Literaturverfilmung und literarischer Film

Phänomene des Neuen Deutschen Kinos - Exemplifiziert an Fassbinders 'Fontane Effi Briest'


Hausarbeit (Hauptseminar), 2008

42 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Vorüberlegung
1.2 Einteilung der Arbeit
1.3 Abgrenzung

2. Der Neue Deutsche Film
2.1 Ausgangssituation nach 1945
2.2 Das Autorenkino
2.3 Rainer Werner Fassbinder

3. Literatur im Film
3.1 Literaturverfilmung
3.2 Der literarische Film
3.2.1 Zeit, Tempo & Rhythmus
3.2.2 Leerstellen
3.2.3 Sprache

4. Fontane Effi Briest
4.1 Einordnung des Films und Verhältnis zum Roman
4.2 Titel, Farbe und Licht
4.3 Blenden und Texttafeln
4.4 Romantext, Darsteller und Sprache
4.5 Kamera und Schnitt
4.6 Literarisches Motiv – der Spiegel

5. Fazit

6. Quellen
6.1 Literatur
6.2 Internetlinks
6.3 Audiovisuelle Medien
6.4 Abbildungsverzeichnis

1. Einleitung

1.1 Vorüberlegung

„Der große Umfang der objektiven Wirklichkeit, der dem literarischen Roman offen steht, steht auch ganz dem Film offen.“[1]

Vor nunmehr 80 Jahren schrieb W.I. Pudowkin diese Feststellung nieder und beteiligte sich energisch an der damals geführten Debatte, die versuchte das Phänomen Film und cinéma[2] greifbar zu machen und es im Rahmen seiner Eigenheiten in Reflexion auf andere Künste zu positionieren. Pudowkins Offensive geht soweit, dass er den Film als die allumfassende Generalkunst bezeichnet, die „alle bisher geschaffenen Künste in sich [faßt]“[3]. So leitet der Filmemacher, unterstützt von weiteren Filmtheoretikern des russischen Formalismus, her, wie Musik durch die Bewegung und Entwicklung in der Zeit, Theater durch lebendige Sprache sowie natürlich Malerei und Fotografie durch die unmittelbare Entwicklung eines Sehbildes in das filmische übergehen. Für Diskussionen, die bis heute allerdings die größte Nachhaltigkeit haben, sorgte die Gegenüberstellung von Film und Literatur. Obwohl beide medialen Formen in ihrem buchstäblich objektiven Vorkommen zunächst plakativ betrachtet vollkommen verschiedenen scheinen, ist die beidseitige Kopplung doch immens. Gerade weil die immanenten Möglichkeiten beider Medienformen ähnlichen scheinen, hatte man in der medienhistorischen Betrachtung nicht selten das Gefühl als würden beide Formen geradezu oppositionell gegeneinander gestellt.

„Bis zur Erfindung des Films und bis zur Bewußtwerdung der Montage war als einzige Kunst die Literatur in der Lage, komplexe Sujetkonstruktionen zu entfalten, Fabel-Parallelen zu entwickeln, den Handlungsort beliebig zu wechseln, Details zur Geltung zu bringen usw.“[4]

Trotzdem wurde in der Filmgeschichte recht zügig deutlich, wie eng Literatur und Film zusammengehören. Rasant etablierten sich filmische Umsetzungen bestehender literarischer Werke.[5] Den Anfang nahm es mit einer Umsetzung von Goethes Faust im Jahre 1896 von Louise Lumière,[6] desselben Medienpioniers der gesagt haben soll, dass der Film eine Erfindung ohne Zukunft sei.[7] Doch allein 230 deutsche Werke wurden in den siebzehn Jahren zwischen 1912 bis 1929 verfilmt.[8] Mit Ende der Naziherrschaft 1945 waren es hunderte Literaturverfilmungen mehr, die natürlich konform der ‚Sieben Filmthesen’ Joseph Goebbels gedreht wurden sind. Nach einer langen filmisch-kulturellen Dürrezeit belebten erstmals in den 60er Jahren die Filmschaffenden des so genannten Neuen Deutschen Films die Leinwand der BRD. Unter dem Slogan ‚Papas Kino ist tot’ distanzierten sie sich bewusst vom damaligen kleinbürgerlichen Zeitgeist und wandten sich gegen die Epoche der Stagnation und die unpolitische Haltung der Altfilmer.[9] Derjenige der dem Neuen Deutschen Film international endgültig zum Durchbruch verhalf[10] war Rainer Werner Fassbinder, der spätestens mit seinem frühen Tod im Alter von 37 den Status einer umstrittenen Legende innehat. Diese Jungfilmer Deutschlands der 60er und 70er, Fassbinder allen voran, etablierten eine neue, progressive Art des Films, welche sich einerseits auf die Aspekte der Kunst und des Künstlichen besann, andererseits in gehobenem Maße als Gegenstück zum herkömmlichen, gradlinig narrativen Kino sich den episch-demonstrativen Darbietungsweisen der Brechtschen Verfremdungsidee[11] zuneigte. In welchem Maße ein Film aber nun wahrhaftig literarisch sein kann, soll in dieser Arbeit untersucht werden.

1.2 Einteilung der Arbeit

Der grundsätzlichen Fragestellung ob und in welchem Maße das Phänomen ‚literarischer Film’ in Deutschland existierte, möchte ich mich in drei Schritten nähern. Zum ersten werde ich einen Einblick in die Ausgangssituation der Deutschen Filmlandschaft in den 60er und 70er Jahren geben. Wobei die Geburt des Autorenkinos sowie natürlich im Verbund damit, die Person Fassbinder näher in Augenschein genommen werden. Im darauf folgenden Kapitel wird erörtert wie und wodurch ein Film überhaupt literarisch sein könnte und inwieweit eine solche Kategorisierung überhaupt sinnvoll wäre. Exemplifiziert werden diese Überlegungen anschließend im dritten Punkt der Arbeit, anhand des praktischen Filmbeispiels ‚Fontane Effi Briest’ von Rainer Werner Fassbinder.

1.3 Abgrenzung

Da der Arbeit formelle Richtlinien zugrunde liegen und sie einen genauen Fokus herstellen soll, möchte ich schon im Vorfeld eine Abgrenzung zu weiteren Betrachtungsmöglichkeiten dieses Themenkomplexes vornehmen. Zum ersten weise ich darauf hin, dass die Betrachtung der Filmlandschaft der 60er und 70er Jahre nur die damalige BRD umfasst. Weitere Länder Europas sowie die DDR bleiben hierbei weitgehend außen vor.

Zweitens möchte ich hinsichtlich der Betrachtung Rainer Werner Fassbinders vorwegnehmen, dass es sich hierbei nicht um einen biografischen Ansatz handeln wird, sondern die Schnittstelle bildet zwischen der Stilistik seines Schaffens und den Charakteristika des Autorenfilms. Dies wiederum soll anschließend den Grundstein zur Betrachtung des literarischen Films und seines Werkes Fontane Effi Briest bilden.

Weiterhin muss betont werden, dass es sich bei der Zuwendung zu Fontane Effi Briest nicht um die Betrachtung der literarischen Adaption handeln soll. Der häufig durchgeführte Buch-Film-Vergleich ist für die Frage nach der literarischen Sprache des untersuchten Films nicht vorrangig und wird daher kaum berücksichtigt.

2. Der Neue Deutsche Film

Folgendes Kapitel soll zunächst die Ausgangssituation der deutschen Filmlandschaft nach der Nazizeit 1945 verdeutlichen. Weit über ein Jahrzehnt musste vergehen, bis man schließlich von der Blüte des Neuen Deutschen Films spricht. Kernstück und maßgebliche Neuerung dessen ist nicht in erster Linie ein Blick auf Deutschland, sondern ein unverschönter Realismus in der filmischen Darstellung. Hieraus entwickelte sich das Phänomen des Autorenkinos welches im zweiten Unterpunkt beleuchtet werden soll. Der mit Abstand berühmteste Autor Deutschlands ist Rainer Werner Fassbinder. Seinem Arbeiten, vor allem in stilistischer Hinsicht, ist der dritte Unterpunkt gewidmet.

2.1 Ausgangssituation nach 1945

„Der deutsche Film seit dem Krieg ist schlecht. Firmen gingen pleite, die wie die mächtige Ufa 30 Jahre lang ‚Papas Kino’ beherrscht hatten, und im Ausland will man kaum mehr deutsche Filme sehen. […][E]in Gegenmittel […] heißt: Sehr viel Geld. Aber damit ist ja nichts getan, solange man nicht weiß, warum der deutsche Film schlecht ist.“[12]

Diese Aussage stammt aus dem Jahre 1962 und gibt ein treffliches Bild der Wahrnehmung, die gegenüber der deutschen Filmindustrie vorherrschte. Vielerlei Gründe sind für diese Situation des deutschen Films zu nennen. Nach 1945 befand sich Deutschlands Filmindustrie in einer denkbar schlechten Ausgangslage – der Sieg und die Besatzung der Alliierten zerstörte die damals starke, wenn auch kaum ambitionierte, Filmwirtschaft nahezu vollkommen. Darüber hinaus lagen 80% der noch betriebsbereiten Kopierwerke und Rohfilmfabriken auf dem Gebiet der DDR, wurden von der 1946 gegründeten Defa[13] übernommen und waren somit für die BRD unzugänglich. Dass die Eigenproduktion deutscher Filme nahezu auf dem Nullpunkt war, zeigt sich im Vergleich zu anderen europäischen Filmnationen.[14]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

[15]

Ohne dass die nationale Filmindustrie hieraus Vorteile ziehen konnte, wurde trotzdem das Verlangen nach Film gestillt, indem ausländische Produktionen, vor allem die der Besatzer, in deutschen Kinos gezeigt wurden. Wenn man bedenkt, dass zu diesem Zeitpunkt etwa 13 Jahre kaum fremdländische Produktionen zu sehen waren, wird deutlich, wie hoch das Interesse und der Nachholbedarf der Zuschauer zu dieser Zeit gewesen sein muss.[16] Die Überhäufung des deutschen Marktes mit Unterhaltungsfilmen aus den übermächtigen amerikanischen Verleihen barg allerdings die Folge in sich, dass eine standardisierte und somit einfache Filmsprache etabliert wurde.[17]

Die grundsätzliche Schwäche und gleichzeitig Wurzel all dessen, was in der unmittelbaren und späteren Nachkriegszeit die Kinos bestimmte und sie filmisch zur Epoche der Stagnation werden ließ, war jedoch die fehlende Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte. Dass eine der wenigen ambitionierten Filmumsetzungen - Wolfgang Liebeneiners Borchertverfilmung Draußen vor der Tür - zu dieser Zeit erfolglos blieb, verdeutlicht in welchem Maße sich das Publikum einer Reflexion der Geschichte sperrte. Vorzugsweise tauchte man damals in die heile Welt der Arzt- und Heimatfilme ein, die, mit unterhaltsamen Geschichten und der Hinwendung zu großen Gefühlen, das damalige Kino dominierten. Auch die bestehenden Literaturverfilmungen, waren, von wenigen Ausnahmen abgesehen, oft nur verwässerte und bebilderte Umsetzungen der Vorlage, welche auf schlichte Unterhaltung und einen womöglich schwachen kathartischen Effekt zielten.[18]

„...die Nachkriegszeit ist zu Ende auch für den deutschen Film, das Jahr Null der großen Koalition ist zugleich das Jahr Null des neuen, des jungen deutschen Films…“[19]

Filmhistoriker Enno Patalas proklamierte 1966, also 21 Jahre nach dem Ende Nazideutschlands, auch das Ende des bundesdeutschen Films und markierte damit gleichzeitig die Geburtsstunde des Neuen Deutschen Films, aufbauend auf den Grundideen des Oberhausener Manifests[20] , welches zu diesem Zeitpunkt bereits vier Jahre alt war.[21] Mit den Grundgedanken dieses Manifests fanden endlich Umbruch in der deutschen Filmlandschaft, sowie ein lang versäumter Generationenwechsel statt. 26, vorwiegend junge, Filmschaffende, der bekannteste unter ihnen Alexander Kluge, unterzeichneten dieses Manifest und wandten sich endlich wieder Inhalten zu, die nicht selten versuchten mit der deutschen Geschichte und vor allem der aktuellen Gesellschaft aufzuräumen. Sie stellten sich gegen die Verdrängungsmentalität der Sissi -Filme und sahen im Wirtschaftswunder „nicht allein das Wunderbare, sondern auch die Restauration einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, deren Grundpfeiler Kapitalismus und Autoritätshörigkeit waren, die auch schon an der Wiege des Nationalsozialismus gestanden hatten.“[22] Die Oberhausener Gruppe sowie eine ähnliche progressive Verbindung unter dem Namen Das Andere Kino, aber auch Männer wie Volker Schlöndorff und Fassbinder, widmeten sich verstärkt politisch relevanten Stoffen, die natürlich im Zeitgeist der Studentenbewegung nicht ungeachtet blieben. Die Filme verlangtem dem Zuschauer in der Regel weitaus mehr ab, als er es bisher gewohnt war. „Diese Filme waren eine kinematographische Herausforderung an ihr Publikum. Sie verlangten mit einer neuen Erzählperspektive disparater Elemente – Montage, aufeinander folgende mosaikähnliche Szenen, mit Widersprüchen geladene Musik und Dialoge bzw. Monologe – die psychologische Mitwirkung der bisher passiven Zuschauer. Es waren Elemente, die Reflexion und Phantasie wie auch inneres Dialogisieren der Zuschauer mit Film und Filmemacher erforderten.“[23] Im Rahmen dieser individuellen und kunstvollen Gestaltung von Film, welche in dieser Zeit erstmals in Deutschland aufflammte, lässt sich vom Anbeginn des Autorenkinos sprechen.

2.2 Das Autorenkino

Der Lyriker und Feuilletonist Gerd Semmer sah die mindere Qualität der deutschen Filme in den 60er Jahren darin, dass sich die Filmschaffenden den gesellschaftlichen Konflikten, die zweifelsfrei bis in die junge deutsche Vergangenheit reichten, verschlossen haben. Produzenten, Stars und Geldgeber seien diejenigen gewesen, die den Filmapparat bestimmten, doch nur der Autor könne eine filmisch künstlerische aber auch gesellschaftliche Umgestaltung schaffen:

„Er [der Autor] möchte vielleicht Widersprüche zeigen, weil erst sie wirkliche Konflikte zeigen würden, er sucht die differenzierte, die poetische Lösung für ein Thema, kurz die Wahrheit und die Kunst.“[24]

Mit dem Grundstein, den die Oberhausener Gruppe bereits gelegt hatte, wehte ein neuer Wind in der deutschen Filmlandschaft und die Zeit für das Autorenkino brach Ende der 60er an. Dieser Einschnitt ist dadurch markiert, dass sich das Autorenkino oppositionell gegen die institutionalisierten Systeme der Filmbranche wandte und die künstlerische Praxis des Films und seiner Sprache tiefgreifend verändert wurde.[25] Neben der ursprünglichen Funktion des Regisseurs als Schauspielführer unterliegt der ‚Autor’ verschiedenartigen Herausforderungen. Auf filmästhetischer Seite gilt es die immanente Filmsprache sowie die Produktionsmittel streng unter Kontrolle zu haben. Rein praktisch muss dies nicht zwingend bedeuten, dass der ‚Autor’ die Kamera führt, allerdings komponiert er die Bilder in dem Maße, dass er die Einstellungen sowie Bewegungen explizit selbst kreiert und in erster Hand entwirft. Denn nur wenn die ästhetischen Produktionsmittel in der Kontrolle des ‚Autors’ sind, ist dessen Kreation gesichert. In typischen Autorenfilmen ist es daher nicht selten, dass zur reflexiven Bewusstmachung der Medien für den Zuschauer die Filmtechnik selbst in die Erzählung, und somit in die immanente Sprache des Films, einbezogen wird. Um darüber hinaus diese individuellen Besitzansprüche wiederum absichern zu können, ist es oftmals notwendig ebenso in der Verfügungsgewalt des Kapitals zu stehen, was wiederum die zweite praktische Aufgabe des ‚Autors’ darstellt. Er beherrscht also ebenso die finanzielle Verteilung der Produktion, um hiermit wiederum Produktionsmittel und hierdurch seine filmsprachliche Intention umzusetzen.[26] „Das Zusammengehen von künstlerischer Intention, ästhetischer Produktivität und funktionaler Produktionsform, zu einem neuen Produktionsmodell und zur impliziten Generierung eines ‚Autors’ im Film, setzt dabei ein historisch gewachsenes, kulturelles Energiefeld voraus, das durch die strukturellen Voraussetzungen der Filmproduktion und Filmarbeit, und durch das Bedingungsgefüge des Mediums gekennzeichnet ist.“[27] Betrachtet man also im Rahmen dessen Autorenfilmer wie Godard oder Fassbinder wird deutlich, dass diese oftmals als dominante ‚Autoren’ einer weitgehend festen Gruppe gearbeitet haben, die lange Zeit um sie herum gewachsen ist. Darüber hinaus hatten sie oftmals alle Produktionsetappen unter Kontrolle, vom Drehbuch bis hin zum Vertrieb. Folge hieraus war nicht selten, dass eigene Produktionsfirmen entstanden um einer eventuellen Abhängigkeit in besagten Bereichen entgegenzuwirken.[28]

Inhaltlich war der deutsche Autorenfilm in erster Linie von einer kritisch aufräumenden Haltung gegenüber der deutschen Nazigeschichte geprägt. Bewusst wurde eine Oppositionshaltung gegen den deutschen, zeitgenössischen Heimatfilm eingenommen. Neben dieser neuen Intension einen kritischen, engagierten Film zu produzieren, bestand eine maßgebliche Neuerung in der Hierarchie der Produktion. Der Regisseur war nicht mehr Angestellter innerhalb der Produktion, sondern Ideengeber und créateur der Filmkunst selbst. Trotzdem unterliegt die Idee des Autorenfilms damals wie heute diversen Dilemmata. Begründet liegt dies schlichtweg im Rahmen, in welchem diese progressive Idee eingebettet war – eine Kulturindustrie welche trotz des Willens nach einer Veränderung der Massengesellschaft immer noch abhängig ist von Verkaufszahlen – selbst wenn bzw. gerade wenn, eine eigene Produktionsfirma den Film umsetzt. Der ideelle Fortschritt, den das Autorenkino also zunächst mit sich brachte, blieb immer noch gebremst durch den „Zwiespalt von Pragmatik und Programmatik“[29] Deutlich wird hierbei, in welchem Maße ein künstlerisch-zeitkritischer Anspruch stets in Gefahr steht, sobald er dem Vertriebszwang unterlegen ist.

In wirkungsästhetischer Hinsicht wird deutlich, dass die Intention des Autorenfilms in jedem Fall die ist, durch Aufklärung und Kritik handlungsrelevante Ansätze in die Gesellschaft zu streuen und mit dem Film Veränderung zu schaffen. Dies wiederum charakterisiert eine weitere Zweischneidigkeit und somit ein Merkmal des Autorenfilms. In kritischer Haltung zur Film- und Kunstgeschichte verwerfen ‚Autoren’ die polarisierte Trennung zwischen Alltäglichem und Ästhetischem.[30] Grund hierfür und gleichzeitig Mittel und Kennzeichen des Autorenfilms ist die immerwährende Subjektivität des ‚Autors’, welche in der Sprache, die er dem Film leiht, ständig gegenwärtig ist. Dass diese Grenze zwischen hoher Kunst und Alltagsleben aufgehoben werden soll, beweisen nicht zuletzt die Filme Fassbinders, die sich inhaltlich in nahezu jedem Milieu ansiedeln und auch in unteren gesellschaftlichen Schichten versuchen die Probleme künstlerisch zu Tage zu fördern.

2.3 Rainer Werner Fassbinder

Als Fassbinder im Sommer 1969 mit seiner Truppe nach Berlin ging, war sein Theater, das antitheater, welches als Gegenbewegung zum Münchner Staatstheater gewachsen ist, trotz regionalem Erfolg, in der heutigen Hauptstadt kaum mehr als ein Gerücht. In Berlin produzierte die Fassbindertruppe zunächst mit kargem, geliehenem Budget das B-Picture[31] Liebe ist kälter als der Tod, welches zur Uraufführung der Berliner Filmfestspiele auf größte Ablehnung stieß. Gleiches galt für Fassbinder selbst, der sich strikt weigerte seinen Film zu erklären oder gar zu interpretieren.[32] Denn eben diese genaue, vorgesetzte Ausdeutung widersprach seinem Kunstanspruch. Ein Kunstwerk sollte sich im Rahmen der Rezeptionsästhetik im Seher entfalten und dort individuell wirken. Dies ähnelt dem Kunstverständnis Jean Cocteaus, der sich schon 20 Jahre zuvor mit dem Phänomen des literarischen Films in seiner Essaysammlung Kino und Poesie auseinander gesetzt hat:

„Die Sucht zu verstehen – während die Welt, in der die Menschen wohnen, und die Taten Gottes offensichtlich ohne Zusammenhang sind, widersprüchlich und unverständlich – die Sucht zu verstehen verschließt uns die ganz großen herrlichen Gefühle, die die Kunst in der Verlorenheit findet, in der der Mensch nicht mehr verstehen will, sondern fühlen.“[33]

Diese Gedanken, die zweifelsfrei auch die französische Nouvelle Vague beeinflussten, stimmen mit dem Fassbinderkino allerdings nur halb überein. Zwar können Fassbinders Filme „nach einem Wort Adornos ‚Chiffren’ gesellschaftlicher Tendenzen genannt werden“[34], die wiederum vom Zuschauer entziffert werden können, für die es aber bestimmt nicht die eine plakative Botschaft gibt, welche letztlich alleingültig greifbar bzw. zu verstehen ist. Doch den Zuschauer in eine Gefühlswelt fallen zu lassen, in welcher ihn das Kino illusioniert war ebenso wenig sein Anstreben. Fassbinder stellte sich somit direkt gegen zwei Konventionen: Zum einen gegen die Verstehenssucht des Zuschauer als auch gegen die althergebrachten Kinokonventionen der Illusion. In welchem Maße Fassbinders Filme also als durchdachte Kunstkompositionen wahrgenommen werden, bekundet eine Kritik Peter Handkes, der wiederum einer der ersten Künstler war, die Fassbinder öffentlich hoch lobten:

„Die langen Einstellungen können unterschieden werden in ‚Arien’ und ‚Rezitative’, in Einstellungen also, in denen optische und akustische Deklamationen vor sich gehen, und in Einstellungen, in denen die Handlung sich ereignet…“[35]

Fassbinders Kunst wird also reflexiv nicht als Illusionimus kategorisiert, sondern in einen Zusammenhang der theatralen Opernwelt gebracht. Zweifelsfrei liegen die filmästhetischen Gründe hierbei in den im Vorfeld erläuterten Eigenschaften eines Autorenfilms, welche innerhalb Fassbinders Filmen ein Höchstmaß an stilisierter Umsetzung finden. Theatralische Tableaus werden im häufig langsamen Rhythmus montiert und von einer starren Kamera so eingefangen, dass keine Kinoillusion aufkommt. Innerhalb dieses Rahmens aus Tristesse agieren wiederum die Schauspieler, welche die Rollen nicht ausfüllen sondern ihnen nur als Darsteller statisch ihren Körper und ihre Stimme verleihen.[36]

All diese Eigenheiten bildeten für Kritiker nicht selten die Argumentationsgrundlage für den Vorwurf des Dilettantismus, dem sich der Autodidakt Fassbinder häufig aussetzen musste. Doch eben dies waren seine Eigenheiten, mit denen er sich bewusst von besagtem Illusionskino abkehrte und dem in Oberhausen formulierten Anspruch, Papas Kino zu begraben, als erster tatsächlich gerecht wurde.[37] Hiermit einher ging das besessene Verlangen mit jedem Machwerk Neuland zu betreten um somit niemals selbst in serielle Strukturen zu verfallen. Deutlich wird dies, wenn man einen Blick auf Fassbinders Gesamtwerk wirft, welches, von wenigen Frühwerken abgesehen, effektiv in 13 Jahren ununterbrochener Arbeit entstanden ist.

[...]


[1] Pudowkin, Wsewolod I., „Über die Montage“, S. 91 (in: Albersmeier, Franz-Josef, „Theorie des Films“).

[2] Die Unterscheidung von Film und cinéma wird von Christian Metz getroffen, wobei er den Unterschied daraus ableitet, „daß der Film eine Nachricht ist, während das cinéma im eigentlichen Sinne ein Komplex von Codes ist.“ (Metz, Christian, „Sprache und Film“, S. 53.)

[3] Pudowkin, S. 91.

[4] Ejchenbaum, Boris M., „Probleme der Filmstilistik“, S. 114 (in: Albersmeier, „Theorie des Films“).

[5] Oftmals wird für filmische Adaptionen literarischer Werke vorschnell der Begriff Literaturverfilmung gebraucht. Per se ist dieser Begriff nicht falsch. Trotzdem möchte ich mich von seinem Gebrauch vor allem gegenüber ambitionierten filmischen Umsetzungen distanzieren. Die Gründe hierfür werden im Kapitel 3.1 ausführlich geschildert.

[6] Vgl. Gollub, Christian-Albrecht, „Deutschland verfilmt“, S. 21 (in: Bauschinger, Sigrid, „Film und Literatur“).

[7] Vgl. Monaco, James, „Film verstehen“, S. 37.

[8] Vgl. Gollub, S. 22.

[9] Vgl. Ebd. S. 26ff.

[10] Vgl. Roloff-Momin, Ulrich, „Rainer Werner Fassbinder – Werkschau“, S. 9 (Rainer Werner Fassbinder Foundation [Hrsg.]).

[11] Vgl. Moeller, Hans-Bernhard, „Fassbinder und Zwerenz’ im deutschen Aufstieg verlorene Ehe der Maria Braun“, S. 105 (in: Bauschinger, „Film und Literatur“).

[12] Semmer, Gerd, „Warum ist der deutsche Film so mies?“ S. 30 (in: Pick, Erika, „Schriftsteller und Film“).

[13] Deutsche Film AG (volkseigenes Filmstudio der DDR mit Sitz in Potsdam-Babelsberg).

[14] Vgl. Gollub, S. 31.

[15] Grafik: Anzahl produzierter Filme im Jahr 1946, nach Gollub, S. 31.

[16] Vgl. Gollub, S. 31.

[17] Vgl. Freybourg, Anne Marie, „Film und Autor“, S. 29.

[18] Vgl. Ebd. S. 31ff.

[19] Patalas, Enno, „Die Stunde Null des deutschen Films“ S. 256 (in: Hoffmann, Hilmar, „100 Jahre Film“).

[20] Siehe Abbildungsverzeichnis Kapitel 6.4.

[21] Vgl. Hoffmann, Hilmar, „100 Jahre Film“, S. 256.

[22] Ebd. S. 257.

[23] Gollub, S. 34.

[24] Semmer, Gerd, S. 30 (in: Pick, „Schriftsteller und Film“).

[25] Vgl. Freybourg, Anne Marie, „Film und Autor“, S. 8.

[26] Vgl. Ebd., S. 9.

[27] Ebd. (Freybourg bezieht sich hierbei auf Michel Foucault „Was ist ein Autor?“).

[28] Vgl. Ebd.

[29] Ebd., S. 17.

[30] Vgl. Ebd. S. 30.

[31] B-Picture: „Schnell und billig gedrehter Film, der für die zeitweise üblichen Double-Feature-Programme als Zweitfilm eingesetzt wird. Dennoch handelt es sich nicht notwendig um minderwertige Filme; eine ganze Reihe von Klassikern der Kinogeschichte waren ursprünglich B-Pictures“ (http://www.schmidtner-gmbh.de/glossar_fonds/b-picture-fonds-glossar.html, Stand: 19.03.2008, 13:43 Uhr).

[32] Vgl. Töteberg, Michael, „Der Betrieb braucht einen wie mich“, S. 235 (in: Jung, Uli, „Der Deutsche Film“).

[33] Cocteau, Jean, „Kino und Poesie“, S. 21.

[34] Hoffmann, S. 277.

[35] Handke, Peter, S. 235 (in: Jung, Uli, „Der Deutsche Film“).

[36] Vgl. Töteberg, S. 234 (in: Jung, Uli, „Der Deutsche Film“).

[37] Vgl. Ebd. S. 239.

Ende der Leseprobe aus 42 Seiten

Details

Titel
Literaturverfilmung und literarischer Film
Untertitel
Phänomene des Neuen Deutschen Kinos - Exemplifiziert an Fassbinders 'Fontane Effi Briest'
Hochschule
Universität Bayreuth
Veranstaltung
Medienkunst
Note
1,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
42
Katalognummer
V113211
ISBN (eBook)
9783640136148
ISBN (Buch)
9783640136360
Dateigröße
839 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Literaturverfilmung, Film, Medienkunst, literarischer Film, Fassbinder, deutscher Film, Effi, Briest, Fontane, Pudowkin, Faust, Goethe, Goebbels, DDR, BRD, Filmvergleich, Autorenkino, Defa, Borchert, Oberhausener Manifest, Sissi, Montage, Filmemacher, Semmer, Geldgeber, B-Picture, B-Movie, Rezeptionsästhetik, Nouvelle Vague, Adornos, Querelle, Metz, Hörspiel, Ingarden, Iser, Stöckl, Zeit, Tempo, Rhythmus, Leerstellen, Darsteller, Analyse, Filmanalyse, Filmepoche, Epoche, Innstetten, Crampa, Kamera, Schnitt, Spiegel, Adorno, Barthes, Monaco, Neues Deutsches Kino
Arbeit zitieren
Martin Thiele (Autor:in), 2008, Literaturverfilmung und literarischer Film, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/113211

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