Gesellschaft als staatliche Veranstaltung? Probleme der Zivilgesellschaft in Russland


Seminararbeit, 2006

23 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Hauptteil
2.1 Begriff „Zivilgesellschaft”
2.2 Zivilgesellschaft in Russland
2.2.1 Geschichte der Zivilgesellschaft in Russland
2.2.2 Zahlen und Fakten zur Zivilgesellschaft in Russland
2.2.3 Vernetzung innerhalb der russischen Zivilgesellschaft
2.2.4 Zusammenarbeit Staat - Zivilgesellschaft
2.2.5 Rechtliche Rahmenbedingungen und damit verbundene Probleme der Zivilgesellschaft
2.2.5.1 Zivilrechtliche Grundlagen
2.2.5.2 Steuerrechtliche Grundlagen
2.2.6 Bevölkerung als Blockade für die Entwicklung von Zivilgesellschaft?
2.2.6 Beispiel für zivilgesellschaftliche Organisation: Gesellschaftliche Bewegung der Soldatenmütter

3. Fazit

Anhang

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Existiert in Russland eine Zivilgesellschaft oder nicht? Über die Antwort streiten sowohl westliche als auch russische Wissenschaftler, wobei von Ablehnung bis zur Bejahung der Frage alle Positionen in der Literatur wiederzufinden sind. Der Großteil der Wissenschaftler kommt zu dem Ergebnis, dass es eine Zivilgesellschaft in Russland gibt, diese sich allerdings noch konsolidieren muss und unter schwierigen Rahmenbedingungen leidet- seien sie nun rechtlicher oder gesellschaftspolitischer Natur. Die Diskussion um eine Zivilgesellschaft in Russland beginnt jedoch noch viel früher, nämlich bei der Frage nach der Definition von Zivilgesellschaft an sich. Welches Verständnis von Zivilgesellschaft findet man bei den russischen, welches bei den westlichen Wissenschaftlern?

In der vorliegenden Hausarbeit möchte ich den aktuellen Stand der Analysen zur Situation der Zivilgesellschaft und zur Diskussion um Zivilgesellschaft in Russland darstellen. Dabei werde ich zuerst einen Überblick über verschiedene Definitionsansätze des Begriffes der Zivilgesellschaft geben und dabei auch auf das spezifisch russische Verständnis von Zivilgesellschaft eingehen. Anschließend werde ich einen kurzen Überblick über die Geschichte zivilgesellschaftlicher Organisation in Russland geben, um dann den Schwerpunkt auf die Situation der Zivilgesellschaft im heutigen Russland zu legen. Dabei möchte ich insbesondere die Rahmenbedingungen- rechtliche als auch gesellschaftliche- der Zivilgesellschaft in Russland erläutern. Zum Abschluss der Arbeit werde ich die Organisation der Soldatenmütter als ein Beispiel für zivilgesellschaftliche Organisation in Russland vorstellen.

2. Hauptteil

2.1 Begriff ‚Zivilgesellschaft‘

Der Begriff der Zivilgesellschaft weist eine lange geschichtliche Entwicklung auf, gilt als äußerst komplex und definitorisch schwer zu fassen. Die Grundidee von Zivilgesellschaft geht bis in die politische Philosophie des 18. Jahrhunderts zurück[1] ; erneute Prominenz und politische Attraktivität erlangte der Begriff insbesondere in den Kreisen von Dissidenten und Bürgerrechtsbewegungen der 70er und 80er Jahre in ihrem Widerstand gegen die kommunistischen Herrschaftssysteme in Ost- und Mitteleuropa.[2] Heute ist der Begriff aus den demokratietheoretischen Diskursen der Gegenwart fast nicht mehr wegzudenken. Gavra und Gomosova nennen drei grundlegende Ansätze die in den verschiedenen Definitionsansätzen zum Begriff Zivilgesellschaft sowohl von westlichen als auch von russischen Wissenschaftlern genannt werden:

Im ersten Ansatz wird Zivilgesellschaft als bestimmte Entwicklungsstufe einer Gesellschaft gesehen. Diese muss den Normen der gegenwärtigen Zivilisation entsprechen - sie muss eine ‚zivilisierte‘ Gesellschaft sein. Der russische Sozialwissenschaftler Awakjan spricht etwa dann von Zivilgesellschaft, wenn „ein bestimmtes Niveau ökonomischer, sozialer, organisatorischer und geistig-moralischer Entwicklung erreicht“[3] ist.

Der zweite Ansatz arbeitet mit einem engeren Verständnis des Begriffes der Zivilgesellschaft. Hier werden Nichtregierungsorganisationen, „also wohltätige, ethnische, ökologische und kulturelle freiwillige Assoziationen“[4] als Kern der zivilgesellschaftlichen Sphäre gesehen. Der russische Politologe Sungurov definiert Zivilgesellschaft dementsprechend

als die Gesamtheit der bürgerlichen freiwilligen Assoziationen, die die Gesetze des Staates respektieren und befolgen (wobei der Staat seinerseits die Grundrechte der Menschen respektiert), die aber ihrerseits nicht zulassen, daß der Staat sich in ihre alltägliche Tätigkeit einmischt[5].

Der dritte Definitionsansatz geht auf die Arbeiten des Franzosen Alexis de Toqueville aus dem 19. Jahrhundert zurück. Hier wird Zivilgesellschaft „als die nichtstaatliche Sphäre des Sozialen“[6] gesehen. Der russische Wissenschaftler Gadzhiew etwa sieht in der Zivilgesellschaft „den sozialen Raum, in dem voneinander und vom Staat unabhängige Individuen in gesellschaftlichen Institutionen zusammenwirken“[7].

Gavra und Gomosova weisen auf die Schwächen der einzelnen Ansätze hin: Die Definition von Zivilgesellschaft im Rahmen des ersten Ansatzes fällt in ihren Augen fast mit dem Begriff der Demokratie in eins. Der zweite Ansatz, Zivilgesellschaft als Gesamtheit der NROs, enge den Kreis der zur Zivilgesellschaft zählenden Institutionen und Organisationen zu sehr ein. Den dritten Ansatz, „Zivilgesellschaft als die Sphäre des Sozialen“[8] halten sie zwar für theoretisch gut begründet, sie merken jedoch an, dass er zu theoretisch und schwierig empirisch anzuwenden ist. Für Gavra und Gomosova ist Zivilgesellschaft

eine weder auf den Staat noch auf den Markt zurückführbare besondere (d.h. von ihnen unabhängige, autonom existierende) Sphäre des gesellschaftlichen Lebens, die sich auf die freiwillige Selbstorganisation von Individuen stützt und in substanzieller Hinsicht eine Gesamtheit verschiedener Vereinigungen, Assoziationen, Verbände und anderer sozialer Einrichtungen und Organisationen darstellt.[9]

Obwohl sowohl russische als auch westliche Wissenschaftler mit den drei oben genannten Definitionsansätzen arbeiten, gibt es doch Unterschiede im Verständnis von Zivilgesellschaft bzw. in den Diskursen zur dieser in den westlichen und russischen Sozialwissenschaften: In den etablierten Demokratien des Westens wird einmal, vor dem Hintergrund etwa sinkender Wahlbeteiligungen, über die Revitalisierung von Demokratie mithilfe von Zivilgesellschaft diskutiert. Die zweite Debatte kreist um die „Krise des Wohlfahrtsstaates“[10] in etablierten Demokratien; Zivilgesellschaft wird hier als Entlastung für den Staat diskutiert. Anders in Mittel- und Osteuropa: Insbesondere bei den Dissidenten der 70er und 80er Jahre wurde bei der Diskussion um Zivilgesellschaft vor allem auf Trennung von Staat und Zivilgesellschaft geachtet. Hiermit verbunden war „die Forderung nach Bürgerrechten und -freiheiten, nach einer freien Öffentlichkeit und der Legalisierung freiwilliger Vereinigungen“[11]. Auch heute noch betonen viele russische Wissenschaftler die Getrenntheit von Staat und Zivilgesellschaft oder stellen Staat und Zivilgesellschaft sogar einander entgegen. Dies ist mit der Dominanz des Staates in der Geschichte Russlands zu erklären.

2.2 Zivilgesellschaft in Russland

2.2.1 Geschichte der Zivilgesellschaft in Russland

Im vorrevolutionären Russland gab es nur äußerst wenig gesellschaftliche Selbstorganisation. In Zeiten der Not, etwa nach Naturkatastrophen oder auch persönlichen Notlagen, gab es informelle Strukturen, auf die die Bürger zurückgriffen: Familienmitglieder oder Nachbarn halfen einander. Diese Hilfeleistungen beruhten auf dem Prinzip der Reziprozität.

In der Sowjetunion unterlag jedes Zusammentreffen von Bürgern der Kontrolle von Staat und Partei. Bürger trafen hier organisiert nur im Sinne der Partei zusammen. Es gab jedoch auch zu dieser Zeit- und besonders zu dieser Zeit- ein sehr gut funktionierendes informelles System, welches für das unmittelbare (wirtschaftliche) Überleben notwendig war: Es wurden Hilfeleistungen gewährt, Güter getauscht etc. Diese effektiv arbeitenden Netzwerke aus Verbindungen zwischen Verwandten, Freunden, Nachbarn oder Kollegen existieren auch heute noch und nach Meinung einiger Wissenschaftler tragen sie zur Blockierung der Entwicklung einer Zivilgesellschaft bei, da die Bürger keine Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Selbstorganisierung sehen[12] (Siehe Punkt 2.2.6). Nach dem Ende der Sowjetunion boten sich dann völlig neue Vorraussetzungen für die Entstehung zivilgesellschaftlicher Aktivitäten, etwa durch rechtliche Rahmenbedingungen welche gesellschaftliche Selbstorganisation ermöglichten aber auch durch die Öffnung gen Westen. Dies führte zu einem Gründungsboom an Organisationen, insbesondere in den großen Städten Moskau und St. Petersburg. Viele von ihnen gingen jedoch wieder zugrunde, häufig wegen fehlender finanzieller Mittel.

In Russland hat auch die Kirche, anders als in Ländern des westlichen Europas, keine Vorläufer- oder Vorbildfunktion zur Selbstorganisation der Gesellschaft übernommen. Die orthodoxe Kirche arrangierte sich meist mit den Machthabern und zeigte „wenig gesellschaftlich bezogenen Eigensinn”[13]. Darüber hinaus ist sie „im Vergleich wenig diesseitig orientiert”[14] und ihre Hilfeleistungen bleiben/blieben auf personenbezogener und nichtorganisierter Ebene.

Insgesamt ist festzustellen, dass es im Laufe der Geschichte in Russland keine nennenswerte Selbstorganisation der Bevölkerung im Sinne zivilgesellschaftlicher Aktivitäten gegeben hat.

[...]


[1] Vgl.: Nohlen, Dieter/ Schultze, Rainer-Olaf (Hrsg.): Lexikon der Politikwissenschaft. Theorien, Methoden, Begriffe. Band 2: N-Z. Aktualisierte, erweiterte Auflage. München: Verlag C.H. Beck 2002. S. 1175.

[2] Vgl.: Klein, Ansgar: Der Diskurs der Zivilgesellschaft. Politische Hintergründe und demokratietheoretische Folgerungen. In: Zimmer, Annette (Hrsg.): Bürgerschaftliches Engagement und Nonprofit-Sektor. Band 4. Opladen: Leske + Budrich 2001. S. 19.

[3] Gavra, Dimitri/ Gomosova, Anna: Zivilgesellschaft in Rußland- Das Beispiel St. Petersburg: Erste Schritte in Theorie und Praxis. In: Schrader, Heiko/ Glagow, Manfred/ Gavra, Dimitri/ Kleineberg, Michael (Hrsg.): Russland auf dem Weg zur Zivilgesellschaft? Studien zur gesellschaftlichen Selbstorganisation in St. Petersburg. In: Eichwede, Wolfgang/ Golczewski, Frank/ Trautmann, Günter (Hrsg.): Osteuropa. Geschichte, Wirtschaft, Politik. Band 26. Hamburg: Lit 2000. S. 35.

[4] Ebd.

[5] Ebd.

[6] Ebd.

[7] Ebd. S. 36.

[8] Ebd. S. 37.

[9] Ebd. S. 38.

[10] Ebd. S. 51.

[11] Freise, Matthias: Externe Demokratieförderung in postsozialistischen Transformationsstaaten. In: Scherer, Klaus-Jürgen/ Schlag, Adalbert/ Thiele, Burkard (Hrsg.): Schriftenreihe der Stipendiatinnen und Stipendiaten der Friedrich-Ebert-Stiftung. Band 27. Münster: Lit Verlag 2004. S. 49.

[12] Vgl.: Howard, Marc M.: The Weakness of Civil Society in Post Communist Europe. Cambridge: Cambridge University Press 2003. S. 121 ff.

[13] Glagow, Manfred: Freiwillige Assoziationen in St. Petersburg. In: Russland auf dem Weg zur Zivilgesellschaft? S. 23.

[14] Ebd.

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Gesellschaft als staatliche Veranstaltung? Probleme der Zivilgesellschaft in Russland
Hochschule
Universität Lüneburg
Veranstaltung
Staat und Gesellschaft der Russländischen Föderation
Note
1,0
Autor
Jahr
2006
Seiten
23
Katalognummer
V113521
ISBN (eBook)
9783640144181
ISBN (Buch)
9783656901006
Dateigröße
464 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Gesellschaft, Veranstaltung, Probleme, Zivilgesellschaft, Russland, Staat, Gesellschaft, Russländischen, Föderation
Arbeit zitieren
Bettina Anker (Autor:in), 2006, Gesellschaft als staatliche Veranstaltung? Probleme der Zivilgesellschaft in Russland, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/113521

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