Es war einmal... die Emanzipation der Dummlinge

Der (lernbehinderten-)pädagogische Einsatz von Märchen zwischen Hoffnung und Illusion


Essay, 2008

30 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Wegweiser durch die Arbeit

Abschnitt 1
Das Märchen als lernbehindertenpädagogisches Medium – thematische Ausschlüsse und Grenzziehungen

Abschnitt 2
Die stoffliche Besinnung – Eine (literatur-)wissenschaftliche Annäherung an das Märchen
2.1. Inhaltsstrukturen des Märchens – WAS erzählen die „alten Geschichten“?
2.2. Merkmals- und Sprachstrukturen – WIE erzählen Märchen?

Abschnitt 3
Die psychologische Besinnung – Eine fachwissenschaftliche Annäherung an lernbehinderte Kinder
3.1. Psychologische Beschreibungen I – Kognitive Strukturen
3.2. Psychologische Beschreibungen II – Sozial-emotionale Strukturen
3.3. Soziologische Beschreibungen – Biographische Strukturen

Abschnitt 4
Die pädagogische Besinnung - Passungen als Grundlage für Zieldiskussionen zum (lernbehinderten-)pädagogischen Märcheneinsatz
4.1. Formelle Ebene – Parallelen zwischen Märchen- und Denkstrukturen
4.2. Inhaltliche Ebene – Parallelen und Diskrepanzen zwischen märchenhafen und „realistischen“ Biografien

Abschnitt 5
Einschlüsse und Grenzöffnungen - Die Allgegenwart „alter“ Botschaften und die integrierende Bedeutsamkeit „pädagogischer“ Märchen
5.1. Alte Märchenbotschaften in postmodernen Medien – Grenzöffnungen am Lern-gegenstand
5.2. (Alle) „Kinder brauchen Märchen“ – Grenzöffnungen an der Lerngruppe
5.3. Abschließende Bemerkungen und Öffnung der methodischen Besinnung

Literaturverzeichnis .

Anhang 1: Märchentexte als Anregung

Anhang 2: Liedtext als Anregung

Wegweiser durch die Arbeit

Wegweiser durch die Arbeit

Nachfolgende Grafik stellt den Aufbau und die Abfolge der einzelnen Abschnitte.dar.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Das Märchen als lernbehindertenpädagogisches Medium – thematische

Ausschlüsse und Grenzziehungen

Es war einmal das Märchen in der (Lernbehinderten-)Pädagogik...

Der Fokus vorliegender Arbeit liegt auf der didaktischen Analyse des Märchens und seiner Anwendung im lernbehindertenpädagogischen Kontext. Damit gehen eindeutige Abgrenzungen einher - erstens auf der Ebene des Lerngegenstands, zweitens auf der Ebene der Adressaten sowie drittens auf der Ebene der Situation.

Der Lerngegenstand rekrutiert sich aus dem Volksmärchen und schließt damit sowohl andere Lernbereiche (z.B. Mathematik, Sachunterricht und musisch-ästhetisches Felder) als auch andere Gegenstände des Literatur- und Sprachbereichs (z.B. Bilderbücher, Sachtexte) aus. Die Adressaten sind vermeintlich eindeutig als „lernbehinderte Kinder“ abgegrenzt. Jene Spezifizierung führt damit zum Ausschluss von Lerngruppen, die sich aus Erwachsenen zusammensetzen bzw. zur Grenzziehung zu Kindern, denen sich die Regelpädagogik in postmoderner arbeitsteiliger Manier zuwendet. Die Situation ist im pädagogischen Setting verortet, so dass psychotherapeutische und klinische Betrachtungen ausgeschlossen werden.

Vor dem Hintergrund dieser dreifachen Abgrenzung konstruiert sich die spezifische Thematik, die im Fol-genden bearbeitet werden soll. Dabei wird eine dreiteilige didaktische Analyse den lernbehindertenpädago-gischen Einsatz von Märchen diskutieren, um darauf aufbauend die hier vorgenommenen Abgrenzungen zu eliminieren und die Arbeit unter dem Aspekt Einschlüsse mit generalisierenden Thesen abzuschließen.

Die stoffliche Besinnung dient der Eingrenzung des Lerngegenstands (Abschnitt 2), während die psychologische Besinnung die Spezifizierung der Adressaten vornimmt (Abschnitt 3). Im dritten Schritt, in der pädagogischen Besinnung, wird die Passung des Märchens zur Personengruppe der lernbehinderten Kinder untersucht. Anhand (lernbehinderten-)pädagogischer Zielstellungen wird die Relevanz der „alten Geschichten“ für das hier eingegrenzte Setting diskutiert (Abschnitt 4) – und zwar innerhalb der Dichotomie von Hoffnung und Illusion.

2. Die stoffliche Besinnung – Eine (literatur-)wissenschaftliche Annäherung an das Märchen

Nach Diederich erschöpft sich der erste Teil einer didaktischen Analyse darin, den so genannten Stoff zu beherrschen. In vorliegendem Fall bedeutet eine derartige stoffliche Besinnung, der Pädagoge rezipiere die originalen Märchen der Gebrüder Grimm und „befrage die besten Fachkenner“ zum vorliegenden Kulturgut (Diederich 1986, 139). Diesem Anspruch muss auch die Autorin vorliegender Arbeit Rechnung tragen. Selbst bei den ersten Überlegungen fällt es Pädagogen naturgemäß schwer, nicht an das Subjekt ihrer späteren Bemühungen zu denken, doch in diesem Abschnitt geht es „zunächst nur um die Sache“ (ebd.). Eine derartig tiefgründige Auseinandersetzung mit dem Gegenstand der pädagogischen Situation schafft dann die Freiräume, die für eine „sachgerechte Umsetzung ins Volkstümliche, Jugend- und Kindgemäße“ (ebd.) notwendig sind. Es gilt also, innerhalb dieses Abschnitts, das Volksmärchen (literatur-)wissenschaftlich zu analysieren,

um damit den Weg zu ebnen für klientenspezifische didaktische Reduktionen. Aufgrund selegierender Entscheidungen kann der lange Umgang mit dem „inneren Wesen“ des Märchens sowie die „persönliche Begegnung mit den originalen Vertretern“ (ebd.) des Fachs Literaturwissenschaft hier nicht ausführlich dargelegt werden. Die Ergebnisse der stofflichen Besinnung zum Märchen sind daher „nur“ in einer kurzen Zusam-menfassung präsent – und zwar als Inhalts- und Sprachstrukturen.

2.1. Inhaltsstrukturen des Märchens – WAS erzählen die „alten Geschichten“?

Das bekannte Figurenarsenal des Märchens rekrutiert sich unter anderem aus Hexen, Riesen, Zauberern und Zwergen. Jene Figuren repräsentieren traditionelle charakteristische Elemente des Kulturguts „Mär-chen“: nämlich das Unheimliche, Phantastische und Zauberhafte. Sie stellen dennoch lediglich eine Seite der Märchenwirklichkeit dar. Die Handlung im „ungefähren Einst“ und im „vagen Weitweg“ erzählt haupt-sächlich von weltlichen Figuren, welche bestimmte Aufgaben zu lösen haben und als Gewinn ein glück-liches Leben erzielen. Oft geschehen wundersame Dinge auf dem Weg zum Glück, nicht selten erscheinen übernatürliche Mächte als Helfer oder Gegenspieler der stets „guten“ Helden (vgl. Klotz 1983, 10).

Der Märchenheld zeichnet sich neben seiner Gutmütigkeit auch noch durch ein weiteres Merkmal aus: sei-ne Schwäche. Denn das Märchen sympathisiert für die „Letzten, Hintersten“ (Schaufelberger 1994, 50) - also vor allem für diejenigen, die „im Sinne der Leistungsgesellschaft nicht erfolgreich“ sind (Senckel 2002, 116). Damit werden die Märchenhelden als unscheinbare, auf den ersten Blick unbedeutende Personen konstru-iert, welche vor allem in den Dummlingsfiguren und Aschenputtelvariationen ihre Typisierung finden. Über die Stetigkeit der glücklichen Bewältigung existentieller Aufgaben vermeidet das Märchen ein Ver-harren „im Vakuum eines offenen Endes“ bzw. die Stagnation „im Unglück eines Scheiterns aller Bemühun-gen“ (Biedermann 1990, zit. in Geldern-Egmont 2000, 11).

Jenes starre Handlungsschema (Mangelsituation – Aufgabe – Aufgabenlösung – Glück) erfährt über die Verwendung vielfältiger Motive und Bilder dennoch eine breite Variation, welche sich in der ansehnlichen Sammlung an „Kinder- und Hausmärchen“ der Gebrüder Grimm dokumentieren lässt.

Mittels der Verlagerung der Handlung in ahistorische und nicht-geografische Räume gelingt dem Märchen die Positionierung des Geschehens außerhalb der Alltagswirklichkeit. Die Handlung wird daher von ratio-nalen Rezipienten oft als unwahr und unrealistisch eingestuft. „Erzähl mir keine Märchen“ – solche Stim-men scheinen weit entfernt von einer konstruktivistischen Weltsicht, welche derart verengte Wirklichkeits-auffassungen widerruft. In diesem Sinne erscheinen phantastische Märcheninhalte als eine andere Wirklichkeit – als eine Märchenwirklichkeit nämlich, die nicht selten die so genannte äußere „Reali-tät“ repräsentiert, was im nächsten Abschnitt innerhalb des märchenhaften Wesensmerkmals „Sublimation und Werthaltigkeit“ (2.2.) erläutert werden soll.

2.2. Merkmals- und Sprachstrukturen – WIE erzählen die Märchen?

Innerhalb dieses Abschnitts werden Wesensmerkmale des Märchens dargelegt. Dadurch gelingt die Erhe-bung von Strukturen, welche an der Entstehung bestimmter Bilder im Kopf der Märchenrezipienten teil-haben. Dabei habe ich mich mit Max Lüthi, „dem besten Fachkenner“ bezüglich der Märchen auseinanderge-setzt, um so dem Anspruch Diederichs an eine stoffliche Besinnung gerecht zu werden. Max Lüthi stellt folgende Wesensmerkmale des Märchens zusammen, die ich aufgrund seiner fachlichen Anerkennung hier kommentarlos repetieren kann und werde.

Im Märchen gelingt der nahtlose Übergang von der wirklichen zur nicht-wirklichen Welt, da der phantasti-sche Raum keine scharfe Grenze zieht zwischen Jenseits und Diesseits. Selbst weltliche Orte wie der Wald oder die Meerestiefe werden in der Bilderwelt des Märchens zu Jenseitsreichen umgewandelt. So verwun-dert es märcheninterne Figuren nicht, wenn ihnen jenseitige Gestalten begegnen – und ebenso wenig er-staunt zeigt sich der Märchenrezipient, dem solche Jenseitserfahrungen der Märchenhelden aufgrund der Stabilität dieses Merkmals vertraut sein dürften. Jenseitige Welten und außerweltliche Wesen entpuppen sich als Schicksalsmächte und bestimmen als eine Art Motor den weiteren Handlungsverlauf. Jenseits und Diesseits bilden demnach im Märchen eine gemeinsame Dimension, die Eindimensionalität wird zum Wesensmerkmal (vgl. Lüthi , 9ff.).

Alles im Märchen geschieht ohne jegliche Tiefengliederung. Flächenhafte Figuren ersetzen die vielfältige Lebendigkeit „realer“ Menschen. In seiner fehlenden körperlichen und seelischen Tiefe erscheint der Mär-chenheld dann vielmehr „ohne Innenwelt, ohne Umwelt“ (ebd., 13). Eigenschaften, Beziehungen und Gefühle werden auf ein und dieselbe Fläche projiziert – auf die Handlungsebene. Verschiedene Handlungsmöglich-keiten sind wiederum auf mehrere Gestalten verteilt, die sich flächenhaft nebeneinander bewegen. So er-fährt der ambivalente menschliche Charakter seine Entsprechung in den Handlungen guter und böser Fi-guren. „Für jeden von ihnen gibt es nur eine Art des Handelns, und sie reagieren mit mechanistischer Eindeutigkeit“ (ebd., 16), was ein drittes Merkmal des Märchens tangiert – die Abstraktheit.

In der flächenhaften Welt der Märchenwirklichkeit heben sich Figuren nämlich durch starke Farben und Konturen ab. Anstelle realistischer Farbschattierungen zeigt das Märchen seine Vorliebe für klare und reine Farben, welche Kontraste erst eindeutig hervorheben. Denn nur eine Gegenüberstellung von weiß und schwarz erlaubt die totale Polarisierung in gut und böse, schön und hässlich bzw. klug und dumm. Solche Präferenzen für das Extreme spiegeln sich außerdem in den fiktiven Handlungskonsequenzen wi-der, welche zwischen übertriebenen Strafen einerseits und übermaßenden Belohnungen andererseits keine Nuancierungen kennen (vgl. ebd., 25ff.). Derartige Stilmittel erlauben es dem Märchen, Dinge, Figuren und Handlungen lediglich zu benennen und somit einer ausführlichen Schilderung von Sachverhalten auszuweichen. Der dadurch rasch verlaufende Handlungsfortschritt zeigt sich klar und bestimmt – der Inhalt seines einsträngigen schematischen Verlaufs ist bereits in Abschnitt 2.1. dargelegt. Abgerundet wird der abstrakte Stil durch starre Formeln, Wiederholungen von ganzen Sequenzen sowie traditionellen Anfangs- und Schlusssätzen. Abstraktheit im Märchen entsteht als Struktur also dadurch, dass alles klar, eindeutig und sichtbar ist.

Märchenfiguren scheinen außerdem zu niemandem zu gehören. Ihre Isolation zeigt sich darin, dass sie keine festen Bindungen zu anderen Personen eingehen. Die Beziehungen zu Helferfiguren erscheinen als Zweckverbindungen, die sich nach der jeweiligen Aufgabenbewältigung wieder auflösen. Innerhalb dieses Status’ der Isolation liegt die Voraussetzung für eine Glück bringende Allverbundenheit. Nur wer in der Lage ist, jederzeit Verbindungen einzugehen und wieder zu lösen, erreicht das märchenhafte Ziel von Glück und Reichtum – und zwar ohne den bitteren Beigeschmack seelischer Schmerzen und persönlicher Verluste (vgl. ebd., 36ff.).

Die Motive des Märchens entsprechen den Motiven der Wirklichkeit. Dass wir aber Märchen als phantas-tisch erleben, liegt an der Entwirklichung dieser Motive mittels Sublimierung. Der typisch märchenhafte Charakter entfaltet sich erst über den Verlust an Tiefe, Inhaltsschwere und Nuancierung. Schwerelose transparente Figuren entwirklichen den individuellen Menschen. Dennoch postuliert Fitzgerald, Märchen täten nur so, als ob sie mit der Realität nichts gemeinsam haben (vgl. ebd. 2007, 7). Und tatsächlich scheint sich in der phantastischen Erzählung die Welt abzubilden. Seine Welthaltigkeit erreicht das Volksmärchen nämlich über seine strukturelle Gestaltung, die jedes Element menschlichen Lebens in sich aufzunehmen vermag und dadurch „Realität“ widerspiegelt. Oder anders gesagt: Alles „Realistische“ wird auf einer anderen Wirklichkeitsebene repräsentiert, der Märchenfläche (vgl. Lüthi, 63ff.).

Abschnitt 2 beschäftigte sich mit dem Lerngegenstand – zunächst ohne die Kriterien der Passung zur Lerngruppe. Die Auseinandersetzung mit dem Märchen vollzog sich vorwiegend unter literaturwissen-schaftlicher Perspektive und ergab Erkenntnisse sowohl zu inhaltlichen als auch zu strukturellen Be-sonderheiten dieses Kulturguts. Bevor letzteres hinsichtlich seiner Eignung als Bildungsgut für Kinder mit dem Etikett „Lernbehinderung“ geprüft werden soll, müssen wir als Zwischenschritt die psychologische Besinnung einfügen und die „Etikettierten“ näher betrachten – diesmal ohne Berücksichtigung des Lern-gegenstands.

3. Die psychologische Besinnung – Eine fachwissenschaftliche Annäherung

an lernbehinderte Kinder

Innerhalb dieses Schrittes der didaktischen Märchen-Analyse wendet sich der Analysierende vom Ge-genstand ab, um seinen Fokus auf die andere Seite des Lernprozesses zu legen – den Adressaten der Bil-dungs- und Erziehungsbemühungen, denn

(w)em ich etwas sagen oder anvertrauen will, wen ich überzeugen oder bilden will, den muss ich zunächst einmal kennen (Diederich 1986, 140).

Das Ziel der psychologischen Besinnung liegt also darin, den Versuch zu wagen, die „seelisch-geistige Wirk-lichkeit“ des Schülers mit dem Etikett „Lernbehinderung“ zu erfassen. Erst auf dieser Grundlage lassen sich dann Anknüpfungspunkte für die pädagogische Situation in den Möglichkeiten des so genannten „lernbehinderten“ Kindes suchen und entdecken (vgl. ebd.).

Auf der Suche nach jener „seelisch-geistigen Wirklichkeit“ des Lernbehinderten findet man in der sonderpäda-

gogischen Fachliteratur ausführliche Beschreibungen, Definitionen und Klassifizierungen. Auf eine Dar-stellung dieser fachspezifischen Auseinandersetzung mit der Klientel der Lernbehindertenpädagogik kann deshalb an dieser Stelle verzichtet werden. Vielmehr beschränken sich folgende Ausführungen auf Sach-verhalte, die für die Entwicklung der Überlegungen zum Märchen als Literatur für „diese“ Kinder beson-ders relevant sind. Eine solche Beschreibung der „Etikettierten“ bewirkt dennoch generalisierende Nach-zeichnungen der Lernbehinderten-Bilder, die von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen unterschied-lich gemalt werden. Denn jede noch so objektiv wirkende „Realität“ entspricht lediglich einer bestimmten Wirklichkeitskonstruktion. Innerhalb der Zielstellung, den Adressaten der Lernbehindertenpädagogik „kennenzulernen“, stellt sich daher die Frage:

Kann man ein lernbehindertes Kind rasch am Äußeren oder am Verhalten erkennen? ... Oder identifiziert man es aufgrund der Tatsache, dass es eben die Lernbehindertenschule besucht? (Schröder 1998, 11).

Die Annäherung an den „speziellen“ Adressatenkreis benutzt das Bleidick’sche Diktum, dass derjenige lernbehindert ist, der eine Lernbehindertenschule besucht. Dadurch ist die Personengruppe der folgenden Betrachtungen zumindest institutionell klar umrissen. Die phänomenale Beschreibung der Schüler einer Lernbehindertenschule soll Einblicke gewähren, die eine psychologische Besinnung nach Diederich er-möglichen. Dass dadurch kein zusammenhängendes Persönlichkeitsbild im Sinne einer Typisierung des Lernbehinderten erzielt ist, sollte genauso selbstverständlich sein wie die Einsicht, dass sämtliche Be-schreibungen keineswegs für alle Schüler einer Lernbehindertenschule gelten. Vor dem Hintergrund dieser kurzen Erläuterungen wage ich im Folgenden die generalisierende Deskription der Kinder und Jugend-lichen mit dem Etikett „Lernbehinderung“.

3.1. Psychologische Beschreibungen I – Kognitive Strukturen

Im Zeitalter der fortgeschrittenen testpsychologischen Diagnostik gelten niedrige IQ-Werte als Indikator für intellektuelle Schwäche. In Bezug auf die Gruppe der Lernbehinderten sei aber zu ergänzen, dass sich unterdurchschnittliche IQ-Test-Ausprägungen erst im Zusammenhang mit einem hohen Rückstand schu-lischer Leistungen zu einer Lernbehinderung manifestieren. Für vorliegendes Ziel der psychologischen Be-sinnung reicht die Markierung der Lernbehinderten mit einem niedrigen IQ-Wert darüber hinaus auch deshalb nicht aus, weil solche Werte lediglich Aussagen über Ergebnisse von Lern- und Denkprozessen zulassen und dabei die Prozesse selbst aus den Augen verlieren (vgl. Schröder 1998, 57ff.). Der Blick auf die Denkstrukturen und damit auf das Potential der hier eingegrenzten Adressaten legt dagegen vielmehr einen wichtigen Grundstein für ein „Kennenlernen“ im Sinne Diederichs.

In den fachwissenschaftlichen Beschreibungen von Kindern mit Lernstörungen wird oft das Merkmal der kognitiven Retardierung aufgeführt und in quantitativer Manier mit einem Entwicklungsrückstand von ein bis zwei Jahren konkretisiert (vgl. ebd., 65). Demnach manifestiert sich das Lernen bei Lernbehinderten nicht nur in einer normabweichenden Qualität „als vielfältige Muster struktureller Verschiebungen“, sondern im

Vergleich zu Nicht-Lernbehinderten ergeben sich auch verschiedene Ausprägungen „zeitlicher Ver-zögerungen“ (Kanter 1980, 61). Innerhalb dieser Auffassung verharren lernbehinderte Kinder länger in ent-wicklungspsychologisch frühen Denkformen – „Denkformen, die dem formal-abstrakten Denken voraus-gehen“ (Senckel 2002, 118). Gerade jüngere lernbehinderte Kinder sind im kognitiven Entwicklungsschema dem präoperativem Stadium zuzuordnen, das sich durch bestimmte Strukturen charakterisieren lässt und damit gleichzeitig für generalisierende Beschreibungen „lernbehindertenspezifischer“ Denkstrukturen herangezogen werden kann.

3.1.1. Beseelung der Umwelt in kindlichen Denkformen

Über anthropomorphe, animistische, analoge sowie magische Denkformen gelingt die Beseelung der ge-samten Wirklichkeit, in welcher dann emotionale Nähe zu allen lebenden und nicht lebenden Elementen möglich wird (vgl. Senckel 2002, 119). Innerhalb der anthropomorphen Denkform werden Tiere und Pflanzen über die Zuschreibung humaner Kompetenzen und Eigenschaften vermenschlicht. Das anthro-pomorphe Weltsystem wird durch animistische Wahrnehmungen noch insofern erweitert, als dass auch die dingliche Umwelt als lebendig empfunden wird (vgl. ebd.).

Über den Gebrauch von Analogien ist gerade auch ein kognitiv eingeschränktes Kind in der Lage, Zugänge zu unbekannten Zusammenhängen zu finden – nämlich über das Ähnlichkeitsprinzip. Ver-menschlichungen gehen mit Analogiebildungen einher (vgl. ebd.) Darüber hinaus existieren noch magi-sche Vorstellungen im kindlichen Denken, welche ebenfalls für Ursachenerklärungen herangezogen wer-den, um fehlende sachgerechte, rational-logische Erkenntnisse zu kompensieren. Dabei dienen objektiv nicht nachweisbare Fähigkeiten und Kräfte als Erklärungsgrundlage für „unerklärliche“ Sachverhalte (vgl. ebd., 119).

Es sind also jene Vermenschlichungs-, Belebungs- und Verzauberungsprozesse, die im kindlichen Weltbild Nähe vermitteln, Ähnlichkeiten schaffen sowie emotionale Verbindungen herstellen (vgl. ebd., 118) – und zwar zu allen Elementen der Umwelt.

3.1.2. Handlungsgebundenes Denken

Zur Annäherung an bestimmte Sachverhalte greift das Kind im präoperativen Stadium unter anderem auch auf eine weitere Strategie zurück: die Übersetzung in Tätigkeiten. So erkennt das kindliche Weltbild innere Gemütszustände an äußeren Handlungen. Das Wirklichkeitsverständnis baut sich dann über die herausragende Bedeutung der Aktivität auf. An die Stelle eines Systems abstrakter Begriffe tritt das Verste-hen von handlungsbezogenen Sachverhalten (vgl. ebd., 119f.). Die Merkmale Irreversibilität und Eindi-mensionalität erweitern die Anschaulichkeit des kindlichen Denkens, das oft als inneres Tun charakteri-siert wird.

3.1.3. Eindimensionale und klare Weltbilder infolge der undifferenzierter Wahrnehmungen

Über egozentrische Sichtweisen, zentrierte Urteilsbildungen sowie dichotome Begriffsinventare konstruiert das Kind ein scharf konturiertes und klar strukturiertes Weltbild, das noch nicht in „subjektive, einander widerstreitende Aspekte der Wirklichkeit“ zerfällt (ebd., 120).Innerhalb elementarer Denkformen werden auf-grund der fehlenden Perspektivübernahme nur eigene Blickwinkel, Empfindungen und Gefühle für sämt-liche Sachverhalte generalisiert. Dieser unbefangene Einsatz absoluter Ansichten vermittelt Kindern die oben bezeichnete Einheitlichkeit und Klarheit.

Weiterhin verantwortlich für derartige Wirklichkeitskonstruktionen ist die kindliche Urteilsfähigkeit, welche auf der Wahrnehmung hervorstechender Merkmale des zu bewertenden Sachverhalts basiert. So-mit sind differenzierte Betrachtungen noch nicht möglich und die Klarheit im präoperativen Denken setzt sich weiterhin durch. Eindimensionales, anschauungsgebundenes Denken manifestiert sich in ent-sprechenden Urteilsfindungen, die sich sowohl im sachlichen als auch moralischen Bereich in der gleichen Qualität zeigen. Aufgrund fehlender (kognitiver) Kompetenzen zur gleichzeitigen Verarbeitung mehrerer Faktoren neigt das kindliche Urteil nämlich zu klaren und rigorosen Einschätzungen (vgl. ebd., 121).

Die eindimensionale sachliche und moralische Urteilsbildung findet ihre Begründung in der Entwicklung der Begriffsbildung, welche zunächst auf der kindlichen dichotomen Weltordnung basiert. „Die Nuancierun-gen zwischen den Extremen eignet es sich erst allmählich an“ (ebd., 122). Auch innerhalb der Zeit- und Raumbe-griffe zeigt sich eine mangelnde begriffliche Differenzierung im Denken des Vorschulkindes bzw. des lern-behinderten Schülers. So kennt ihre Wahrnehmung wenig zahlenmäßigen Zeitangaben und kaum klare Entfernungs- und Raumbegriffe. Vielmehr manifestieren sich eher undifferenzierte dichotome Weltsichten in unbestimmten Zeit- und Ortsangaben (vgl. ebd., 123).

3.1.4. Zusammenfassung

Dass Lernbeeinträchtigungen, gleich welcher Ursache, ihren Niederschlag stets im Verhaltens- und Lei-stungsbereich finden, ist nachweisbar. „Sie bilden retardierende Momente der gesamtpsychischen Entwick-lung“ (Kanter 1980, 53). Auf dieser Grundlage ist die Betrachtung des entwicklungspsychologisch frühen Stadiums „präoperatives Denken“ legitimiert, das lernbehinderten Kindern aufgrund der angenommenen Retardierungen für einen größeren Zeitraum als Instrument ihrer Wirklichkeitskonstruktionen dient. Da-her wurden in diesem Abschnitt die charakteristischen Merkmale jener Entwicklungsstufe herausgear-beitet: Anthropomorphistisches und animistisches Denken, Analogien, Handlungsgebundenheit, Egozent-rik, Zentrierungen sowie Dichotomien.

[...]

Ende der Leseprobe aus 30 Seiten

Details

Titel
Es war einmal... die Emanzipation der Dummlinge
Untertitel
Der (lernbehinderten-)pädagogische Einsatz von Märchen zwischen Hoffnung und Illusion
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (--)
Veranstaltung
--
Note
1,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
30
Katalognummer
V113315
ISBN (eBook)
9783640147939
ISBN (Buch)
9783640148134
Dateigröße
650 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Emanzipation, Dummlinge
Arbeit zitieren
Diplom-Rehabilitationspädagogin Cina Bugdoll (Autor:in), 2008, Es war einmal... die Emanzipation der Dummlinge, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/113315

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