Literarische Strömungen in der deutschen Prosa der Jahrtausendwende


Diplomarbeit, 2007

55 Seiten, Note: ausgezeichnet


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

1. EINFÜHRUNG
1.1. DIE FRAGE NACH DEM KANON IN DER GEGENWARTSLITERATUR

2. LITERARISCHE SITUATION DER NEUNZIGER JAHRE - VON DER LITERATURKRISE BIS ZUR NEUEN LUST AM ERZÄHLEN
2.1. DIE LITERATURSTREITE
2.1.1. Der Streit um Christa Wolf
2.1.2. Der Streit um Günter Grass
2.2. DER GENERATIONSWECHSEL
2.3. DIE ROLLE DER MEDIEN
2.4. DIE NEUE LUST AM ERZÄHLEN

3. DER NACHKLANG DES ZWEITEN WELTKRIEGS IN DER DEUTSCHEN NACHKRIEGS- UND GEGENWARTSLITERATUR
3.1. UWE TIMM UND HANS-ULRICH TREICHEL – AUF DER SUCHE NACH DEN VERLORENEN BRÜDERN
3.2. ZWEI QUEREINSTEIGER DER LITERATUR: BERNHARD SCHLINK UND W.G. SEBALD
3.3. ALTES THEMA, JUNGE AUTOREN: MARCEL BEYER, INKA PAREI UND THOMAS LEHR

4. DDR-LITERATUR NACH DER DDR?
4.1. DIE LITERATURWENDE
4.2. DER WENDEROMAN
4.2.1. Helden wie Brussig und Schulze
4.2.2. Wessis melden sich zu Wort – Sven Regener und Thomas Hettche

5. WEITERE STRÖMUNGEN UND THEMENBEREICHE IN DER DEUTSCHEN GEGENWARTSLITERATUR
5.1. POP-LITERATUR
5.2. MIGRANTENLITERATUR
5.3. BERLIN-ROMAN UND „FRÄULEINWUNDER“
5.4. DEUTSCHE AUTOREN VERMESSEN DIE WELT

6. ZUSAMMENFASSUNG

PRIMÄRLITERATUR

SEKUNDÄRLITERATUR

ANMERKUNGEN

1. EINFÜHRUNG

Nach der anfänglichen Krise in den frühen 90-er Jahren erlebte die deutsche Gegenwartsliteratur um die Jahrtausendwende einen regelrechten Boom. Im Schatten der großen politischen Veränderungen und (ebenfalls politisch bedingten) Literaturskandalen, deren Protagonisten meistens die Autoren der älteren Generation waren, blühte eine neue Generation auf, die besonders nach 1995 zur Geltung kam. Eine Reihe neuer, bisher meistens unbekannter Namen, kam zum Vorschein. Viele von diesen neuen Autoren hielten sich zwar nicht lange in der Literaturszene, die anderen haben sich wiederum im letzten Jahrzehnt bewährt und von ihnen wird auch in Zukunft Großes erwartet. Worüber schreiben diese Autoren, was beschäftigt sie, worin schöpfen sie ihre Inspiration? Die deutsche Literaturszene ist zwar ziemlich unübersichtlich und unklassifizierbar, aber diese Arbeit will trotzdem versuchen, auf wichtigste Strömungen und Autoren aufmerksam zu machen.

1.1. DIE FRAGE NACH DEM KANON IN DER GEGENWARTSLITERATUR

Im Rahmen eines germanistischen Studiengangs ist von den neuesten Strömungen kaum die Rede. Einerseits ist dies auch verständlich, denn die neuesten Werke haben die Prüfung der Zeit noch nicht bestanden, andererseits wäre es Schade, die deutsche Gegenwartsliteratur, die, wie gesagt, eben in den letzten Jahren einen Neuaufschwung erlebt, unbeachtet zu lassen.

Gegenwartsliteratur ist ein relativ unscharfer Begriff, der zunächst einmal die jeweils aktuelle Literaturproduktion meint, wie sie sich in der Literaturkritik des Feuilletons spiegelt. Das Gespräch über Literatur in Form von Buchrezensionen und Feuilletondebatte nehme in den neunziger Jahren im Vergleich zum vergangenen Jahrzehnt einen breiten Raum ein, bemerkt Thomas Krafti. Zugleich wird die gedruckte Rezension durch eine immer größere Vielfalt an Formen und Medien umstellt. Die Rolle der Medien überhaupt ist in den neunziger Jahren größer denn je. Nicht zuletzt die Medien haben dem Buch verholfen, an Popularität wiederzugewinnen. Das Lesen ist anscheinend wieder in. Dies ist natürlich erfreulich, die Qual der Wahl ist aber bei der Gegenwartsliteratur, mangels eines schon aufgestellten und bewährten Kanons, freilich sehr groß. Die deutsche Literaturlandschaft ist ziemlich üppig und jedes Jahr reich an Neuerscheinungen. Mit jährlich mehr als 80000 neuen und neu aufgelegten Büchern gehört Deutschland zu den führenden Buchnationen. Obwohl auf dem deutschen Buchmarkt die übersetzte Literatur traditionell den Vorrang hat, ist die deutschsprachige Literatur in der letzten Zeit auf dem Vormarsch. Es ist nicht leicht, sich darin zurechtzufinden und wirklich gute Bücher auszulesen, es sei denn, man gibt sich viel Mühe und Zeit, verschiedene Kritiken im Internet und in Fachzeitschriften zu lesen und gibt nicht einfach der Werbung und den Bestsellerlisten nach. Vielleicht klingt es paradox, dass es eben in unserem Zeitalter, das sich gerne Informationszeitalter nennt, schwer ist, an die gewünschten Informationen zu kommen. An Informationen mangelt es sicher nicht, ganz im Gegenteil; es ist aber schwer, aus dieser Überfülle die richtigen zu fischen.

Es ist immer eine ziemlich heikle Angelegenheit, einen Kanon in der Gegenwartsliteratur aufzurichten, ohne den nötigen Zeitabstand. Ein interessantes Beispiel ist eine kleine Literaturgeschichte aus den zwanziger Jahren, in der etwa Thomas Mann nur zwei Zeilen gewidmet werden. Wesentliche Dichter der Jahrhundertwende werden da einfach ausgelassen und heute völlig vergessene gelobt und empfohlen. Das Werk heißt Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde ii, geschrieben von einem Dichter namens Klabund, einfach aus der Sicht eines Lesers, ohne Verfolgung irgendwelcher philosophischen oder philologischen Absichten. „Ein Kanon ist nicht etwa ein Gesetzbuch, sondern eine Liste empfehlenswerter, wichtiger, exemplarischer (...) Werke“, so der Papst der deutschen Literaturkritik, Marcel Reich-Ranicki, in einem Spiegel-Gespräch, wo er 2001 einen Kanon lesenswerter deutschsprachiger Texte entwickelt hat.iii „Ohne Kanon gibt es nur Willkür, Beliebigkeit und Chaos und, natürlich, Ratlosigkeit“, antwortet er auf die Frage nach dem Sinn eines Kanons überhaupt. So wie Klabund vor fast hundert Jahren bemüht war, Zusammenhänge in der damaligen deutschen Gegenwartsliteratur zu entdecken und lesenswerte Werke zu empfehlen, so möchte auch diese Arbeit versuchen, den Strömungen, Themen und Schwerpunkten der deutschen Gegenwartsliteratur auf die Spur zu kommen und sie darzustellen, sie möchte im literarischen Dickicht einen Weg finden, der dem an die gegenwärtige deutsche Literatur interessierten Leser eventuell helfen könnte auf der Suche nach guten Büchern. Und, obwohl diese Arbeit nicht danach strebt, einen Kanon aufzustellen, kann Ranicki wieder zitiert werden: „Ein fragwürdiger Kanon ist immer noch besser als überhaupt kein Kanon“.

In dieser Arbeit wird eine Auswahl getroffen, und zwar hauptsächlich aus den zwischen 1995 und 2005 erschienenen deutschsprachigen Prosawerken. Als Epoche der Literaturgeschichte schließt sich die deutschsprachige Gegenwartsliteratur an die westdeutsche (bzw. österreichische und schweizerische) Nachkriegsliteratur einerseits, die Literatur der DDR andererseits an. Das Jahr 1995 ist nicht zufällig als Ausgangspunkt genommen worden. Dieses Jahr wird im Allgemeinen als das Jahr des Generationswechsels in der deutschen Literatur betrachtet, der Beginn der sogenannten „Nachnachkriegsliteratur“.iv

Einige Autoren und Werke werden ausführlicher dargestellt, andere wiederum nur erwähnt, denn es handelt sich hier natürlich um eine Auswahl, die als Resultat von Gesprächen mit Kennern der deutschen Literatur, meistens Literaturübersetzern, entstanden ist, von dem Versuch, die Bewegungen in der deutschen Literaturwelt zu belauschen. Es handelt sich eigentlich um einen Versuch, Ordnung zu schaffen, also nicht nur eine Auswahl zu treffen, sondern auch die ausgewählten Werke zu systematisieren. Es werden vor allem, aber nicht ausschließlich, junge und „jüngere“ Autoren berücksichtigt, aber auch einige ältere Autoren, die ihren literarischen Höhepunkt eben um die Jahrtausendwende erleben.

2. LITERARISCHE SITUATION DER NEUNZIGER JAHRE - VON DER LITERATURKRISE BIS ZUR NEUEN LUST AM ERZÄHLEN

Der Übergang der deutschen Literatur in die neunziger Jahre, gleich nach der Wiedervereinigung, war schwer, schmerzhaft und traumatisch. Er fing an mit der bekannten Debatte um Christa Wolf, die den sogenannten Literaturstreit auslöste, der zwar eher außerliterarisch bewirkt war, aber trotzdem die literarische Szene stark erschütterte. Die frühen 90-er Jahre waren zudem von einer Krise der Literatur geprägt; der deutschen Literatur wurden Langeweile und Talentschwäche vorgeworfen, und ihr Misserfolg im In- und Ausland wurde beklagt. Seit etwa Mitte des Jahrzehntes wird aber dieses Klagen immer weniger hörbar, um schließlich vom Jubel über die neue Erzähllust der jungen deutschen Autorinnen und Autoren abgelöst zu werden. Obwohl einige Repräsentanten der „alten“ Generation immer noch das Feld beherrschen, kann in den 90-er Jahren ein Generationswechsel festgestellt werden. Erst die Zeit wird aber zeigen, welche von diesen jüngeren Autoren auch in Zukunft Großes leisten werden.

2.1. DIE LITERATURSTREITE

Die Literaturszene in Deutschland wird in den 90-er Jahren durch mehrere Literaturskandale erschüttert. Die meisten Debatten entzündeten sich an maßgeblichen Autoren der älteren Generation und waren eigentlich eher außerliterarisch motiviert. Es ging dabei mehr um die Moral und political correctness der Schriftsteller bzw. um die Rolle der Intellektuellen in der Gesellschaft, und nicht um den literarischen Wert der eigentlichen Werke, die ja nur ein Auslöser des langwierigen Literaturstreits waren.

„Besonderes Aufsehen erregte der Appell Für unser Land (vom 26. November 1989), den viele ostdeutsche Autoren unterzeichnet hatten (unter anderen Volker Braun, Stefan Heym und Christa Wolf). Er votierte für eine solidarische Gesellschaft, eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik, unter Rückbesinnung auf antifaschistischen Ideale, von denen wir einst ausgegangen sind. Max Frisch, Günter Grass, Günter Wallraff und andere unterstützten vom Westen her ausdrücklich diesen Schriftsteller-Appell. Gerade gegen diejenigen ostdeutschen Autoren, die auch im Westen prominent waren, Christa Wolf vor allem, richtete sich in diesen Wochen immer mehr der Vorwurf, kompromittiert zu sein. Sie hätten durch ihre nur partiell kritische Position faktisch systemstabilisierend gewirkt und seien als von der SED Privilegierte nicht befugt, jetzt für die DDR-Bevölkerung zu reden, schon gar nicht als Opfer. Gerade diejenigen kritischen Autoren, die über Jahre hin die offiziell tabuisierten Probleme in einer zweiten Sprache aufgegriffen hatten, verloren jetzt ihre Funktion und einen Großteil des Publikums.“v

2.1.1. Der Streit um Christa Wolf

1990 erschien Christa Wolfs Erzählung Was bleibt, 1979 verfaßt und im November 1989 überarbeitet. In dieser autobiographischen Erzählung wird ein Tag im Leben einer Schriftstellerin beschrieben, die von der Stasi offen verfolgt und beobachtet wird. Es wird von den Folgen der Beobachtung und der dadurch ausgelösten Gefühle berichtet, von den Verunsicherungen und Veränderungen im alltäglichen Leben der Frau. Kontrovers war dabei nicht das Thema, sondern die späte Veröffentlichung ihrer Erzählung. Was für eine Widerstandskämpferin war Christa Wolf, die keinen Mut hatte, im Jahre 1979 Was bleibt im Westen zu veröffentlichen? War sie doch eine Staatsdichterin oder äußerte sie ihre Kritik im Rahmen des Möglichen? Viele Kritiker meinten, dass Wolf diese Erzählung veröffentlichte, um als Opfer des kommunistischen Staates zu erscheinen. Dies haben ihr viele übel genommen, zumal 1993 herauskam, dass sie selbst von 1959 bis 1962 als IM (Inoffizieller Mitarbeiter) beim Ministerium für Staatssicherheit der DDR geführt worden war. Das leitete zusammen mit der Kritik an ihrer Erzählung Was bleibt den sogenannten Literaturstreit ein. Der Streit fragte eigentlich nach den Werten der DDR-Literatur allgemein. „Dabei ging es von Beginn an um weit mehr als um Christa Wolf: um das Verhältnis der literarischen Intellektuellen zur Macht, (...) um den westdeutschen Umgang mit der DDR-Kultur, um die Beziehung zwischen Moral und Ästhetik und nicht zuletzt um die Frage: Was bleibt nach dem Ende der deutschen Teilung von der Literatur der DDR und der alten Bundesrepublik?“vi „Exekutiert am exemplarischen Fall, sollte die ganze DDR-Literatur zum Opfer dargebracht werden.“, meint Jürgen Harder.vii „Den Initiatoren des Literaturstreits in Deutschland ging es um nicht mehr und nicht weniger als die ideologische Weichenstellung für den künftigen politischen Umgang mit der authentischen DDR-Literatur: einzig zum Zwecke einer plötzlich opportun gewordenen Herabwürdigung ihrer ästhetisch akkumulierten Werte und Moral. Denn diese Literatur würde alsbald und nolens volens als ungeliebte Erbmasse in ein vereinigtes Deutschland eingehen.“viii In der damaligen Tendenz also, alles, was aus der DDR kam, schlechtweg als schlecht zu bezeichnen, gab es auch Versuche, die DDR-Literatur herabzusetzen und sie als eine „geistige Dienstleistung für einen Unrechtsstaat“ix darzustellen. Christa Wolf stand dabei nur stellvertretend für diese Literatur.

2.1.2. Der Streit um Günter Grass

Auch die westdeutsche Literatur blieb nicht verschont. Die engagierte Literatur der alten Bundesrepublik stand kurze Zeit später ebenfalls unter heftigen Attacken, „besonders die aus der Gruppe 47 heraus entstandene Literatur, die die alte Bundesrepublik stets kritisch begleitet hatte, ihr zugleich aber in aller Welt fabelhaften Ruhm und kulturellen Glanz bescherte.“x

„Pünktlich zur Eröffnung der 42. Frankfurter Buchmesse, in der Literatur-Sonderbeilage der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 2. Oktober 1990, vier Monate nach der Christa-Wolf-Abrechnung, kam Frank Schirrmachers Generalrevision der westdeutschen Nachkriegsliteratur unter dem Titel: Abschied von der Literatur der Bundesrepublik. Von Christa Wolf und den Staatsdichtern der DDR war jetzt nicht mehr in erster Linie die Rede, sondern von deren Verteidigern wie Günter Grass und Walter Jens, die als Linksintellektuelle wesentlich für die Nachkriegsliteratur stehen könnten. Deren seit den sechziger Jahren dominante, moralisierende Richtung sei längst überaltert und habe abzutreten. Einen Monat später schreibt Ulrich Greiner in Die Zeit, die deutsche Literatur habe sich seit der frühen Nachkriegszeit moralischen, humanitären, politischen Zielen verpflichtet, habe der Kunst nicht ihr Eigenes gelassen; der ganze Literaturbetrieb habe, in der Bundesrepublik wie in der DDR, unter dem Zeichen einer Gesinnungsästhetik gestanden. Es heißt, der politische Bewusstseinstand und die Absicht, Einfluss zu nehmen auf das gesellschaftliche Verhalten der Leser, sei stets wichtiger gewesen als die Orientierung an ästhetischen Fragestellungen des Schreibens.“xi „Über Nacht war vergessen, dass diese Literatur – gerade ob ihres engagierten Widerspruchsgeistes – der Bonner Republik in historisch kurzer Frist zu neuem geistigen Profil und intellektueller Würde verholfen hatte“, so Jürgen Harder.xii

Fünf Jahre später, 1995, erschien Grass’ Roman Das weite Feld, der eine weitere Debatte entfacht hat. Vieles, was Christa Wolf widerfuhr, wiederholte sich im deutschen Literaturstreit fünf Jahre später. Auch diesmal herrschte das Außerliterarische vor. Grass ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts der einzige deutsche Schriftsteller, der Weltgeltung genießt. Die Kritik in Deutschland hat aber seine jüngeren Werke vielfach negativ aufgenommen. Frisch in Erinnerung ist der Skandal, den er mit der Offenbarung seiner kurzen Mitgliedschaft in der Waffen-SS erregt hat, der in seinem letzten Buch, dem 2006 erschienenen Erinnerungsbuch Beim Häuten der Zwiebel ein paar Zeilen gewidmet werden. Vielen fiel dieses späte Eingeständnis schwer, besonders denjenigen, die ihn bisher als moralische Instanz betrachtet haben. Aber kehren wir in die 90-er Jahre zurück. Im Roman Das weite Feld, einem Panorama deutscher Geschichte der vergangenen 150 Jahren, hat sich der Autor kritisch zur deutschen Wiedervereinigung geäußert und wurde deswegen sozusagen ein Sympathisant der Stasi genannt. Dabei verschweigt Grass nicht, dass Bespitzelung und Repression in der DDR allgegenwärtig waren, wehrt aber den Versuch ab, 40 Jahre ostdeutschen Alltags als eine permanente Terrorsituation darzustellen, wie es westdeutsche Konservative tun. Der Schriftsteller äußert in diesem Werk seine Wut über den „brutalen Beutefeldzug des westdeutschen Kapitals in Vereinigung mit den alten Bonzen“.xiii Er bewahrt seinen kritischen Blick auf die deutsche Geschichte – auch im Angesicht des Wunders der deutschen Einheit. „Man wollte aber keine andere Interpretation der Wiedervereinigung zulassen als die Kohlsche.“xiv Kritiker hatten zwar auch an dem Werk selbst einiges auszusetzen, warfen dem Autor vor, dass er in seinem Drang, eigene politischen Ansichten an den Leser zu bringen, seine Kreativität erstickte, der Roman wurde aber vorrangig aus politischen Motiven zerfetzt. „Der Doppelschlag gegen die deutsche Literatur in Ost und West verriet alle Züge einer historisch-politischen Flurbereinigung“, so Jürgen Harder.xv

Was als Streit um Christa Wolf begonnen hatte, rundete sich also „zu einer Musterung der literarischen Entwicklung in beiden Teilen Deutschlands und, siehe da, die Gesinnungsästhetik war das herrschende Merkmal des deutschen Literaturbetriebs, in der DDR sowieso, aber auch in der Bundesrepublik.“ xvi Wenn man diesen Literaturskandalen auch noch denjenigen um Martin Walser gesellt, dem wegen seines 2002 erschienenen Romans Der Tod eines Kritikers sogar Antisemitismus unterstellt wurde, kann man zusammenfassend sagen, dass die deutsche Geschichte, sei es die Zeit des Nationalsozialismus, Zeit der DDR oder die jüngste Vergangenheit, nämlich die Zeit der Wende, immer noch ein großes Thema in der deutschen Literatur ist, das dazu noch außerliterarisch viele Gemüter bewegt.

2.2. DER GENERATIONSWECHSEL

In den stürmischen Wende -Debatten Deutschlands wurde wiederholt kritisch angemerkt, dass die Älteren erdrückend das Wort führten. Zur Zeit der Wende 1989/90 waren die meisten dieser prominenten Wortführer bereits sechzig Jahre alt oder älter. Eine neue Generation hat sich aber in den frühen neunziger Jahre noch nicht geformt. Erst das Jahr 1995 präsentierte gleich mehrere der Jüngeren in der vordersten Linie, am spektakulärsten wohl Thomas Brussig mit Helden wie wir. In den neunziger Jahren wurden nicht zuletzt viele Literaturhäuser gegründet, wo die junge Literaturszene zunehmend gefördert wurde. Ihre Entstehung reicht zwar in die achtziger Jahre zurück, aber jetzt gewannen sie an Bedeutung und Prestige.

In den neunziger Jahren sterben viele deutschsprachige Autoren aus einer ehemals mächtigen Literaturgeneration (Thomas Bernhard, Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt, Elias Canetti, Hans Werner Richter, Wolfgang Koeppen, Ernst Jünger u.a.). Diese Generation nimmt langsam Abschied. Die deutsche Nachkriegsliteratur ist definitiv beendet*, aber die Gegenwartsliteratur befindet sich in einer Krise. Immer spürbarer wird „das Unbehagen über den weitverbreiteten Eindruck, dass die westdeutsche Literatur der vergangenen beiden Jahrzehnte kaum noch international beachtete neue Würfe gebracht habe.“xvii „Die Deutschen mögen ihre Gegenwartsliteratur nicht, weil sie ihre Gegenwart nicht mögen“, seufzte der Münchner Autor Georg M. Oswald.xviii Die deutsche Literatur galt (und gilt bedauerlicherweise besonders im Ausland zum Teil immer noch) als sperrig, weltfremd, verkopft... Einmal, 1985, erregte zwar ein 36-jähriger Autor namens Patrick Süskind große Aufmerksamkeit, aber sein Roman Das Parfüm hatte eben das Unglück, weltweit großen Erfolg erlebt zu haben; in der Logik des Nachkriegsliteraturbetriebs hieß das: Er war trivial. Der längst fällige Generationswechsel blieb damals wieder einmal aus. Unterhaltsam wurde immer noch allzu gern mit oberflächig gleichgesetzt. „Lesefreundlichkeit, im angelsächsischen Schreiben weit verbreitet, galt in Deutschland geradezu als Schimpfwort. Die Angst, zu unterhaltsam zu schreiben und damit dem Anspruch von hoher Literatur nicht zu genügen, war unter deutschen Schriftstellern lange weitverbreitet“, so Claudius Nießen in seinem Bericht über die Wahrnehmung deutscher Literatur im Ausland.xix Seit Mitte der neunziger Jahren werden aber gewisse Veränderungen spürbar, und gerade die junge deutsche Literatur erlebt einen ungeahnten Aufschwung. Die Pop-Literatur, die als Opposition sowohl zur unmittelbaren Nachkriegsgeneration, als auch zur Protestgeneration der 68-er entsteht, hat das Eis gebrochen und für die wiedergewonnene Popularität der deutschen Literatur gesorgt. „Die deutschen Schriftsteller haben die Unterhaltsamkeit entdeckt“, vermeldeten die Kritiker. Man soll nicht denken, dass in den 90-er Jahren nur unterhaltsame Bücher geschrieben wurden, aber die einst starren Grenzen zwischen gehobener und Unterhaltungsliteratur schwanden merklich. Jetzt muss sich endlich niemand mehr für das Etikett unterhaltsam schämen.

„Wenn 1959 das Boom-Jahr der deutschen Nachkriegsliteratur war, in dem Grass’ Blechtrommel“, Johnsons Mutmaßungen über Jakob und Bölls Billard um halbzehn erschienen, dann war 1995 das Jahr des Generationswechsels“, so Wieland Freund im Vorwort zum Buch Der deutsche Roman der Gegenwart.xx „In diesem Jahr erscheint Thomas Brussigs Helden wie wir, Schelmenroman der untergegangenen DDR, Christian Krachts Faserland, Roman der Affirmation statt der Kritik, und Marcel Beyers Flughunde, Roman der unerlebten Vergangenheit.“xxi Auch Nießen verkündet das Ende der Nachkriegsliteratur: „Jetzt ist es aber vorbei mit den Zeiten der Gruppe 47, als man die Qualität eines Textes nicht so sehr nach ästhetischen Kriterien als vielmehr nach seiner moralischen und politischen Zuverlässigkeit beurteilte. Zwar galt Vielen diese Entwicklung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges als einzig mögliche für einen Neuanfang der deutschen Literatur, aber bei aller Politik und Moral blieben erzählerische und sprachliche Experimente auf der Strecke.“xxii

2.3. DIE ROLLE DER MEDIEN

1995 erscheint auch ein Taschenbuch mit dem programmatischen Titel: Deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Wider ihre Verächter. Darin hat Jochen Hörisch eine interessante These aufgestellt darüber, was sich tatsächlich verändert hatte zwischen 1959 und 1995: „Die literarischen Neuerscheinungen der letzten Jahre“, schrieb Hörische, „sind nicht grundsätzlich schlechter als die um 1960. Aber ihre mediale Konkurrenz ist besser geworden – und effektvoller sowieso. Die Gegenwartsliteratur hat ausschlaggebende Funktionen an Film und Fernsehen verloren.“xxiii Nicht die deutsche Gegenwartsliteratur also war in der Krise, sondern die Literatur hatte ihre Rolle als Leitmedium eingebüßt. Die neunziger Jahre stehen offenkundig im Zeichen der Medien und der Massenkultur. Die Massenmedien haben das Buch zwar der Rolle des Leidmediums beraubt, haben ihm aber im Nachhinein auch geholfen, an Popularität wiederzugewinnen. Bernhard Schlinks Roman Der Vorleser (1995) ist nicht zuletzt dank Oprah Winfrey auf Platz eins der amerikanischen Bestsellerlisten gelandet und nun darf sich auch Daniel Kehlmann über glänzend besuchte Lesungen und ordentliche Verkaufszahlen auch in den USA erfreuen. Wo bleibt in dem ganzen Medienrummel die Qualität der literarischen Werke? Soll man sich nach den Bestsellerlisten richten, falls man ein gutes Buch lesen möchte, oder, ganz im Gegenteil, solche Bücher verabscheuen, weil sie, von der Mehrheit geliebt, sicher trivial sind? Weder – noch. Es ist nicht alles Mittelmaß oder gar bedeutungs- und wertlos, was erfolgreich ist, und es ist nicht alles automatisch große Literatur, was nur wenigen gefällt. In der Zeit, wo die Medien eine so große Rolle spielen, wo möglicherweise jede Veranstaltung ein Event werden soll und jeder Autor ein Popstar, wurde freilich auch eine Menge Eintagsfliegen entworfen, besonders in der sogenannten Pop-Literatur, die in engster Verbindung mit den Medien steht, hochgejubelte Debütanten, die nach dem ersten Werk und kurzem Ruhm völlig verschwanden. Erfreulich ist es aber, dass auf diese Weise auch viele jüngere, zum Teil noch weitgehend unbekannte Autoren endlich die Gelegenheit bekamen, zur Geltung zu kommen.

„Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg ist die deutsche Literatur besser als die deutsche Fußball-Nationalmannschaft“, schreibt der Literaturwissenschaftler Moritz Baßler zu Beginn seines Buches über den deutschen Pop-Roman.xxiv Und wirklich, so sehr die Deutschen über ihre Pop-Literaten schimpfen, sind sie doch maßgeblich mit dafür verantwortlich, dass junge deutsche Literatur wieder gelesen wird. Eben nicht nur in Deutschland, sondern auch anderswo.

**Obwohl unter „Nachkriegsliteratur“ im engeren Sinne hauptsächlich die Epoche zwischen 1945 und 1967/68, also bis zum Auflösen der Gruppe 47 und dem Ankommen der Generation der 68-er, verstanden wird, wird dieser Begriff oft für die ganze literarische Epoche bis zur Wende benutzt, als offensichtlich ein Riss entsteht, nicht zuletzt durch die zwangsläufige Auflösung der DDR-Literatur, die unstrittig ein Sondermodell der deutschsprachigen Literatur war.


[...]

i Kraft, 2000, S. 13

ii Weidermann, 2006, S. 9

iii Reich-Ranicki, 2001

iv Freund, 2001, S. 12

v vgl. Barner, 2006, S. 931-933

vi Antz, 1996

vii Harder, 1997

viii Ebd.

ix Ebd.

x Ebd.

xi vgl. Barner, 2006, S. 938 u. 967

xii Harder, 1997

xiii Kirner, 2006

xiv Ebd.

xv Harder, 1997

xvi Meyer-Gosau, 2004, S. 11

xvii Barner, 2006, S. 939

xviii Magenau, 2006

xix Nießen, 2007

xx Freund, 2001, S. 12

xxi Ebd.

xxii Nießen, 2007

xxiii Freund, 2001, S. 12

xxiv Nießen, 2007

Ende der Leseprobe aus 55 Seiten

Details

Titel
Literarische Strömungen in der deutschen Prosa der Jahrtausendwende
Note
ausgezeichnet
Autor
Jahr
2007
Seiten
55
Katalognummer
V113149
ISBN (eBook)
9783640125791
ISBN (Buch)
9783640126538
Dateigröße
651 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Deutsche Literatur, Gegenwartsliteratur
Arbeit zitieren
Latica Bilopavlovic (Autor:in), 2007, Literarische Strömungen in der deutschen Prosa der Jahrtausendwende, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/113149

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