Nietzsches Philosophie als politische Utopie der Postmoderne


Magisterarbeit, 2005

141 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhalt

Vorwort

1. Prophetie, Politik und Utopie bei Nietzsche
1.1. Nietzsche als Wendepunkt im philosophischen Denken
1.1.1. Die unendliche Rezeptions- und Deutungsgeschichte
1.1.2. Nietzsches politische Philosophie: Kultur versus Politik
1.2. Text und Interpretation
1.3. Zur Hermeneutik des Utopie-Begriffs

2. Nietzsche als Künder des postnihilistischen Zeitalters
2.1. Die deutsche Wiedergeburt der hellenischen Welt
2.1.1. Der Philosoph als Erzieher und „Arzt der Kultur“
2.1.2. Kulturstaat nach antikem Vorbild
2.1.3. Artisten-Metaphysik und überpolitisches Ideal
2 .2. Die Utopie der europäischen Freigeister
2.2.1. Nietzsche als Vollender der Aufklärung
2.2.2. Nihilismusanalyse und Moralkritik
2.2.3. Antichristliche Umwertung aller Werte
2.2.4. Nutzen und Nachteil der Demokratie
2.3. Die Geburt des welthistorischen Individuums
2.3.1. Die Notwendigkeit einer „übersittlichen“ Moral
2.3.2. Wille und Weg zur „übermenschlichen“ Politik
2.3.3. Die Größe des Menschen als Utopie
2.3.4. Der Wille zur Macht als Erklärungsprinzip

3. Ergebnisse der Betrachtung

Ausblick

Bibliografie

Vorwort

„Ich kenne mein Los. Es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen, - an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissenscollision, an eine Entscheidung heraufbeschworen gegen Alles, was bis dahin geglaubt, gefordert, geheiligt worden war.

Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit.“[1]

Ecce homo, 1888

Mit dieser prophetischen Aussage aus seinem autobiografischen Werk „Ecce Homo “ sollte Friedrich Nietzsche Recht behalten.

Sein Verdikt vom Tod Gottes, dem die Frage nach der Gestaltung der Zukunft entspringt, bildet die Basis für die philosophische Suche nach einem neuen sinnstiftenden Weltbild und Weltverständnis. Wahrheit und Wert stellen folglich die zentralen Begriffe dar, um die Nietzsches Denkbewegungen oszillieren, denn im Zeitalter des Nihilismus ist die Wahrheit eine Lüge und die höchsten Werte sind obsolet.

Die schwere nihilistische Krise des europäischen Menschen bewegt auch heute das Gemüt, daher rekurrieren das gegenwärtige Denken sowie der philosophische Diskurs um Postmoderne und Posthistoire häufig auf Nietzsches Gedankengänge.

In meiner Magisterarbeit interpretiere ich Nietzsches Werk als Wegweiser in die mittlerweile legendenumwitterte Postmoderne und überprüfe dabei seine Philosophie auf ihren Gehalt als politische Utopie. Meine Untersuchung wird herausarbeiten, wie Nietzsche auf der gedanklichen Basis eines neuartigen Wahrheitsbegriffs mittels einer selbst konzipierten Methode und in einer innovativen Darstellungsform über die Situation des Menschen im Kosmos nachdenkt. Von der neu gefundenen Warte des „historischen Philosophierens“ aus beschreibt er die utopische Sonderstellung des Homo sapiens in der Welt und analysiert die Bewältigungsstrategien, die das „nicht festgestellte Thier[2] entwickelt, um im Strudel der Ereignisse Halt zu finden.

In dem menschlichen Schicksal, auf ewig am „Heimweh ohne Heim[3] zu kranken, sehen Philosophen, Geistes- und Sozialwissenschaftler im Anschluss an Nietzsche und die ihn rezensierenden Meisterdenker[4], den Grund gesellschaftlicher, kultureller Decadénce und der in den westlichen Demokratien grassierenden großen Müdigkeit. Schon im „Zarathustra“, dem trotz - oder gerade auf Grund - seiner poetisch-prophetischen Gestalt, politisch-philosophischer Gehalt zu entnehmen ist, lässt Nietzsche den „Verkündiger der großen Müdigkeit“ auftreten, welcher lehrte:

„Alles ist gleich, es lohnt sich Nichts, Welt ist ohne Sinn, Wissen würgt.“[5]

In Nietzsche spricht sich also die Gegenwart aus. Das Ende der Geschichte, inklusive der ihr zugrunde liegenden Ideengeschichte in Form der großen Erzählungen, der métarécits,[6] zu proklamieren, ist in akademischen Kreisen heute fast schon Usus und selbst die Kritische Theorie wurde bereits für tot erklärt. Das Faszinierende an der Wirkungsgeschichte Nietzsches liegt meiner Ansicht nach wesentlich in seiner späten Geburt und der bis dato andauernden Renaissance seiner Philosophie und Moralkritik begründet. Zuerst als Visionär an Anerkennung gewinnend, erfreut sich Nietzsche, vor allem seit eine philologisch-historisch fundierte Lektüre seiner Werke möglich ist[7], zunehmend akademischer Bedeutung.

Nietzsche lebt und schreibt in dem Bewusstsein, der „frohe Botschafter[8] des kommenden Aeon zu sein, und sieht seinen zahlreichen eigenen Bekundungen zufolge im prophetischen Milieu seine Existenz- und Aktionsmitte. Seinsgewissheit und Sendungsbewusstsein bezieht er, wie es der prophetischen Aufgabe entspricht, aus dem Chaos, der Krise, dem Verfall – kurzum, der Heillosigkeit der Welt im Ganzen. Das schwere Schicksal des Sehers und Künders ist es, als Unzeitgemäßer der eigenen Zeit enthoben und doch durch „Mitansehen“ und „Mitleiden“ in die chaotisch-pathologischen Zustände verstrickt zu sein.[9]

Erst indem man an ihr leidet, kann der Sinn einer Krankheit erkannt und sie als eine weissagende Lehrerin des Lebens, welches Nietzsche zufolge Mittel der Erkenntnis ist, betrachtet werden. Die vorerst im Nihilismus kulminierende Zerstörungs- und Ablösungsdynamik erlebt der Prophet in Nietzsches Inkarnation als Herausforderung seiner Sinn und Ordnung stiftenden Bestimmung.

Nietzsche durchleidet bereits das Schicksal aufgeklärter Ratlosigkeit und prognostiziert auf Basis der von ihm erforschten Ursachen und genetischen Faktoren des nihilistischen Zeitgeistes das Dilemma der heutigen europäischen Politik. Die Selbstverortung Nietzsches, zumal in seiner späten Schaffensperiode, weist eindringlich auf die menschheitsgeschichtliche Aufgabe zukunftorientierten Denkens hin, die seiner Philosophie eine transzendentale Dimension verleiht.

„Der Nihilismus steht vor der Thür:

woher kommt uns dieser unheimlichste aller Gäste?“[10]

„Hier eben liegt das Verhängnis Europas - mit der Furcht vor dem Menschen haben wir auch die Liebe zu ihm, die Ehrfurcht vor ihm, die Hoffnung auf ihn, ja den Willen zu ihm eingebüßt. Der Anblick des Menschen macht nunmehr müde - was ist heute Nihilismus, wenn er nicht das ist?

... Wir sind des Menschen müde …“[11]

Das durch die Desillusionierung und die traumatische Erfahrung des Werte- und Ich-Zerfalls entstandene „Verlangen ins Nichts[12] zu durchleiden und zu überwinden ist die herkulessche Aufgabe, die der Menschheit bevorsteht.

Nachdem sich die wahre wie die scheinbare Welt aufgelöst haben, muss das Individuum, auf sich selbst zurückgeworfen, eine Antwort auf die Frage finden, was bleibt, wenn die dualistische Weltkonzeption – aus Wahrheitsliebe - abgeschafft wurde. Außerhalb seines Selbst hat der Mensch kein festes Fundament oder irgendeinen fixen Punkt, auf die er sich verlassen könnte. In dieses Schicksalsmilieu geboren, erkennt Nietzsche seine Mission in der Verbreitung der Lehre von der Selbstwerdung und Selbstgesetzgebung des Menschen. Seine Forderung lautet, sich ausschließlich auf sich selbst zu beziehen, wenn keine Verbindlichkeit konstruiert werden kann.

„Wir aber wollen die werden, die wir sind - die Neuen, die Einmaligen, die Unvergleichbaren, die Sich-Selbst-Gesetzgebenden, die Sich-Selber-Schaffenden.“[13]

Das Selbst erlangt somit zentrale Bedeutung in seinem Denken. Im Propheten des Wandels treten Krise und Kritik in dynamische Interaktion. Die Bezweifelbarkeit aller Voraussetzungen spitzt sich zu einer Radikalisierung des Cartesischen Zweifels zu. Das erkenntnistheoretische Bemühen, die Wahrheit der Metaphysik und der durch sie begründeten Moral zu überwinden, macht Nietzsche notwendigerweise zum Kritiker aller Voraussetzungen und Inhalte der Philosophie und Politik. Die Konzeption der Welt soll sich im Rahmen des vom Menschen Denkbaren errichten und muss daher jedem Glauben abschwören, der Welt-Flucht und Diesseits-Sehnsucht in seiner Heilslehre instrumentalisiert.

Nietzsche sieht sich als Sendboten der vollendeten Aufklärung und entwirft in dieser Intention eine kritische Theorie der Befreiung und eine entsprechende Umwertungsprogrammatik, die auf Grund ihrer zeitlos politischen Aussagekraft schon lange auch die politikwissenschaftliche Forschung und Theoriebildung in ihren Bann schlägt. Die Wahrheit ist, wie jeder Mensch und alles Gebilde von seiner Hand und seinem Verstand, janusköpfig. Diese Einsicht bildet die Grundlage für Nietzsches ursprungslose und abschlusslose Philosophie, die somit auf das Fundament von Perspektive und subjektiver Erfahrung gestellt wird. Den metaphysisch oder logisch begründeten Werturteilen muss endgültig der Glaube gekündigt werden, da all unsere Fiktionen bloß willkürliche Strukturierungen des Chaos sind, „und die Frage lautet nicht, ob sie wahr sind, sondern ob und warum wir ihnen glauben sollten.“[14]

Nietzsches Moral- beziehungsweise Kulturkritik erfüllt eine analytische und historische Aufgabe hinsichtlich der Überwindung metaphysischer Grundannahmen. Neben der Analyse, die eine Vielheit an „Moralen“ als Systeme von Wertschätzungen zeigt und ihre Entstehungsgeschichte als die Geschichte des „notwendigen Irrthums“ enthüllt, fällt der Kritik der Moral eine synthetische Funktion zu:

„Die Menschen können sich entschließen, sich zu einer neuen Cultur fortzuentwickeln.“[15]

Der Prophet verheißt uns also Hoffnung auf Fortschritt, „er ist möglich[16]. Da das menschliche Dasein jedoch tief in Irrtum und Lüge eingelassen ist, muss der Nihilismus als ein sich automatisch einstellender psychologischer Zustand erfahren werden. Es handelt sich nach Nietzsche dabei um eine pathologische Transformationsphase, welche durch den Schock ausgelöst wird, den der Mensch erfährt, wenn er die Welt als an sich wertlos erkennen muss. Gerne würde er sich dieser Erkenntnis gegenüber blind, taub und stumm zeigen, und sich in der symbolisch-sprichwörtlichen Haltung der drei Affen der Einsicht versperren, dass alles im Fluss ist. Wie soll er sich selbst einen Sinn stiften, wenn es für ihn keine Gewissheit gibt, außer dass er aus dem Nichts kommt und ins Nichts geht?

Der gefährliche und unheimliche Punkt ist erreicht, wo das größere, vielfachere, umfänglichere Leben über die alte Moral hinweg lebt; das ‚Individuum’ steht da, genöthigt zu einer eigenen Gesetzgebung, zu eigenen Künsten und Listen der Selbst-Erhaltung, Selbst-Erhöhung, Selbst-Erlösung. Lauter neue Wozu’s, lauter neue Womit’s, keine gemeinsamen Formeln mehr, Mißverständnis und Mißachtung mit einander im Bunde, der Verfall, Verderb und die höchsten Begierden schauerlich verknotet, (…)“[17]

Der prophetische Philosoph Nietzsche hört den zeitlosen Notschrei seiner Epoche, der bis heute nicht verhallt ist. Der Mensch braucht höhere Werte um sich höher zu entwickeln. In diesen Zeiten des Umbruchs fühlt sich der sendungsbewusste Visionär, wie Nietzsche in der Parabel des Zarathustra erzählt, berufen, aus der Einsiedelei hinabsteigen und seine Lehre zu verkünden. Der Untergang des Propheten, dessen erklärtes Ziel es ist, einen Wendepunkt des Menschheitsgeschicks zu markieren, symbolisiert die „Selbstüberwindung der Moral “.

„(…) jenes große Schauspiel in hundert Akten, das den nächsten zwei Jahrhunderten Europas aufgespart bleibt, das furchtbarste, fragwürdigste und vielleicht auch hoffnungsreichste aller Schauspiele (...)“[18]

Die tiefe Einsicht in das Werden und Vergehen, in den ewigen Kreislauf des Stirb und Werde, muss die teleologische und daher theologische Weltsicht ablösen. Nietzsches Konzeption soll dem dynamischen, progressiven, sich stets wandelnden Charakter der Welt Rechnung tragen und basiert auf einer neuartigen, komplexen Metaphysik in der die ontologische Kategorie der Macht die ontologische Kategorie der Entität ersetzt.[19]

Für die meisten ist die „Schutzhaft“, welche durch Glaubenssysteme geboten wird, attraktiver als die kalte Einsamkeit freigeistiger Höhen. Wie Platon hatte Nietzsche seine Probleme mit der Demokratie und fürchtete die Masse, an die er niemals appelliert. Er ist ein ausgesprochener Feind jeglicher Egalitätslehre und Gegner metaphysischer Tröstungssysteme, da sie das Bewusstsein der unerträglichen Nichtigkeit und Eitelkeit des Seins vernichten. Die durch die Rationalität gestifteten Glaubenssysteme, deren Irrtümer in Moral und Sprache fixiert werden, hindern den Menschen daran, aktiv zu werden und nach der Verantwortung zu greifen. Die „Erdregierung “ hat der Mensch, die Krone der Schöpfung, selbst „in die Hand zu nehmen[20] um dem Diesseitigen den Wert der Ewigkeit zu verleihen.

Nietzsches Prophezeiungen zufolge befinden wir uns gerade an der Schwelle des größten Ereignisses der Menschheitsgeschichte, dem Punkt, an dem sich das Christentum und mit ihm die zur steten Decadénce tendierende Mediokrität einer ermüdeten, erschlafften Herdenmentalität aus sich selbst heraus überwinden. Ebenso soll es eines Tages den demokratischen Institutionen ergehen: sie werden mitsamt ihrer überkommenen Moral in Form des sozialen Denk- und Wertesystems durch etwas Besseres abgelöst.

Die Züchtung des Übermenschen war für vermeintliche Freidenker und Individualisten der Jahrhundertwende europaweit eine Utopie. Heute wissen wir, wie sehr man Nietzsche missverstehen wollte, und dass Utopien, wie alles Menschliche, ambivalent sind. Meiner Ansicht nach spielt Nietzsche bewusst mit der Vieldeutigkeit des Utopie-Begriffs, bei dem es sich um ein übergreifendes religiöses, sozio-politisches und anthropologisches Phänomen handelt. Das Zwanzigste Jahrhundert, in dem sich die großen Utopien und Ideologien der fortschrittlichen modernen Menschheit in Dystopien verwandelten, lehrte uns die verheerende Wirkung falscher Propheten. Auch Nietzsche sollte zunächst, wie von ihm gefürchtet, prophezeit und provoziert, als ein solcher in die Annalen der Geschichte einzugehen. Deutschlands Geschichte als verspätete Nation und andere schicksalhafte Konstellationen forcierten eine Totalauslegung der Welt, in der Nietzsches Idee von einer neuen vornehmen Gattung, umgesetzt in politische Theorie und Praxis, von der positiven in die negative Utopie umschlagen muss. Aber nicht nur in Deutschland wurde die geistlose Perversion von Nietzsches Übermensch als Zukunftsvision der Politik interpretiert, inszeniert und instrumentalisiert. Auch in Italien war die Schaffung des Superuomo Ideal, Telos und metaphysisches Fundament einer politischen Philosophie, deren Aufgabe es war, die faschistische Diktatur zu legitimieren.[21] Karl Jaspers dagegen demonstrierte, dass selbst im damaligen geistigen Klima eine differenzierte Auslegung der Lehren Nietzsches möglich war. Biografie und Werk Nietzsches offenbaren uns das Leben als Utopie, die angesichts der allzu menschlichen Grenzen von Vernunft, Wissenschaft und Fortschritt auch scheitern kann.

Nietzsche selbst analysiert, in seiner Erscheinung als immoralischer Moralist Gefahren und Chancen des utopischen Denkens aus verschiedenen Perspektiven. Seine Metaphysik- und Ideologiekritik, vor allem aber seine „unzeitgemäße“ Ablehnung moderner Machtpolitik beweisen, dass Nietzsches Rebellion die europäische Kultur als solche verändern, keinesfalls aber Zentrum einer politischen Bewegung und ihrer utopischen Heilsbotschaft sein wollte. Seine Utopie zielt auf die Überwindung des Nihilismus ab, den Nietzsche als schwere Krankheit der individuellen und kollektiven Psyche auffasst. Es geht also um die heilende Transformation von Mentalität und Bewusstsein, wobei die Politik primär als Schauplatz des Psychologischen anzusehen ist.

Meine Untersuchung zeigt, dass Prophetie und Utopie mit Nietzsches politisch- philosophischem Anspruch untrennbar verknüpft sind, denn der Kritizismus des erklärten „Antimetaphysikers“ steht immer noch im Dienst der Wahrheit und beruht insofern seinerseits auf Metaphysik. Nietzsche ist bewusst, dass auch die moderne Philosophie und Wissenschaft ihr „Feuer noch von dem Brande nehmen, den ein Jahrtausende alter Glaube entzündet hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Plato's war, daß Gott die Wahrheit ist, daß die Wahrheit göttlich ist[22]

Nietzsche konfrontiert uns mit der schmerzhaften Erkenntnis, dass wir den Nihilismus – wie alle leidvollen Erfahrungen und Krisen – erst durchleben müssen, um für einen Bewusstseinswandel bereit zu sein. Nietzsche beschreibt den irreversiblen Prozess kritischer Aufklärung, der jegliche Form normativer Letztbegründung ausschließt:

Aber wie, wenn dies gerade immer mehr unglaubwürdig wird, wenn Nichts sich mehr als göttlich erweist, es sei denn der Irrthum, die Blindheit, die Lüge, - wenn Gott selbst sich als unsre längste Lüge erweist? -[23]

In Kapitel I erläutere ich die Grundlagen sowie den theoretischen Hintergrund meiner Untersuchung, gebe einen Einblick in Rezensionsgeschichte und aktuellen Forschungsstand und definiere zentrale Begriffe der Argumentation. Zunächst stellt sich die Frage nach Nietzsches Authentizität als Philosoph und seiner Bedeutung für das postmoderne politische Denken. Im Zentrum des Interesses stehen dabei die Selbstverortung Nietzsches und die Selbstverständnismöglichkeiten postmoderner Philosophie im Kontext des aktuellen Diskurses.

Die grundsätzliche Problematik in der Auseinandersetzung mit Nietzsche besteht in der Verschmelzung der prophetischen Botschaft mit der wissenschaftlich-philosophischen Projektierung. Bisweilen verfällt er zulasten der Wissenschaftlichkeit seiner Betrachtung der „Magie der Extreme“, wodurch es den Philosophen nicht leicht fiel, ihn als einen der Ihren zu akzeptieren. Auf Grund der Interdependenz von Wahrheitsauffassung, sozio-politischem Moralkodex und Darstellungsform muss Nietzsche die Ketten philosophischer Sach- und Systemzwänge abwerfen, um dem Denken der Freigeister neue Spiel- und Gestaltungsräume zu eröffnen. Angewiesen auf das ach so begrenzte sprachliche Medium verfasst Nietzsche seine Philosophie als künstlerische Literatur, in der Denken und Dichtung ineinander verschmelzen.

Unter den Voraussetzungen einer wissenschaftlich fundierten und fruchtbaren Nietzsche-Lektüre ist auf die herausragende Bedeutung von Form, Stil und Methode für das Verständnis seiner Philosophie einzugehen. Über die Sprache will Nietzsche Wissen und Erkenntnis revolutionieren, um die Sprachkrise zu überwinden. Mit seiner für das Unterfangen programmatischen, schillernden Vieldeutigkeit und immanenten Widersprüchlichkeit inspiriert Nietzsche nicht nur Kunst und Literatur, sondern gilt auch als Initiator einer sozusagen hermeneutischen Wende in den Geisteswissenschaften. Nietzsches Denken bleibt uns also verschlossen, wie ein expressionistisches, hermetisches Gedicht, ignoriert man die Bedeutung der methodischen Herangehensweise im Kontext von Erkenntnisinteresse und Untersuchungsgegenstand. Perspektivismus und Experimentalphilosophie sind von den elementaren Säulen seines Denkens nicht zu trennen.

Ob als Prophet, Kritiker oder Therapeut: Nietzsche will den Philosophen der Zukunft den Weg bereiten. Seine utopische Mission liegt in der Vollendung der europäischen Aufklärung. Es muss eine Antwort auf die große emanzipatorische Frage gefunden werden, wie es trotz der hybriden Unzulänglichkeit des Subjekts zu einer Selbstvergöttlichung des Menschen kommen kann. Ist der Wunschtraum von Selbstregierung und Selbstgesetzgebung überhaupt realisierbar, und welche Rolle käme dann der Philosophie in diesem entscheidenden weltgeschichtlichen Stadium zu?

In Kapitel zwei zeichne ich die chronologische Entwicklung der Nietzscheschen Utopie nach und analysiere ihre Wandelbarkeit, die sich in den drei zu differenzierenden Schaffensperioden manifestiert, hinsichtlich der Dialektik von Aufbruch und Untergang.

Nietzsche erhofft sich zunächst eine Erneuerung der tragischen Kultur und intendiert in Form einer rückwärtsgewandten Utopie, die gesellschaftlichen und kulturellen Missstände seiner Zeit bloßzustellen. Der Zukunftstraum einer deutschen Wiedergeburt der hellenischen Welt scheint von Platon, dem Urvater der Staatsutopie, und seiner Politeia inspiriert. Die von ihm als Bedingung einer wirklichen europäischen Renaissance intendierte Kulturrevolution zielt auf einen aristokratischen anstelle eines liberalen Individualismus ab. Der elitären Haltung als wesentlicher Grundkonstante seiner philosophischen Entwürfe zu einer besseren Gesellschaftsordnung sollte Nietzsche Zeit seines Lebens treu bleiben. An seinen zeitgenössischen Idolen muss er allerdings erfahren, dass die Bereitschaft zu einer kulturellen Revolution noch nicht existiert, was ihn an die kommenden Generationen eines geeinten Europa appellieren lässt. Der Erzieher Nietzsche ermahnt die Deutschen, sich ihrer kulturellen Wurzeln zu besinnen, die in der griechischen Geburtsstätte der europäischen Kultur liegen. Eine Renaissance des antiken Kulturideals soll den faustschen Funken wieder zum Glühen bringen.

Die Enttäuschung über die mangelnde Aufgeklärtheit des europäischen, allen voran deutschen, Menschen, der den erhofften Pessimismus der Stärke und die schicksals- und lebensbejahende Einstellung des amor fati vermissen lässt, prägt Nietzsches Entwicklungsweg. Sie veranlasst ihn früh zu seiner Selbstverortung als unzeitgemäßer Betrachter einer aus den Fugen geratenen Welt und begründet seinen radikalen Skeptizismus gegenüber allen herrschenden Autoritäten, Werten und Systemen.

Mit der Utopie vom guten europäischen Freigeist unternimmt Nietzsche den zweiten Anlauf zu seinem emanzipatorischen Projekt. Er wird zum rationalistischen Prediger eines befreienden Fortschritts, der an das Transformations- und Entwicklungspotential des Individuums appelliert, um einen Bewusstseinswandel herbeizuführen. Der Mensch muss sich so sehen, wie er ist, damit er aus sich selbst heraus hohe Werte generieren kann. Gerade das Unmögliche, das als Utopie erfundene, muss in der Umbruchs- und Wandlungsphase eines aktiven Nihilismus, der sich wie alle Phänomene selbst überwindet, das Zentrum der zu bewältigenden Lebensaufgabe jedes einzelnen darstellen. Nietzsche gilt als Vordenker der Psychoanalyse und der Tiefenpsychologie, die er durch seine Analysetechnik nachhaltig inspiriert. Als Arzt der Kultur hat sich Nietzsche der Überwindung des von ihm diagnostizierten Nihilismus[24] verschrieben, die nur auf Basis einer tief greifenden Analyse der Voraussetzungen und Bedingungen des Phänomens stattfinden kann. Begabt mit einer geschärften Intuition und Intelligenz entlarvt der Psychologe Nietzsche in meisterhafter Manier folgenschwere Irrtümer, Irrwege und Illusionen. In seiner kritischen Theorie begründet er den Niedergang des traditionellen Wertesystems und legt die damit einhergehende Bewusstseins- und Strukturkrise des Ich dar. Spätestens seit dem Umbruch der Moderne muss der aufgeklärte Mensch mit dem radikalen Zweifel an der Erkennbarkeit und Erfahrbarkeit von Wirklichkeit, welche nur im geschlossenen System der Sprache vermittelbar ist, leben. So feierte er zwar, sich als Krone der Schöpfung an der vermeintlichen Naturbeherrschung berauschend, wissenschaftliche und technische Triumphe, blieb aber mit sich selbst und seiner Geschichte im Unreinen.

Der Nihilismus ist eine Krankheit, mit der wir als Kinder unserer Zeit und auf Grund unserer Herkunft automatisch infiziert sind. Es gibt also psychologisch wie logisch keinen Weg daran vorbei: er muss durchlitten werden. Nietzsche ist einer der ersten, der sich philosophisch mit den praktischen und normativen Konsequenzen des modernen Individualisierungsprozesses befasst. In den Gesellschaften des Westens haben Fin-de-siècle-Stimmung, Sprach- und Bildungskrise, Wertepluralismus und neoreligiöse Sinnsuche zu einer Ermüdung des kritischen Bewusstseins und einer Schwächung des Denkens geführt, von der es sich bis dato nicht erholen sollte.

„Wo ihr ideale Dinge seht, sehe ich – Menschliches, ach nur Allzumenschliches.“[25]

Nietzsches Utopie aufgeklärter europäischer Freigeister endet ebenso wie die von ihm kritisierten konkurrierenden Ansätze und geistesgeschichtlichen Strömungen der Moderne in der Tragödie des Nihilismus, dem auch das emanzipierte Subjekt ohnmächtig gegenübersteht.

Sein spätes Denken wird dann durch die Rückkehr zum metaphysischen Horizont philosophischen Fragens bestimmt. Die Frage künftiger Herrschaft ist dabei an den Zukunftstraum vom Übermenschen geknüpft. Im Zarathustra verkündet Nietzsche seine antichristliche prophetische Botschaft der Ewigen Wiederkehr. Der Wille zur Macht ist als göttlicher Funke Nietzsches Leitfaden zur Großen Politik und zur großen Vernunft des Leibes. Seine politische Theorie spitzt sich auf das Thema Macht und Gerechtigkeit zu. Idealistische Doktrin, ethische Handlungstheorien oder herrschaftsfreie Diskurse verurteilt Nietzsches Machtphilosophie, die es verstehen will, Geschichte richtig zu deuten, zum Scheitern. Was Nietzsche unter der Herrschaft der Starken und der entsprechenden Rangordnung, die seine späte Utopie zu legitimieren sucht, versteht, bleibt umstritten. Die Zucht, schon bei Platon Mittel zur Formung des besten Gesellschaftskörpers und dem Erhalt seiner Gesundheit, ist Teil der Therapie, mit der die Weltpolitik von ihrer Ohnmacht und Unfähigkeit kuriert werden soll.

Kapitel Drei versucht, ein Fazit aus Nietzsches Versuchen und Versuchungen zu ziehen. Die durch sein philosophisches Spiel verkörperte Immanenz der Gegensätzlichkeit stellt einen bedeutenden Themenkomplex im Kontext der Dialektik der Aufklärung dar. Die Ergebnisse meiner Untersuchung sollen zeigen, inwieweit Nietzsche der Verlockung erliegt, mit seiner Religions- und Ideologiekritik eine alternative Heilslehre zu stiften. Inwiefern musste ihm dieses Schicksal zu Teil werden, weil der Mensch hermeneutisch und historisch veranlagt ist?

1. Prophetie, Politik und Utopie bei Nietzsche

Nietzsche liebt das Spiel mit Masken, Metaphern und Mysterien. Seine Philosophie ist Spiel und wird als solche zur Kunst. Wie von ihm intendiert, bedarf es jedoch auch einer Kunstfertigkeit, ihn zu lesen. Unzählige Weltinterpretationen stehen dem menschlichen Denken offen; sucht dieses jedoch nach einer einzig gültigen Wahrheit, muss es verzweifeln und scheitern. Die Ambivalenz der Welt, des Menschen und all seiner Begriffe, die sich zudem noch in einem dynamischen, zirkulären Wandlungs- und Interpretationsprozess bewegt, lässt das Streben nach Objektivität obsolet erscheinen.

Die vielen möglichen Lesarten, die erschlagende Bandbreite an Fachliteratur, der unerschöpfliche Fundus der Nietzsche-Forschung sowie die unendliche Rezensionsgeschichte, in welcher der Denker fortgedacht wird, seine Omnipräsenz im philosophischen Diskurs und nicht zuletzt seine Aktualisierung in der tagespolitischen Debatte bedingen, dass man im Rahmen einer Magisterarbeit wohl nicht mehr als ein Schlaglicht auf die Philosophie Nietzsches werfen kann.

Da man nicht außer Acht lassen darf, dass jeder oberflächliche Blick auf Nietzsche in die Irre führen muss, werden im Folgenden Untersuchungsgegenstand und theoretischer Hintergrund der Forschungsfrage konkretisiert. Die in diesem Kontext angestellten epistemologischen und methodischen Vorüberlegungen befassen sich mit Nietzsches Authentizität als postmodernen politischen Denker und erklären die hermeneutische Herangehensweise.

1.1. Nietzsche als Wendepunkt im philosophischen Denken

Einhundertvier Jahre nach seinem Tod erscheint uns Nietzsche präsenter denn je: Diverse Gründe sind für die ungebrochene Nietzsche-Renaissance verantwortlich zu zeichnen, darunter auch schicksalhafte Konstellationen, die der unergründliche Autor selbst aus den Zeichen der Zeit prophezeit. Im Folgenden werden die wichtigsten schicksalhafte Ereignisse, Entwicklungen und Zusammenhänge herausgearbeitet, um zu demonstrieren, wie Nietzsche und das Nietzschebild großer Denker dem philosophischen Postmodernismus wesentliche Impulse verleihen.

1.1.1. Die unendliche Rezeptions- und Deutungsgeschichte

An der aktuellen Verortung Nietzsches in Philosophie und Wissenschaft scheiden sich immer noch die Geister, so dass sein „offizieller“ Status als Philosoph bis dato umstritten ist. Deutlich wird dies beispielsweise an Aussagen wie der des damaligen Kulturreferenten Münchens, Julian Nida Rümelin, anlässlich der Feierlichkeiten zum einhundertsten Todestag von Friedrich Nietzsche:

„(…) Nietzsche hatte keine philosophische Begabung, wenn zur Philosophie das Bemühen um gedankliche Klarheit und argumentative Sorgfalt gehört. Nietzsche war im Sinne der Großen der Philosophie kein Philosoph und sollte auch nicht als solcher gelesen werden. Er sollte gelesen werden, als Dokument eines Zeitgeistes, der in seinen Ressentiments, seiner inneren Widersprüchlichkeit und seiner besonderen Faszination (besonders für die Kleinen, die Großes von sich denken wollen), bis heute fortwirkt.“[26]

Wodurch Nietzsche fortwirkt, ist letztlich Ansichts- beziehungsweise Auslegungssache, wobei selbst die Koryphäen der Philosophie gänzlich unterschiedliche Meinungen vertreten. Nietzsche bedeutet in vielerlei Hinsicht einen Neuanfang, und angesichts seiner heutigen Aktualität und Aussagekraft ist kein Ende in Sicht.

Jürgen Habermas kritisiert Nietzsche als Gegenaufklärer und wirft ihm Irrationalismus vor. Konsequent lehnt er die mystisch anmutende Begründungs- und Vorgehensweise, mit der Nietzsche seine Philosophie rein intuitiv fundieren will, ebenso wie den in seinen Augen konzeptlosen Skeptizismus des Nietzsche-Fortdenkers und Dekonstruktivisten Jacques Derrida ab. Trotzdem sieht er sowohl in Nietzsche als auch in dessen Schüler, Martin Heidegger, die „Drehscheibe“ der Philosophie des 20.Jahrhunderts.[27]

Nietzsche ist das Sprachrohr der fin de siecle Stimmung, als Prophet eines neuen Zeitalters wird ihm kulturphilosophisch katalysatorische Wirkung zu teil, denn Kunst und Literatur, Lebensphilosophie und anthropologische Philosophie knüpfen direkt an Nietzsche an.[28] Die äußerst mannigfaltigen existentialistischen Strömungen, die Nietzsche inspiriert, sehen seine zentrale Botschaft in der Selbstbeauftragung des Menschen, wie sie nicht nur die Gestalten des Zarathustra und Prometheus[29] verkörpern. Als genuin philosophische Auslegung der Nietzsche-Texte ist Karl Jaspers Beitrag hervorzuheben, wobei auch hier der für die Dreißiger Jahre typische, metaphysische Bezugskontext zugrunde liegt.[30]

Für Martin Heidegger ist Nietzsche der letzte Metaphysiker und große Philosoph der abendländischen Tradition. Auch er setzt sich mit ihm als Vorläufer seines eigenen Denkens auseinander und sucht das mystische Genie in den Begriffen der Philosophie zu erfassen. Er sieht Nietzsches Intention in der „Umkehrung“ des Platonismus, wobei das Prinzip der neuen Wertsetzung des „Willen zur Macht“ der einzige Wert ist.[31]

Das erste Drittel des 20. Jahrhunderts steht bekanntermaßen im Zeichen der politisierenden, nationalisierenden und germanisierenden Missinterpretation der politischen Philosophie Nietzsches. Der Hochverrat am Nietzscheschen Gedankengut durch die nationalsozialistische Instrumentalisierung ist für die späte Geburt des Philosophen als politischer Denker verantwortlich. Die Zeitdokumente der Nietzsche-Rezeption bezeugen eindrücklich, wie sehr das junge aufstrebende Deutschland eine Heilsbotschaft in Nietzsche vernehmen will und in welch tragischer Weise er zum Erlöser und Religionsstifter wider Willen, vor allem aber nicht in seinem Sinne, werden muss. Aufschlussreich ist in diesem Kontext zum Beispiel die von Gerhard Lehmann verfasste Einleitung „Das Nietzschebild der Gegenwart“ im ersten Band der Werksausgabe des Kröner Verlages von 1939, das in bedenkenswerter Weise verschiedene Probleme der Nietzsche-Rezeption vor der nationalsozialistischen Katastrophe aufzeigt.[32] Ein Blick auf die von Alfred Baeumler verfassten Schriften macht deutlich, wie sehr er für die einseitige „nationale Wende“ philosophischer Auffassungsgabe mitverantwortlich war.[33]

Da die ausführliche Dokumentation der tragischen Geschichte, die Nietzsches Nachlass erfährt, den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen würde, verweise ich auf die umfangreiche Erörterung in der einschlägigen Fachliteratur[34] und lasse es bei den meiner Ansicht nach treffenden Worten Georg Simmels bewenden:

’Alles, was tief ist, liebt die Maske’ , sagt Nietzsche einmal. Anders aber, als er es geliebt hätte, ist ihm die Maske zum Verhängnis geworden.“[35]

Ein Plädoyer zu Nietzsches Verteidigung wäre auch gar nicht in seinem Sinne, denn er philosophierte bewusst nur für einen kleinen auserwählten Kreis und bejahte sein Schicksal als unzeitgemäßer, unverstandener und einsamer Dichter und Denker.

Vor allem französischen und italienischen, aber auch amerikanischen Wissenschaftsbemühungen, die sich nicht von Missdeutung und Manipulation den Blick verstellen ließen, ist es zu verdanken, dass Nietzsche von den Stigmata des Nazi-Ideologen befreit wurde. Die „linksintellektuellen“ Nietzsche-Exegeten, Franz Mehring, vor allem aber der Philosoph des Sozialismus[36], Georg Lukacs, hielten an Nietzsche als Feindbild fest und betrachten ihn in ihren Schriften als Apologeten des Kapitalismus, Faschismus und Imperialismus.[37] Auf Grund der „Baeumlerschen und Lukacsschen globalen Kompromittierung“[38] kam es zu einer Gegenreaktion, die Nietzsches Werk entpolitisierte, psychologisierte und philosophisch marginalisierte.

Wie sehr Nietzsches Gedankengut vor allem in Form seiner Metaphysikkritik und Nihilismusanalyse die Nachwelt prägen sollte, ahnt man zuerst in Frankreich. Camus, Sartre und Levinas, später mit noch größerem Erfolg Foucault und Derrida, eröffnen mit ihrem kritischen Anknüpfen an Nietzsche und Heidegger einen philosophischen Diskurs, in dem ihr Denken als historisch und hermeneutisch erschlossen werden kann.

Durch den irreversiblen Prozess kritischer Aufklärung verliert die Philosophie ihre grundlegende Legitimation, da die Suche nach Wahrheit und Wissen ad absurdum geführt wird. Nietzsches radikale philosophische Vernunftkritik und die Absage an jede Form normativer Philosophie, fortgedacht in der Praxis der Dekonstruktion und des Poststrukturalismus, enthalten ein unschätzbares, kreatives Potential für das Nachdenken und die Selbstverständnismöglichkeiten der Postmoderne.

Nietzsches Berufung zu Forschung und Fachwissenschaft mag ihm von den Experten in den jeweiligen akademischen Disziplinen abgesprochen werden, als ganzheitlich-universalistischer Denker zeigt er sich jedoch geradezu medial begabt. Meine Untersuchung verdeutlicht, wie treffsicher Nietzsche den Zeitgeist der Postmoderne prognostiziert und wie sich sein Zukunftsszenario mit Fragen beschäftigt, die das Zwanzigste Jahrhundert – das Zeitalter wissenschaftlich-technischer Triumphe wie menschlicher Bewusstseins-Krisen und politischer Katastrophen – prägen und die mit dem zeitlichen Ende der postmodernen Epoche keineswegs abgeschlossen sind.

Die Rezeptionsgeschichte spiegelt die Auseinandersetzung mit Nietzsche im historischen Kontext als wesentliches Betätigungsfeld philosophischer Politik und politischer Philosophie. Von zentralem Interesse ist daher die Frage nach ethischen Komponenten und ihrer Bedeutung im fundamentalen Spannungsverhältnis von Gewissen und Politik.

1.1.2. Nietzsches politische Philosophie:

Kultur versus Politik

Die natürliche Innervation der wissenschaftlichen Vorgehensweise lässt uns nach einem philosophischen System oder Gesamtkonzept, einem strukturierten Aufbau einer Weltauslegung suchen, aus der Theorien über die jeweiligen Subsysteme, wie dem politischen System, ableitbar sind. Nietzsches letztlich vor allem intuitiv begründetes politisches Denken ist unter dieser Perspektive nicht zu erfassen. Er entwirft vielmehr im Hintergrund seiner tiefsinnigen Zeitdiagnose Paralleluniversen und -gesellschaften, in denen sich Antike und Moderne in einer post-nihilistischen, politischen Mythologie kreuzen und neue Welten, Kulturen und Menschenarten hervorbringen. Nietzsches Heraklitismus ist für seine Metaphysik grundlegend und lässt ihn den Kosmos als Spiel begreifen.

Nietzsche schrieb kein politisches Hauptwerk und auch das unter dem Titel „Wille zur Macht“ geplante Opus, welches posthum aus den gesammelten Aufzeichnungen veröffentlicht wurde, war, darüber ist sich die Forschung weitgehend einig, von ihm nicht als solches konzipiert. Nietzsches Werk ist explizit wie implizit politisch unter der Prämisse, dass die Kultur Aufgabe der Philosophie sein soll, nicht die Politik. Sein philosophisches Unterfangen zeichnet sich durch Individualismus und ästhetisierende Unzeitgemäßheit aus, anstelle einer pragmatischen Staatslehre findet man bei ihm Staatsfeindlichkeit. Seine skeptischen bis radikal destruktiven Attacken gegen das im Staat sich manifestierende Politische sind fester Bestandteil der alle Autoritäten anzweifelnden Kulturkritik, die einer Reevaluierung aller Werte Bahn brechen will. Die vorerst im Nihilismus kulminierende verkehrte Moral muss zerstört, für die Menschheit eine neue sinnstiftende Identität und Realität geschaffen werden.

Nietzsches politisches Denken sollte durch seinen kosmologischen, metaphysischen, ganzheitlichen Charakter einiges Chaos stiften. Einerseits gilt er als Erschliesser und Türöffner einer neuen Wissensepoche, andererseits verkörpert er den antichristlichen Versucher und Vernichter, der in verhängnisvoller Liaison mit einem destruktiven Zeitgeist in der Tat eine inadäquate bis gefährliche Lektüre für kleingeistige Größenwahnsinnige oder andere labile Gemüter darstellt.

Seine Kritik an nihilistischen, lebensfeindlichen Dogmen, die immer noch den europäischen Geist beherrschen und alle bisherigen Aufklärungsbemühungen vereiteln, die problemorientiert gedachte Umwertungsprogrammatik und schließlich sein Entwurf des „guten Europäers“ als freigeistiger Kosmopolit sprechen meiner Ansicht nach unmissverständlich gegen einen apolitischen, antipolitischen, antiwestlichen oder gar nationalistisch-rassistischen Standpunkt.

Entsprechend lautet auch der Tenor der gegenwärtigen Nietzsche-Forschung. Mögen schlagkräftige Argumente gegen die Aufnahme Nietzsches in die Ahnengalerie der politikwissenschaftlichen Klassiker sprechen, so belegt die politische Wirkung seiner Gedanken eindrücklich die politische Aussagekraft seines Werkes. Da Nietzsche im wahrsten Sinne des Wortes Geschichte schrieb, verwehrt man sich einer zeitgemäßen Herausforderung, wenn man die Augen vor seinem politischen Gehalt verschließt. Diverse Versuche der Entpolitisierung mussten langfristig scheitern, denn im Zweifelsfall verschaffen sich seine Prophezeiungen und sein kritisch-analytischer Geist durch den Mund eines „enfant terrible“ der Philosophie- und Kulturszene Gehör, wie jüngst im Fall Sloterdijk und seiner Elmauer Rede. Anlässe, die Schockwirkung Nietzsches zu reinszenieren, finden sich in der aktuellen „großen Politik“ reichlich, aber auch das Dilemma der politischen Theorie und Philosophie als solche nahm Nietzsche vorweg. Ohne eine metaphysische Ordnung verlieren die ideengeschichtlichen geistigen Fundamente westlichen Denkens wie Anthropologie, Naturrecht, Ethik, Spiritualität oder Transzendentalität Sinn und Ziel und degenerieren zu bedeutungslosen Begriffshülsen.

Nietzsches erster gedanklicher Schritt in Richtung einer besseren Zukunft ist bereits eine politische Stellungnahme, in der die Politik eindeutig dem Primat des Kulturellen unterordnet wird. Nietzsches Vision einer Höherentwicklung der Menschen, die er in teilweise ausgesprochen prophetischer Aura vermittelt, läuft auf eine Kulturrevolution hinaus, deren grundlegende Gedanken nicht in eine realpolitische Sprache übersetzt werden können. Ich schließe mich der Auffassung Richard Rortys an, der die historistische Philosophie in ihrer gesamten Tradition seit Hegel in zwei Seiten gespalten sieht. Denker wie beispielsweise Nietzsche, Kierkegaard und Heidegger befassen sich mit den Bedingungen menschlichen Seins, somit bildet das Private das Zentrum ihrer Ausführungen. Philosophen wie Marx, Mill, Dewey und Rawls richten dagegen ihr Erkenntnisinteresse auf das Öffentliche und fokussieren ihr Denken auf das Problemfeld politischer Institutionen und materielle Gerechtigkeit. Damit sind völlig unterschiedliche direkte Wirkbereiche des Philosophischen angesprochen, die das Politische von diametralen Standpunkten betrachten. Es ist daher unmöglich, beide Seiten in einer Perspektive zur Entwicklung einer stringenten Theorie zu verbinden.[39]

Nietzsche, der im experimentellen Philosophieren sein Lebenselixier sieht und es damit zu seinem persönlichsten Anliegen macht, über den existentiellen Ursprung und Sinn des menschlichen Seins nachzudenken, muss alle Scheinsicherheiten teleologischer Auffassungen von Mensch und Geschichte zerstören, weil in ihnen der Keim des Nihilismus angelegt ist. Die Zeichen der Zeit sprechen, so Nietzsche, eine eindeutige Sprache: das falsche Bewusstsein birgt ein unberechenbares nihilistisches Zerstörungspotential, das auf den Tod und die Überwindung aller bisherigen politischen Theorie und Praxis hinauslaufen muss. Nietzsche, der eine große Affinität zu Machiavellis Machtlehre aufweist, sieht die Zeit der größten Umwälzung in der Menschheitsentwicklung gekommen und wird entsprechend seiner prophetischen und philosophischen Berufung kulturvorbereitend aktiv.

1.2. Text und Interpretation

Wie man aus der verhängnisvollen Geschichte der Nietzsche-Auslegung lernen kann, erschwert die Form, in der das Untersuchungsmaterial vorliegt, eine Betrachtung, die dem Anspruch nach wissenschaftlich-sachlicher Gültigkeit genügt. Nietzsches schriftstellerisches Pathos sowie der einzigartige Stil, in dem sich die Gewalt seiner leidenschaftlichen, betörenden Sprache entfaltet, ziehen seit über einem Jahrhundert eine große Leseschar in ihren Bann. Trotzdem ist Nietzsche aus guten Gründen mit Vorsicht zu genießen und stellt nach eigenem Bekunden höchste Ansprüche an den Leser.[40] Die Verlockung, sich von „seiner Rede Zauberfluss“ über den Inhalt hinweg tragen zu lassen und Widersprüche dementsprechend nicht argumentativ aufzulösen, sondern durch Totalauslegungen zu harmonisieren, ist groß.

Angesichts der Komplexität und immanenten Gegensätzlichkeit, die Nietzsches Werk auszeichnen, bleibt stets ein Deutungsrest bestehen, der durch interpretatorische Hypothesen ausgefüllt werden muss. Jegliche Rekonstruktion beruht auf Interpretation, und Nietzsche gilt nicht umsonst als Wegbereiter der hermeneutischen Herangehensweise, die sich im Zuge des von ihm intendierten Wandels des philosophischen Selbst- und Weltverständnisses gegenüber dem fundamental begründenden Denken durchsetzen sollte. Um die Beharrlichkeit, mit der die Gelehrten seiner Zeit an festen Standpunkten festhalten, als wissenschaftlichen Aberglauben an die eigenen Vorurteile zu entlarven, müssen alle Voraussetzungen kritisch hinterfragt werden. Diese Aufgabe im Dienste der Gerechtigkeit fällt den freien Geistern zu, wenn sie ihre Mission „als edle Verräter aller Dinge, die überhaupt verraten werden können, - und dennoch ohne ein Gefühl von Schuld[41] erfüllen.

Nietzsche ist sich, wie uns dank seiner selbstkritischen, sich selbst rezensierenden progressiv-prozesshafter Schaffensweise überliefert ist, darüber klar, dass er immer auch Kind seiner Zeit sein würde. Das Dilemma der menschlichen Perspektive, die nicht verlassen werden kann, da unser Bewusstsein im Zuge der frühkindlichen Sozialisation bereits durch die gesellschaftlichen Normen und Wertschätzungen determiniert ist, steht im Brennpunkt seiner wissenschaftlichen Bemühungen. Bereits für Nietzsche sind die Grenzen der Sprache, die wie alle Erzeugnisse unseres Intellekts arbiträr ist, die Grenzen der Welt.[42] Sein Wunschbild von der freigeistigen Philosophie projiziert Nietzsche in der Metapher vom unschuldigen Spiel des göttlichen Kindes in die Zukunft.

Spiel, Fantasie, Kunst und Kultur bieten dem Menschen, der Nietzsches Anthropologie nach dazu verdammt ist, seinem Leben einen Sinn zu geben, den existentiell notwendigen Entfaltungsraum. Für Nietzsche kommt im intellektuellen, rhetorischen, diskursiven Spiel der Philosophie das Leben, in dem es keine Gewissheiten gibt, zum Ausdruck. Den Gedanken des Philosophierenden sollen keinerlei moralische Grenzen, beispielsweise in Form allgemein gültiger Normen oder sittlicher Restriktionen, gesetzt sein. Nietzsche lädt zu Gedankenspielen ein, die durch Sprache, Form und Stil Psyche und Intellekt des Lesers berühren und bewegen, um eingefahrene Muster und Strukturen zu durchbrechen. Da sich die Ausdrucksmittel des Autors mit seiner Philosophie wandeln und entwickeln, erläutere ich im Verlauf der Arbeit stilistische Besonderheiten im kontextuellen Zusammenhang.

Die Darstellungsweise ergibt sich bei Nietzsche in Abhängigkeit von Wahrheitsbegriff und Moral, wobei er gute Argumente gegen das System-Prinzip ins Feld zu führen weiß. Die Antinomien in Nietzsches Werk sind unbestreitbar, da konzeptionell unvermeidbar. Nietzsche begründet seine neuartige wissenschaftliche Vorgehensweise mit seiner Aversion gegen Systematiker und der notwendigen Ablehnung einer von ewigen Tatsachen ausgehenden wissenschaftlichen Erkenntnistheorie:

„Ich misstraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit.“[43]

Einheit und Widerspruchsfreiheit der Lehre lassen sich nur gewaltsam herstellen, zumal Nietzsche die Systemvermeidung systematisch zu betreiben scheint. Der Mangel an Struktur erschwert es ihm, weit reichende Denkzusammenhänge herzustellen und Themengebiete zu kategorisieren, um sie in Beziehung zueinander zu setzen, so dass sie nicht nur als kurze Motive erscheinen. Die Rezeptionsgeschichte offenbart, wie entscheidend die Intention des Interpreten das Nietzschebild formt oder deformiert. Seine Argumentation zeichnet sich vor allem durch ihre Komplexität aus, die darauf beruht, dass Nietzsche weniger Autor als vielmehr Protokollant seiner Gedanken ist. Hier stellt sich die Frage, inwieweit Nietzsche selbst die Gesamtkonzeption seiner Philosophie überblickte. In seiner späten Schaffensphase weist er auf Kontinuität und Einheit seines Denkens wie folgt hin:

„Es hängt Alles zusammen, es war schon seit Jahren alles im rechten Gange, man baut seine Philosophie wie ein Biber, man ist nothwendig und weiß es nicht.“[44]

Damit ist ein wesentliches Problem der Nietzsche-Forschung angesprochen: Soll man die Bücher als Konglomerat oder Komposition betrachten?

Im Kontext der dieser Untersuchung zugrunde liegenden Forschungsfrage gilt es, anhand der Literatur die langfristige Entwicklung von Gedanken, Visionen und utopischen Konzepten wie Themenkomplexen zu rekonstruieren. Die einzelnen Bücher werden daher als literarisch-philosphische Gesamtkomposition aufgefasst, das heißt, die Stilfrage bezieht sich nicht nur auf die Sprache der einzelnen Abhandlungen, sondern auch auf die Zusammenstellung der Werke und ihre Einordnung in den Schaffensprozess, in dem sich der Aufbau der Theorie vollzieht. Das zumeist unsichtbare, aber fühlbare philosophische System wird von Nietzsche auf Basis der durch das Leben vermittelten Erfahrung entwickelt und bezieht sich teleologisch auf die Überwindung des Nihilismus. In der philosophischen Evolution Nietzsches sind drei Stadien zu differenzieren, die jeweils als Etappe zu diesem Entwicklungsziel und damit als Ansatz zur Vollendung der Aufklärung gedacht sind.

Die Genealogie der neuen Moral für freie Geister entsteht nicht willkürlich, „nicht einzeln, nicht beliebig, nicht sporadisch[45], wie es vielleicht auf den ersten Blick scheint, sondern, wie Nietzsche betont, kohärent:

„(…) mit der Notwendigkeit, mit der ein Baum seine Früchte trägt, (...) verwandt und bezüglich allesamt untereinander und Zeugnisse eines Willens, einer Gesundheit, eines Erdreichs, einer Sonne.“[46]

Nietzsche, der radikalste Kritiker des Denkens und der Moral, verfolgt mit seiner Politik nicht Desillusionierung und Destruktion zum Selbstzweck. Der Ikonoklast und Kulturstürmer will mit seiner Religions-, Wissenschafts-, Kultur- und Gesellschaftskritik die alten Werte umstürzen, um das Bewusstsein von nihilistischen Stereotypen und Strukturen zu befreien und Platz für Neues zu schaffen. Mit dem „Tod Gottes“ kreiert Nietzsche ein einmaliges Symbol für den traumatisierenden Schock darüber, dass die geglaubten letzten Wahrheiten und vorherrschenden Lebensideale nur selbst geschaffene Konstruktionen sind. Den Verlust des Urvertrauens, die Erfahrung der Freiheit als Segen, aber auch als Fluch verbindet Nietzsche mit dem Impuls, sich der schwierigen Aufgabe zu stellen, lebenswerte Ideale und bejahbare Werte zu begründen.

Nietzsche betrachtet das Leben als Experiment, die Experimentalphilosophie ist daher der Weg, die Haltung der Umkehr wissenschaftlich zu realisieren. Der Auftrag des Philosophen ist es, Wissen und Erkenntnis zu revolutionieren, auf dass die Unschuld des Werdens wieder hergestellt werden kann.

Angesichts der Ziel- und damit fundamentalen Bedeutungslosigkeit der Menschheitsgeschichte liegt die Bedingung für Fortschritt in der Neuinterpretation. Auf Grund seiner Instinktarmut und Umweltoffenheit ist der Mensch auf geistige, gedankliche Spielräume angewiesen, um sich weiterzuentwickeln. Der Mensch kann nichts anderes als geschichtlich - und damit utopisch – denken, um sich Entlastung für seine weltoffene und ekstatische Disposition zu verschaffen. Jacques Derrida versteht darunter „die Affirmation der Welt als Spiel“.[47]

Der von Nietzsche herausgearbeitete Zusammenhang von Wahrheitsbegriff, Moral - im Sinne des herrschenden Wertekodex - und Darstellungsweise macht einen philosophischen Paradigmenwechsel erforderlich. Die Perspektive als die grundsätzliche Prämisse, unter der wir das Leben und uns selbst betrachten, ist Nietzsche zufolge im wahrsten Sinne des Wortes verkehrt. Erst der Perspektivismus als Erkenntnisprinzip erlaubt es der Absenz ewiger Tatsachen, so wie dem daraus folgenden interpretativen Charakter, der Aussagen über Dinge und ihrem relativen Verhältnis zueinander Rechnung zu tragen. Die philosophische Auseinandersetzung bedarf daher der Interpretation und Hermeneutik, um jedweden Weltentwurf zu verstehen. Nietzsche vertritt der Erkenntnis gegenüber einen transzendentalen Standpunkt, denn das generelle wie auch das wissenschaftliche Erkennen sind für ihn sowohl hermeneutisch wie historisch, aber keinesfalls objektiv. Er propagiert einen Wechsel zur Methode des so genannten „historischen Philosophierens“, mittels dessen der Widerspruch zwischen verstehender und erklärender Wissenschaft aufgehoben und das Verstehen durch Interpretation zustande gebracht werden soll.[48]

Mit der Einsicht in das Wesen des Erkennens, das in Ermangelung beständiger Werte und verbindlicher Wahrheit ein permanentes Auslegen und Dechiffrieren nötig macht, muss sich auch die Haltung zur Darstellungs- beziehungsweise Ausdrucksweise ändern. Der Begriff der Interpretation[49] als zirkulärer Prozess eines steten Auslegevorgangs nimmt bei Nietzsche seinen Ursprung und entwickelt sich über Dilthey, Schleiermacher und Gadamer weiter.

In der Krise liegt, da sie einen Wandel und ein Umdenken erforderlich macht, die Chance für eine Reevaluierung alter und die Schaffung neuer Werte. Die dadurch ermöglichte Revolutionierung der Sprache und des Wissens bildet die Voraussetzung für das selbstreferentielle, eigenverantwortliche Denken und Handeln des Individuums in seiner Lebenswelt und Kultur.

Die Kritische Nietzsche-Gesamtausgabe Mazzino Montinaris und Giorgio Collis, die 1962 in Weimar auf den Weg gebracht wurde, eröffnete der wissenschaftlichen Rezension den hermeneutischen Zugang zur Gedankenwelt Nietzsches. Rüdiger Schmidt, Leiter des Kollegs Friedrich Nietzsche in der Stiftung Weimarer Klassik und ehemaliger Mitarbeiter bei Mazzino Montinari in Florenz, gibt zu bedenken, dass auch diese Kompilation eine fortlaufende, idealisierte Zusammenstellung aus unzähligen Ansätzen, Anmerkungen, Umformulierungen, Durchstreichungen und unchrono-logischen Manuskripten ist. Er wirft Montinari vor, Nietzsche hegelianisiert zu haben und will beweisen, dass Nietzsche ein Passagenwerk schrieb und sich dessen auch bewusst war. Mögen der Chronologisierung und Rekonstruktion auch Grenzen gesetzt sein, so gibt es doch gute Argumente, die für den Werkgedanken sprechen, wie ihn beispielsweise Arthur Danto[50] vertritt.

Auch ich bin auf die Kritische Studienausgabe Montinaris und Collis angewiesen, wobei sich die Experten heute weitgehend darüber einig sind, dass die chronologischen Gedankengänge sowie der Nachlass von ihrem philosophischen Gehalt her nicht verfälscht sind. Mazzino Montinari, der im Folgenden selbst zu Wort kommen soll, klärt die Frage, wie uns die neue Kritische Gesamtausgabe zu einer richtigen Lektüre Nietzsches verhelfen kann, in dreifacher Hinsicht:

„1. indem sie jedes Werk Nietzsches als die jeweilige philosophische und künstlerische Ausformung bestimmter Gedankengänge aus einer bestimmten Zeit seines Lebens und Schaffens hinstellt;
2. indem sie die Werke in eine innere Beziehung zum Nachlass und somit zu Nietzsches eigener Entwicklung im Ganzen setzt;
3. indem sie Nietzsche, vor allem durch Erschließung seiner Quellen, in einen fruchtbaren Zusammenhang mit seiner historischen Vor-, Mit- und Nachwelt bringt. Mit anderen Worten: die kritische Gesamtausgabe ermöglicht eine philologisch-historisch fundierte Lektüre der Werke Nietzsches, die als Voraussetzung jeder philosophischen Interpretation gelten muss.“[51]

Nietzsche möchte uns „Lehrer des langsamen Lesens“[52] sein. Der aktuellen Leseart des rasenden, gejagten Zeitgeistes unserer Hightech-Welt entspricht er keineswegs, denn er beansprucht Bedenkzeit und Vertiefung, um im hermeneutischen Sinne verstanden zu werden. Sein Werk beschwört den Vergleich mit einem Kunstwerk des von ihm inspirierten Expressionismus herauf, das seine Bedeutung nicht dem flüchtigen, unruhig umherschweifenden Interesse enthüllt. Die Abbildbarkeit der Wirklichkeit, einer der vielen Irrtümer, der Jahrhunderte hindurch Sinn und Form stiftend auf Erden waltete, wird ohnehin seit der Moderne von Künstlern und Wissenschaftlern verneint.

Die Nietzsche-Exegese der letzten hundert Jahre veranschaulicht eindrucksvoll, wie seine Philosophie als Zentrum des modernen, postmodernen und post-postmodernen Denkens begriffen wurde. Seine prophetenhafte Bedeutung, über die Nietzsche selbst nicht nur in „warum ich ein Schicksal bin“ ausführlich räsoniert, könnte theoretisch auch den Philosophen der Zukunft zukommen, sollten sie es wie er schaffen, durch sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sprechen zu lassen und durch ihre Geschichte neue Werte zu setzen. Nietzsches Geist lebt in der Nachwelt fort und inspiriert, wie es der philosophierende Prophet als seine Lebensaufgabe und sein Schicksal betrachtete, die Genies der Zukunft. Gottfried Benn, dessen Werk seiner eigenen Aussage nach ohne Nietzsche undenkbar wäre, bringt dieses Faktum und Fatum wie folgt zum Ausdruck:

Eigentlich hat alles, was meine Generation diskutierte, innerlich sich auseinander dachte, man kann sagen: erlitt, man kann auch sagen: breittrat - alles das hatte sich bereits bei Nietzsche ausgesprochen und erschöpft, definitive Formulierung gefunden, alles Weitere war Exegese.“[53]

1.3. Zur Hermeneutik des Utopie-Begriffs

Nietzsches Leben und Werk erzählen die Geschichte vom Ende der Utopien und ihrer Wiedergeburt in einem neuem Bewusstsein. Die Überwindung des Nihilismus ist die Utopie, welche sich als roter Faden durch Nietzsches Lebenswerk zieht und uns die Bedeutung von Krise und Wandel sowohl für den persönlichen, wie den menschheitsgeschichtlichen Entwicklungsweg offenbart. In jedem Fall geht es um die Selbstwerdung des Menschen.

Eingedenk der Tatsache, dass auch der Utopist nur eine der diversen Masken ist, derer sich Nietzsche wie Hermes, der Götterbote, zu bedienen weiß, sind vor allem die Parallelen zum politischen Platonismus und dem dadurch geweckten Totalitarismusverdacht interessant. Zunächst ist jedoch der Utopie-Begriff, sofern angesichts der unendlichen Bedeutungsvielfalt möglich, in seinem für die Untersuchung relevanten Bezugskontext zu umreißen.

Allgemein gesprochen handelt es sich bei so genannten utopischen Vorstellungen um Wunschbilder des Zukünftigen, die ihren Ursprung im Individuum, genauer seiner Vorstellung und Phantasie, haben. Die Geschichte der Utopie als Entwurf einer künftigen wünschenswerten Gesellschaftsordnung reicht bis zu den Ursprüngen der Menschheit in den uralten Mythen vom verloren gegangenen Paradies und dessen Wiederentdeckung zurück. Religionen und Mysterien unterschiedlichster Kulturräume verheißen eine Wiederkunft des paradiesischen Zeitalters und Zustandes.[54]

Platon gilt als Urvater der Staatsutopien, die auch als konkrete Utopien bezeichnet werden, da die Verfasser durch diese gesellschaftskritischen Abhandlungen Einfluss auf die reale Politik und die geschichtliche Bewegung zu nehmen suchen. In „konkreten Utopien“ oder „Realutopien“ wie dem Marxismus vereinigen sich nach Ernst Bloch Hoffnung und Prozesskenntnis, die eine Entwicklung der gesamtgesellschaftlichen Konstellationen in Aussicht stellen, in denen das Idealbild Wirklichkeit werden kann und zu denen in diesem Sinne auch der Realismus zu rechnen ist. „Prozesshaft-konkrete Utopie ist in den beiden Grundelementen der marxistisch erkannten Wirklichkeit: in ihrer Tendenz, als der Spannung des verhindert Fälligen, in ihrer Latenz, als dem Korrelat der noch nicht verwirklichten objektiv-realen Möglichkeiten in der Welt.“[55]

In der Utopien-Geschichte existierten lange Zeit Ordnungsutopien, also Staatsromane mit strikt festgeschriebenen idealen Staatsformen neben Freiheitsutopien, die ein Gemeinwesen ohne autoritär-restriktive Strukturen und Herrschaftsformen anstreben, nebeneinander. Utopische Gegenwelten sind immer auch eine Reaktion auf Fehlentwicklungen, Defizite und Krisen des gesellschaftlichen Kontexts, innerhalb dessen sie entstehen. Die ökonomische Ungleichheit stellt neben dem Koordinations- und Kooperationsproblem in der Utopietradition von jeher einen der entscheidenden Anlässe für den Entwurf von Wunschbildern eines idealen Gemeinwesens dar. Schon bei Thomas Morus[56], der dem Genre seinen Namen gab, soll die Beseitigung des Privatbesitzes zur Herstellung von Verteilungsgerechtigkeit führen. Mit der Abschaffung des Privateigentums soll dessen korrumpierender Einfluss auf das Individuum unterbunden werden. Um das Primat des Ganzen, demzufolge der Einzelne im Kollektiv aufgeht, und die Einheit des Staates durchzusetzen, herrscht in den autoritär-etatistischen Utopien ein strenger Normen- und Verhaltenskodex, der oftmals auch Ehe, Berufswahl oder Kleidung staatlichem Reglement unterwirft. In den Ordnungsutopien, als deren Begründer Platon und Campanella gelten, ist die Gesellschaft streng hierarchisch strukturiert. Die Probleme der Koordination, Kooperation und Verteilungsgerechtigkeit werden in diesen Entwürfen dadurch gelöst, dass die gesamte Entscheidungskompetenz, also die absolute Macht, bei den weisen Lenkern des Gemeinwesens konzentriert ist. Abgesehen davon, dass politische Gleichheit und Freiheit der Bürger in diesen idealen Gemeinwesen non-existent sind, lassen die Herrschaftsmethoden eine Geisteshaltung erkennen, wonach der Zweck die Mittel heiligt.

Auch Sozialismus und Kommunismus postulierten Verteilungsgerechtigkeit unter der Herrschaft der Vernunft. In der Praxis zeigte sich allerdings ein fatales Defizit des utopischen Gedankenkonstrukts: Durch Gemeineigentum und Planwirtschaft wäre im Zuge der Technisierung eine gerechtere Verteilung der Güter längst möglich, allerdings wurde der korrumpierende Einfluss, den die Macht auf Menschen ausübt, in der Theorie gänzlich ignoriert, was das Heilsversprechen zumeist in einer Katastrophe enden ließ. Auf Grund des technischen Fortschritts wäre seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts die Gleichheit der Menschen faktisch möglich geworden. Obwohl das utopische Ideal eines „irdischen Paradieses“ greifbar nah schien, wurde es dennoch nicht realisiert, sondern diskreditiert. Dies gilt in der politischen Utopienforschung als eine der entscheidenden Ursachen für den Umschlag zur Dominanz negativer Utopien.

Ein wesentliches Element der klassischen Sozialutopie war deren Hoffnung auf eine emanzipatorische Funktion des naturwissenschaftlichen und technischen Fortschritts.[57] In der Entfaltung der industriellen Produktivkräfte sah man den Schlüssel zur Lösung des Verteilungsproblems. Durch die Hebung des allgemeinen Lebensstandards würde die Menschheit endlich aus Elend und Verdummung befreit werden. „Aber es war ebenfalls klar, dass ein allgemein wachsender Wohlstand die Fortdauer einer hierarchischen Gesellschaft bedrohte, ja, in gewissem Sinne ihren Untergang bedeutete.“[58] Die Machthabenden taten folglich alles, um die Schaffung institutioneller Rahmenbedingungen für eine gerechte Verteilung zu verhindern. Der emanzipatorische Anspruch wurde in sein Gegenteil verkehrt, Wissenschaft und moderne Technik wurden von totalitären Regimes usurpiert, um die Ungleichheit zu manifestieren.

Nachdem das Zwanzigste Jahrhundert uns mit den katastrophalen Auswirkungen mythischer, religiöser oder ideologischer Heilslehren konfrontiert hatte, begreift man utopische Entwürfe heute eher als Zukunftsszenarien, in denen sich die Konsequenzen bestimmter Annahmen, Lösungsstrategien oder Prinzipien in der Imagination durchspielen lassen. Im philosophischen und soziopolitischen Diskurs ermöglichen sie Austausch und Verständigung einer Gesellschaft über ihre eigenen Zielvorstellungen sowie ein Abwägen der Kosten gegenüber dem Nutzen. Auf utopische Vorstellungen gänzlich zu verzichten, ist dem Einzelnen kaum möglich und birgt gesamtgesellschaftlich betrachtet die Gefahr, sich den gegenwärtigen Entwicklungstrends und den darin wirksamen Sachzwängen mehr oder weniger bedingungslos auszuliefern.

Für den Zeitgeist der Postmoderne ist vor allem die fundamentale Kritik an Totalauslegungen der Geschichte, auf Basis derer die Gesellschaft als Ganzes rational gestalten werden soll, charakteristisch. Wie eingangs erwähnt werden die „großen Erzählungen“ auf Grund der desaströsen Konsequenzen ihres blinden Fortschrittsglaubens abgelehnt. Man plädiert für Piecemeal-engineering anstelle des utopischen Holismus. Nichtsdestotrotz nähren weiterhin reale Utopien die Hoffnungen, Wünsche und Handlungsoptionen von Menschen, wobei es sich seit den Sechziger Jahren fast ausschließlich um Freiheitsutopien handelt, deren Entwürfe sich hauptsächlich mit den Möglichkeiten einer dezentralisierten, ökologisch verträglichen Lebensweise befassen.[59]

„Echter Realismus zieht in seine Betrachtungen nicht nur das ein, was deutlich sichtbar ist, sondern auch das, was als Antwort auf unabdingbare Notwendigkeiten im Schoße der Gesellschaft erst heranwächst.“[60]

Auch das Scheitern des real existierenden Sozialismus bedeutete nicht das Ende der Utopien. Die moderne Utopieforschung[61] weist darauf hin, dass neben der autoritär-etatistischen auch eine anti-autoritäre Utopie-Tradition existiert, an die beispielsweise die modernen „postmateriellen“ Utopien Skinners oder Callenbachs anknüpfen. Viele der modernen utopischen Theorien haben den traditionellen Antiindividualismus überwunden und sind - da nicht statisch konzipiert - offen für kritische Auseinandersetzung und Veränderung. Die Blüte feministischer und ökologischer Entwürfe während der Sechziger und Siebziger Jahre veranschaulicht sehr gut, wie das utopische Denken auf die drängenden gesellschaftspolitischen Fragen reagiert.

[...]


[1] EH; Warum ich ein Schicksal bin, 1; KGW VI/3; 263

[2] JGB, III; 62; KSA 5; 81 f.

[3] Z, IV; Der Schatten; KSA 4; 341

[4] z.B.: Scheler, Plessner, Gehlen, Heidegger, Derrida, Foucault, Eco, Vattimo um nur einige der großen Nietzsche-Rezensenten zu nennen

[5] Z, IV; Der Nothschrei; KSA 4; 300

[6] Anm.: Bereits im Jahre 1952 postulierte Arnold Gehlen im Anschluss an Friedrich Nietzsche und den französischen Philosophen, Ökonomen und Mathematiker Antoine-Augustin Cournot „das Ende der Geschichte“. Der amerikanische Soziologe Daniel Bell, stellte in den siebziger Jahren die These vom „Ende der Ideologien“ auf und der französische Philosoph Jean-François Lyotard, erklärte in seinem 1979 erschienenen Buch „La Condition postmoderne“, dass die „Zeit der Metaerzählungen“ in unserer „postmodernen“ Zeit vorbei sei.

[7] Vgl. Kapitel 1.1.1.

[8] „( …) Umwerthung aller Werthe: das ist meine Formel für einen Akt höchster Selbstbesinnung der Menschheit, der in mir Fleisch und Genie geworden ist. ( …) Ich widerspreche, wie nie widersprochen worden ist und bin trotzdem der Gegensatz eines neinsagenden Geistes. Ich bin ein froher Botschafter, wie es keinen gab ich kenne Aufgaben von einer Höhe, daß der Begriff dafür bisher gefehlt hat; erst von mir an giebt es wieder Hoffnungen.“ EH; Warum ich ein Schicksal bin, 1; KGW VI/3; 364 [Herv. M.H.]

[9] Vgl.: Mayer-Tasch, Peter Cornelius: Über Prophetie und Politik. München: Gerling Akadiemie Verlag GmbH, 2000; 54 f.

[10] Nachgelassene Fragmente. Umwertungsheft Herbst 1885 - Herbst 1886; 127; KGW IIX/1

[11] GdM, I; 12; KSA 5; 278 [Herv. M.H.]

[12] Nach Nietzsches Definition Synonym für Nihilismus; vgl.: GdM, II; 21; KSA 5; 331

[13] FW, IV; 335; KSA 3, 563 [Herv. M.H.]

[14] Danto, Arthur C.: Nietzsche als Philosoph. München: Wilhelm Fink Verlag, 1998; 93

[15] MA, I; 24; KSA 2; 45

[16] Ebda; 45

[17] JGB, IX; 262.; KSA 5; 216 [Herv. M.H.]

[18] „ Alle großen Dinge gehen durch sich selbst zugrunde, durch einen Akt der Selbstaufhebung: so will es das Gesetz des Lebens, das Gesetz der notwendigen ‚Selbstüberwindung’ im Wesen des Lebens. (…) Dergestalt ging das Christentum als Dogma zugrunde, an seiner eignen Moral; dergestalt muß nun auch das Christentum als Moral noch zugrunde gehn - wir stehen an der Schwelle dieses Ereignisses. (...) An diesem Sichbewußtwerden des Willens zur Wahrheit geht von nun an - daran ist kein Zweifel - die Moral zugrunde: (…)“ GdM, III; Was bedeuten asketische Ideale?; 27; KSA 5; 410

[19] Vgl.: Danto; 209. Die Frage, ob Nietzsche die Metaphysik überwindet, vollendet, oder neuartig, beispielsweise im existentiellen Sinne, begründet, ist weiterhin offen.

[20] MA, I; Anzeichen höherer und niederer Kultur. 245: Glockenguss der Cultur; KSA 2; 204, 205

[21] mit ihm leitete D'Annunzio den Faschismus ein.

[22] FW, V; 344: Inwiefern auch wir noch fromm sind; KSA 3; 577

[23] Ebda; 577

[24] Synonym für den Nihilismus, der Nietzsches Politik von Beginn an prägt, gebraucht er, vor allem in seiner frühen Gesellschaftskritik, den „décadence“-Begriff.

[25] EH; Menschliches, Allzumenschliches, 1, KGW VI/3; 320

[26] Süddeutsche Zeitung; 29.08.2000; 15

[27] Vgl. Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1991 [1985], 104 f. – Habermas’ Heidegger-Kritik knüpft entsprechend an dessen Nietzsche-Vorlesungen an. (Vgl. ebd., 158ff.)

[28] Anm.: in den Literarten- und Intellektuellenkreisen lag Nietzsche die ersten beiden Dekaden des Zwanzigsten Jahrhunderts förmlich in der Luft. In der deutschen Literaturgeschichte, v.a. der expressionistischen Epoche, ist daher Nietzsches Wirkung unverkennbar. Einen interessanten Überblick bietet: Hillebrand, Bruno: Nietzsche und die deutsche Literatur. Bd.1 u. 2; Einf. v. Bruno Hillebrand (Hrsg.), München: dtv, 1978. Vgl. hierzu auch: Krummel, Richard Frank: Nietzsche und der deutsche Geist. Ausbreitung und Wirkung des Nietzscheschen Werkes im deutschen Sprachraum bis zum Todesjahr des Philosophen. Ein Schrifttumverzeichnis der Jahre 1867-1900. Berlin/New York, 1974

[29] Anm.: Auf den symbolischen Gehalt mystischer Kunstfiguren und ihrer Bedeutung für Nietzsches philosophische Botschaft werde ich im Rahmen der Text-Interpretation noch ausführlicher zu sprechen kommen. Anhang, S….: Prometheus-Gedicht von Johann Wolfgang von Goethe, aus dem Jahre 1773, als Ausdruck der Sturm- und Drang-Stimmung, welche sich auf die antike Sage beruft, wenn sie die Auflehnung des Helden gegen die Autorität, seinen Kampf um Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung beschreibt. Der Titan Prometheus, ist in seiner Gesinnung einzig und allein Mensch und ein Rebell gegen die ihn beherrschen wollende Obrigkeit. Er ist der Archetyp der Auflehnung gegen die Götter und erscheint gleichzeitig als Wohltäter der Menschheit, der seinen Mut durch grausames Leiden bezahlen muss.

[30] Jaspers, Karl: Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens. 3., unveränd. Aufl., Berlin: de Gruyter, 1950

[31] Vgl.: Heidegger: Nietzsche. Bd. II; S. 117 f.

[32] Lehmann, Gerhard: Das Nietzschebild der Gegenwart. Als Einleitung zu: Nietzsche, Friedrich: Werke, Erster Band; 6. Aufl.; Stuttgart: A. Kröner Verlag, 1939; S. XI-XXV. Der Text schließt mit den Worten: „In alledem ist Nietzsche ein Vorläufer des Nationalsozialismus. Ein Vorläufer und Wegbereiter. Ihn als einen Vordenker nationalsozialistischer Weltanschauung anzusprechen, wäre jedoch ein Anachronismus: Nietzsches Begriff von Rasse ist noch nicht biologisch fundiert, sein Aristokratismus überspitzt, weil er kein Gegengewicht am Volksbegriff besitzt; Nietzsches Existenzialismus ist nicht bis zur völkischen Existenz und Gemeinschaft entwickelt. Indessen: dass wir das heute als eine philosophische Aufgabe empfinden, - wem verdanken wir es, wenn nicht Nietzsche, dem Philosophen des ‚Willens zur Macht’?“ [Herv. M.H.]

[33] Vgl.: Baeumler, Alfred: Nietzsche, der Philosoph und Politiker. 3. Aufl., Leipzig: Reclam, 1940. Nietzsche, Friedrich: Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte. Ausgewählt und geordnet von Peter Gast unter Mitwirkung von Elisabeth Förster-Nietzsche. Stuttgart: A. Kröner Verlag, 1964. Die Ausgabe enthält das sehr aufschlussreiche Nachwort von Alfred Baeumler (699 f.), in dem dieser auch auf die Attacken Podachs und Schlechtas eingeht (711 f.). Aus früheren Tagen stammt der Text „Die deutsche Schule im Zeitalter der totalen Mobilmachung “, aus dem klar Baeumlers Gesinnung im Jahre 1937 hervorgeht und der veranschaulicht wie Nietzsches Philosophie für nationalsozialistische Bestrebungen tauglich gemacht wird. In: Kuhn, Hans-Werner; Massing, Peter; Skuhr, Werner (Hrsg.): Politische Bildung in Deutschland, 2. Aufl., Opladen 1993; 100-103. Available Online: http://www.ph-freiburg.de/sozial/politikdidaktik/Baustein3/BS3_NS_ Bauemler.pdf+alfred+baeumler&hl=de&ie=UTF-8

[34] Bataille, Georges: Wiedergutmachung an Nietzsche. Das Nietzsche-Memorandum und andere Texte. Aus dem Franz. übers. und mit einer Studie von Gerd Bergfleth (Hrsg.), München: Matthes & Seitz, 1999. Wolfgang Müller-Lauters umfassende und auf Vollständigkeit zielende Arbeit über die philosophische Rezeption des Nachlass-Kompilation „Wille zur Macht“. In: Nietzsche-Studien; Bd. 24, 1995; 223-260

[35] Simmel, Georg: Friedrich Nietzsche. Eine moralphilosophische Silhouette. In: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik. Neue Folge, Bd. 107; Heft 2, 1896, 202-215

[36] Kiss, Endre: Lukács, Nietzsche oder der hervorragendste stalinistische Prozess der Philosophie. Available Online: http://www.pointernet.pds.hu/kissendre/nietzsche/knowledge-11.html [17.10.2004]

[37] Vgl.: Lukács, Georg: Die Zerstörung der Vernunft. Der Weg des Irrationalismus von Schelling zu Hitler. Berlin: Aufbau-Verl., 1955. Lukács, Georg: Von Nietzsche bis Hitler oder Der Irrationalismus in der deutschen Politik. Frankfurt a.M.: Fischer Verlag, 1966. Mehring, Franz: Friedrich Nietzsche gegen den Sozialismus. In: Die neue Zeit; 15. Jg.; Bd 1, 1897; S. 545-549

[38] Kiss, Endre: Friedrich Nietzsche als Theoretiker der modernen Demokratie. In: Kiss, Endre: Friedrich Nietzsche und die globalen Probleme unserer Zeit. Nietzscheana, Bd. 10; Endre Kiss (Hrsg.), Cuxhaven [u.a.]: Junghans, 1997; 249

[39] Vgl.: Rorty, Richard: Contingency, Irony, and Solidarity. Cambridge: Cambridge University Press, 1989. Sowie: Rorty, Richard: Remarks on Deconstruction and Pragmatism. In: Mouffe, Chantal: Deconstruction and Pragmatism. London: Routledge, 1996; 13-18

[40] „Meine geduldigen Freunde, dies Buch wünscht sich nur vollkommene Leser und Philologen: lernt mich gut lesen! -“ M; Vorrede, 5; KSA 3; 17

[41] MA, I; 637; KSA 2; 362

[42] Vgl.: Kenny, Antony (Hrsg.): Ludwig Wittgenstein. Ein Reader. Stuttgart: Reclam, 1996; 36

[43] GD; Sprüche 26; KGW VI/III; 57

[44] Brief an Georg Brandes, 4. Mai 1988 / B. III. 5, 310. Zitiert in: Danto; 34

[45] GdM, Vorrede, 2; KSA 5; 248

[46] Ebda; 248. Ausführlich berichtet Nietzsche in der Vorrede „Zur Genealogie d.M.“ 1887: „Meine Gedanken über die Herkunft unserer moralischen Vorurteile (...) haben ihren ersten, sparsamen und vorläufigen Ausdruck in jener Aphorismen-Sammlung erhalten, die den Titel trägt ‚Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister’ (...) Dies geschah im Winter 1876-77; die Gedanken selbst sind älter. (...) Dass ich aber heute noch an ihnen festhalte, (...) das stärkt in mir die frohe Zuversichtlichkeit, sie möchten von Anfang an in mir mit der Notwendigkeit, mit der ein Baum seine Früchte trägt, (...) entstanden sein.“ Ebda; 248

[47] Derrida; Jacques: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1994; 441

[48] Vgl.: Wellner, Klaus: Geschichtsmodelle in der Philosphie Fr. Nietzsches. In: Friedrich Nietzsche und die globalen Probleme unserer Zeit. Nietzscheana, Band 10; Kiss, Endre (Hrsg.), Cuxhaven [u.a.]: Junghans, 1997; 99-133

[49] Vgl.: Forget, Phillipe (Hrsg. ): Text und Interpretation. Sammelband zur deutsch-französische Debatte mit Beiträgen von J. Derrida, Ph. Forget, M. Frank, H.-G. Gadamer, J. Greisch und F. Laurell. München: Fink 1984

[50] Danto; 29 f.

[51] Montinari, Mazzino: Nietzsche lesen. Berlin, New York: de Gruyter, 1982; 3 f.

[52] „(…) - endlich schreibt man auch langsam. Jetzt gehört es nicht nur zu meinen Gewohnheiten, sondern auch zu meinem Geschmacke - einem boshaften Geschmacke vielleicht? - Nichts mehr zu schreiben, womit nicht jede Art Mensch, die ‚Eile hat’, zur Verzweiflung gebracht wird.“ M; Vorrede, 5; KSA 3; 17

[53] Figal, Günter (Professor für Philosophie an der Universität Tübingen): Illusionslos sei das Leben und frei. In: die „Welt“; 07. November 2004. Available Online: http://www.welt.de/daten/2000/08/19/0819lw186251.htx [19.11.2004]

[54] Vgl.: Schwendter, Rolf: „Utopie “. Überlegungen zu einem zeitlosen Begriff. Berlin: Edition ID-Archiv, 1994; 19

[55] Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1985; 727

[56] Wenzel, Peter: Utopian Pluralism. A Systematic Approach to the Analysis of Pluralism in the Debate about Thomas More's Utopia. Available Online: http://webdoc.gwdg.de/edoc/ia/eese/artic96/wenzel/10_96.html#Morus [11.09.2004]

[57] Saage, Richard: „Politische Utopien der Neuzeit “. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1991; 268 f.

[58] Orwell, George: „1984 “. Hrsg. v. Herbert Franke, 23. Auflage, München: Ullstein Taschenbuchverlag, 2002; 229

[59] Schwendter; 15

[60] Jungk, Robert: Katalog der Hoffnung. Frankfurt a. M.: Internationale Bibliothek für Zukunftsforschung (Hrsg.), 1990; 14

[61] vgl. z.B.: Berneri, Marie Louise: „Reise durch Utopia “: Ein Reader der Utopien. Berlin: Kramer, 1982. Oder: Schwendter, Rolf: „Utopie “. Überlegungen zu einem zeitlosen Begriff. Berlin: Edition ID-Archiv, 1994. Oder: Saage, Richard: „Innenansichten Utopias “. Wirkungen, Entwürfe und Chancen des utopischen Denkens. Berlin: Duncker & Humblot, 1999

Ende der Leseprobe aus 141 Seiten

Details

Titel
Nietzsches Philosophie als politische Utopie der Postmoderne
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Geschwister-Scholl-Institut, Fakultät für Politische Wissenschaft )
Note
1,7
Autor
Jahr
2005
Seiten
141
Katalognummer
V111878
ISBN (eBook)
9783640161058
Dateigröße
1084 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Nietzsches, Philosophie, Utopie, Postmoderne
Arbeit zitieren
Miriam Helisch (Autor:in), 2005, Nietzsches Philosophie als politische Utopie der Postmoderne, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/111878

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