Indigene Bewegungen und Demokratie


Hausarbeit, 2006

15 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Der Zustand der Demokratien in Lateinamerika
2.1. Eine Definition von Demokratie
2.2. Die „Demokratien geringer Intensität“

3. Weitere Ursachen der Mobilisierung der Ureinwohner

4. Die Ziele der Indígenas

5. Die Destabilisierung lateinamerikanischer Demokratien als Folge der indigenen Mobilisierung

6. Die Durchsetzungskraft indigener Bewegungen
6.1. Parlamentarische Erfolge und Rückschläge
6.2. Außerparlamentarische Strategien

7. Schlussfolgerungen

Literatur

1. Einleitung

Am 6. August 2006 ist in Bolivien eine verfassungsgebende Versammlung zusammengetreten. Zum ersten Mal in der Geschichte Lateinamerikas entsteht das Grundgesetz eines Landes während der Präsidentschaft eines Indigenen. Nach der Verstaatlichung der Erdgasunternehmen und dem Beginn einer nach Angaben der Regierung fünf Jahre dauernden Landreform soll die verfassungsgebende Versammlung, in der Morales’ indigene Partei Movimiento al Socialismo (MAS) stärkste Kraft ist, nach der Vorstellung des Präsidenten nun die „Neugründung Boliviens“ angehen – auch und gerade unter besonderer Berücksichtigung der indigenen Interessen.[1]

Ein indigener Präsident, dessen indigene Partei ein lateinamerikanisches Land nach ihren Vorstellungen umgestalten will – diese Konstellation wäre vor 30 Jahren noch undenkbar gewesen. Seit dem Verschwinden der Militärdiktaturen in Lateinamerika entdeckt sich die indigene Bevölkerung als eigenständige ethnische Gruppe.[2] Es entstehen indigene Organisationen und bereits bestehende besetzen politische Themen, expandieren, werden zu Interessenvertretern der indigenen Gemeinschaften.[3] Mittlerweile spiegeln die Wahlergebnisse einiger lateinamerikanischer Länder die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung wider. Vertreter indigener Parteien sitzen nicht nur in regionalen, sondern auch in nationalen Parlamenten.[4]

Doch welche Folgen hat die Organisation der Indígenas für die Demokratien lateinamerikanischer Staaten?[5] Was verbinden eigentlich die Ureinwohner mit der Forderung nach Demokratie, das heißt, welche Ansprüche sind für sie Voraussetzungen und unbedingter Teil der Volksherrschaft? Wie sehr erschüttert die gewachsene Teilhabe und Teilnahme der Indigenen am politischen Prozess die Stabilität und die Verfasstheit der noch relativ jungen und ungefestigten Demokratien Südamerikas? Und wie erfolgreich können die Indígenas ihre Forderungen mit verschiedenen, mehr und weniger demokratischen Strategien auf der politischen Bühne durchsetzen? Um die politischen und institutionellen Realitäten zu verstehen, in denen die Ureinwohner agieren, beginne ich jedoch mit einer Darstellung des Zustandes der Demokratie in Lateinamerika und ergänze diese um die Erwähnung weiterer Umstände, die die Mobilisierung der Indígenas gefördert haben.

2. Der Zustand der Demokratien in Lateinamerika

2.1. Eine Definition von Demokratie

Wolfgang Merkel benennt sechs Kriterien, die nach seiner Auffassung Demokratie konstituieren und die vollständig erfüllt sein müssen, damit ein Staat als vollkommen demokratisch gelten kann. Werden diese Ansprüche nicht oder nur teilweise erfüllt, gilt eine Demokratie als defekt.

Zuerst nennt Merkel die Herrschaftslegitimation. Die Herrschaft müsse in einer Demokratie auf der Legitimation durch das Volk beruhen. Diese Legitimation erwachse zweitens aus universellen, also allgemeinen, gleichen, freien und geheimen Wahlen. Dieses Kriterium nennt Merkel Herrschaftszugang. Bindende politische Entscheidungen treffen, also die Herrschaft ausüben, dürfen drittens allein demokratisch gewählte Repräsentanten des Volkes (Herrschaftsmonopol). Viertens muss die politische und staatliche Macht laut Verfassung auf mehrere Herrschaftsträger verteilt sein, die sich wechselseitig begrenzen und kontrollieren (Herrschaftsstruktur). Schranken erhält staatliche Herrschaft ferner durch die konstitutionell verbrieften Grund- und Freiheitsrechte der Bürger. Dieses fünfte Kriterium heißt Herrschaftsumfang. Sechstens hat die Ausübung der Herrschaft rechtsstaatlichen Grundsätzen zu folgen, darf also weder repressiven noch willkürlichen oder gar terroristischen Charakter haben (Herrschaftsweise). Das Gewaltmonopol wird in nicht-defekten Demokratien durch verbindliche und legitim gesetzte Normen berechenbar und freiheitssichernd ausgeübt.[6]

2.2. Die „Demokratien geringer Intensität“

Die Demokratien Lateinamerikas sind zwar häufig vertikal legitimiert (Kriterien eins und zwei). Sie weisen allerdings Defizite bei der Herrschaftsstruktur, dem Herrschaftsumfang und der Herrschaftsweise auf. Merkel bezeichnet die defekten südamerikanischen Demokratien als „illiberal“.[7] Studien geben diesen vorgeblichen Volksherrschaften schlechte Noten in den Bereichen Korruptionskontrolle, politische und gesellschaftliche Integration sowie Rechtsstaatlichkeit. Die Exekutive wird dafür kritisiert, dass sie sich zu sehr in die Domänen der beiden anderen Gewalten, der Judikative und der Legislative, einmischt. Auch die Repräsentation der Bevölkerung durch Parteien wird bemängelt: Die Parteien erfüllten ihre Rolle als Intermediär zwischen Staat und Gesellschaft kaum, es fehle ihnen an Binnendemokratie und erkennbarer Programmatik, die sie durch Populismus und auf die Parteiführer bezogenen Personalismus ersetzten.[8]

Nach den Erfahrungen mit den Militärdiktaturen zeigten sich alle Schichten der lateinamerikanischen Gesellschaften bis hin zu den traditionell demokratiefeindlichen Wirtschaftseliten bereit für die Demokratie, allerdings für eine Variante derselben, bei der die Risiken für die privilegierten Minderheiten begrenzt werden sollten. Die Verschuldungskrisen der lateinamerikanischen Staaten und mit ihr externe Akteure wie die Weltbank und der Internationale Währungsfonds gaben mit dem Neoliberalismus, mit Privatisierungen und dem Rückbau staatlicher Sozialleistungen einen Entwicklungspfad ganz nach dem Geschmack der Wirtschaftseliten vor. Eine linke sozialistische Systemalternative schien somit ausgeschlossen.[9]

Ein weiteres Kennzeichen der südamerikanischen Demokratien ist ihre Substanzlosigkeit. Die Staaten sind zwar formal demokratisch und pluralistisch verfasst und gestehen formal allen Staatsbürgern die gleichen Rechte zu. Die arme Bevölkerung, zu der die indigenen campesinos zählen, bleibt jedoch weitgehend von der Teilhabe an einem minimalem Wohlstand und politischer Partizipation ausgeschlossen. Jonas Wolff spricht in diesem Zusammenhang von der „systematischen Entsubstanzialisierung der Demokratie“. Auf dem Papier (der Verfassung) scheinen die Staaten demokratisch, tatsächlich bleiben weite Teile der Bevölkerung von der so genannten Volksherrschaft ausgeschlossen.[10]

Deborah Yashar schreibt, an der Demokratie könnten sich Menschen nur beteiligen, wenn sie nicht nur über politische Rechte wie das Wahlrecht, sondern auch über zivile (zum Beispiel die Meinungsfreiheit) und soziale Rechte (einen minimalen Lebensstandard) verfügten.[11] Nach Elizabeth Jelin werden wirtschaftlich Ausgeschlossene weder individuell noch kollektiv Teil der öffentlichen und politischen Sphäre, ihnen fehlen die Ressourcen, um sich zu integrieren. Ihre Artikulation erfolge, wenn überhaupt, dann auf der Straße. Marginalisierte Menschen tendierten dazu, sich den demokratischen Spielregeln zu verweigern und sogar Auswege in der Gewalt suchen.[12] Den Indígenas Lateinamerikas werden vor allem ihre sozialen sowie ihre liberalen Freiheits- und Bürgerrechte, die ja eigentlich das Modell der liberalen (westlichen) Demokratie verspricht, verweigert.[13] Ihre Interessen nehmen die bisherigen, formal-demokratischen Institutionen und Parteien, gemessen am Bevölkerungsanteil der Indígenas, nur sehr unterproportional auf.[14]

[...]


[1] Dilger; Berger; Handelsblatt

[2] Die Indígenas begriffen sich während der Militärdiktaturen als campesinos, als Bauern. Erst mit der zunehmenden Mobilisierung der Ureinwohner in eigenen Organisationen betonten sie ihre indigene Identität zunehmend auch außerhalb ihrer comunidades. (Yashar, S. 81-86; Kurtenbach, S. 21, 24, 25) Siehe auch Abschnitt 3.

[3] Wolff, S. 23

[4] Postero/ Zamosc, S. 17; Wolff, S. 24-26; Yashar, S. 86

[5] Im Fokus dieser Arbeit stehen die Länder mit einem bedeutenden Anteil Indigener an der Gesamtbevölkerung, insbesondere Guatemala, Bolivien, Ekuador, Peru sowie Mexiko.

[6] Merkel, S. 365f

[7] Merkel, S. 374

[8] Wolff, S. 6-8

[9] Wolff, S. 21f

[10] ebd.

[11] Yashar, S. 79f, 88

[12] Jelin, S. 408

[13] Merkel, S. 374; Postero/ Zamosc, S. 18; Wolff, S. 22, 36

[14] Wolff, S. 22, 36

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Indigene Bewegungen und Demokratie
Hochschule
Universität Leipzig  (Institut für Politikwissenschaft)
Veranstaltung
Indigene Bewegungen und Nationalstaat in Südamerika
Note
1,3
Autor
Jahr
2006
Seiten
15
Katalognummer
V112571
ISBN (eBook)
9783640121083
ISBN (Buch)
9783640121519
Dateigröße
411 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Indigene, Bewegungen, Demokratie, Indigene, Bewegungen, Nationalstaat, Südamerika
Arbeit zitieren
Carsten Gäbel (Autor:in), 2006, Indigene Bewegungen und Demokratie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/112571

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