätze berücksichtigen, so dass der Unterricht den Mädchen als auch den Jungen gerecht werden kann.

2.3 Die abgehängten Jungen – Ergebnisse der nationalen und internationalen Leistungsmessungstests.

Um zu überprüfen, inwiefern die Unterrichtskonzeptionen den Anforderungen der Jungen und Mädchen und die Anforderungen auf der Basis der reflexiven Koedukation in der schulische Bildung gerecht wird, ist ein Blick auf die Schulleistungen der Schülerinnen und Schüler sinnvoll. Die Leistungsmessung in der Schule basiert im Wesentlichen auf zwei Arten der Messung. Zum einen die Beurteilung und Erhebung der Leistung der Schülerinnen und Schüler durch die Lehrkräfte über die Notengebung. Zum anderen die Leistungsmessung über standardisierte Tests. Die Notengebung kann jedoch keine generellen Aussagen über die Leistung geben. Dies ist jedoch durch die standardisierten Tests möglich. Diverse äußere Faktoren der Notengebung verhindern eine objektive Leistungsmessung. Solche Faktoren können beispielsweise das allgemeine Leistungsniveau der Klasse, Geschlechtszuschreibungen oder persönliche Erwartungen sein. Standardisierte Schulleistungstest testen jedoch die Schulleistung in anonymisierter Weise, so dass die zuvor genannten subjektiven Einflussfaktoren nicht vorkommen können. Dennoch sind auch diese Tests nicht ganz frei von eventuellen Begünstigungen hinsichtlich einer bestimmten Gruppe. Dennoch finden solche standardisierten Schulleistungstests Anwendung in nationalen und internationalen Schulleistungsstudien wie PISA, TIMSS oder LAU[4]. Die Studien weisen jedoch in Hinsicht auf das Versuchsdesign sowie die untersuchte Zielgruppe starke Unterschiede auf, deshalb sind die Ergebnisse nur bedingt zu vergleichen. Jedoch haben fast alle Studien die Tatsache gemein, dass ihrer Konzeption keine Untersuchungen hinsichtlich der geschlechtsspezifischen Unterschiede zu Grunde liegen. Dies ist auch bei den deutschen Vergleichsstudien der Fall. Lediglich am Rande der Vergleichsstudien lassen sich Schlüsse hinsichtlich der geschlechtsspezifischen Unterschiede ziehen (Stürzer 2003: S. 85 f.).

Die meisten Vergleichsstudien befassen sich mit den Bereichen Deutsch – bzw. dem Äquivalent bei internationalen Vergleichen – und Mathematik. Erst durch PISA

und Studien einzelner Hochschulen[5] wurden die Naturwissenschaften ins Auge gefasst. In der Hamburger LAU-Studie wurde zusätzlich das Fach Englisch mit in die Versuchsanordnung aufgenommen. Allgemein kann man jedoch sagen, dass alle Studien zu dem Ergebnis gekommen sind, dass es nur geringe Unterschiede zwischen Schülerinnen und Schülern gibt, diese jedoch tendenziell zu Gunsten der Mädchen ausfallen. Im Detail unterschieden sich die Ergebnisse der Studien bei den geschlechtsspezifischen Leistungsunterschieden, was bei einzelner Betrachtung deutlich wird. Aber auch die auffallende Fächerpräferenz wird von den Studien deutlich gemacht. Demnach kann man Mädchen den schriftlichen und sprachlichen Bereich und den Jungen den mathematischen und naturwissenschaftlichen Bereich zuordnen. Auch wenn es dabei Überschneidungen gibt, ist diese Tendenz erkennbar.

2.3.1. Geschlechtsspezifische Leistungsunterschiede in der Grundschule

2.3.1.1. Erste Erhebungen an Grundschulen

Bezüglich der Leistungsuntersuchung von Mädchen und Jungen im Grundschulalter gibt es relativ wenig zur Verfügung stehendes Material. Einen Versuch zur Hebung solcher Unterschiede führten Tiedemann und Faber[6] im Zeitraum von 1990 bis 1994 durch. Dabei testeten sie 47 Mädchen und 56 Jungen aus städtischen Vorschulen hinsichtlich ihrer kognitiven Lernvoraussetzungen und Fähigkeiten. Im Anschluss daran setzten sie die „Entwicklungsdynamik der mathematischen Leistungen“ mit den Leistungsbeurteilungen im Fach Deutsch in Beziehung. Nach Ablauf der vier Grundschuljahre wurden die Schulleistungen der Kinder mittels Schulleistungstest sowie Lehrereinschätzung erhoben. Hier war eine hohe Deckungsrate der Schulleistungstest und der Lehrereinschätzung erkennbar (Stürzer 2003: S. 88 f.).

Dabei stellten Tiedemann und Faber fest, dass im Vorschulalter keine signifikanten Unterschiede bezüglich der allgemeinen kognitiven Leistungen, der sprachlichen oder der visuellen Fähigkeiten zu verzeichnen waren. Daher sind die Autoren

der Untersuchung der Meinung, dass beide Geschlechter beim Start ihre Schullaufbahn dieselben Voraussetzungen haben. Für die Grundschulzeit – gemittelt über alle Jahrgänge – kommen sie zu dem Ergebnis, dass die Mädchen den Jungen im Hinblick auf die Deutschleistungen überlegen sind, während im Fach Mathematik keine der beiden Gruppen einen Vorsprung aufbauen konnten. Im Einzelnen ist jedoch ein leichter Vorsprung der Mädchen gegenüber den Jungen in der ersten Klasse zu verzeichnen, der sich jedoch im weiteren Verlauf der Grundschule relativierte. Gegen Ende der vierten Klasse erzielten beide Geschlechter ein gleiches Niveau. Die Unterschiede waren zu gering um signifikant zu sein (Stürzer 2003: S. 91 f.).

2.3.1.2 Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung

Im April 2003 erbrachte die internationale Grundschul-Lese-Untersuchung IGLU erste Ergebnisse auf dem Feld des muttersprachlichen Unterrichts. In Deutschland war dies das Fach Deutsch. In der Erweiterungsuntersuchung IGLU-E wurden zusätzlich die mathematischen Kompetenzen untersucht. Insgesamt nahmen an IGLU 146.490 Schülerinnen und Schüler aus 35 Staaten teil. In Deutschland waren es 10.571 Schülerinnen und Schüler aus allen Bundesländern. Dabei gingen alle Grundschulen, deren vierte Klasse in der Lage war die Tests zu bearbeiten, in die Auswertung ein. Auf internationaler Ebene bestand dieser aus einem Lesetest. Bei IGLU-E, der nur in Deutschland stattfand, kamen zusätzlich Tests in Mathematik, Naturwissenschaften und Rechtschreibung sowie ein Aufsatz hinzu (Lankes et al 2004: S. 7 f.). Die Testung der Schüler erfolgte an zwei Tagen. Am ersten Tag wurde der Lesetest von IGLU und am zweiten Tag die Erweiterung durchgeführt. Diese bestand aus Test zu Mathematik und den Naturwissenschaften sowie einem Aufsatz und einem Diktat. Damit alle Bereiche getestet, aber nicht alle Schüler gleichzeitig stark belastet wurden, behalf man sich mittels rotierender Aufgabenblöcke (Multi Matrix Design). Jede Klasse bekam so Aufgabenblöcke zu den Bereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften. Jede zweite Klasse erhielt am zweiten Testtag ein Diktat, die anderen Klassen bearbeiteten eine Schreibaufgabe. An beiden Tagen wurden die Kinder jeweils zwei Stunden getestet (Lankes et al 2004: S. 16 ff.).

Bei den Testleistungen im Bereich Lesekompetenz[7] liegen die deutschen Schülerinnen und Schüler im oberen Drittel, welches aus acht teilnehmenden Ländern besteht. Dabei ist das Leistungsniveau der deutschen Kinder sehr homogen. Die Leistungen streuen viel weniger, als bei denjenigen der Vergleichsgruppen. Die Kinder erzielen also am Ende der vierten Klasse ein Leistungsniveau, welches im Vergleich mit anderen Staaten standhalten kann. Über die Staatengrenzen hinweg, waren jedoch die Mädchen besser in der Leseleistung als die Jungen. Ein Vorsprung der Jungen gegenüber den Mädchen auf diesem Gebiet konnte nicht festgestellt werden. Jedoch sind die Unterschiede bei den deutschen Kindern weitaus geringer, als im internationalen Vergleich. Der vorhandene Vorsprung der Mädchen im Lesen lässt sich noch weiter aufgliedern. So ist der Unterschied zu den Jungen im Lesen von literarischen Texten größer, als im Lesen von Informationstexten (Stürzer 2003: S. 93). Unabhängig von den relativ homogenen Leseleistungen deutscher Schülerinnen und Schüler, muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass mehr als 10 Prozent der untersuchten Kinder die Kompetenzstufe II nicht erreichen. Das Gros der Kinder (43 Prozent) erreicht die Kompetenzstufe III und mehr als 18 Prozent erreicht sogar Kompetenzstufe IV. Diese Verteilung begründet das relativ gute Abschneiden der deutschen Kinder mit 539 Punkten (Lankes et al 2004: S. 71-77).

Bei IGLU-E, der Erweiterung der IGLU-Studie um mathematischen und naturwissenschaftlichen Teile, konnten signifikante Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen festgestellt werden. Allgemein kann für die naturwissenschaftliche Kompetenz festgehalten werden, dass 3,9 Prozent die erste Kompetenzstufe nicht erreichen. 12,8 Prozent erreichen die erste Stufe, 20,2 Prozent die zweite Stufe und etwa genauso viel die dritte Stufe (21,3 Prozent). Erstaunlich ist jedoch, dass mehr als ein Drittel der deutschen Schülerinnen und Schüler (41,8 Prozent) auf die vierte Stufe und höher gelangen. Mit den somit erzielten 560 Punkten liegt Deutschland, ebenso wie beim Lesetest, im oberen Drittel der teilnehmenden Staaten. Dennoch lässt sich feststellen, dass Mädchen im naturwissenschaftlichen Bereich den Jungen nicht gerecht werden können. So erringen mehr als doppelt so viele Mädchen (5,3 Prozent) wie Jungen (2,4 Prozent) nicht die erste Kompetenzstufe. Bei den Stufen IV und V

zeichnet sich ein ähnliches Bild ab. 36,5 Prozent der Jungen, im Gegensatz zu 30,9 Prozent der Mädchen, erreichen die Stufe IV und 9,7 Prozent der Jungen im Gegensatz zu 6,6 Prozent der Mädchen die Stufe V. Dementsprechend müssten die Mädchen im Bereich der Naturwissenschaften mehr gefördert werden (Lankes et al 2004: S. 108 f.).

Im Mathematiktest fallen die Leistungsunterschiede nicht ganz so enorm aus. Insgesamt erzielen die deutschen Kinder eine Punktzahl von 545. Damit ist Deutschland im Mittelfeld angesiedelt. Erschreckend muss jedoch festgestellt werden, dass knapp 20 Prozent der Kinder nicht an die erste Kompetenzstufe heranreichen bzw. diese überschreiten. Dabei ist der Anteil der Mädchen, die die erste Stufe nicht erreichen, mit 2,2 Prozent etwas größer als der der Jungen (1,5 Prozent). Auf den Stufen II sind die Unterschiede deutlicher. Hier gelangen mehr als 20 Prozent der Mädchen auf diese Stufe, aber lediglich 13,4 Prozent der Jungen. Ein großer Teil der Jungen, etwas weniger als die Hälfte, befindet sich in der oberen Hälfte der Stufen. 38,3 Prozent auf IV und 7,5 Prozent auf V. Die Mädchen sind auf den oberen Stufen seltener anzutreffen. Von ihnen schaffen nur etwa 37 Prozent die beiden höchsten Stufen. Dies sind immerhin knapp 10 Prozent weniger. Lediglich auf der Kompetenzstufe III sind etwa gleich viele Jungen wie Mädchen zu finden (Lankes et al 2004: S. 132 ff.).

Vergleicht man ältere Vergleichsstudien, so kann man erkennen, dass Differenzen vorhanden sind, diese jedoch variieren. Da die diversen Vergleichstests die Leistungen der Kinder im Bereich Lesen und Schreiben unterschiedlich testen, kann man die Differenzen nicht automatisch gleichsetzen. Hinzu kommt, dass man nicht bei jedem dieser Test gleiche Ergebnisse heraus bekommen hat. Daher sollte man die Ergebnisse mit Vorsicht analysieren und in Relation setzen (Richter 1996: Kap. 8.1, 8.3 und 8.4)

Abschließend kann behauptet werden, dass in der Grundschule keine signifikanten Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen existieren. Geht man von gleichen Voraussetzungen für beide Geschlechter aus, so lässt sich festhalten, dass nur ein minimaler Vorsprung der Mädchen im Bereich Lesen zu verzeichnen ist, während die Jungen in Mathematik und in den Naturwissenschaften einen Vorsprung erhalten. Diese Unterschiede sind jedoch von sehr geringem Ausmaß. Die zu Beginn erwähnte Vermutung, dass Mädchen in Deutsch und die Jungen in Mathematik/Naturwissenschaften einen Vorteil hätten, kann dennoch bestätigt werden.

2.3.2 Geschlechtsspezifische Leistungsunterschiede in der Sekundarstufe I

Um eine fortlaufende Untersuchung der Leistungsunterschiede der Mädchen und Jungen zu ermöglichen, ist im Anschluss an die IGLU-Studie bzw. IGLU-E-Studie die Hamburger LAU-Studie von Interesse. Sie setzt am Ende der Grundschulzeit an und liefert eine, über die Sekundarstufen laufende, Längsschnittuntersuchung zu den Leistungsentwicklungen der Schülerinnen und Schüler. Im Anschluss an LAU werden die Ergebnisse von TIMSS und PISA dargestellt.

2.3.2.1 Die Hamburger Lernausgangslage (LAU)

Im Jahr 1996 wurde in der Stadt Hamburg im Auftrag der Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung eine Erhebung über die Aspekte der Lernausgangslage in allen fünften Klassen des Jahrgangs 1996/1997 durchgeführt. Dabei wurden Sprachverständnis, Leseverständnis, Rechtschreibung, Mathematik, Informationsentnahme aus Karten, Tabellen und Diagrammen sowie schlussfolgerndes Denken getestet. Im Jahr 1998 und 2000 wurde die Erhebung erneut durchgeführt[8]. Somit entstand jeweils zu Beginn der 5., 7., und 9. Klasse eine Längsschnittuntersuchung, die, im Gegensatz zu PISA und TIMSS, auch die Entwicklung über diese Jahre hinweg und nicht nur den Stand wiedergibt. Eine geschlechtsspezifische Differenzierung war zwar in LAU nicht vorgesehen, wurde jedoch mit ausgewertet (Stürzer 2003: S. 94). Mit Beginn der Längsschnittuntersuchung im Jahr 1996 verfolgte man das Ziel, eine detaillierte Übersicht über die Ausgangssituationen der Fünftklässler beim Übergang in die fünfte Klasse zu erhalten. Der zweite Durchgang der Untersuchung im Jahr 1998 widmete sich dann zunehmend der Entwicklung der Fachleistungen, Problemlösekompetenz und erhob zudem die schulbezogenen Einstellungen der Schülerinnen und Schüler. Mit dem dritten Schritt im Jahr 2000 erfolgte dann unter LAU 9 ein abschließender Punkt. Man konnte nun einen abschließenden Bericht über die Ent-

wicklung der Schülerinnen und Schüler geben (Lehmann et al 2002: S. 7)[9]. Die Koordinierung der Studie wurde von einer zentralen Stelle aus geführt, die auch die Aufgabe hatte, die Schulen zu informieren und die Studie vorzubereiten. Zusätzlich gab es somit einen Ansprechpartner. Neben dem Planungs- und Durchführungsbüro gab es an jeder Schule einen Ansprechpartner im Lehrerkollegium. Die Auswertung der erhobenen Daten erfolgte im Anschluss an die Erhebung durch eine Forschungsgruppe an der Humboldt-Universität in Berlin (Lehmann et al 2002: S. 8).

1996 begann die Testreihe mit LAU 5. Dabei wurden zwei standardisierte Schulleistungstests eingesetzt: Hamburger Kombinierte Schulleistungstest für vierte und fünfte Klassen – KS HAM 4/5 sowie die Hamburger Schreibprobe für vierte und fünfte Klassen – HSP 4/5. Die KS HAM 4/5 ermöglicht die Bestimmung des Sprachverständnisses, des Leseverständnisses, des passiven Rechtschreibwissens, der Fähigkeit zur Informationsentnahme aus Karten/Diagrammen/Tabellen und des Grades der Beherrschung mathematischer Rechenarten. HSP 4/5 zielt auf die Ermittlung des aktiven Rechtschreibkönnens der Schülerinnen und Schüler. Dafür standen 20 Minuten Bearbeitungszeit zur Verfügung. Die HSP 4/5 wurde nur in 20 Prozent der Klassen durchgeführt (www.hamburger-bildungsserver.de).

Dabei kam heraus, dass keine Unterschiede bei den Jungen und Mädchen zu verzeichnen waren. Im Sprachverständnis sind geringfügige Unterschiede zu Gunsten der Mädchen zu erkennen. Im Leseverständnis wurden hingegen stärkere Differenzen festgestellt, im Rechtschreiben ebenso. Diese Differenzen fielen ebenfalls zu Gunsten der Mädchen aus. Die größten Unterschiede ergaben sich im Bereich Schreiben. Hier wurde ebenfalls ein Vorteil der Mädchen erkennbar. Die Jungen konnten indessen einen Vorsprung im Bereich der Mathematikleistungen und im Bereich Entnahme von Informationen aus Karten, Diagrammen und Tabellen erzielen. Ähnlich wie bei IGLU-E, erreichen die Jungen höhere Werte in Mathematik als die Mädchen. Die Ergebnisse sind vergleichbar mit der Kompetenzstufenverteilung in IGLU-E. Die vorgefundenen Unterschiede liegen jedoch deutlich unter denen der Rechtschreibleistung. Die Leistungen der Mädchen im Rechtschreiben streuten zu-

sätzlich weniger als die der Jungen. Demnach können die Ergebnisse aus IGLU, IGLU-E und der Untersuchung von Tiedemann/Faber, dass Mädchen im sprachlichen und Jungen im mathematischen Bereich jeweils einen Vorsprung erzielen, bestätigt werden. Die Besonderheit bei LAU ist jedoch, dass diese Studie Ergebnisse zur persönlichen Reflexion und Bewertung der Schulleistungen der Schülerinnen und Schüler hervor bringt. Folglich messen die Mädchen persönlicher Anstrengung einer höheren Bedeutung bei, als die Jungen. Allerdings schätzen sie, im Vergleich zu den Jungen, ihre persönliche Leistung schlechter ein. Eine Unzufriedenheit der Mädchen mit dieser Situation lässt sich aber nicht erkennen, da sie weit aus positivere Erfahrungen aus der Grundschulzeit angeben und auch kooperatives sowie individuelles Lernen gleichermaßen Schätzen (Stürzer 2003: S. 95).

Im Jahr 1998 wurden die Lernstände der nun Siebtklässler erneut erhoben. Die Konzeption wurde bei behalten, lediglich der Bereich „Problemlösen, als fächerübergreifende Kompetenz“, sowie ein Vergleich geschlechtsspezifischer Leistungen im Fach Englisch[10] kamen hinzu. Zur Bestimmung des allgemeinen schulischen Leistungsstandes dienten zwei standardisierte Schulleistungstests: „Der Hamburger Schulleistungstest für sechste und siebte Klassen – SLHAM 6/7 und die Hamburger Schreibprobe für fünfte bis neunte Klassen – HSP 5-9“. Der “SL-HAM 6/7“ umfasst Untertests zu den Lernbereichen Deutsch (Sprache und Leseverständnis), Mathematik und erste Fremdsprache Englisch sowie zu dem fachübergreifenden Bereich Problemlösen. Der Deutschtest wurde in die Bereiche Sprach und Leseverständnis eingeteilt und erstreckte sich über zwei Unterrichtsstunden. Darin wurden themenspezifischen Aufgaben gestellt. Beim Leseverständnis wurden jeweils Sach-, Prosa- und Gebrauchstexte vorgelegt. Im Bereich Sprache und Leseverständnis wurden Multiple-Choice-Aufgaben gestellt. Der eine Unterrichtsstunde umfassende Englischtest erhebt Wortkenntnisse und Grammatikkenntnisse der Schülerinnen und Schüler nach zwei Unterrichtsjahren. Darüber hinaus prüft er das Hörverständnis durch Fragen zu einer 3-minütigen Sequenz. Auch hier kam das Multiple-Choice-Verfahren zum Einsatz. Der auf eine Unterrichtsstunde angelegter Untertest Mathematik enthält Aufgaben zu den Bereichen Geometrie, Arithmetik und Algebra im

Multiple-Choice-Format. Für die Lösung der Aufgaben durften keine Hilfsmittel wie z. B. Taschenrechner - genutzt werden. Ein Teil der Aufgaben zur Arithmetik, Algebra und Geometrie wurden bereits 1996 eingesetzt. Sie ermöglichen eine unmittelbare Verkopplung der Ergebnisse aus den beiden Untersuchungen des Längsschnitts. Der fächerübergreifende Problemlösetest wurde vom Institut didaktik & diagnostik der Gesellschaft für angewandte Bildungsforschung konzipiert. Der einstündige Test besteht aus Aufgaben zu Projekten aus dem schulischen Alltag. Zu diesen Projekten wurden Aufgaben gestellt, die die Kinder durch die Projekte mittels geeigneter Arbeitsschritte führte. Ziel war es, die Projekte als zusammenhängende Einheiten zu betrachten. die HSP 5-9 zielt auf die Ermittlung des aktiven Rechtschreibkönnens der Schülerinnen und Schüler (www.hamburger-bildungsserver.de).

Bei der Auswertung der Daten muss jedoch berücksichtigt werden, dass die Schülerinnen und Schüler mittlerweile eine der weiterführenden Schulen besuchen und somit ein Vergleich nur schulformintern stattfinden kann. Für den Bereich Sprache konnten von den jeweiligen Gruppen insgesamt nur geringe Lernzuwächse erzielt werden, auch wenn die Zuwächse der Mädchen etwas mehr waren, als die der Jungen. Die größten Unterschiede finden sich an Gesamtschulen, die geringsten an Gymnasien. Die in LAU 5 festgestellten Unterschiede im Leseverständnis waren größer als im Sprachbereich. Doch konnten hier die Mädchen ihren Vorsprung gegenüber den Jungen weiter ausbauen. Dabei sind die größten Unterschiede an den Gesamtschulen und die geringsten Unterschiede an den Gymnasien zu verzeichnen. Das gleiche Ergebnis liegt bei den Rechtschreibleistungen vor. Auch hier konnte der ohnehin schon großen Unterschiede zu Gunsten der Mädchen noch weiter ausgebaut werden. Bei den Jungen häuften sich zudem die stark schlechten Leistungen in diesem Bereich (Stürzer 2003: 96 f.). Die Leistungsunterschiede in Mathematik zu Gunsten der Jungen waren bei LAU 5 etwa gleich stark, wie bei denen der Rechtschreibleistung zu Gunsten der Mädchen. Dieser Vorsprung der Jungen vergrößerte sich nur geringfügig. Die neu hinzugekommene Überprüfung der Englischleistungen erbrachte ähnliche Ergebnisse wie im Deutschen, wo die Mädchen ebenfalls einen klaren Vorsprung gegenüber den Jungen erzielten. Ebenso in der zweiten, neu untersuchten, Kompetenz. Im Problemlösen als fächerübergreifende Kompetenz schnitten die Mädchen besser ab als die Jungen. Dabei traten die größten Differenzen an den Gymnasien auf (Stürzer 2003: S. 97 f.).

[...]


[1] Auf die einzelnen Studien und Untersuchungen werde ich in den nachfolgenden Kapiteln eingehen.

[2] Dass das Verhalten und die Sichtweisen der Lehrer zu nehmend die Entwicklung der Kinder beeinflusst wurde einige Jahre später genauer erkannt und Untersucht. Der Abschnitt 2.6 wird sich detaillierter mit diesem Aspekt befassen.

[3] Auf die Schulleistungstests wird in Kapitel 2.4 genauer eingegangen. Exemplarisch werden dort IGLU, TIMSS, LAU und PISA analysiert.

[4] Auf die PISA (Programme for International Student Assessment), TIMSS (Third International Mathematics and Science Study), LAU (Lernausgangslage) und anderen vergleichenden Leistungsmessungsstudien wird im Folgenden eingegangen.

[5] Zum Beispiel die IPN-Interessenstudien Physik von Lore Hoffmann, Peter Häußler und Manfred Lehrke aus dem Jahr 1998.

[6] Tiedemann, Joachim; Faber, Günter (1994): Mädchen und Grundschulmathematik. Ergebnisse einer vierjährigen Längsschnittuntersuchung zu ausgewählten geschlechtsbezogenen Unterschieden in der S.101-111.

[7] Wie in PISA wurde auch bei IGLU der Begriff der reading literacy zu Grunde gelegt (Stürzer 2003: S. 93).

[8] Auf den Internetseiten des Hamburger Bildungsserver ist zu entnehmen, dass zu Beginn der Jahrgänge 11 und 13 ebenfalls Untersuchungen zur Lernausgangslage erhoben wurden (http://www.hamburger-bildungsserver.de/index.phtml?site=schule.qualitaet).

[9] Über die LAU-Studie hinweg wurden sogenannte Ankeraufgaben eingesetzt. Dies waren eine bestimmte Anzahl an Aufgaben aus den jeweiligen zuvor durchgeführten LAU-Studien. Beispielsweise wurden in LAU 7 Ankeraufgaben eingesetzt, die in LAU 5 als allgemeine Aufgaben konstruiert waren. In LAU 9 wurden Ankeraufgaben aus LAU 7 eingesetzt, die dort wiederum als normale Aufgaben galten. Somit konnte, auf Grund der Aufgabenkonstanz eine Entwicklung besser untersucht werden.

[10] Als Alternative für Schülerinnen und Schüler, die nicht Englisch als erste Fremdsprache haben, wurden Latein- und Französischtests konstruiert. Im Lateintest wurden Multiple-Choice-Aufgaben gestellt, der Französischtest ähnelte dem Englischtest. Beide Tests wurden ebenfalls auf 45 Minuten begrenzt.

Ende der Leseprobe aus 82 Seiten

Details

Titel
Jungen - Das starke Geschlecht? Eine Untersuchung der Benachteiligungsdebatte im Koedukationsdiskurs
Hochschule
Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover
Note
2,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
82
Katalognummer
V113931
ISBN (eBook)
9783640138265
ISBN (Buch)
9783640138456
Dateigröße
750 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Jungen, Geschlecht, Eine, Untersuchung, Benachteiligungsdebatte, Koedukationsdiskurs
Arbeit zitieren
Sascha Rudolf (Autor:in), 2007, Jungen - Das starke Geschlecht? Eine Untersuchung der Benachteiligungsdebatte im Koedukationsdiskurs, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/113931

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