Nachrichtenwert-Theorie

mit Fallanalyse Marco W.


Seminararbeit, 2007

16 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Anfänge der Nachrichtenwert-Theorie

3. Weiterentwicklung der Nachrichtenwerttheorie

4. Auswahl des geeigneten Nachrichtenfaktorenkataloges

5. Der Fall Marco W

6. Analyse des Falls Marco W

7. Fazit

Literaturverzeichnis

Anhang

1. Einleitung

Am 23.6.2007 berichtete unter anderem die BILD- Zeitung über den Fall des 17-jährigen Marco W. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits seit 73 Tagen in türkischer Haft, weil ihn die Eltern einer minderjährigen Urlaubsbekanntschaft des sexuellen Missbrauchs angeklagt hatten.[1]

Der Fall bekam in Deutschland große Aufmerksamkeit in den Medien. Da es zahlreiche ähnliche Fälle gibt, denen weit weniger Beachtung geschenkt wird, soll im Folgenden untersucht werden, welche besonderen Merkmale Grund für die Publikationsentscheidung sein könnten. Welche Einflussfaktoren spielten im Selektionsprozess der Journalisten eine Rolle? Warum wurde dem Ereignis eine so große Aufmerksamkeit zuteil? Und warum wurde der Fall erst zehn Wochen nach der Inhaftierung von Marco W. für publikationswürdig befunden?

Diese Fragen sollen mit Hilfe der Theorien der europäischen Kommunikations- forschung geklärt werden. Aus den vier wesentlichen Forschungsrichtungen „Gatekeeper-Forschung“, „News-Bias-Forschung“, dem „Framing-Konzept“ und der „Nachrichtenwert-Theorie“ soll letztere in dieser Arbeit herangezogen werden um die gestellten Fragen zu klären. Zunächst werden die theoretischen Anfänge sowie ihre Weiterentwicklung und empirische Validität aufgeführt. Diese soll insofern Beachtung finden, da geprüft werden soll, inwieweit sich die Publikation des Ereignisses Marco W. mithilfe der Nachrichtenwert-Theorie erklären lässt. Sofern dies möglich ist, soll schließlich eine Antwort auf die eingangs gestellten Fragen gegeben werden.

2. Anfänge der Nachrichtenwert-Theorie

„Die Nachrichtenwert-Theorie beschäftigt sich im Gegensatz zur ‚Gatekeeper’-Forschung nicht mit den Eigenschaften der Journalisten [...], sondern setzt bei den Medieninhalten an, von denen auf die Selektionskriterien der Journalisten ge- schlossen wird”[2]. Das erste konkrete Konzept hierzu lieferte Walter Lippmann.

1922 erschien dessen Arbeit “öffentliche Meinung”, in der Lippmann davon ausgeht, dass es unmöglich sei, die komplexe Realität vollständig zu erfassen.[3] Daher tendierten Menschen dazu, sie durch Stereotypen zu vereinfachen.[4] Für Journalisten bedeute dies, dass sie bei der Nachrichtenselektion bestimmte “news values”[5] festlegen. Diese Nachrichtenwerte bezeichnen spezifische Merkmale eines Ereignisses, die es für Journalisten berichtenswert machen. Die Festlegung dieser Nachrichtenwerte führt nach Lippmann zu einer Verzerrung. So stellt auch Joachim Friedrich Staab fest: „Nachrichten spiegeln nicht die Realität [wider], sondern sind das Ergebnis von Selektionsentscheidungen.“[6]

Wichtig ist hier zu bemerken, dass sich in der deutschsprachigen Forschung die Begriffe Nachrichtenfaktoren und Nachrichtenwerte herausgebildet haben. So gewinnt ein Ereignis durch eine starke Ausprägung vieler Nachrichtenfaktoren an Nachrichtenwert, also an Publikationswürdigkeit für den Journalisten, wobei Schulz Nachrichtenfaktoren für vergleichbar mit den Stereotypen hält.[7] Eilders stellt fest, dass der Nachrichtenwert „auf der Konstruktebene angesiedelt” ist, „die Nachrichtenfaktoren stellen die Indikatoren dazu dar.”[8] Lippmann nennt folgende Eigenschaften von Ereignissen, die den Nachrichtenwert determinieren, also die ersten in der Wissenschaft genannten Nachrichtenfaktoren: „Ungewöhnlichkeit des Geschehens”, „Bezug zu bereits eingeführten Themen”, „zeitliche Begrenzung”, „Einfachheit”, „Konsequenzen” (Relevanz, Schaden, Nutzen), „Beteiligung bekannter Personen” oder „Entfernung vom Ereignisort zum Verbreitungsgebiet des Mediums”. Je mehr dieser Faktoren ein Ereignis enthält und je stärker diese ausgeprägt sind, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es in den Medien berücksichtigt wird.

Erst 1965 fand eine Fortsetzung der Nachrichtenwerttheorie durch Einar Östgaard statt. Einar Östgaard begründete in seinem Artikel „Factors Influencing the Flow of News”[9] die europäische Forschungstradition der Nachrichtenwerttheorie. Diese Faktoren[10] werden von Östgaard in interne und externe unterschieden. „Extraneous [factors]“ entstehen durch politischen und wirtschaftlichen Einfluss (zum Beispiel durch Zensur; finanzielle Sanktionen/Subventionen), die den Nachrichtenfluss von außen beeinflussen[11]. Interne Faktoren sind nach Östgaard „audience-oriented [factors]“, bestimmen also die Publikationswürdigkeit im Hinblick auf das Publikum[12]. Diese sind:

1. Simplifikation: Nachrichten werden im Hinblick auf Ereignisse mit leicht verständlichem Inhalt selektiert. à je simpler die Nachricht, desto höher die Wahrscheinlichkeit veröffentlicht zu werden.[13]
2. Identifikation: „Die Aufmerksamkeit des Publikums erhalten vor allem Berichte, […], die diesem wohl bekannt sind.“[14] Die daraus folgende Vertrautheit kann durch geringe Distanz zum Rezipienten (sowohl in geografischer, kultureller als auch zeitlicher Hinsicht) oder durch die Einbeziehung von Nationen oder Personen mit hohem sozialem Rang, bzw. durch eine Personalisierung erzeugt werden. à Je größer die Identifikation, desto größer die Publikationswahrscheinlichkeit.
3. Sensationalismus: Ereignisse werden aufgrund ihres Spannungsreichtums publiziert, also beispielsweise Katastrophen und Unglücke, die Elemente wie Emotionalität enthalten beziehungsweise hervorrufen. à Je stärker der sensationalistische Gehalt ist, umso eher wird das Ereignis Teil des Medieninteresses.

Die inneren Faktoren helfen Östgaard zufolge[15] einer Nachricht, die „Nachrichten-barriere“ zu überwinden, eine Art Schwelle, deren Überschreitung nur durch Erfüllung der Auswahlkriterien möglich ist.

Aus der Kombination der Selektionskriterien sieht Östgaard folgende Wirkung der Medien auf das Weltbild:[16]

1. Die Welthierarchie wird verstärkt, indem die Distanz zwischen mächtigen und armen Ländern übertrieben durch die Medien dargestellt werden dargestellt wird.
2. „Die Medien stellen die Welt konfliktreicher dar“[17], als sie es tatsächlich ist.
3. Die Wichtigkeit des Handelns individueller Persönlichkeiten wird übertriebenen dargestellt.

3. Weiterentwicklung der Nachrichtenwerttheorie

Hauptkritikpunkte an Lippmanns und Östgaards Forschung sind einerseits die mangelnde Trennschärfe der Begriffe andererseits die fehlende empirische Prüfung.[18]

Im selben Jahr wie Östgaard veröffentlichten Galtung und Ruge „the structure of foreign news“[19], eine Präsentation mit ersten empirischen Ansätzen „und zu einer wahrnehmungspsychologisch begründeten Nachrichtentheorie ausgebaut.“[20] Ihr ist besonders zu Eigen, dass neben zwölf Nachrichtenfaktoren (acht kulturunabhängige und vier abhängige Faktoren) ein Zusammenwirken dieser beschrieben wird.[21]

Dieses Zusammenwirken ist in fünf Hypothesen zusammengefasst:[22]

1. Je mehr ein Ereignis die genannten Kriterien erfüllt, umso eher wird es als Nachricht wahrgenommen (Selektion).
2. Ist ein Ereignis einmal zur Nachricht geworden, werden die ihren Nachrichten-wert determinierenden Faktoren besonders betont (Verzerrung).
3. Selektion und Verzerrung finden auf allen Stufen vom Ereignis bis hin zum Rezipienten statt (Replikation).
4. Je mehr Nachrichtenfaktoren auf ein Ereignis zutreffen, desto eher wird es zur Nachricht (Additivitätshypothese).
5. Besitzt dagegen ein Ereignis einen oder mehrere Nachrichtenfaktoren nicht oder nur gering ausgeprägt, so müssen andere Faktoren umso stärker vorhanden sein, damit es zur Nachricht wird (Komplementaritätshypothese).

Die Nachrichtenwerttheorie nach Galtung und Ruge wurde seitdem in einer Reihe von Untersuchungen empirisch bestätigt und konzeptionell weiterentwickelt.[23] In der Regel wurde dabei die Faktorenliste von Galtung und Ruge ergänzt, gekürzt oder modifiziert.

Darauf basiert auch der Faktorenkatalog von 1976 mit 18[24] Nachrichtenfaktoren von Winfried Schulz. Als wichtige Neuerung Schulzes gilt aber das Verständnis von Nachrichtenfaktoren und –werten. So sieht Schulz in den Nachrichtenfaktoren weniger Merkmale, die Ereignissen zugrunde liegen, als vielmehr „journalistische Hypothesen von Wirklichkeit“[25], also Annahmen von Journalisten, die ihnen die Interpretation der Realität erleichtern. Hier findet sich also eine Parallele zu Lippmann.

Außerdem maß Schulz auch die Intensität der Nachrichtenfaktoren, dies wurde unter anderem von Joachim Friedrich Staab fortgeführt. Dabei zeigte sich, dass es einen großen Einfluss der Nachrichtenfaktoren auf den Umfang der Berichterstattung, aber nur einen geringen auf die Platzierung der Meldungen gibt.[26]

[...]


[1] Godau, J. (u.a.) [2007]: Verbotene Strandliebe. Deutscher Junge (17) in Türken- Knast. In: BILD- Zeitung, [Nr. 144], [S. 3].

[2] Kunczik, Michael/Zipfel, Astrid (2001): Publizistik. Ein Studienhandbuch. Köln/Weimar/Wien: Böhlau Verlag, 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage, S. 245.

[3] Ebd., S.246.

[4] Vgl. Lippmann, Walter (1922): Public Opinion. New York.

[5] Ebd., 348.

[6] Staab, Joachim Friedrich (1990): Nachrichtenwert-Theorie. Formale Struktur und empirischer Gehalt. Freiburg/München [=Alber-Broschur Kommunikation; 17]; S. 41.

[7] Schulz, Winfried (2000): Nachricht. In Noelle-Neumann, Elisabeth/ Schulz, Winfried/Wilke, Jürgen (Hrsg.): (Fischer Lexikon) Publizistik Massenkommunikation. Frankfurt a.M.: Fischer, 2. aktualisierte, vollständig überarbeitete und ergänzte Auflage, S. 361.

[8] Eilders, Christiane (1997): Nachrichtenfaktoren und Rezeption. Eine empirische Analyse zur Auswahl und Verarbeitung politischer Information. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 26.

[9] Östgaard, Einar: Factors Influencing the Flow of News. In: Journal of Peace Research 2 (1965); S. 39-63.

[10] Siehe Anhang, Tabelle.

[11] vgl. Östgaard (1965): 40ff

[12] Ebd., 45ff.

[13] Ebd., 25.

[14] Maier, Michaela (2003): Nachrichtenfaktoren – Stand der Forschung. In: Ders./Ruhrmann, Georg u.a.: Der Wert von Nachrichten im deutschen Fernsehen. Ein Modell zur Validierung von Nachrichtenfaktoren. Opladen: Leske und Budrich, S. 30.

[15] Östgaard (1965), 51.

[16] Ebd., 54f.

[17] Ebd., 31.

[18] Vgl. u.a. Staab (1990), 58.

[19] Galtung, Johan/Ruge, Marie Holmboe (1965): The Structure of Foreign News. The Presentation of

the Congo, Cuba and Cyprus Crisis in Four Norwegian Newspapers. In: Journal of Peace Research 2,

S. 64 - 91.

[20] Schulz (2000), 355.

[21] siehe Tabelle im Anhang - auf die vollständige Aufzählung der Faktoren soll hier verzichtet werden und erst bei der Prüfung des Falls Marco W. in die Analyse einfließen.

[22] Vgl. Galtung/Ruge (1965), 71.

[23] Vgl. Schulz (2000), 356.

[24] 1977 mit 19 Faktoren; für die Faktoren von 1976 siehe Tabelle im Anhang.

[25] Schulz (2000), 356.

[26] Vgl. Staab (1990), 147.

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Nachrichtenwert-Theorie
Untertitel
mit Fallanalyse Marco W.
Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz  (Institut für Publizistik)
Veranstaltung
Grundbegriffe und Forschungsfelder der Publizistikwissenschaft
Note
2
Autor
Jahr
2007
Seiten
16
Katalognummer
V113380
ISBN (eBook)
9783640141845
ISBN (Buch)
9783640141937
Dateigröße
435 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Nachrichtenwert-Theorie, Grundbegriffe, Forschungsfelder, Publizistikwissenschaft, Medienwirkungstheorie, Publizistik
Arbeit zitieren
Mattias Wohlleben (Autor:in), 2007, Nachrichtenwert-Theorie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/113380

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Titel: Nachrichtenwert-Theorie



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