"Solvitur acris hiems" - ein Frühlingsgedicht des Horaz

Interpretation von Horaz, c.1,4


Hausarbeit (Hauptseminar), 2005

25 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

I. Einleitung

II. Übersetzung

III. Solvitur acris hiems – Interpretation von c.1,4
1. Inhalt und Aufbau der Ode
2. Erläuterungen
3. Sprache, Klang und Stil
4. Eigene Interpretationsansätze
5. Interpretationsansätze in der Forschung

IV. Carmen 1,4 und Carmen 4,7 im Vergleich

V. Schluss

VI. Literaturverzeichnis

I. Einleitung

Frühlingsgedichte kennt die Weltliteratur viele. Auch Horaz reiht sich mit seinen Frühlingsoden 1,4; 4,7 und 4,12 in die lange Tradition literarischer Frühlingsdarstellung ein, deren Ursprünge in der hellenistischen Zeit liegen.1 Jedoch nimmt er in diesem Zusammenhang eine Sonderstellung ein, da er „diesen Gedichten [...] zugleich eine Wendung gegeben [hat], die sie von fast allen Frühlingsgedichten, die die Weltliteratur kennt, unterscheidet: die Beziehung auf den Tod [...].“2

In dieser Arbeit soll das erste Frühlingsgedicht der Odensammlung, Carmen 1,4, analysiert und interpretiert werden, um die Besonderheit der horazischen Frühlingsgedichte näher zu beleuchten. Diese Ode ist mit dem ersten Odenzyklus des Horaz im Jahr 23 v. Chr. veröffentlicht worden. Als viertes Gedicht innerhalb des ersten Odenbuchs nimmt sie eine besondere Stellung ein. Darüber hinaus hat sie das Interesse der Forschung auf sich gezogen, weil sie mit ihren Bildern und Motiven nicht nur hellenistische Frühlingsdarstellungen aufnimmt, sondern die fünfte Ode Catulls deutlich anklingen lässt.3

Auf die griechischen Vorbilder und intertextuellen Bezugnahmen auf Catull jedoch wird im Folgenden nicht näher eingegangen werden. Vielmehr soll die Ode zunächst ausführlich in eigenständiger Analyse, sowie unter Miteinbezug der wichtigsten Deutungsansätze in der Forschungsliteratur, interpretiert werden. In einem weiteren Schritt soll dann ein Vergleich der Ode mit Carmen 4,7 erfolgen, das dem Spätwerk des Dichters angehört und im Rahmen des vierten Odenbuchs erst neun Jahre später erschien.4 Denn trotz der zeitlichen Differenz, was ihre Veröffentlichung betrifft, ist

über die beiden Oden folgende Aussage getroffen worden: „Such close parallelism exists between Horace, Carm. 1,4 [...] and the same author´s Carm. 4,7 [...] that no person who has read both can fail to be struck by it.“5

Was die Forschungslage zu diesen beiden Oden des Horaz betrifft, so finden sich neben Kommentaren6, zahlreiche Aufsätze, die entweder verschiedene Aspekte von Carmen 1,4 beleuchten oder beide Oden miteinander vergleichen. Gesonderte Betrachtungen zu Carmen 4,7 gibt es nur wenige.7 Die Frühlingsoden waren besonders in den späten 50er, den 60er und frühen 70er Jahren Gegenstand der Forschung; auch in den 80er Jahren finden sich einige Publikationen. In den 90er Jahren rücken die beiden Gedichte wieder näher in das Interesse der Forschung. Als jüngste Literatur liegt dieser Arbeit - neben einem Aufsatz von Corbeill8 und der Monographie Lefèvres9 aus den 90er Jahren - die 2001 erschienene Monographie Maurachs10 zugrunde.

II. Übersetzung c.1,4

Es geht dahin der harte Winter durch die willkommene Wiederkehr des Frühlings und des Westwindes,es ziehen Rollen11 die trockenen Schiffskiele, und nicht länger freut sich das Vieh über seinen Stall12 und der Pflüger über das Feuer, die Wiesen glänzen nicht mehr13 vom weißen Raureif.

Schon führt Venus von Cythera14 im Mondschein15 die Reigentänze an, und die anmutigen Grazien verbinden sich mit den Nymphen und wechselnden Fußes stampfen sie auf die Erde, während der glühende Vulcanus die dumpfen Werkstätten der Kyklopen in Bewegung setzt.16

Nun ziemt es sich, sich das glänzende Haupt entweder mit frischer Myrte zu umwinden oder mit einer Blume, welche die „vom Eis befreite“17 Erde hervorbringt; nun ziemt es sich auch, in den schattigen Hainen dem Faunus ein Opfer zu bringen, sei es dass er ein Lamm18 fordert, sei es dass er lieber einen Ziegenbock will.

Der bleiche Tod klopft gleichen Fußes an die Hütten der Armen und an die Paläste der Könige. O, glücklicher Sestius, die kurze Summe des Lebens19 gestattet es uns nicht langwährende Hoffnungen zu hegen, schon bald werden dich die Nacht und die sagenhaften20 Manen bedrängen und das karge Haus Plutos;21 sobald du dich dorthin begeben haben wirst, wirst du nicht mehr den Vorsitz beim Gelage22 durch Würfel erlosen und nicht mehr wirst du den zarten Lycidas bewundern, für den nun alle jungen Männer23 glühen und für den sich bald die Jungfrauen erwärmen werden. c. 4,7

Verschwunden ist der Schnee, den Feldern kehren schon die Gräser und den Bäumen das Laub wieder; die Erde verändert sich im Wechsel24 und die abschwellenden Flüsse fließen an den Ufern vorbei.

Die Grazie wagt es, zusammen mit den Nymphen und ihren Zwillingsschwestern nackt die Reigentänze anzuführen.

Unsterbliches erhoffe nicht, mahnen das Jahr und die Stunde, die den erquickenden Tag dahinrafft.

Die Kälte lässt unter den Westwinden nach, den Frühling tritt der Sommer nieder, der selbst25 zugrunde gehen wird, sobald der fruchtbringende Herbst seine Früchte ausgeschüttet haben wird; und bald kehrt der träge Winter zurück.

Die Monde jedoch ersetzen die Verluste am Himmel schnell: Sobald wir aber dorthin hineingeraten sind, wo sich der fromme26 Aeneas, wo der reiche Tullus und Ancus sich schon befinden,27 sind wir nur noch28 Staub und Schatten.

Wer weiß, ob die Götter der Oberwelt zur heutigen Summe die morgige Zeit noch hinzufügen?

Alles wird den gierigen Händen des Erben entgehen, was du deinem lieben29 Herzen gegönnt haben wirst.

Wenn du einmal gestorben sein wirst und Minos seine glänzenden Urteile über dich gefällt haben wird, wird dich, Torquatus, nicht deine Herkunft, nicht deine Redegewandtheit, nicht deine Frömmigkeit wieder zum Leben erwecken.30

Denn weder befreit Diana aus der unterirdischen Finsternis den keuschen Hippolytos, noch ist Theseus imstande, die Fesseln Lethes31 dem lieben Perithoos zu durchtrennen.

III. Solvitur acris hiems– Interpretation von c.1,4

1. Inhalt und Aufbau der Ode

Carmen 1,4 ist ein Frühlingsgedicht. Es thematisiert die Ankunft des Frühlings, das hierdurch erwachende Leben und die nach langer Winterruhe entstehende Betriebsamkeit in der Landwirtschaft und in der Seefahrt sowie bei den Göttern. Die heitere Frühlingsstimmung ist verknüpft mit dem Gedanken an die Endlichkeit des Lebens und den Tod. Aus dieser Kontrastierung entsteht eine indirekte Aufforderung, das volle und reiche, jedoch kurze Leben mit all seinen Facetten zu genießen.

Die Ode gliedert sich in fünf Strophen, die jeweils vier Verse enthalten. Es handelt sich formal um die dritte Strophenform des Archilochos. Die erste Strophe schildert die Ankunft des Frühlings in der Natur. Der Westwind (Favoni, V.1) wirkt befreiend (solvitur, V.1) und die Wiesen sind nicht mehr weiß vom Raureif (canis pruinis, V.4). Diese Naturschilderungen umrahmen die beiden mittleren Verse, die die Reaktion von Mensch und Tier auf den Wechsel der Jahreszeit thematisieren: Schiffe werden wieder ins Wasser gezogen (V.2) und an Land finden weder das Vieh noch der arator (V.3) länger Gefallen daran, sich im warmen Inneren, sei es im Stall (stabulis, V.3), sei es vor dem Feuer (igni, V.3) aufzuhalten.

In der zweiten Strophe wechselt die Szene. Der Dichter fokussiert nun die Götterwelt, repräsentiert durch Venus (V.5) und Vulcanus (V.8), und die dortige Reaktion auf den Frühling. Während Venus im Mondschein zusammen mit den Nymphen und Grazien Reigentänze aufführt, geht ihr Gatte in den Werkstätten der Kyklopen ans Werk.

In der folgenden Strophe verweist das lyrische Ich auf zwei Bräuche, die im Frühling üblich sind: Das Schmücken des Kopfes mit Myrte oder anderen Frühlingsblumen, sowie der Opferritus zu Ehren des Faunus. Dieser Verweis wirkt wie eine indirekte Aufforderung, den Frühling auf diese Weise zu feiern.

Die heitere Frühlingsthematik wird in der vierten Strophe durch einen ernsten Gedanken durchbrochen. Es wird des Todes gedacht, dem jeder ungeachtet seiner Stellung im Leben ausgesetzt ist und der schnell dem kurzen Leben des Menschen ein Ende setzen kann. Im Zusammenhang mit dem Verweis auf die Kürze des Lebens tritt ein Adressat, Sestius (V.14), auf. Das Gedicht richtet sich von nun an nicht mehr an einen allgemeinen Adressatenkreis, sondern das lyrische Ich spricht auch in den folgenden Versen diesen Sestius als ein konkretes Du an. Der Gedanke an den Tod reicht über die Strophengrenze hinaus bis in die letzte Strophe der Ode hinein.

[...]


1 Zu den hellenistischen Vorbildern des Horaz äußern sich Nisbet, R.G.M., Hubbard, M.A., A Commentary on Horace: Odes Book I, Oxford 1970, S.58ff., sowie Maurach, G., Horaz. Werk und Leben, Heidelberg 2001, S.145.

2 Thurow, R.: Frühlingsbilder. Botticelli und Horaz, A&A 33 (1987), S.158.

3 Vgl. Lefèvre, E., Horaz. Dichter im augusteischen Rom, München 1993, S.298.

4 Vgl. Kytzler, B., Horaz. Eine Einführung, Stuttgart 1996, S.76 und S.111.

5 Levin, D.N., Concerning two odes of Horace: 1.4 and 4.7, CJ 54 (1958/59), S.354.

6 Als wichtigste seien hier erwähnt: Kießling, A., Heinze, R., Horaz, Oden und Epoden, Berlin141984, Nisbet/ Hubbard, a.a.O., sowie West, D., Horace Odes I, Carpe Diem, Oxford 1995.

7 Als wichtigste seien hier erwähnt: Syndikus, H.P., Die Lyrik des Horaz. Eine Interpretation der Oden, 2 Bde., Darmstadt 32001, S.338-345 und Fredricksmeyer, E.A.: Horace, Odes 4,7: ‘The most beautiful poem in ancient literature?’, in: Anderson, W.S. (Hrsg.): Why Horace? A collection of interpretations, Wauconda, Illinois 1999, S.225-234.

8 Corbeill, A., Cyclical Metaphors and the Politics of Horace, Odes 1,4, CW 88 (1994/95), S.91-106.

9 Lefèvre, a.a.O.(vgl. Anm.3).

10 Maurach, a.a.O. (vgl. Anm.1).

11 Der Begriff machinae wurde hier mit „Rollen“ übersetzt, wenngleich sowohl Nisbet/Hubbard, a.a.O., S.63, als auch Kiessling/Heinze, a.a.O., S.27, darauf hinweisen, dass es für diesen Schiffstransport wahrscheinlich spezielle Maschinen gegeben hat. Da es hierfür jedoch keinen adäquaten deutschen Ausdruck gibt, habe ich mich für die o.g. Übersetzung entschieden.

12 Das Substantiv stabulis ist eigentlich Ablativ Plural, gemeint ist wohl der Stall eines jeweiligen Tieres.

13 Die Partikel iam kann hier noch einmal zur Verdeutlichung aufgenommen werden.

14 Bei Cytherea handelt es sich eig. um ein Adjektiv.

15 Der Ausdruck imminente luna hieße wörtlicher: unter dem darüber ragenden Mond, imminente Partizip Präsens Aktiv zu imminere.

16 Der Übersetzung liegt die Textausgabe von Shackleton Bailey zugrunde, die hier (V.8) die Konjektur versat setzt. Inhaltlich denkbar wäre auch visit. Die Varianten urit und urget sind unpassend.

17 Das Partizip solutae verstehe ich in Anlehnung an solvitur (V.1) so, dass die Erde im Frühling nicht mehr gefroren und deshalb hart, sondern weich und locker ist und so Leben hervorbringt.

18 Die Begriffe agna und haedo habe ich hier nach Nisbet/ Hubbard, a.a.O., S.67 als archaischen Ablativ zur Kenntnis genommen, jedoch als Akkusativ übersetzt. Unter Berücksichtigung des Ablativs wäre folgende Übersetzung denkbar: [...] sei es durch ein Lamm, wenn er es fordert, sei es durch einen Ziegenbock, wenn er ihn lieber will.

19 Denkbar wäre auch die Übersetzung: „Summe eines kurzen Lebens.“

20 Das Substantiv wurde fabulae auf den Vorschlag von Nisbet/ Hubbard, a.a.O., S.69, als Nom. Pl. und somit als Apposition im adjektivischen Sinne zu Manes aufgefasst.

21 Bei Plutonia handelt es sich eig. um ein Adjektiv.

22 Die Übersetzung von regna vini mit „Vorsitz beim Gelage“ schlagen sowohl Nisbet/ Hubbard, a.a.O S.71 als auch Kiessling/ Heinze,a.a.O., S.30, vor.

23 Es bietet sich an, den kollektiven Begriff omnis iuventus im Deutschen nicht kollektiv (etwa mit „Jugend“), sondern mit der oben gewählte Übersetzung wiederzugeben, um deutlich zu machen, dass es sich zunächst ausschließlich um Männer handelt, die für Lycidas schwärmen, bevor sich junge Frauen für ihn begeistern.

24 Der Ausdruck mutat terra vices wurde hier frei übersetzt, vices ist eig. Akkusativ-Objekt zu m utat

25 Das Wort „selbst“ wurde sinngemäß ergänzt.

26 Das Adjektiv pius scheint mir an dieser Stelle die richtige Lesart zu sein, da in V.15 mit dives ein weiteres adjektivisches Attribut auftritt. Die Begriffe pius und dives sind als menschliche Attribute oder Eigenschaften zu verstehen, die zwar zu Lebzeiten hoch geschätzt werden, in Hinblick auf den Tod jedoch wirkungslos und gleichgültig sind. Dieser Gedanke wird in der 6. Strophe dann noch expliziter.

27 Das Prädikat sunt wurde sinngemäß ergänzt.

28 Die Worte „nur noch“ können zur Verdeutlichung ergänzt werden.

29 Das Nomen amicus wurde hier adjektivisch aufgefasst, vgl. Kiessling/ Heinze, a.a.O., S.427.

30 Der Begriff restituere bedeutet etwas „in den alten Zustand zurückzuversetzen“, hier also das Zurückversetzen vom Zustand des Todes in den Zustand des Lebens

31 Lethaea ist eig. ein Adjektiv

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
"Solvitur acris hiems" - ein Frühlingsgedicht des Horaz
Untertitel
Interpretation von Horaz, c.1,4
Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Note
1,3
Autor
Jahr
2005
Seiten
25
Katalognummer
V112100
ISBN (eBook)
9783640107735
ISBN (Buch)
9783640580507
Dateigröße
469 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Solvitur, Frühlingsgedicht, Horaz
Arbeit zitieren
Katharina Tiemeyer (Autor:in), 2005, "Solvitur acris hiems" - ein Frühlingsgedicht des Horaz, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/112100

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