Der aktuelle deutsche Opferdiskurs und seine Wurzeln in der Nachkriegszeit


Hausarbeit (Hauptseminar), 2008

26 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Umgang mit der NS-Vergangenheit nach

3. Nach der Wiedervereinigung: Erneute Selbstwahrnehmung als Opfer

4. Fazit

Literaturangaben

1. EINLEITUNG

Nach dem mit der Wiedervereinigung Deutschlands einhergehenden gesellschaftlichen Umbruch trat auch der Erinnerungsdiskurs zur nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands in eine neue Phase. Aleida Assmann hat zurecht festgestellt: „noch nie zuvor hat sich eine Zeit, eine Nation, eine Generation so reflektiert und reflektierend mit sich selber und ihrer Herkunft befasst“ wie nach 1989/90.[1] Seit den neunziger Jahren ist das Thema Nationalsozialismus medial präsenter und emotionaler umstritten als je zuvor, so dass Dan Diner mit Recht vom Nationalsozialismus als „gestauter Zeit“ gesprochen hat, einem Ereignis, das sich mit zunehmender zeitlicher Distanz immer weiter ausdehnt.[2] In den Fokus des öffentlichen Erinnerungsdiskurses, in dessen Zentrum spätestens seit den achtziger Jahren die Judenvernichtung stand, trat vor der Jahrtausendwende ein weiterer Aspekt: die Thematisierung des eigenen, deutschen Leids.

Dieser Wandel ist jedoch weniger, wie zunächst scheinen mag, Manifestation neuer Souveränität in der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit. Vielmehr knüpft er an bekannte Muster an, die bereits aus der Erinnerungstradition der Nachkriegszeit und der fünfziger Jahre in der Bundesrepublik[3] bekannt sind, jedoch anschließend jahrzehntelang zwar den privaten Bereich dominierten, in der Öffentlichkeit jedoch wenig Aufmerksamkeit fanden. Der unmittelbaren Nachkriegszeit mit den Kriegsverbrecherprozessen der Alliierten folgte in den fünfziger Jahren die so genannte „Vergangenheitspolitik“, aus der diese Verinnerlichung hervorging. Norbert Frei beschreibt sie als „eine Phase größerer Milde für die Individuen, die gewissermaßen erst die Basis für einen offeneren Umgang mit der Vergangenheit schuf: die Phase der Amnestie- oder Vergangenheitspolitik, deren politische Fehler und moralische Versäumnisse das geistige Klima der Bundesrepublik nachhaltig prägten“.[4] Hier wird bereits deutlich, dass die Form der Auseinandersetzung in dieser ersten Phase inzwischen eine radikale Neubewertung erfahren hat. So scheint zunächst überraschend, dass dennoch in jüngster Zeit an aus den fünfziger Jahren bekannte Muster angeknüpft wird, zumal sich zuvor in der Öffentlichkeit lange hartnäckig das Bild von der „Unfähigkeit zu trauern“ hielt, die der vom Nationalsozialismus betroffenen Generation zugesprochen wurde und in deren Folge diese Zeit mit einem Verhaltenspektrum von Ausreden, Leugnen, Schweigen und Vertuschen bis hin zur verzerrten Selbstdeklarierung als Opfer oder gar WiderstandssympathisantIn assoziiert wurde.[5] De facto gibt es aber eine Vielzahl von Quellen wie diversen Publikationen, die belegen, wie präsent die Wahrnehmung als Opfer war, und anhand derer Parallelen zum heutigen Diskurs aufgezeigt werden können.[6] Diese Parallelen sind im Umgang bei weitem nicht kongruent; schließlich findet die heutige Auseinandersetzung vor völlig anderen Voraussetzungen und anderem Bewusstsein statt. Umso interessanter ist also die Frage nach dem „Wie“ und „Warum jetzt“ dieser Veräußerlichung der lange privaten Wahrnehmung. Um die Parallelen darzulegen und zu deuten, wird im Folgenden zunächst der entsprechende Umgang in den westlichen Besatzungszonen bzw. der Bundesrepublik während der Nachkriegszeit und fünfziger Jahre skizziert. Anschließend werde ich die Parallelen im Hinblick auf den Diskursverlauf seit der Wiedervereinigung herausstellen und zu erklären versuchen. Im Mittelpunkt der Untersuchung des Diskurses in beiden Betrachtungszeiträumen steht die Präsenz der Thematisierung und Wahrnehmung eigenen Leids und des eigenen Opferstatus.

Im Hinblick auf den Opferdiskurs sei vorweg auf eine Problematik verwiesen. Es ist hinlänglich bekannt, dass sich die Kategorien „TäterIn“ und „Opfer“ – vermeintlich eine Dichotomie – keineswegs ausschließen. TäterInnen können auch Opfer sein und Opfer bisweilen zu TäterInnen werden. So geht die Begründung, mit der die Erinnerung an deutsche Opfer von Anfang an als illegitim deklariert wurde, darüber hinaus. Deutsche seien in solchem Maß zu TäterInnen geworden, dass dahinter jeglicher Anspruch, eigener Opfer ausgiebig erinnern zu dürfen, zurücktreten müsse. Dies impliziert die häufig geäußerte Befürchtung, mit zunehmender Aufmerksamkeit für den Opferdiskurs könne dieser leicht eine dem Diskurs über die Vernichtung der europäischen Juden diametral entgegengesetzte, optionale Narrative oder gar Antithese werden und in Konkurrenz zu diesem zu treten, womit Banalisierung, Revision und Aufrechnung einhergehen könnten. Dies trifft besonders auf den Diskurs der Nachkriegszeit und fünfziger Jahre zu; Erinnerung an Deutsche als Opfer diente immer auch der Entlastung. Heute tritt in Deutschland neben eigenen Opferansprüchen auch die Erinnerung an stalinistische Verbrechen in teilweise relativierende Konkurrenz zur Judenvernichtung.[7] Für die heutige Auseinandersetzung bleibt zu hoffen, dass die Erinnerungslandschaft den Herausforderungen gewachsen und in der Lage ist, Verharmlosung oder Unwahrheiten nicht mit Authentizität zu verwechseln, damit diese Facetten zur Bereicherung werden. Inwiefern dies auch auf Einzelpersonen zutrifft, ist eine andere Frage, die an dieser Stelle nicht erläutert werden kann; doch ist die Befürchtung bei Weitem nicht aus der Luft gegriffen.[8] Vorsicht ist gerade da geboten, wo im kollektiven Gedächtnis eine Art „allgemeines Leid“ postuliert wird – dies ist meines Erachtens kaschierter Revisionismus. Dan Diner brachte diesen Aspekt auf den Punkt, als er der „Tendenz der Enthistorisierung zugunsten einer Anthropologisierung von Leid“ Entkontextualisierung vorwarf, was wiederum die vorangegangene Ursache ausblende.[9] Auch ist kritisch, dass durch diesen Blickwinkel den wenigen noch lebenden Opfern nationalsozialistischer Vernichtung „immer mehr Deutsche gegenüber [stehen], die sich ihrerseits als Opfer begreifen“.[10] Umso dringender muss das Mit- und Nebeneinander beider Erinnerungen im Diskurs um die Deutung der Vergangenheit permanent neu ausgehandelt werden. Zu verhindern ist der deutsche Opferdiskurs nicht, sollte er auch nicht sein, denn zu stark sind tradierte Leidensgeschichten mit Geschichtsbildern verwoben und zu lange waren sie auf das Familiengedächtnis beschränkt. Dennoch sollte die Frage nach „Verträglichkeit“ nicht aus dem Blickfeld geraten. Im Folgenden spreche ich zunächst von „Erweiterung“ und „Diversifikation“, nicht „Verschiebung“ der Perspektive, weil sich trotz solcher Befürchtungen nicht abzeichnet, dass der Judenvernichtung ihre Singularität und ihr Status als Zivilisationsbruch abgesprochen wird. Inwiefern dennoch eine gewisse Verschiebung feststellbar ist, wird bei Betrachtung der jüngeren Diskurserweiterung behandelt.

2. UMGANG MIT DER NS-VERGANGENHEIT NACH 1945

Nach der bedingungslosen Kapitulation, in der unmittelbaren Nachkriegszeit, nahmen sich die Deutschen zunächst als Verlierer und Opfer wahr. Im offiziellen Erinnerungsdiskurs standen zwar Juden an erster Stelle, doch die Wahrnehmung der deutschen Bevölkerung wurde von an Deutschen begangenen Verbrechen dominiert. Der Diskurs um die unmittelbare Vergangenheit wurde nicht wie in der nachfolgenden Generation von „1933“, sondern „1945“ beherrscht. Vor dem Hintergrund der Unfähigkeit, mit der erdrückenden Asymmetrie von Opfern und TäterInnen umgehen zu können, rückten vor allem die Leiden der zwölf Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen aus Osteuropa, von denen zu Beginn der fünfziger Jahre rund zwei Drittel in der Bundesrepublik lebten, und den rückkehrenden Kriegsgefangenen in den Mittelpunkt der Debatten. Das zunächst private Trauern um deren Leiderfahrung wurde anhand der Allgegenwärtigkeit und Vergleichbarkeit bald zum kollektiven Trauern und der private Diskurs zum öffentlichen Diskurs, womit eine verkürzte Sicht bezüglich der Ursachen des Leids, also der vorangegangenen deutschen Aggression, einherging.[11] Die von den alliierten Besatzern verordnete und durchgeführte Entnazifizierung in Form von Strafprozessen entkräftete diese Opferwahrnehmung nicht, sondern verstärkte sie um das Gefühl, durch angebliche „Siegerjustiz“ zur Rechtfertigung gezwungen zu werden. Distanzierung und Selbstkritik blieben vor diesem Hintergrund weitgehend aus und im Klima von Nürnberger Prozessen, Berlinkrise, Währungsreform und Gründung der BRD setzten die fünfziger Jahre ein.

Sie sind einerseits geprägt von der ideologischen und personellen Entnazifizierung und dem Übergang zu Demokratie, andererseits durch die gesellschaftliche Integration der TäterInnen und MitläuferInnen. Für die Politik und die alliierten Besatzer war mit den Nürnberger Prozessen ein Zeichen gesetzt und der Nationalsozialismus als System zerschlagen. Während im Ausland die Erinnerung an die Judenvernichtung und eigene Opfer dominierte und deutsches Leid keine Anerkennung fand, war es in Deutschland genau umgekehrt. Gerade im Privaten war wenig Raum für Erinnerung an das Leiden Anderer, vor allem der Juden. Zwar sprachen führende Politiker dieses Problem an und verwiesen in der Öffentlichkeit auf die Judenvernichtung; doch konnte dies die konkurrierenden Erinnerungen an die unterschiedlichen Opfer nicht verhindern.

Obwohl Adenauer eine klare Abgrenzung vom Nationalsozialismus nie in Frage stellte war für ihn der Schlussstrich ebenso Voraussetzung für Souveränität und Demokratie. Für die Regierung standen Wiederaufbau und Westanschluss im Mittelpunkt und die Bevölkerung war mit diesen Ansichten einverstanden. Man wollte den Blick lieber nach vorn richten als sich mit der äußerst unbequemen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Veritable Erinnerung erschien gar als „nationale Selbstbeschmutzung“[12] und entsprechend vernachlässigt und unbeliebt waren Themen wie die Aufarbeitung der systematischen Vernichtung der europäischen Juden, ganz zu schweigen von anderen Opfern, oder so genannte „Wiedergutmachung“. Die Bevölkerung interessierte vielmehr das Schicksal der zu Beginn der fünfziger Jahre noch immer im Osten verschollenen Kriegsgefangenen, so dass diese „multiplen Vergangenheiten“ (Moeller) nicht nur in den Bundestagsreden zu Beginn der fünfziger Jahre eine große Rolle spielten. Im Bewusstsein der Bevölkerungsmehrheit wurden dabei von Anfang an nationalsozialistische Gräueltaten gleichgesetzt mit der Judenvernichtung, so dass die von Adenauer durchgesetzte „Wiedergutmachung“, die bezeichnenderweise auf Widerstand auf breiter Front stieß und von ihm nur mit einigen Schwierigkeiten durchgesetzt werden konnte, die meisten Opfergruppen außer den Juden ausschloss. Die Konkurrenz und Gleichsetzung der Opfer wurde dabei nicht als problematisch erachtet; im Gegenteil, man bediente sich der gleichen Rhetorik. Politiker berieten in denselben Bundestagssitzungen einerseits über „Wiedergutmachung“ gegenüber Israel und andererseits über die Problematik von Flüchtlingen, Vertriebenen und Kriegsgefangenen, ohne auch nur die Gleichsetzung der Methoden von nationalsozialistischer Judenvernichtung und der Vertreibung Deutscher aus Osteuropa zu vermeiden. Interessanterweise gab es über die „Wiedergutmachung“ gegenüber den Juden sowohl inner- als auch interparteiliche Differenzen, wohingegen man sich bezüglich der Entschädigung deutscher Flüchtlinge, Vertriebener und Kriegsgefangener parteiübergreifend einig war. Demnach überrascht nicht, dass es zwar ein „Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte“ gab, aber keine vergleichbare Einrichtung für Opfer der Nationalsozialisten. Dass dieses selektive Erinnern nicht unbewusst stattfand, zeigt ein Artikel[13] des konservativen Historikers Hans Rothfels, in dem er 1955 von den konkurrierenden Vergangenheiten spricht und sich, gewiss nicht frei von Revisionismus, für ein alle Opfer einschließendes Gedenken ausspricht.[14]

[...]


[1] Aleida Assmann / Ute Frevert, Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten, Stuttgart 1999, S. 40.

[2] Dan Diner, „Anthropologisierung des Leidens“, Interview, in: Phase 2, Nr. 09, Herbst 2003. Vgl. auch Norbert Frei, 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen, München 2005, S. 7f.

[3] Die Einbeziehung der entsprechenden Auseinandersetzung auf dem Gebiet der SBZ bzw. DDR ist an dieser Stelle nicht möglich. Dazu jedoch z.B. Jeffrey Herf, Zweierlei Erinnerung. Die NS-Vergangenheit im geteilten Deutschland, Berlin 1998, sowie Klaus Naumann (Hg.), Nachkrieg in Deutschland, Hamburg 2001.

[4] Norbert Frei, „Amnestiepolitik in den Anfangsjahren der Bundesrepublik“, in: Gary Smith / Avishai Margalit (Hg.), Amnestie oder die Politik der Erinnerung in der Demokratie, Frankfurt/M. 1996, S. 137.

[5] Diese Annahme wurde geprägt durch die beiden Psychoanalytiker Alexander und Margarete Mitscherlich in: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München 1967.

[6] Vgl. Robert G. Moeller, War Stories. The Search for a Usable Past in the Federal Republic of Germany, in: The American Historical Review, 101/4 (1996), 1008-1048.

[7] Dazu exemplarisch Stéphane Courtois et al. (Hg.), Das Schwarzbuch des Kommunismus – Unterdrückung, Verbrechen und Terror. München 2004, und die dazu gehörige Kontroverse.

[8] Dass Aufrechnung zwecks Selbstentlastung und selbstgefällige Darstellung eigener Biografien von Anfang an eine Rolle spielten, so bereits während der Entnazifizierungsprozesse, zeigt Aleida Assmann, Zur (Un)vereinbarkeit von Leid und Schuld in der deutschen Erinnerungsgeschichte, in: Karolina Jeftic, Jean-Baptiste Joly (Hg.), Erinnern und Vergessen. Zur Darstellbarkeit von Traumata, Dettingen/Erms 2005, 117-131, hier S. 125. Es folgt eine interessante Analyse der Konkurrenz und des gegenseitigen Blockierens dieser Antagonismen anhand von Beispielen (125-7).

[9] Vgl. Interview mit Dan Diner (Anm. 2).

[10] Frei, 1945, S. 16.

[11] Siehe Moeller, War Stories, 1010-13.

[12] Siehe Volkhard Knigge / Norbert Frei (Hg.), Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, Bonn 2005, S. XV.

[13] Hans Rothfels, „Zehn Jahre danach“, in: VfZ 3 (1955), S. 227-39.

[14] Siehe Moeller, War Stories, S. 1013-21, sowie 1033.

Ende der Leseprobe aus 26 Seiten

Details

Titel
Der aktuelle deutsche Opferdiskurs und seine Wurzeln in der Nachkriegszeit
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Friedrich-Meinecke-Institut)
Veranstaltung
Der Umgang mit der nationalsozialistischen und faschistischen Vergangenheit in Europa
Note
1,7
Autor
Jahr
2008
Seiten
26
Katalognummer
V113528
ISBN (eBook)
9783640144242
Dateigröße
472 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Opferdiskurs, Wurzeln, Nachkriegszeit, Umgang, Vergangenheit, Europa
Arbeit zitieren
Theresia Knuth (Autor:in), 2008, Der aktuelle deutsche Opferdiskurs und seine Wurzeln in der Nachkriegszeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/113528

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