Die Fallstudie als Methode der qualitativen Forschung


Vordiplomarbeit, 2005

35 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung
Historischer Rückblick
Warum Fallstudien?
Was ist „die Fallstudie“
Methoden der Datenerhebung in der Fallstudie

Fallanalyse10
Fall von, Fall für, Fall mit
Fall von
Fall für
Fall mit

Anamnese, Diagnose, Intervention
Anamnese
Probleme der Anamnese
Arbeitsregeln für die Anamnese
Diagnose21
Arbeitsregeln für die Diagnose
Intervention

Analyse einer Fallgeschichte
Der Fall: Die NikolausGeschenkaktion
Analyse der Situation
Kommentar

Schlusswort

Literaturverzeichnis

Einleitung

Fallstudien zählen in der Erziehungswissenschaft zu den beliebtesten Methoden der qualitativen Forschung. Besonders ihr offener Zugang zur Alltagswelt bzw. die Möglichkeit zur unverfälschten Erfassung der sozialen Realität macht ihren besonderen Charakter aus. Dennoch ist die Fallstudie eine relativ „junge“ Erhebungstechnik. Wie sie ihren Einzug in die Methodik der qualitativen Forschung fand wird zunächst in einem kurzen historischen Rückblick erläutert. Ferner wird erklärt, wie es überhaupt zur Hinwendung zu Fallstudien kam. „Fälle“ im eigentlichen Sinne existieren ja schon seit geraumer Zeit. Es gab aber bestimmte Faktoren bzw. Kritikpunkte in der gängigen qualitativen Forschung, welche die Hinwendung und schließlich die Etablierung der Fallstudie in die Erziehungswissenschaft auslösten. Diese Punkte werden kurz beschrieben.

Laut Siegfried Lamnek ist die Fallstudie keine isolierte Erhebungsmethode, sondern ein Forschungsansatz, ein „approach“, der sich verschiedener Methoden der qualitativen Forschung bedient. Diese „Methoden“ der Fallstudie werden anhand der „Marienthalstudie“ erläutert. Diese bietet nämlich durch ihre breit gefächerte Methodenvielfalt einen guten Überblick über die Vielzahl der Möglichkeiten und vor allem einen detaillierten Einblick in deren Zusammenwirken.

Im Hauptteil liegt das Augenmerk auf der genauen Vorgehensweise bei der Bearbeitung eines konkreten Falles. Dabei habe ich einen Fall aus dem sozialpädagogischen Bereich gewählt, der als Beispiel für die Ausführungen und zur näheren Erläuterung dienen soll. Dem Hauptteil liegt vor allem das Buch „Sozialpädagogisches Können“ von Burkhard Müller zugrunde, der in seinem Werk ein Rahmenangebot für Fallbearbeitungen bietet.

Zum Schluss habe ich einen Fall in Bezug auf die im Hauptteil beschriebenen Punkte bearbeitet. Dabei wird noch mal verdeutlicht, dass die Erläuterungen und angebotenen Vorgehensweisen bei der Analyse eines Falles nur als eine Art Hilfestellung aufzufassen sind. Die Vielseitigkeit von Fällen macht allgemeingültige Vorgehensvorschriften in Form eines Buches unmöglich. Demnach ist meine Bearbeitung des Falles „die Nikolaus- Geschenkaktion“ nur angelehnt an die Ausführungen im Hauptteil.

Im Schlusswort habe ich noch einige Kritikpunkte der Fallstudie aufgegriffen und erläutert.

Historischer Rückblick

An sich betrachtet existieren „Fälle“ schon seit eh und je. Man denke nur an biblische Geschichten wie die von „Kain und Abel“ oder an Adam und Eva und dem „Fall“ der „Ursünde“. Diese dienen heute noch als Lehre und Exampel und sicherlich dem einen oder dem anderen auch als Gegenstand der Analyse. Doch will man den Begriff „Fallanalyse“ auf ein engeres, mehr erziehungswissenschaftliches Feld festlegen, so bietet sich hier die historische Definition aus der „praktischen Theologie“ an. Um in ihrer Beratung und Urteilssprechung sicherer und kompetenter zu werden, tauschten die Ordensmitglieder ihre Beichtstuhlerfahrungen in Form von verfremdeten Falldarstellungen aus.

Letztendlich fand der Einzug der Fallstudie in die Erziehungswissenschaft in Form einer Erkenntnisgewinnungsmethode erst viel später statt, nämlich in den späten 70ern und den frühen 80ern. Zunächst war die Fallstudiendidaktik im Bereich der Betriebswirtschaftlehre vorzufinden und erlangte Popularität durch die Harvard Business School of Boston. Ihre Bekanntheit in der Erziehungswissenschaft kam erst durch so genannte „case studies“. Diese ursprünglich amerikanischen Studien machten die soziale Wirklichkeit zum Gegenstand ihrer Forschung und versuchten einzelne Fälle in ihrer Ganzheitlichkeit wiederzugeben und zu analysieren.

Die Hinwendung zur Fallstudie in der Pädagogik wurde anscheinend durch immer lauter werdende Kritik an den herkömmlichen Forschungsmethoden ausgelöst.

„Der fruchtbare Nährboden für Entwicklungen solcher Art ist meist die Kritik an einer relativen Wirkungs- und Bedeutungslosigkeit erziehungswissenschaftlicher Forschung und ihrer Ergebnisse für das Handeln von Pädagogen und Schülern. Wiederholt wird das empirisch- analytische Forschungsvorgehen als gegenstandsunangemessen abgehandelt (...).“ (Lenzen 1980; aus Dietlind Fischer: Fallstudien in der Pädagogik, 1982; S.12)

Damals musste sich die Fallstudie als qualitative Forschungsmethode erst noch bewähren. Man begegnete ihr, wie allem Neuen, teils mit einer vernünftigen, zurückhaltenden, kritisch- abwartenden Haltung und teils mit euphorischer Zuwendung. Von der anfänglichen Beschränkung ihrer bewussten Anwendung[1] auf den Bereich der schulpraktischen Studien, hat sich ihr Gebrauch auch auf alle anderen Gebiete der Erziehungswissenschaft, wie zum Beispiel auf die Sozialpädagogik, ausgeweitet. Heute kann man sagen, dass die Fallstudie ihre „Bewährungsprobe“ bestanden und sich in die Reihe der beliebtesten Erhebungsmethoden eingegliedert hat.

Warum Fallstudien?

Praktisch handelnde Personen der Erziehungswissenschaft wie zum Beispiel Pädagogen in der Schule nahmen die Grundlagen, auf der sie ihren Beruf ausübten, aus dem Theorieangebot der Forschung. Entfernt sich die Forschung aber zu weit von der Praxis, so können praktisch Handelnde mit dem Theorieangebot nichts mehr anfangen, da ihre Bewährung im Alltag nicht mehr gewährleistet werden kann. Der Balanceakt zwischen Theorie und Praxis ist, besonders im Bereich der Pädagogik, sehr wichtig. Die Theorie sollte als Basis für das praktische Handeln und als Grundlage der Reflektion genutzt werden. Gleichzeitig sollte eine Rückvermittlung der Praxis zur Theorie stattfinden, damit ihre Gültigkeit geprüft, kritisch hinterfragt und ggf. revidiert und berichtigt werden kann. Gleichzeitig dient die Rückvermittlung auch zum Aufstellen neuer Theorien. Als Methode dieser Überprüfung und Forschung an der Praxis tritt die Fallstudie in Kraft. Ihr steht die Aufgabe zu, ein qualitatives, ganzheitliches Bild der sozialen Wirklichkeit zu liefern. Die Vorteile dieser Methode liegen in ihrer Praxisnähe und in ihrer Vielseitigkeit, wozu auch gehört, möglichst viele Dimensionen des zu untersuchenden Gegenstandes in die Analyse mit einzubeziehen. „Statt uns auf immer abstrakteren Generalisierungen zu konzentrieren, die wir mit immer größeren Datenerhebungen zu finden hoffen, sollten wir versuchen, in intensiven Fallstudien Material zu sammeln, das Aussagen über konkrete Wirklichkeit durch konkrete Personen zulässt.“ (Abels/ aus Siegfried Lamnek: Qualitative Sozialforschung; Band 1, Methodologie. S16)

Was ist „die Fallstudie“

Zunächst versteht man unter einer Fallstudie schlicht und einfach die Konzentration einer Untersuchung auf einen oder mehrere Fälle. Dabei soll möglichst ein realistisches Bild der sozialen Wirklichkeit des zu untersuchenden Gegenstandes wiedergegeben werden. Hierbei kann das Augenmerk je nach Interesse und Intention auf einer Person, auf einer Institution, auf einem Programm oder auf einem Ereignis liegen.

- Person: man untersucht zum Beispiel einen Schüler mit Lernschwierigkeiten. Dabei können Fragen nach der Ursache unter anderem im sozialen Umfeld (Familie, Freunde), in der Institution (fühlt sich schulisch unter- bzw. überfordert) und beim Schüler selbst (zu faul zum Lernen, kann sich einfach nur nicht konzentrieren) geklärt werden. Andere personenbezogene Fallstudien sind zum Beispiel Tagebücher, Biografien oder die Untersuchung eines Werdegangs.
- Institution: Schule, Universität, Kindergarten, Volkshochschule etc. Egal welche Art von Einrichtung man als Gegenstand seiner Untersuchung ausgesucht hat, meistens geschieht dies im Vergleich mit einer anderen Institution. Also zum Beispiel der vergleich einer ländlichen mit einer städtischen Schule.
- Programm: zum Beispiel Wirkungsweise einer neuen Lehrmethode oder eines Lehrbuches, Untersuchung eines Förderprogramms etc.
- Ereignis: eine Unterrichtsstunde, ein Seminar, ein Ausflug, eine Rauferei etc.

Zum Wesen der Erziehungswissenschaft gehört die Betrachtung des Individuums zum zentralen Aspekt jeder Untersuchung. Dabei stehen je nach Untersuchungsinteresse und Untersuchungsgegenstand andere Dimensionen im Fordergrund. Macht man zum Beispiel eine Einzelperson an sich, wie oben im ersten Punkt beschrieben, zum Gegenstand der Untersuchung, so gewinnen Informationen über Lebensführung, Lebenserfahrungen oder Lebensumstände an Bedeutung, also die Person und ihre soziale Wirklichkeit wird zum zentralen Thema wie es zum Beispiel in der Biographieforschung der Fall ist, wobei gesellschaftliche Strukturen, in die die Untersuchungseinheit Einzelperson eingebettet ist, nur peripher behandelt werden. Hierbei ist zu beachten, dass die Person nicht als individueller Einzelfall von Interesse ist, sondern dass dabei versucht wird, aus dem gewonnen Material typische oder ideale Handlungsmuster herauszuarbeiten, die transferierbar sind und so Aussagen über generelle Strukturen zulassen.

Man kann aber auch eine Einzelperson und ihre Interaktion mit anderen zum Thema der Untersuchung machen. Zum Beispiel untersucht man einen bestimmten Schüler in seiner Interaktion mit seinen Lehrern und seinen Mitschülern. Daneben gibt es noch die Möglichkeit, Personengruppen zu untersuchen wie eine Familie oder die Mitarbeiter eines Betriebes. Hierbei kann wieder die Interaktion der Mitglieder untereinander oder der Kontakt mit Außenpersonen Gegenstand der Untersuchung sein. Im ersteren Fall ginge es dann darum, die Struktur der Interaktion zwischen den Mitgliedern zu erforschen. „Ziel solcher Untersuchungen ist die Auffindung von Interaktionsmustern der Komponenten eines sozialen Aggregats bzw. Organisations- und Herrschaftsmustern. Einzelfallstudien dieses Typs bestehen aus der intensiven, detaillierten Untersuchungen der einzelnen Komponenten und ihrer Interaktion, die das analytisch als geschlossen betrachtete Aggregat konstituieren.“ (Siegfried Lamnek: Qualitative Sozialforschung; Band 1, Methodologie. S. 32)

Im zweiten Fall würden die Außenkontakte der untersuchten Einheit im Forschungsinteresse stehen. Wäre zum Beispiel eine bestimmte Familie Gegenstand der Untersuchung, so würde man Freunde, Verwandte, Bekannte und sonstige Personen, mit denen die Mitglieder interagieren, in die nähere Betrachtung einbeziehen.

Kurz zusammengefasst kann man demnach vier Typologien von Einzelfallstudien unterscheiden, die folgende Einheiten untersuchen:

1. Die Lebenswirklichkeit von Einzelpersonen (Biographien)
2. Einzelpersonen und ihre Interaktion mit der Umwelt
3. Die Interaktion von (sozialen) Gruppen untereinander
4. Außenkontakte von (sozialen) Gruppen

Methoden der Datenerhebung in der Fallstudie

„Fälle „ begegnen einem überall im alltäglichen Leben. Eine Alte Frau, die bei Rot die Ampel überquert wird von einem Autofahrer angehupt und beschimpft. Zwei Polizisten versuchen einen Penner von einer Parkbank wegzuzerren, wogegen dieser sich lautstark wehrt. Ein Fünftklässler wird von einem Achtklässler auf dem Schulhof verprügelt. Jede dieser beschriebenen Situationen kann zum Gegenstand einer Falluntersuchung gemacht werden. War man nun als Forscher bei einer solchen Situation zufällig vor Ort, kann man sich mit geübter Aufmerksamkeit wichtige Details notieren oder merken, welche später für eine detaillierte und umfangreiche Untersuchung von Relevanz sein könnten.

Nun kann man sich als Forscher natürlich nicht auf sein Glück verlassen und auf viele solcher Ereignisse hoffen. Zumal bei solchen zufälligen Gegebenheiten wichtige Informationen oft nicht erfasst werden können, da es meist einmalige und kurzzeitige Vorfälle sind und die Beteiligten einem meistens für etwaige Fragen nicht mehr zur Verfügung stehen. Zum Beispiel warum die alte Frau die rote Ampel überquert hat. War es wirklich nur ein Versehen oder wollte sie provozieren und hat es mit voller Absicht getan? Warum hat der Autofahrer so heftig reagiert? Kam er gerade gestresst von der Arbeit oder hat er allgemein ein hohes Aggressionspotenzial?

Um nicht der Willkür des Zufalls ausgesetzt zu sein, gibt es die Möglichkeit der systematisch geplanten Durchführung einer Falluntersuchung. Als Beispiel kann hier die Marienthalstudie angebracht werden. Obwohl sie zeitlich noch weit vor der Etablierung der Fallstudie als Untersuchungsmethode in der Erziehungswissenschaft liegt, illustriert sie dennoch sehr deutlich die verschiedenen Erhebungsmethoden und dokumentiert ausführlich die daraus gewonnen Daten.

In der Studie geht es um sozialpsychologische Auswirkungen von Arbeitslosigkeit, die anhand eines kleinen Ortes namens Marienthal in Niederösterreich dargestellt werden, in der mehr als die Hälfte der Bevölkerung schlagartig arbeitslos geworden war.

In ihrer Untersuchung benutzen die Forscher unter anderem folgende Erhebungsmethoden:

Katasterblätter: Für die 478 Familien von Marienthal wurde ein Kataster angelegt. Für jeden Einwohner wurden die Personaldaten, Art der Unterstützung usw. vermerkt und alle Beobachtungen über Wohnverhältnisse, Familienleben, Haushaltsführung u. ä. protokolliert.

Lebensgeschichten: Von 32 Männern und 30 Frauen wurden ausführliche Lebensläufe aufgenommen. Die Ausführlichkeit diente vor allem dem Erzählfluss, so dass auch über das Leben in der Arbeitslosigkeit ohne Hemmnisse berichtet wurde.

Zeitverwendungsbögen: 80 Personen haben Fragebögen mit Stundenplan über die Art ihrer Beschäftigung während eines Tages ausgefüllt.

Protokolle: Weihnachtsgeschenke von 80 Kleinkindern, Gesprächsthemen und Beschäftigung in öffentlichen Lokalen, Auskünfte der Lehrer über die Schulleistungen der Kinder etc.

Des Weiteren wurden Daten wie Anzeigen und Beschwerden, Schulaufsätze, Inventare der Mahlzeiten, statistische Daten wie zum Beispiel Geschäftsbücher des Konsumvereins oder Entleihungen aus der Bibliothek, historische Angaben und Bevölkerungs- und Haushaltungsstatistiken erhoben.

Welche Erkenntnisse die gewonnen Informationen liefern, wird im folgenden kurz anhand eines Beispiels aus der Studie verdeutlicht:

Im Fall von Arbeitslosen ist die Verwendung der zusätzlichen freien Zeit ein interessanter Aspekt. Die Untersuchungen zur Anzahl entliehener Bücher aus der Marienthaler Arbeiterbibliothek bietet hier einen interessanten Einblick. Zunächst wird anhand von Zahlenmaterial und einer Tabelle verdeutlicht, dass die Zahl der Leser sich verringert hat, aber auch die Anzahl der entliehenen Bücher von denjenigen, die der Bibliothek treu geblieben sind, ist drastisch zurückgegangen. Dies hängt aber nicht mit dem geringeren Einkommen der Einwohner zusammen. Im Gegenteil, nach der Arbeitslosigkeit werden überhaupt keine Gebühren mehr erhoben, man kann sich im Gegensatz zu früher die Bücher also völlig kostenlos ausleihen.

Diese Tatsachen stehen nun im Konflikt mit der zusätzlichen freien Zeit der Arbeitslosen, die es ihnen eigentlich ermöglichen sollte, mehr zu lesen. Dennoch wird nun weniger gelesen. Die Forscher bringen aufklärend hierzu ihre Beobachtung der Gesamthaltung der Menschen mit ein. Aus ihren Recherchen schildern sie eine fortschreitende Resignation der Marienthaler, welche als „ Einschrumpfen der Lebensäußerungen“ bezeichnet wird. Zur Verdeutlichung ihrer Beobachtungen bringen sie Äußerungen einiger Betroffener an.

S. 58 Herr S.:“ Meine freie Zeit verbringe ich größtenteils zu Hause. Seit ich arbeitslos bin, lese ich fast überhaupt nicht mehr. Man hat den Kopf nicht danach.“ –Frau F.: „Früher habe ich viel gelesen, ich habe die meisten Bücher in der Bibliothek gekannt. Jetzt lese ich weniger. Mein Gott, man hat jetzt andere Sorgen!“

Aus diesen Aussagen geht hervor, warum weniger gelesen wird. Besonders die Kommentare „ man hat den Kopf nicht danach“ und „ man hat jetzt andere Sorgen“ machen deutlich, dass die belastende Situation der Arbeitslosigkeit jeglichen Drang der Marienthaler nach einer anderen Beschäftigung als eine, mit der man Geld verdienen kann, erdrückt. Die Existenzerhaltung scheint die absolute Priorität vor allen anderen Dingen gewonnen zu haben, wie eben hier vor dem Vergnügen am Lesen.

Die Marienthalstudie verdeutlicht, dass bei der Fallarbeit sehr verschiedene Datenerhebungsmethoden verwendet werden können. Dies gilt nicht nur für qualitative Methoden wie Interviews, Gruppengespräche oder Fragebögen, sondern auch für quantitative Methoden wie zum Beispiel statistische Angaben. Die Fallstudie ist damit multimethodisch angelegt. Lamnek bezeichnet dies auch als „Methodentriangulation“, welche die Gewähr bietet, „Methodenfehler vergleichend- insbesondere Artefakte- zu erkennen und zu vermeiden.“ ( Siegried Lamnek: Qualitative Sozialforschung; Band 1, Methodologie. S.4)

Dennoch gehört die Einzelfallstudie zum qualitativen Paradigma, die Benutzung von quantitativen Erhebungsmethoden hat daher nur peripheren Charakter. Die wichtigsten Merkmale der qualitativen Forschungmethoden, die auch in der Fallstudie ihre Verwendung finden, sind Offenheit, Kommunikativität, Naturalistizität und Interpretativität.

Offenheit bezieht sich hier auf die Offenheit gegenüber den Klienten, dass heißt es wird größtenteils auf ein vorgefertigtes Konzept verzichtet um Raum für eigene Interpretationen und Deutungen der Klienten zu lassen. Daneben ist man noch offen in der Wahl der Erhebungsinstrumente, der Erhebungssituation und der Hypothesenbildung, welche erst im nachhinein auf der Grundlage erhobener Daten gefertigt werden.

Die Kommunikativität beinhaltet die gemeinsame Aushandlung von Deutungen vom Forscher und von Erforschten. Diese kommunikative Verständigung bietet der Wissenschaft den Zugang zur realen Handlungsebene. „Wird das empirische Material nicht durch Kommunikation gewonnen, werden auch keine Interpretationen und Deutungen der Alltagsmenschen freigesetzt, die die Wirklichkeit konstituieren. Die Erhebungstechniken der Einzelfallstudie müssen kommunikativ sein, damit die soziale Wirklichkeit in der Erhebungssituation präsent wird.“ (Lamnek: Qualitative Sozialforschung; Band 1, Methodologie. S.9)

Unter Naturalistizität versteht man zum Beispiel, eine Erhebungssituation möglichst alltagsgetreu zu belassen, um eine natürliche und ungehemmte Kommunikation und damit eine Vermeidung von verfremdenden Einflüssen zu gewährleisten. „Je geringer der Grad der Standardisierung ist, desto größer ist die Chance auf eine natürliche und realitätsnahe Kommunikation.“ (Lamnek: Qualitative Sozialforschung; Band 1, Methodologie. S.20)

[...]


[1] Ich habe hier „bewusste Anwendung“ geschrieben, weil ja schon vor ihrer Etablierung in der Erziehungswissenschaft Fallstudien durchgeführt wurden, ohne dass diese bewusst als qualitative Erhebungsmethode der Pädagogik benannt worden wären.

Ende der Leseprobe aus 35 Seiten

Details

Titel
Die Fallstudie als Methode der qualitativen Forschung
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Note
1,0
Autor
Jahr
2005
Seiten
35
Katalognummer
V113435
ISBN (eBook)
9783640142514
ISBN (Buch)
9783640143160
Dateigröße
540 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schriftliche Arbeit für das Vordiplom. Wurde vom Professor als 'excellent' bezeichnet.
Schlagworte
Fallstudien
Arbeit zitieren
Varuna Maheswaran (Autor:in), 2005, Die Fallstudie als Methode der qualitativen Forschung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/113435

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