Existentielle und emotionale Grenzbereiche - Selbstmord als Thema der Literatur in Zeiten des Umbruchs


Bachelorarbeit, 2008

46 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Zeiten des Umbruchs
2.1 Die Umbrüche des 18. Jahrhunderts und der Selbstmord
2.2 Der Werther als Paradigma der Umbruchszeit

3. Die Leiden des Jungen Werthers
3.1 Der Urkonflikt und der tragische Weg
3.2 Artverwandte Diskurse und potentielle Wege
3.3 Kritische Stimmen vs. Wertherfieber

4. Ergebnisse

5. Literaturverzeichnis

6. Anhang

1. Einleitung

Der Tod ist einer der existentiellen und emotionalen Grenzbereiche. Der Mensch hat die Möglichkeit diese Grenze aktiv und eigenhändig zu überschreiten – freiwillig in den Tod zu gehen, oder etwa nicht? Oder ist der Selbstmord das Produkt des Teufels, vielleicht gar das eines strafenden Gottes?[1] Wenn man an die Existenz eines freien Willen glaubt, dann ist zu diskutieren ob ein Selbstmord als ein moralisch gut entschiedener Akt vollzogen werden kann. Mit der Entwicklung von Modellen der modernen Psyche, die vielleicht nur physiologischen Prozessen unterwürfig ist, kommt eine weitere Dimension hinzu. Innerhalb dieser ist der Suizid das Ergebnis eines psychischen und körperlichen Misstandes – was heute wohl allgemein als Volkskrankheit Depression gilt.

In der Literatur wird das Phänomen des Selbstmords seit jeher als kulturelles Motiv überliefert, als Problem diskutiert, als Akt der Freiheit verehrt, als Ende eines selbstoder fremdbestimmten elenden Daseins markiert. Oder es wird einfach nur dargestellt. Der Selbstmord des Sokrates bei Platon, die angedeutet mögliche Selbstentleibung des Iweins von Hartman von Aue, der schändliche Tod des Judas in der Bibel, auch denke man hier an Dantes Göttliche Komödie , in den Kreisen des Infernos begegnet man dem ein oder anderen Selbstmörder, in der Geschichte der Literatur schreckte man nicht davor zurück Jesus zum Archetypus des christlichen Selbstmörders zu stilisieren, natürlich Johan Wolfgang von Goethes Roman Die Leiden des Jungen Werthers, das Urteil von Franz Kafka , Hermann Hesses Steppenwolf oder Unterm Rad sind nur einige der prominentesten Beispiele. Auch alle namenhaften Philosophen haben sich seit ehedem mit dem Selbstmordproblem auseinander gesetzt. In der Literatur im engeren und im weiteren Sinne werden im Laufe der Zeit immer wieder verschiedene Aspekte dargestellt, und auch in Frage gestellt.[2] Eine ganz besondere Brisanz bekommt das Phänomen Selbstmord allerdings im 18. Jahrhundert.

Die vorliegende Bachelorarbeit untersucht die Phänomenologie des Freitods in der Umbruchszeit des 18 Jahrhunderts. Es soll versucht werden den Grenzbereich des Suizids auszuloten. Die moralische, anthropologisch-psychologische und theologische Erfahrungsund Vorstellungswelt des 18. Jahrhunderts sind hier näher zu beleuchten. Diese Welt der existentiellen und emotionalen Grenzlinien soll nun in der Literatur, die das 18. Jahrhundert betrifft, aufgezeigt werden. Die Arbeit lässt sich grob in zwei Hauptteile unterteilen. Im ersten Teil wird die Selbstmorddebatte anhand der dafür relevanten Literatur analysiert. Im zweiten Teil wird nach einer historischen Einordnung ein literarisch-ästhetisches Werk, nämlich der Werther , explizit in Hinblick auf den Selbstmord untersucht.

Nach einer kurzen Zusammenfassung des suizidalen Phänomens wird mit dem antiken Meinungsaustausch begonnen. Auf die antiken Wurzeln der Selbstmorddebatte kann hier natürlich nicht verzichtet werden. Die Argumente der drei großen Philosophen Platon, Aristoteles und Seneca werden somit erläutert. Nach der Antike werden die historischen Bedingungen des christlichen Selbstmordverdikts aufgezeigt. Auch soll die christliche Rezeption der Antike beleuchtet werden.

Ausgehend von den Wurzeln wird nun versucht die moralische Kontroverse des 18. Jahrhunderts nachzuzeichnen. Hier wird das Movens des moralischen Wandels analysiert, die Bewegung der christlich-religiösen und aufklärerrischen Europäer. Zunächst wird dabei auf religiöse Traktate eingegangen. Dann wird David Hume herangezogen, der als Selbstmordapolget des 18. Jahrhunderts gilt. Ein Ausschnitt des Romans Julie oder die Neue Héloïse von Jean Jaque Rousseau wird dem entgegen gesetzt. Zwischen diesen beiden Polen wird versucht die grundlegenden philosophischen Argumente für oder gegen den Freitod zu veranschaulichen. Auf weiter Philosophische Texte wird verwiesen. Immer wieder soll der antike Bezug herausgestellt werden. Nun wird versucht die allgemeine Auffassung der Selbstentleibung zu erörtern. Die Gesetzeslage des Suizides wird grob skizziert, wobei auf eine intensive Auseinandersetzung mit den politischen und historischen Rahmenbedingungen und der heterogenen Gesetzessituation nicht eingegangen werden kann. Daran angekoppelt muss die medizinische und psychologische Erfahrungswelt des 18. Jahrhunderts behandelt werden. Auch hier wird grob skizziert, eine fundiertere Auseinandersetzung mit einer entstehenden Anthropologie als wissenschaftliche Disziplin, vor allen als ein Einfluss auf das Gottesbild des Menschen, wäre hier nötig, kann aber nicht geleistet werden.

Eines der bekanntesten und schon viel untersuchten Werke, wenn es um das Thema Selbstmord geht, ist, wie schon erwähnt, natürlich Goethes Werther. Dieser soll nun historisch eingeordnet und daraufhin auf seine charakteristischen Merkmale für die enormen Umwälzungen des 18. Jahrhunderts untersucht werden. Daran anschließend werden die Leiden des Werthers näher analysiert. Es wird versucht grundlegende Argumente der Selbstmorddebatte, religionsphilosophischer oder allgemein gesellschaftlicher Natur zu identifizieren und hervorzuheben. Diese sollen wiederum auf die Umwälzungen der Zeit bezogen werden. Hierbei wird exemplarisch auf relevante Textbeispiele eingegangen um den Selbstmord als Thema des Werthers innerhalb der Umbruchszeit zu erörtern. Ferner werden die kontroverse Wirkung dieses „Büchleins“ und seine immense Rezeption grob nachgezeichnet. Hier sollen einige wenige Zeitzeugen zu Worte kommen. Beispielsweise werden die vehement kritischen Argumente des Theologen Johann Melchior Goezes vorgestellt. Diese werden in Kontrast zur emphatischen und fast schon fibrösen Rezeption des Werthers gesetzt. Hierfür sei schon jetzt auf den Anhang (Abb. 1-25) verwiesen, da dort versucht wird das so genannte Wertherfieber auch bildlich darzustellen. Abschließend werden die von mir gewonnen Erkenntnisse kritisch reflektiert.

2. Zeiten des Umbruchs

2.1 Die Umbrüche des 18. Jahrhunderts und der Selbstmord

Laut Heinz Thoma sind die Grundzüge der anthropologisch-philosophischen Selbstmord- Kontroverse des 18. Jahrhunderts bereits in der Antike zu sehen.[3] Verschiedene freiheitsund gesellschaftstheoretische Auffassungen sowie Gottesund Naturvorstellungen bestimmen schon hier die divergierenden Argumentationsweisen für oder gegen den Freitod. Danach dominiert lange Zeit die christliche Lehre, innerhalb der Augustinus und Thomas von Aquin den so genannten Selbstmord (homicidium) zur Todsünde erklären. Zu Beginn der Frühen Neuzeit relativiert sich diese Ablehnungshaltung. Impetus für eine antitheologische Argumentation und eine Beurteilung, die dem Individuum wieder verstärkt einen Anspruch auf ein Selbstbestimmungsrecht zuspricht, sind der Renaissancehumanismus, das aristokratische Unabhängigkeitsstreben und der sich entfaltende Libertinismus. Die Hochzeit der Auseinandersetzung mit dem Selbstmord ist jedoch das 18. Jahrhundert, „an ihr schärft und verbreitert sich die Aufklärung über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft“[4]. Die moralisch-philosophischen Positionierungen innerhalb Europas, speziell auch im deutschen Sprachgebiet, sind nicht immer so eindeutig wie die des Rationalisten Christian Wolff (1679- 1754), der den Selbstmord als Verletzung der Pflichtenlehre verurteilt, sondern im Gegenteil ambivalent. Haupttext der Verteidigung des Suizids ist ein Traktat von Johan Robeck aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Diese Abhandlung wird beispielsweise in Rousseaus Julie oder die Neue Héloïse erwähnt. [5] Die freiheitstheoretische Argumentation David Humes wird zur Selbstmordapologetik gerechnet. Die medizinische Diskussion verlagert den Selbstmord- Diskurs in den pathologischen Bereich und entzieht dem durch Kirche und Staat moralisch begründeten Selbstmordverbot den argumentativen Nährboden. Auch greift die Literatur des 18. Jahrhunderts die unterschiedlichen Argumentationszusammenhänge auf. Goethes Werther ist für Thoma ein Beispiel, dass die Literatur im engeren Sinne den Selbstmord-Diskurs und eine fiktive Inszenierung verbinden kann. Mit dem Krankheitsdiskurs wird ebenso das traditionelle, geniale Moment des Melancholikers wieder aufgegriffen, welches ferner in der Romantik eine neue Qualität gewinnt. Zählt man ]Kants Metaphysik der Sitten noch zur Aufklärung, so steht an deren Ende eine deutliche Ablehnung des Freitods, der gleichbedeutend ist mit der Vernichtung der Person.

Einer der bekanntesten antiken Philosophen im Selbstmorddiskurs ist Platon (427 – 347 v. Chr.), der vermeintliche Schüler des Sokrates. Er ist für die Argumentation im 18. Jahrhundert von entscheidender Bedeutung. Er wird beispielsweise von Moses Mendelssohn, einem der deutschen Gegner des Selbstmords, rezipiert[6], aber auch David Hume, ein Befürworter des Freitods, bezieht sich auf Platon, hierzu später mehr.

Platon, erklärt Heiko Buhr, lehnt nach einer metaphysischen Argumentation den Freitod grundsätzlich ab, er differenziert aber. Er begründet seine Sichtweise im Dialog Phaidon religiös. Der Mensch stehe nach Platon auf einem Posten, der ihm von den Göttern zugewiesen werde. Er sei das Eigentum dieser und nur sie hätten über ihn zu richten. Im Phaidon spricht Sokrates zu einem der bei seinem Tode Anwesenden: Wie denn auch dieses, o Kebes, mir ganz richtig gesprochen scheint, daß die Götter unsere Hüter und wir Menschen eine von den Herden der Götter sind. Oder dünkt es dich nicht so? Allerdings wohl, sagte Kebes. Also auch du würdest gewiß, wenn ein Stück aus deiner Herde sich selbst tötete, ohne daß du angedeutet hättest, daß du wolltest, es solle sterben, diesem zürnen und, wenn du noch eine Strafe wüßtest, es bestrafen? Ganz gewiß, sagte er.[7]

Durch den Freitod widersetze sich der Mensch „gewaltsam dem über ihn verhängten Todestage“[8]. Eine Ausnahme des Selbstmordverbots ergebe sich für Platon aus einem schrecklichen und unüberwindbaren Schicksal.[9] Zudem sei der Freitod legitim, resultiere er aus einem staatlichen Rechtsspruch, der bei Platon ein göttlicher Richterspruch sei.[10] Dem entspricht auch, dass der staatlich angeordnete Selbstmord von Sokrates im Dialog Phaidon durchaus heroischen Charakter aufweist:

Sokrates aber sah ihm [dem Überbringer des Urteils durch die Oberen] nach und sprach: Auch du lebe wohl, und wir wollen so tun. Und zu uns sagte er: Wie fein der Mensch ist! So ist er die ganze Zeit mit mir umgegangen, hat sich bisweilen mit mir unterhalten und war der beste Mensch; und nun, wie aufrichtig beweint er mich! – Aber wohlan denn, o Kriton, laßt uns ihm gehorchen, und bringe einer den Trank, wenn er schon ausgepreßt ist; wo nicht, so soll ihn der Mensch bereiten! […] Und wie er dies gesagt, setzte er an, und ganz frisch und unverdrossen trank er aus.[11]

Strikt zu verurteilen sei der Selbstmord, wenn er gegen die Tugend der Tapferkeit, also aus Trägheit und Entmutigung vollzogen wird. Das platonische Strafmaß für einen solchen Selbstmord ist ein einsames, namenund schmuckloses Grab, so Buhr.[12]

Auch Aristoteles, der bekannteste Schüler Platons, spricht sich in seinem Werk Nikomachische Ethik für den Mut aus. Laut Aristoteles ist die Bedingung für den Mut die Tugendhaftigkeit. So heißt es bei Aristoteles:

Dieser [der bürgerliche] Mut ist dem von uns beschriebenen am ähnlichsten, weil er seinen Beweggrund in der Tugend hat, in dem Ehrgefühl nämlich, in dem Verlangen nach dem sittlich Schönen, der Ehre, und in der Furcht vor etwas sittlich Häßlichem, der Schande. Hieher kann man auch diejenigen rechnen, die von ihren Gebietern gezwungen werden. Sie sind jedoch geringer, weil sie nicht aus Scham, sondern aus Furcht sich mutig zeigen, indem sie nicht das Schimpfliche oder sittlich Häßliche, sondern das Schmerzbringende scheuen.[13]

Er differenziert hier zwei von insgesamt fünf Formen des Mutes. Gleichwohl geht damit eine unterschiedliche Qualität des Mutes einher.

Aristoteles unterstelle jedem, der sich selbst das Leben nimmt, „um der Armut oder einer Liebe oder irgendeinem Schmerze zu entgehen“, Feigheit.[14] Der Schüler Platons verzichte auf jegliche transzendente Begründung des Selbstentleibungsverbots, er führe den Selbstmord auf eine fehlerhafte Affekthandlung zurück. Drei Aspekte der aristotelischen Argumentation seien bemerkenswert. Erstens, zunächst sei der Freitod als Handlung des Individuums durchaus gerechtfertigt. Es sei aber das Kollektiv, aus welchem sich die gesellschaftlichen Richtlinien und Bewertungskriterien konstituieren. Zweitens transportiere Aristoteles somit die Selbstentleibung als erster in das Gebiet der Jurisdiktion, und drittens bringe Aristoteles erstmalig das Argument hervor, dass der Selbstmord die Gesellschaft schädigt. Der Freitod sei also hiernach nicht, wie bei Platon, eine Verletzung der göttlichen Dogmen, sondern eine offenkundige und störende Schädigung der Gesellschaft. In zwei Punkten macht auch Aristoteles eine Ausnahme, erklärt Buhr weiter. Zum einen darf jemand, „der vieles Schlimmes getan hat“ und „wegen seiner Schlechtigkeit gehasst wird“ den Tod wählen und Buße tun.[15] Zum anderen ist es im Umkehrschluss rechtens, gar wünschenswert, wenn jemand für das Wohl der Gesellschaft, „für Freunde“ und „für das Vaterland“ auf das Leben verzichtet.[16] In den Lehren des Aristoteles entscheidet somit immer die Gesellschaft über Billigung und Missbilligung des Freitods.[17]

Besonders die stoische Lehre Senecas ist laut Buhr für die philosophische Diskussion um den Freitod im 18. Jahrhundert von Bedeutung. Die stoische Philosophie sei stark am Diesseits orientiert und ziele auf einen Zustand dauerhaften Glücks ab. Glück heiße im stoischen Sinne, dass die Seele Ruhe findet. Die Seele werde gequält durch die Affekte, d. h. übersteigerte Triebe. Seneca riefe demnach zur Überwindung bzw. Beherrschung der Leidenschaften auf, um einen dauerhaften harmonischen Glückszustand zu erreichen. Wie Platon und im Gegensatz zur traditionellen Stoa gehe auch er von der Unsterblichkeit der Seele aus. Nach einem dualistischen Verständnis sterbe die körperliche Hülle, die Seele werde wiedergeboren und lebe nach Seneca ewig. Trotzdem ist er für die Selbstentleibung, um die individuelle Souveränität zu bewahren – einen Akt der absoluten Autonomie.[18] Den Freitod aus einem Affekt heraus lehne Seneca ab.[19]

Auch Seneca appelliert, wie Platon und Aristoteles an den Mut, denn „was wäre törichter, als den Tod zu verachten, das Gift zu fürchten?“[20] Seneca sieht im Selbstmord ein probates und legitimes Mittel, dem Leben ein Ende zu setzen. Besonders deutliche Worte findet er in seinem Brief an Lucilius. Im Gegensatz zu Aristoteles spricht Seneca dem Individuum jegliche Entscheidungsfreiheit zu, „solange nur das feststeht, vorzuziehen ist der schmutzigste Tod der saubersten Knechtschaft.“[21] Er sieht in der Seele des Menschen die maßgebende Instanz und legitimiert den Suizid, wenn das Leben zu einer leidvollen Fessel geworden ist:[22]

Wenn der eine Tod unter Qualen, der andere einfach und leicht sich vollzieht, warum sollte diesem nicht die Hand nachhelfen dürfen? Wie ich ein Schiff auswählen werde, wenn ich in See gehen, und ein Haus, wenn ich wohnen will, so den Tod, wenn ich aus dem Leben gehen will. […] Bei nichts müssen wir uns mehr als beim Tode nach der Seele richten. Sie wähle den Ausgang, wie sie den Anstoß dazu bekommen hat: habe sie das Schwert ergriffen oder die Schlinge oder irgendeinen Trank, die Adern durchströmend, sie lasse nicht nach und zerbreche die Fesseln der Knechtschaft.[23]

Nach Roger Willemsen waren die Vorraussetzungen in der christlichen Tradition anders als in der Antike. Während in der Antike Selbstmord oft auch als eine Handlung des mündigen Individuums gewürdigt wurde und einige populäre Beispiele überliefert und auch von der Moderne immer wieder rezipiert wurden, so etwa Cato, Hannibal, Seneca, Sokrates, wird von den Christen das sittlich skandalöse Moment in den Vordergrund gestellt. Die Geschichte des Selbstmords im Christentum sei eine Geschichte voller Verbote.[24] Julia Schreiner hält fest, in der christlichen Ideenlehre ist das Selbstmordverdikt nicht seit je her als ein Dogma überliefert. Augustinus sei es, der als erster den Gedanken eines Selbstmordverbots in der

Kirche formuliert. Vorher habe es keine Festlegung auf eine Verurteilung des Selbstmordes gegeben, wahrscheinlich daraus resultierend, dass weder das Alte noch das Neue Testament ein solches Verbot explizit beinhalteten.

Die Grundzüge des christlichen Selbstmordverbots sieht auch Heiko am Ausgang der Antike, von Aurelius Augustinus (354-430) formuliert. Der Kirchenvater versucht die Ablehnung des Freitodes aus der Bibel zu deduzieren. Er berufe sich auf das Fünfte Gebot:

„Du sollst nicht töten“. Da hier nicht, wie beim achten Gebot, der Zusatz „deinen Nächsten“ explizit genannt werde, impliziere das fünfte Gebot auch die eigene Person. Somit werde der antike Freitod zum Mord – zur Todsünde. Ein leidvolles Schicksal, wie bei Platon, sei kein Grund sich selbst zu töten, sogar die Vermeidung einer Sünde sei keine Rechtfertigung. Augustinus behandle einige Fälle, die seine Ausführungen in Frage stellen könnten. So untersuche er Beispiele von christlichen Jungfrauen und Märtyrerinnen, die sich aufgrund der Schande einer Vergewaltigung oder um ihre Unschuld zu wahren, selbst das Leben nahmen. Da er zwischen Seele und Körper trenne, wobei die Tugend im Geistigen verortet werde und die Seele den unkeuschen Leib beherrsche, komme er zu dem Schluss, eine „unfreiwillig erlittene Vergewaltigung schändet den Leib nicht“.[25] Somit sei auch der Freitod der Lucretia zu verurteilen. Entweder habe sie der Vergewaltigung innerlich zugestimmt und sei somit schuldig gestorben, oder sie habe sich des Mordes schuldig gemacht. Es gibt zwei Ausnahmen bei Augustinus, erklärt Buhr. Zum einen ist es rechtens, auf Befehl Gottes zu töten, beispielsweise im Krieg. Zum anderen ist es legitim zu töten, wenn das Gesetz es verlangt, wobei auch hier Gott als Urheber aller Gesetze betrachtet werden muss. [26] Analog zu Augustinus ordnet Thomas von Aquin (1225-1275) den Selbstmord in seinem theologischen Lehrbuch „Summa Theologica“ dem 5. Artikel „Über den Mord“ zu. Er systematisiert und ergänzt die Überlegungen von Augustinus. Er begründet das Selbstmordverbot auf drei Ebenen. Die Selbsttötung widerspricht der Natur, der Gesellschaft und Gott. Ein Selbstmörder handelt gegen die Natur, da sich jedes Wesen „von Natur aus […] selbst im Sein zu erhalten sucht.“[27] Das zweite Argument bezieht sich explizit auf Aristoteles. Tötet sich ein Individuum, so schadet es der Gemeinschaft. Das Leben ist nach Aquin ein „Gott gewordenes Geschenk“[28], somit ist der Selbstmord eine Sünde gegen Gott. Auch wenn Thomas von Aquin die gesetzlich angeordnete Todesstrafe gutheißt, bleibt bei ihm jegliche Form der Selbstentleibung negiert.[29]

[...]


[1] Bei den verschiedenen Begriffen für den selbst ausgelösten Tod schwingt immer eine gewisse Bedeutung mit. So ist der Selbstmord nach der christlichen Herkunft als ein Mord zu sehen. Der Freitod ist ein heroischer Akt, der Suizid ein klinisches Phänomen. In dieser Arbeit wird nur ansatzweise auf die Herkunft dieser Begriffe eingegangen. Sie sollen möglichst losgelöst von ihrer historischen und politischen Konnotation betrachtet werden.

[2] In dieser Arbeit wird unterschieden zwischen Literatur im engeren und im weiteren Sinne. Literatur im engeren Sinne meint literarisch ästhetische Schriftwerke. So wird beispielsweise der Werther-Briefroman behandelt. Unter Literatur im weiteren Sinne verstehe ich jede Form von schriftlicher Aufzeichnung. So werden z. B. auch theologische und philosophische Traktate herangezogen. Wird der Begriff Literatur verwendet, wird sich auf beides Bezogen.

[3] Die folgende Überblicksdarstellung orientiert sich an: THOMA (2007), S. 261 ff. Sie gilt gleichermaßen als Gliederung für die sich ab Seite 5 anschließenden Ausführungen.

[4] Ebd., S. 262.

[5] Johann Robeck (1672-1735) kam ursprünglich aus Schweden und siedelte nach Deutschland über. Er war zunächst Lutheraner, konvertierte später zum Katholizismus. Nach seinem Aufenthalt in Wien, wo er mehrere Jahre in den Humanitätsklassen Philosophie lehrte, kehrte er zurück nach Deutschland. Schließlich ertränkte er sich in der Weser. Seine 1736 postum veröffentlichte Abhandlung war eine der bekanntesten Schriften über den Selbstmord. Neben Rousseau rezipiert sie beispielsweise auch Voltaire. Vgl. dazu den Artikel „Robeck, Johann“ in: Allgemeine Deutsche Biographie , herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayrischen Akademie der Wissenschaften, Band 28 (1889), ab Seite 717. Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: http://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Robeck%2C_Johannoldid=164548 (Version vom 20. Mai 2008, 13:36 Uhr UTC).

[6] Laut Andreas Bähr hat Moses Mendelssohn wie Leibniz und Wolff eine Gottesvorstellung, die sich in Vollkommenheit, Tugend und Weisheit manifestiert. Auch ersucht Mendelssohn das moralische Selbstmordverbot zu begründen. In seinem Werk Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele geht er wie Platon von einer ewig lebenden Seele aus. Er argumentiert nun aber rationalistisch. Um einen Selbstmord vernünftig zu begründen, muss vorausgesetzt werden, dass der Tod den Übertritt in das Nichts bedeutet, der Selbstmord die Befreiung von der Wirklichkeit. Einem solchen Nichtbewusstsein im Tod ist ein Leben mit Bewusstsein, und ist es auch in größtem Elend, immer vorzuziehen, da jeder reale Zustand der Seele mehr Vollkommenheit beinhaltet als das Nichts. Der Selbstmord ist somit nicht moralisch vertretbar. Auf eine genauere Darstellung der unsterblichen Seele und der Selbstentleibung des Sokrates bei Mendelssohn muss hier verzichtet werden. Vgl. hierzu BÄHR (2002), S. 97 ff.

[7] Platon nach BUHR (1998), S. 35. In der vorliegenden Arbeit wird aber ein größerer Ausschnitt zitiert als bei diesem. Siehe dazu Platon auf: http://www.zeno.org

[8] Platon nach BUHR (1998), S. 35.

[9] Laut Buhr zeigt sich hier das teilweise zwiespältige Verhältnis Platons zum Freitod, welches sich auch in der kontroversen Rezeption Platons zeigen wird. Zum einen, wie noch in dieser Arbeit herausgearbeitet wird, entfaltet Seneca Platons Ausnahmebedingungen des Selbstmordverbots konsequent nach stoischer Manier. Zum anderen berufen sich die Gegner der Selbsttötung auf Platon, den ersten bedeutenden Widersacher des schändlichen Selbstmordes.

[10] Buhr geht noch einen Schritt weiter und sieht in dem Todesurteil der Gesellschaft bzw. Gottes die Möglichkeit auch das individuelle Unglück in diesem Sinne als gottgewollt zu sehen. Demnach wäre es eine Erlaubnis zum Freitod. Damit wird auf eine Sichtweise angespielt, wie sie später auch bei den Deisten vertreten wird. Vgl. hierzu ebd. S.35 f. Im Falle eines Todesurteils wurde das eigene Leben in der Antike manchmal auch den Interessen der Familie untergeordnet. Nach römischem Gesetz wurden die Besitztümer von Verurteilten, die sich vor der Urteilsvollstreckung selber töteten, nicht vom Staat beschlagnahmt, wie es ansonsten der Fall war. Anton van Hooff relativiert das Bild der allzu liberalen antiken Welt aber auch gleichermaßen. Er gibt zu bedenken, dass die Selbstmordquote nach seinen Schätzungen bei 0,002 (die Zahl der Opfer pro Hunderttausend pro Jahr) liegt. Zum Vergleich: Deutschland hat eine Quote von 15-16. Vgl. hierzu VAN HOOFF (2005), S. 24 ff.

[11] PLATON: Phaidon, 809 f.

[12] Vgl. BUHR (1998). S. 34 ff.

[13] ARISTOTELES: Nikomachische Ethik , 1116.

[14] Aristoteles nach BUHR (1998), S. 37.

[15] Ebd. Dass Aristoteles keinerlei Ausnahme beim Freitod macht, ist laut Buhr ein Irrtum. Zudem äußert Buhr die Vermutung, dass Aristoteles durch diese erste Ausnahme die Wunschvorstellung formuliert den Staat von Tyrannen, Verbrechern und ähnlichem Schaden befreien zu können. Somit wird hier auch die Basis für den Rechtsspruch, sich selbst durch den Schierlingsbecher zu töten, geschaffen. Vgl. dazu ebd.

[16] Ebd., S. 38.

[17] Vgl. ebd., S. 36 ff.

[18] Seneca hat in seinem 70. Brief an den Lucilius die unterschiedlichsten und erschütternsten Fälle von antiken Suiziden überliefert. Zudem ist Seneca selbst ein Musterbeispiel für den antiken willentlichen Tod. Als Nero ihm den Tod befahl, traf er in aller Ruhe die Vorbereitungen für einen seiner Philosophie nach angemessenen Tod. In den Quellen werde die Existenz eines freien Willens immer wieder betont, auch in Fällen in denen Beispielsweise der Kaiser das Todesurteil gefällt hat. Da der moderne Betrachter dazu neigt einem antiken Selbstmörder wenigstens einen vorübergehenden inneren Zwiespalt zu unterstellen, gibt van Hooff zu bedenken, dass wir Menschen aus einer anderen Zeit oder aus einem anderen Kulturkreis nicht eine Psyche unterstellen dürfen, die wie die unsrige funktioniert. Den Berechnungen nach beansprucht der Selbstmord aus Zwang 6 % der überlieferten Suizide jener Zeit. Darüber hinaus verkörpere der Freitod Aias am stärksten das Bild des antiken Suizids. Nachdem Achill, der vorderste Kämpfer bei Troja, gefallen ist, erhält nicht Aias seine Rüstung, sondern der eloquente Odysseus. Daraufhin stürzt sich Aias aus Scham in sein Schwert. Diese Selbsttötung ist auf 45 überlieferten antiken Bronzebeschlägen von Schildbänden, mit denen der griechische Soldat sein Schild festhielt, abgebildet. Diese Art, die Selbstentleibung aus Scham, macht 29 % der registrierten Selbsttötungen aus. Vgl. hierzu VAN HOOFF (2005), S. 36 ff.

[19] Vgl. ebd., S. 39 f.

[20] Annäus Seneca: Brief über den Selbstmord. In: WILLEMSEN (2007), S. 13-19, hier S. 15. Auch Seneca bezieht sich auf den Freitod von Sokrates, über den er in aller Bewunderung spricht: „Sokrates hätte durch Hungerstreik sein Leben beenden und an Hunger eher sterben können als durch Gift: Dreißig Tage jedoch hat er im Gefängnis und mit warten auf den Tod verbracht […], um sich den Gesetzen zu stellen, um seinen Freunden einen Umgang mit einem Sokrates an der Schwelle des Todes zu schenken.“ Gleichermaßen spricht er auch abwertend über Sokrates: „Finden wirst du auch Lehrer der Philosophie (nach Rosenbach sind damit Sokrates und seine Schüler gemeint), die bestreiten, man dürfe Gewalt antun, dem eigenen Leben, und es für Gotteslästerung erklären, selbst sein eigener Mörder zu werden: […] Wer das sagt, sieht nicht, dass er den Weg zur Freiheit verschließt.“ Siehe hierzu ebd., S. 15 f.

[21] Ebd., S. 18.

[22] Vgl. ebd., S.14 ff.

[23] Ebd., S. 15.

[24] Ebd., S. 394.

[25] BUHR (1998), S. 42.

[26] Vgl. Buhr (1998), S. 40 ff.

[27] Thomas von Aquin nach Buhr (1998), S. 44.

[28] Ebd.

[29] Vgl. ebd., S. 44 f.

Ende der Leseprobe aus 46 Seiten

Details

Titel
Existentielle und emotionale Grenzbereiche - Selbstmord als Thema der Literatur in Zeiten des Umbruchs
Hochschule
Technische Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig
Note
1,3
Autor
Jahr
2008
Seiten
46
Katalognummer
V113664
ISBN (eBook)
9783640133628
ISBN (Buch)
9783640486984
Dateigröße
3082 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Existentielle, Grenzbereiche, Selbstmord, Thema, Literatur, Zeiten, Umbruchs
Arbeit zitieren
Daniel Oppermann (Autor:in), 2008, Existentielle und emotionale Grenzbereiche - Selbstmord als Thema der Literatur in Zeiten des Umbruchs, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/113664

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