Pädagogische Beratung bei Verhaltensauffälligkeit in der Schule


Diplomarbeit, 2007

105 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Motivation und Fragestellung
1.2 Aufbau der Arbeit

2. Zum Verständnis von Verhaltensauffälligkeit
2.1 Begriffsklärung
2.1.1 Sonderpädagogische Sichtweise: ‚Verhaltensstörung’
2.1.2 Allgemeinpädagogische Sichtweise: ‚Verhaltensauffälligkeit’
2.2 Entstehung von Verhaltensauffälligkeiten
2.3 Problematik der Kategorisierung von Verhaltensauffälligkeit

3. Verhaltensauffälligkeit in der Schule
3.1 Schulische Kategorisierung von Verhaltensauffälligkeit
3.2 Schulische Förderorte für Kinder mit ‚Verhaltensauffälligkeit’: Soll-Zustand
3.3 Die Beschulung von Kindern mit Verhaltensauffälligkeit als ein Widerspruch zum Anspruch des deutschen Bildungswesens: Ist-Zustand
3.4 Schulische Selektion und Chancenungleichheit im deutschen Bildungssystem: Diskrepanz zwischen Soll- und Ist-Zustand
3.5 Verhaltensauffällige Schüler als Gegenstandsbereich der Sonderpädagogik: Eine kritische Betrachtung

4. Beratung bei Verhaltensauffälligkeit
4.1 Pädagogische Beratung
4.1.1 Professionelle Beratung versus Alltagsberatung
4.1.2 Arbeitsbereiche pädagogischer Beratung
4.2 Standardformen von Beratung bei Verhaltensauffälligkeit in der Schule
4.2.1 Außerschulische Beratung bei Verhaltensauffälligkeiten
4.2.1.1 Erziehungsberatung
4.2.2 Schulische Beratung bei Verhaltensauffälligkeiten
4.2.2.1 Schulpsychologische Beratung
4.2.2.2 Schulsozialarbeit
4.2.2.3 Beratungslehrer

5. Pädagogische Beratung bei Verhaltensauffälligkeit: ein ganzheitlicher Beratungsansatz in der Schule
5.1 Der Diplompädagoge als ‚Beratungsexperte’
5.1.1 Ausbildung/Qualifikation
5.1.2 Fachkompetenz
5.1.3 Die pädagogische Beziehung
5.2 Theoretischer Bezugsrahmen
5.3 Aufgabenbereiche pädagogischer Beratung
5.3.1 Lehrerberatung
5.3.2 Elternberatung
5.3.3 Handlungskonzepte für das Kind
5.3.4 Netzwerkorientierte und kooperative Tätigkeit
5.3.5 Präventionsarbeit

6. Resümee und Ausblick

7. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

1.1 Motivation und Fragestellung

„Es ist normal, verschieden zu sein.“

Trotzdem stellt Heterogenität eine zunehmende Problematik für Lehrer und Schule dar. In der allgemeinen Schule steigt die Zahl derjenigen Kinder, die als ‚auffällig’ und ‚störend’ wahrgenommen werden, weil sie nicht so sind wie die anderen Kinder, weil sie von einer vorgegebenen ‚Norm’ abweichen. Lehrer und Eltern fühlen sich überfordert und hilflos, was den Umgang mit diesen Kindern betrifft. Dies hat zur Folge, dass diese Kinder zu einem sonderpädagogischen oder psychologischen bzw. medizinischen ‚Problem’ gemacht und als ‚behindert’ oder ‚gestört’ definiert werden.

Häufige Konsequenzen dieser Kategorisierungen sind Ausgrenzung aus ihren Schulklassen durch gesonderte Förderung und Überweisung in Sonderschulen. Die häufigste und extremste Form der Ausgrenzung, die Aussonderung in die Sonderschule, steht in einem engen Zusammenhang mit schlechten Bildungschancen für jene Kinder. Dies wiederum stellt ein enormes bildungspolitisches Problem dar und steht im Widerspruch zum Anspruch des deutschen Bildungswesens. Ziel des deutschen Bildungswesens ist die „Schaffung eines gerechten Schulwesens, in dem jedes Kind und jeder Jugendliche unabhängig von Herkunft seine Chancen und Talente möglichst optimal nutzen und entfalten kann“ (Broschüre zum neuen Schulgesetz NRW, MSW 2006, S. 3). Die derzeitige Schulministerin Barbara Sommer verspricht in diesem Zuge: „Wie in den Pisa-Sieger-Staaten werden die Schulen in Nordrhein Westfalen künftig keinen mehr zurücklassen, weder Leistungsschwache noch Hochbegabte. Wir werden jedes Kind und jeden Jugendlichen mitnehmen“ (ebd.).

An dieser Stelle ist zu fragen, ob die häufig problematischen Lebensum­stände der betroffenen Kinder als die alleinige Ursache für diese schulische Selektion herangezogen werden können? Inwieweit trägt gerade die Sonderpädagogik mit ihrer zunehmenden Ausweitung der Förderschwerpunkte und -orte zur Aussonderung der ‚Problemschüler’ bei? Wie kann Selektion im Schulwesen vermieden werden?

Hier stellt sich für mich die Frage, ob Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten nicht eher als ein allgemeinpädagogisch zu reflektierendes Problem zu sehen sind, so dass die allgemeine Pädagogik möglicherweise ange­messener auf diese Kinder reagieren kann und gegebenenfalls die Möglichkeit hat, eine Ausgrenzung bzw. Aussonderung in den Zuständigkeitsbereich der Sonderpädagogik oder Psychologie bzw. Medizin zu vermeiden bzw. zu verhindern.

Diese offenen Fragen, die große Aktualität dieses Themas[1] haben mich dazu bewegt, diese Arbeit zu schreiben.

Offensichtlich wird das Thema Verhaltensauffälligkeit sowohl in der Praxis, als auch in der Theorie als ein Gegenstand der Sonderpädagogik und der Medizin bzw. Psychologie behandelt, jedoch eher selten als ein Aufgabenfeld der allgemeinen Pädagogik.

In der vorliegenden Arbeit geht es mir darum, Aspekte aufzuzeigen, die dafür sprechen, dass Verhaltensauffälligkeit ein allgemeinpädagogisches Problem darstellt und daraus schlussfolgernd mit allgemeinpädagogischen Ansätzen dieser Problematik in der Schule entgegengewirkt werden kann. Ein pädagogischer Beratungsansatz soll hier als mögliche Lösung des Problems der Aussonderung von Schülern mit ‚Verhaltensauffälligkeiten, vorgeschlagen bzw. diskutiert werden. Das hierbei zu verfolgende Ziel ist die Gewährleistung einer gemeinsamen Erziehung und Bildung aller Kinder in der Regelschule.

1.2 Aufbau der Arbeit

Im ersten Teil geht es mir darum, die Problematik der Kinder, die in der Schule als verhaltensauffällig wahrgenommen bzw. als ‚verhaltens’- oder ‚lerngestört’ kategorisiert werden und somit in den Zuständigkeitsbereich der Sonderpädagogik fallen, darzustellen.

Dazu setze ich mich zunächst im zweiten Kapitel mit der Begrifflichkeit von ‚Verhaltensauffälligkeit’ auseinander. Die sonderpädagogische Vorstelllungen über den Begriff werden kritisch diskutiert sowie die Problematik einer kategorialen Definition dieses Begriffs dargestellt.

Das dritte Kapitel beleuchtet die schulische Situation von Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten. Es soll dargestellt werden, wie das deutsche Schulsystem mit Verhaltensauffälligkeit in Schule umgeht. Hierzu bedarf es zunächst eines Überblicks über die schulgesetzlichen Regelungen und Bestimmungen der Förderung dieser Kinder. Anschließend wird anhand aktueller Zahlen aufgezeigt, wie die Beschulung dieser Kinder tatsächlich aussieht. In einem weiteren Schritt mündet dies in eine kritische Betrachtung der Sonderpädagogik in diesem Kontext.

Um am Ende der Arbeit durch pädagogische Beratung an Schulen eine mögliche Alternative zur sonderpädagogischen Förderung der Kinder mit Verhaltensauffälligkeit aufzuzeigen, dient das vierte Kapitel zunächst als Einführung in den Bereich pädagogischer Beratung. Es liefert unterschiedliche Definitionen und einen Überblick über die unterschiedlichen Arbeitsbereiche der pädagogischen Beratung. Bisherige Standardformen ‚pädagogischer Beratung’ bei Verhaltensauffälligkeit werden hier dargestellt und ihre Effizienz im Hinblick auf Verhaltensauffälligkeit in der Schule kritisch diskutiert.

An diese kritische Betrachtung schließt das fünfte Kapitel an, in dem ein Beratungsansatz der außerschulischen Pädagogik bei Verhaltensauffälligkeit in der Schule erarbeitet werden soll, der die Problematik der schulischen Selektion überwinden möchte.

Es folgt eine Neubestimmung von ‚pädagogischer Beratung’, die sich von den bisherigen Standardberatungs­formen bei Verhaltensauffälligkeit unterscheidet, ihre Vorteile sollen aufgezeigt werden.

Ich begreife ‚Integration’ bei Verhaltensauffälligkeit als eine allgemein­pädagogische Aufgabe, die auf ein Hinzuziehen der Sonderpädagogen in die Regelschule nicht angewiesen ist, daher verwende ich in dieser Arbeit hierfür die Umschreibung ‚gemeinsame Erziehung und Bildung aller Kinder in der Regelschule’.

Die Bezeichnungen ‚Sonderschule’ und ‚Förderschule’ werden synonym verwendet.[2]

Um eine Abgrenzung zur Sonder- bzw. Förderschule deutlich zu machen, werden die Bezeichnungen ‚Regelschule’ bzw. ‚allgemeine Schule’ verwendet.

Der Einfachheit halber und um eine bessere Lesbarkeit dieser Arbeit zu gewährleisten, werde ich bei allgemeinen Formen die maskuline Form verwenden.

2. Zum Verständnis von Verhaltensauffälligkeit

Verhaltensauffälligkeit ist ein weit verbreitetes Phänomen, das wissenschaftlich in einer Fülle von Literatur behandelt wird. Doch scheint es, als fände man keine gemeinsame Sprache, was die Beschreibung dieses Phänomens betrifft.

Es existiert eine Vielzahl von unterschiedlichen Begriffen, Definitionen, Klassifikationsversuchen und Erklärungsansätzen, um das Verhalten von Kindern, die von Lehrern und anderen Personen als ‚problematisch’, ‚auffällig’ und ‚störend’ bezeichnet werden, zu beschreiben und zu erklären. Die unterschiedlichen Darstellungen lassen eine Einheitlichkeit kaum zu. Es handelt sich hier somit um kein klar zu definierendes Phänomen. Die aktuelle Diskussion verdeutlicht, dass sehr unterschiedliche Dinge gemeint sind, wenn von Verhaltensauffälligkeiten gesprochen wird.

Die folgende Begriffsklärung soll helfen, bestehende Begriffe und ihre Gültigkeit zu hinterfragen und mögliche ‚Alternativen’ aufzuzeigen.

Immer wieder werden die Begriffe ‚Verhaltensauffälligkeit’ und ‚Verhaltens­störung’ als Synonyme genannt und verwendet. Im Folgenden sollen jedoch Unterschiede beider Begriffe herausgearbeitet werden, um ihre unter­schiedliche Bedeutung und Funktion für die Praxis und ihre jeweiligen Konse­quenzen für die betroffenen Kinder aufzuzeigen.

Damit allgemeinpädagogische Konzepte, wie sie in dieser Arbeit für pädagogische Beratung im Kontext von Verhaltensauffälligkeit herausge­arbeitet werden, als zutreffend bewiesen werden können, erscheint es wichtig, den in der Literatur vorwiegend aus sonderpädagogischer und psychologischer Perspektive als ‚Verhaltensstörung’ definierten Begriff allgemeinpädagogisch zu begreifen.

2.1 Begriffsklärung

Auffälliges Verhalten bei Kindern wird in der Fachliteratur von ‚schwererziehbar’ über ‚erziehungsschwierig’, ‚entwicklungsgestört’, ‚verhaltensgestört’ bis hin zur Umschreibung als ‚Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf’[3], beschrieben.

Obwohl die Sonderpädagogik seit Mitte der 90er Jahre vorgibt, sich von den alten Begriffen, wie z.B. ‚lernbehindert’ und ‚verhaltensgestört’ verabschiedet zu haben und stattdessen Umschreibungen wie ‚sonderpädagogischer Förderbedarf’ im Bereich Lernen oder Verhalten verwendet, hat trotz einiger Einwände und Kritiken[4], der Begriff ‚Verhaltensstörung’ die größte Verbreitung in der wissenschaftlichen Diskussion gefunden[5] (vgl. Mand 2003, S. 16 & Myschker 2005, S. 42). Sowohl in der interdisziplinären, als auch in der internationalen Kommunikation wird der Begriff ‚Verhaltensstörung’ gebraucht[6] (vgl. Myschker 2005, S. 42f.). Literaturrecherchen verdeutlichen, dass dieser Begriff nicht nur vorwiegend im sonderpädagogischen Sprachgebrauch vorherrscht. Auch in der Medizin und Psychologie findet er einheitliche Verwendung, was u.a. die psychologisch-psychiatrischen Klassifikationssysteme „Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen“ (DSM-IV) und die „Internationale Klassifikation psychischer Störungen“ (ICD-10), in denen Kriterien für Verhaltensstörungen festgelegt sind, verdeutlichen (vgl. Myschker 2005, S. 56f. & Hillenbrand 1999, S. 29).

2.1.1 Sonderpädagogische Sichtweise: ‚Verhaltensstörung’

Immer wieder stößt man in der Literatur auf Argumente, mit denen Sonderpädagogen versuchen, den Begriff ‚Verhaltensstörung’ zu legitimieren. Hierzu wird vor allem häufig die Notwendigkeit des Austauschs mit den Nachbarwissenschaften herangezogen. Dies verdeutlicht den Standort der Sonderpädagogik, ihre Nähe zur Psychologie und Medizin (vgl. Hillenbrand 1999, S. 28). Daher wird aus sonderpädagogischer Sicht bei ‚Verhaltensstörung’ von Problemen ausgegangen, die auch in Psychologie und Medizin behandelt werden.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Verhaltensstörung (phänomenologischer Oberbegriff (Quelle: vgl. Myschker 2005, S. 44ff.).

Schon bezüglich der Begrifflichkeit wird aus der Literatur ersichtlich, dass sich Sonderpädagogik und Medizin bzw. Psychologie dieses Phänomen zu ihrem Gegenstandsbereich machen und ‚Verhaltensstörung’ als eine ‚Störung’ beim Kinde, als seine Eigenschaft begreifen.

Begriffe, in denen das Wort ‚Störung’ vorkommt, implizieren eine Beeinträchtigung bzw. Störung, so gehen Sonderpädagogik und Medizin bzw. Psychologie von der Annahme aus, die Mehrzahl der Schüler sei ‚gesund’ und die ‚gestörten’ Schüler seien die Ausnahme und müssen demnach gesondert gefördert bzw. behandelt werden. Myschker (2005), der eine Definition für diesen Begriff entwickelt hat, die im Fachgebiet inzwischen weite Verbreitung gefunden hat und die ‚relativen’ Vorteile des Begriffs hervorhebt, betont, dass durch den Begriffsteil ‚Störung’

„nicht nur vorübergehend eine Problemkonstellation gegeben ist, dass vielmehr längerfristig individuelles und soziales Leben beeinträchtigt ist, dass für das Kind oder den Jugendlichen die Gefahr besteht, sich das soziokulturelle Erbe nicht adäquat aneignen und Mündigkeit, Unabhängigkeit, Selbstverwirklichung nicht erreichen zu können. Störung meint aber auch, dass Störfaktoren zu eliminieren sind, dass die Beeinträchtigung aufgehoben werden kann, dass durch Hilfeleistung der Weg wieder frei zu machen ist für die weitere adäquate Sozialisation, so wie bei einer Verkehrsstörung die Räumung der Straße von behindernden Unfallautos den Weg auf das Fahrziel wieder frei gibt“ (Myschker 2005, S. 43).

Myschker (2005) grenzt den Begriff ‚Verhaltensstörung’ deutlich von dem der ‚Verhaltensauffälligkeit’ ab, indem er „ernste und andauernde Probleme“ als Voraussetzung für ‚Verhaltensstörung’ angibt (S. 42). Dies impliziert wiederum die Forderung nach helfenden Maßnahmen, was u.a Myschker (2005) verdeutlicht, wenn er von einem „normabweichenden, negativauffälligen Fehlverhalten“ spricht, das „pädagogisch-therapeutische Interventionen notwendig macht und gerade wegen dieser Notwendigkeit das Signalwort Verhaltensstörung braucht“ (S. 43). Auch Hillenbrand (1999) erklärt an dieser Stelle:

„Ein Begriff wie ‚Verhaltensstörungen’ dient gar nicht in erster Linie zur Bezeichnung einer Realität. Er fasst sehr verschiedene Verhaltensprobleme zusammen. „Verhaltensstörung“ ist ein sprachliches Konstrukt. Mit diesem Konstrukt müssen u.a. besondere Maßnahmen der Erziehungshilfe legitimiert werden, nicht zuletzt muß der Einsatz finanzieller und personeller Ressourcen sprachlich begründbar sein“ (S. 30 Hervorheb. im Original).

In der Kennzeichnung des normabweichenden Verhaltens sieht Myschker (2005) jedoch gerade die entscheidende Funktion des Begriffs, nämlich helfende Maßnahmen für die Betroffenen einzuleiten (vgl. S. 45). So gelangt er zu folgender Definition:

„Verhaltensstörung ist ein von den zeit- und kulturspezifischen Erwartungsnormen abweichendes maladaptives Verhalten, das organogen und/oder milieureaktiv bedingt ist, wegen der Mehrdimensionalität, der Häufigkeit und des Schweregrades die Entwicklungs-, Lern- und Arbeitsfähigkeit sowie das Interaktionsgeschehen in der Umwelt beeinträchtigt und ohne besondere pädagogisch- therapeutische Hilfe nicht oder nur unzureichend überwunden werden kann“ (Myschker 2005, S. 45, Hervorheb. im Original).

In solchen Definitionen werden die Spuren des medizinischen Modells[7] deutlich. Aus dieser defizitorientierten Sichtweise wird davon ausgegangen, verschiedene Gruppen von Problemschülern systematisch von ‚normalen’ Schülern zu unterscheiden, ihnen spezifische Verhaltensmuster zu unterstellen, die eine besondere Pädagogik und damit besondere Institutionen notwendig machen (vgl. Mand 2003, S. 13f.). Die Verwendung des Begriffs ‚Verhaltensstörung’ in alltagstheoretischen Konzepten birgt die Gefahr, dass seine Bedeutung darin besteht, Probleme im Verhalten als eine Eigenschaft, als ein individuelles Problem eines Schülers, zu verstehen. Aus Problemen mit Kindern werden Probleme von Kindern gemacht (vgl. ebd. S. 19).

An dieser Stelle schließe ich mich der Argumentation Mands (2003) und Schlees (1989) an, die hierin einen deutlichen Nachteil des Begriffs sehen (vgl. passim). Die Feststellung ‚normabweichenden’ Verhaltens setzt immer auch eine klare Definition von normkonformem Verhalten voraus. Diese ist jedoch situations- und kontextabhängig (vgl. Schlee 1989, S. 39). Ereignisse und Tatsachen existieren nur in Abhängigkeit von ihren Betrachtern, sie sind das Resultat ihrer Wahrnehmung. Wahrnehmung gilt als ein aktiv-konstruierender Vorgang, der beeinflusst ist von unseren subjektiven Vorstellungen (vgl. ebd.). Empirischen Erfahrungen sind immer bereits theoretische Annahmen vorgeschaltet. Begriffe rekonstruieren Gegebenheiten. Auch Schlee weist auf die Funktion des Begriffs ‚Verhaltensstörung’, Ressourcen zu legitimieren, hin. Jedoch fasst er die Schwächen dieses Begriffs zusammen und erklärt ihn als unbrauchbar, da er für die pädagogische Praxis keine nützlichen Informationen bietet (vgl. Schlee 1989, S. 48). Der Begriff ‚Verhaltensstörung’ weist laut Schlee (1998) u.a. folgende theoretische Schwächen auf:

1. Heimliche Wertigkeit: Im Begriff sind Wertungen und Urteile enthalten, es ist kein objektiv beschreibender Begriff. Da es somit im Ermessen des Betrachters liegt, eine Verhaltensstörung festzustellen, taugt dieser Begriff nicht zur Beschreibung und Erklärung von Sachverhalten.
2. Prinzip der Selbstanwendung: Begriffe sollten auch auf den Benutzer selbst anwendbar sein. Beim Begriff Verhaltensstörung wendet jedoch der Erwachsene die Definitionsmacht auf das schwächere Kind an, das „den Zweifel am Wert seiner Person zu akzeptieren hat“.
3. Unterschiedliche Menschenbildannahmen: Die innere Sicht der Betroffenen bleibt unbeachtet, nur das äußere Verhalten wird betrachtet. Daher nimmt der Benutzer für sich die eigene Sinnhaftig­keit und Intentionalität an, für ihn gilt ein anderes Menschenbild als für das betroffene Kind.

Aus diesen theoretischen Schwächen lässt sich laut Schlee (1998) die bereits zu vor genannte ‚Unbrauchbarkeit’ dieses Begriffs durch folgende ‚Mängel’ erklären:

1. Mangel an genauen Beschreibungen: Als deskriptives Konstrukt ist der Begriff nicht brauchbar. Seine Unklarheit führt zu Schwierigkeiten bei der Erstellung von Diagnosekriterien, Erscheinungsformen und Bestimmung der Verbreitung.
2. Mängel an brauchbaren Erklärungen: Aus unpräzisen Beschreibungen können sich demzufolge keine zuverlässigen Erklärungen und Prognosen ableiten lassen, sodass keine fruchtbaren Handlungsem­pfehlungen entwickelt werden könne.
3. Erschwerte Kommunikation: Um die Entwicklung und den Aufbau eines Wissensbestandes sowie dessen ständiger Korrektur und Verbesserung zu ermöglichen, ist eine wechselseitige Kommunikation zwischen den Wissenschaftlern und Praktikern erforderlich. Diese Verständigung wird jedoch durch die unklare Begrifflichkeit erheblich beeinträchtigt.
4. Unfruchtbare empirische Forschung: Aufgrund der theoretischen Schwächen erhalten die Untersuchungsergebnisse wiederum nur präskriptive Annahmen des Untersuchers, empirische Forschungen erweisen sich demnach als unmöglich. Pädagogische Forschung soll jedoch zu einem System von begründeten und überprüfbaren Aussagen führen, um dann Handlungsperspektiven eröffnen zu können.
5. Vergebliche Ursachenforschung: Die Frage nach den Ursachen von Verhaltensstörungen stellt eine spezielle Problematik dar. Zum einen ist es nicht ausreichend, aus der Vielzahl der möglichen Bedingungen willkürlich nur eine einzelne herauszugreifen. Zum anderen ist in Frage zu stellen, ob die Kenntnis von Ursachen überhaupt zu nützlichen Handlungsvorschlägen führt. Vielmehr sind als Erklärung für das Zustandekommen des komplexen Gegenstands ‚Verhaltens­störungen’ vielfältige Kombinationen von Vorgängen denkbar[8] (vgl. Schlee 1989, S. 47).

Im Folgenden soll näher auf den Begriff Verhaltensauffälligkeit eingegangen und seine Vorteile hervorgehoben werden.

2.1.2 Allgemeinpädagogische Sichtweise: ‚Verhaltensauffälligkeit’

Da der Anspruch dieser Arbeit ein allgemeinpädagogischer ist, soll in dieser Arbeit von der Tradition und dem internationalen Sprachgebrauch abgesehen und dem Terminus ‚Verhaltensauffälligkeit’ der Vorzug gegeben werden. Auch wenn alle bisherigen Versuche, den Begriff ‚Verhaltensstörung’ durch andere Termini zu ersetzen, nicht zur weiteren Verbreitung dieser Begriffe geführt haben, ist er für die hier vorliegende Arbeit am angemessensten.

Die Rede ist hier nicht von einer manifestierten psychischen Störung, wie die Psychologie gerne feststellt oder einer Behinderung, wie es die Sonderpädagogik formuliert. Thema dieser Arbeit sind Kinder und Jugendliche, die durch ihr Verhalten, ob positiv oder negativ in der Schule oder anderen Institutionen von Pädagogen oder Eltern primär als ‚auffällig’ wahrgenommen werden.

Daher soll mit ‚Verhaltensauffälligkeit’ eine Stigmatisierung im Sinne von ‚gestört’, oder ‚minderwertig’ vermieden werden. Vielmehr soll durch den Begriffsbestandteil ‚Auffälligkeit’ der Blick stärker auf den Gesamtkontext, in dem das betroffene Kind steht, gerichtet werden. Den Vorteil dieses Begriffs sehe ich in erster Linie in seiner Wertneutralität. Der Betroffene wird zunächst als ‚nur’ auffällig in seinem Verhalten wahrgenommen. Diese Beurteilung kann auch eine positive sein (vgl. Myschker 2005, S. 42). Die Verwendung dieses wertfreieren Begriffs ermöglicht es, diese Problematik als Bestandteil der allgemeinen Pädagogik zu betrachten. Im schulischen Kontext fallen die betroffenen Kinder zunächst einmal nur durch ihre ‚auffälligen’ Verhaltensweisen den Pädagogen auf. Der Begriff beinhaltet nicht ‚Störung’ oder ‚Behinderung’. Von dieser Begriffsdefinition wird Abstand genommen.

Verhaltensauffälligkeit’ impliziert nicht, dass besondere Maßnahmen nötig sind, vielmehr kann hier die allgemeine Pädagogik reagieren und das Hinzuziehen von Sonderpädagogen oder Medizin bzw. Psychologie ist ‚noch’ nicht nötig.

2.2 Entstehung von Verhaltensauffälligkeiten

Um Verhaltensauffälligkeiten begreifen und als Pädagoge angemessen mit ihnen umgehen zu können, ist das Wissen über mögliche Entstehungsvorgänge notwendig. In der wissenschaftlichen Literatur lassen sich die verschiedensten theoretischen Ansätze zur Erklärung von Verhaltensauffälligkeiten[9] finden, die jeweils unterschiedliche Konsequenzen für die Förderung und Art der Beschulung der betroffenen Kinder bieten:

Der medizinische Ansatz

Aus biophysischer Perspektive wird eine Verhaltensstörung im Kindes- und Jugendalter als eine dem Kind zugeschriebene Eigenschaft verstanden. Als Ursache wird hier eine organische oder physische Schädigung bedingt durch Anlage oder Umwelt oder ihrer komplexen Interaktion, angenommen. Man unterscheidet zwischen Defekttheorien, die Verhaltensstörungen als Folge eines organischen Defekts verstehen und Retardierungstheorien, die Verhaltensstörungen als Resultat einer Entwicklungsverzögerung des Zentralnervensystems mit der Folge einer kognitiven, sozialen und emotionalen Unreife sehen. (vgl. Hillenbrand 2002, S. 63ff. & Myschker 2005, S. 83-93).

Der psychoanalytische Ansatz

Die Entstehung von Verhaltensstörungen wird hier tiefenpsychologisch mit den dynamischen unbewussten Vorgängen, den Emotionen und der frühkindlichen Bedürfnisbefriedigung (den Trieben) begründet. Ungelöste, intrapsychische Konflikte, eine fehlerbehaftete Verarbeitung von Konflikten, mangelnde Bedürfnisbefriedigung und eine gestörte Entwicklung sind die Ursachen. Die Störung wird demnach als eine Funktion psychischer Prozesse verstanden, die zu einer inadäquaten Ich-Entwicklung geführt hat. Das inadäquate, als „schwach“ bezeichnete ‚Ich’ äußert sich in der Unfähigkeit, Verhalten in Übereinstimmung mit den Forderungen der Umwelt zu regulieren. Entsprechend wird die betroffene Person mit therapeutischen Maßnahmen behandelt (vgl. Hillenbrand 2002, S. 65ff. & Myschker 2005, S. 93ff.).

Der lerntheoretische Ansatz

Aus lerntheoretischer Perspektive entstehen Verhaltensstörungen durch erlerntes unerwünschtes Verhalten. Verhaltensweisen bzw. Verhaltens­auffälligkeiten werden in Lernprozessen erworben und im Laufe der Zeit habitualisiert. Bezüglich der Lernvorgänge lassen sich vorwiegend drei Lerntheorien unterscheiden. Große Bedeutung wird dem klassischen und dem operanten Konditionieren sowie dem Lernen am Modell beigemessen. Im Kontext von Verhaltensstörungen spielt die aus den genannten Theorien abgeleitete Verhaltensmodifikation eine entscheidende Rolle (vgl. Myschker 2005, S . 106ff.).

- Das klassische Konditionieren (Pawlow): sozial inadäquate Verhaltens­weisen werden von der Bezugsperson strafend beantwortet, um diese negativen Reaktionen zu vermeiden verhält sich das Kind sozial adäquat. Was in diesem Fall als adäquat gilt, wird demnach von der jeweiligen Bezugsperson bestimmt (vg. ebd. S. 107).
- Das operante Konditionieren (Skinner): auf ein Verhalten folgen angenehme Konsequenzen, Verstärkungen, höhere Auftretenswahr­scheinlichkeit, primäre und sekundäre Verstärker, auch negative Verstärkung (zum Beispiel aggressives Verhalten) (vgl. ebd. S. 107f.).
- Imitations- oder Modelllernen (Bandura): durch Abgucken werden Verhaltensweisen und Verhaltensketten gelernt (vgl. ebd. S. 109f.).
Das komplexe menschliche Verhalten kommt durch ein Zusammenspiel der verschiedenen Arten des Lernens zustande (vgl. Hillenbrand 2002, S. 66f. & Myschker 2005, S. 106ff.).

Der soziologische Ansatz

Aus soziologischer Perspektive wird menschliches Verhalten in Abhängigkeit von fixierten und unausgesprochenen Regeln gesehen. Wenn Kinder gegen diese Regeln verstoßen, werden sie als sozial abweichend bezeichnet. Für die soziologische Erklärung zur Entstehung von Verhaltensstörungen spielen Zuschreibungs- bzw. Etikettierungsprozesse („labeling approach“) eine bedeutende Rolle. Während eines sozialen Prozesses wird dem Kind eine negative Eigenschaft zugeschrieben und durch eine Kontrollinstanz ein negatives Etikett verliehen, was in der Öffentlichkeit zu einem Stigma werden kann. Im Laufe der Zeit übernimmt das Kind dieses Etikett, nachdem es sich in einem länger andauernden Prozess mit dieser Typisierung auseinander­gesetzt hat. Verhaltensstörungen werden hier als in einem Prozess entstehende Bezeichnungen innerhalb eines bestimmten sozialen Kontextes begriffen. Sie sind das Ergebnis eines Prozesses, von einseitigen Situationsdefinitionen und speziellen Umständen, negativer Typisierungen und Sanktionen mit entsprechenden Reaktionen. Die Problematik der Verhaltensauffälligkeit wird nicht im Kind, sondern in sozialen Gegebenheiten und Erwartungen gesehen. Als Kritik sei die fehlende pädagogische Relevanz sowie die Unklarheit über die Primärauffälligkeit anzumerken (vgl. Hillenbrand 2002, S. 67f. & Myschker 2005, S. 110ff.). Aus soziologischer Perspektive erläutert Myschker (2005) die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei Verhaltensstörungen durch frühkindliche Sozialisation. Nach dieser Vorstellung werden Jungen schon von klein auf darin bestärkt, Probleme zum Ausdruck zu bringen, wohingegen Mädchen lernen, sich zurückzuhalten, Probleme zu internalisieren (vgl. S. 53).

Fast allen Ansätzen ist gemein, dass für die Entstehung einer Verhaltensauffälligkeit von einer defizitorientierten Sichtweise einer zu behandelnden Störung ausgegangen wird. Dies könnte möglicherweise damit zusammenhängen, dass hier jeweils von einer ‚Verhaltensstörung’ ausgegangen wird.

Dem medizinischen Ansatz nach wird das Kind in die Kategorien ‚gesund’ oder ‚krank’ bzw. ‚gestört’ und ‚nicht gestört’ eingeordnet und dement­sprechend mit Medikamenten behandelt.

Daher wird das medizinische Modell aufgrund seiner Defektfixierung und der fehlenden pädagogischen Relevanz kritisiert.

Am psychoanalytischen Ansatz wird kritisiert, dass er individuumszentriert ist und dem Kind oder Jugendlichen, ähnlich wie im biophysischen Modell, die Eigenschaft ‚krank’ zuschreibt und der soziale Aspekt unberücksichtigt bleibt.

Am lerntheoretischen Ansatz wird das mechanistische und passive Menschenbild und die große Gefahr der Manipulation durch den Einsatz der Verhaltensmodifikation als Kritikpunkt genannt.

Der soziologische Ansatz dagegen erklärt die Ursache ausschließlich in den äußeren Umständen, in der Umwelt des Kindes. Hier bleibt der Individuums­bezug unberücksichtigt.

Bei Verhaltensauffälligkeit, insbesondere in der Schule, handelt es sich jedoch um einen Versuch dieser Kinder, den eigenen Bedürfnissen und denen der Schule gerecht zu werden. Das Kind muss in Interaktion mit seinem Umfeld betrachtet werden. Nur ein ganzheitlicher Ansatz, der sowohl das betroffene Kind als auch seine Umwelt mit einbezieht, vermag die Entstehung einer Verhaltensauffälligkeit zu erklären. Anders als in der Sonderpädagogik oder Psychologie geht es der allgemeinen Pädagogik nicht primär um die Störungen des Kindes oder des Jugendlichen als eine ihm zugeschriebene Eigenschaft, sondern auch um die Umweltbedingungen, die die Entwicklung und Erziehung dieser Kinder beeinträchtigen. So vermögen eindimensionale Erklärungsmodelle die Entstehung von Verhaltensauffälligkeiten nicht wirklich zu erklären und monokausale Maßnahmen werden der Komplexität der Zusammenhänge nicht gerecht. Daher ist für diese Arbeit ein ganzheitlicher pädagogischer Erklärungsansatz, wie er im Folgenden dargestellt wird, von besonderer Bedeutung.

Der ganzheitliche Erklärungsansatz

Dem ‚ökologischen’ bzw. ‚pädagogischen’ Modell nach[10] lebt ein Kind in einem (sozialen) Ökosystem, mit dem es in Wechselwirkung steht. Die Familie, die Schule und die gesellschaftliche Kultur können als Beispiele für die verschiedenen Ebenen der einzelnen Ökosysteme, mit denen das Kind in wechselseitigem Austausch steht, gesehen werden (vgl. Hillenbrand 2002, S. 69).

Verhalten beruht auf der Interaktion zwischen dem Individuum mit seinen Anlagen und Selbstbestimmungs- und Selbstorganisationstendenzen und den verschiedenen Systemen seiner Umwelt. Es basiert auf einer eigenen Dynamik, subjektiven Wahrnehmung bzw. Konstruktion von Welt (vgl. Myschker 2005, S. 118).

Verhaltensauffälligkeiten sind demnach weder als Resultate organischer Bedingungen oder Entwicklungsbedingungen eines Kindes, noch als Ergebnisse der Umweltbedingungen zu verstehen. Sie stellen vielmehr das Resultat eines Interaktionsprozesses zwischen dem Kind als Individuum und den spezifischen Gegebenheiten in der Umwelt auf ihren verschiedenen Systemebenen dar (vgl. ebd. S. 118f.).

Im Erziehungs- und Bildungswesen besteht die Gefahr, dass die Umwelt mehr von dem Kind verlangt, als es zu leisten vermag. Wenn die Leistungsanforderung die verfügbaren körperlichen und geistig-seelischen Kräfte übersteigt, ist eine Überforderungssituation gegeben, der das Kind zunächst durch Anpassung zu begegnen versucht. Diese Anpassung wird in drei Phasen beschrieben:

Einer Aggressionsphase, in der alle Kräfte zur Bewältigung aktiviert werden, folgt die Regressionsphase, die durch resignatives Verhalten und Leistungsabfall gekennzeichnet ist. In der Restitutionsphase, erfolgt eine Neuorientierung, die zur Leistungssteigerung führt. In den beiden ersten Phasen kann es zur Fixierung kommen, die sich in Verhaltensauffälligkeiten bzw. Verhaltensstörungen manifestiert (vgl. Myschker 2005, S. 118ff.).

Aus dieser Perspektive entstehen Verhaltensauffälligkeiten durch eine gestörte Balance im Kind-Umwelt-System. Sie sind ein Zeichen für gestörte Interaktionen, die durch eine Diskrepanz zwischen den Erwartungen der Umwelt und den Fähigkeiten des Kindes entstehen können und die die Kinder mit Verhaltenauffälligkeiten nach außen repräsentieren (vgl. Hillenbrand 2002, S. 69). „Aus der verstehenden Perspektive sind auffällige Verhaltensweisen individuelle Problemlösungsversuche in einer gestörten Kind-Lebenswelt-Beziehung“ (Werning 1996, zit. n. Hillenbrand 2002, S. 97).

Helfende Maßnahmen müssen demnach versuchen, die Struktur des Ökosystems zu verändern. Nicht das Kind muss therapiert werden, vielmehr ist es notwendig, die Interaktion und Struktur des Systems oder der Systeme zu beeinflussen. Hierzu gilt es, sowohl das Kind mit seinen Bedürfnissen, als auch seine Umgebung zu berücksichtigen und mit einzubeziehen[11] (vgl. Hillenbrand 2002, S. 69f.).

Auch Hänsel/Schwager (2000) betonen die multikausalen Bedingungen, die bei der Entstehung von Verhaltensauffälligkeiten beteiligt sind. Sie tragen folgende drei sich wechselseitig bestimmende Ursachen zusammen:

- eine genetische und/oder bio-organische Ursache
- eine soziale Ursache, zumeist Stressfaktoren, die zu Überforderungen führen
- eine individuelle Lerngeschichte (vgl. S. 14).

Soziale und kulturelle Faktoren spielen offensichtlich bei der Erklärung von Schulversagen und auffälligem Verhalten eine entscheidende Rolle. Hierfür gibt es eine Vielzahl von empirischen Hinweisen (vgl. Mand 2003, S. 99). Auch der Einfluss von Geschlechtsunterschieden scheint bei der Entstehung von Verhaltensauffälligkeiten beträchtlich zu sein. Es sind vorwiegend Jungen aus sozialen Randgruppen und Migrantenfamilien, die von Verhaltensauffälligkeiten betroffen sind (Mand 2003, S. 99).

In Abgrenzung zum Begriff ‚Verhaltensstörung’ ist es wichtig, den Begriff ‚Verhaltensauffälligkeit’ nicht als Wertung einer Person, ihrer Charaktereigenschaften und Persönlichkeit zu verstehen, sondern ihn als zusammenfassende Kennzeichnung von Verhaltensweisen im schulischen Kontext, als eine Reaktion der Kinder zur Hilfe der Bewältigung einer belastenden Situation, zu verwenden. Diese primären Bewältigungsschwierigkeiten der Kinder können sich in einem sekundären Schritt durch Reaktionen der Umwelt, wie zum Beispiel dem Verhalten der

Lehrer, über Generalisierungs- und Habitualisierungsprozesse, zu ‚Störungen’ oder ‚Behinderungen’ manifestieren (vgl. Myschker 2005, S. 81f. & 63f.). Um dies zu veranschaulichen, hat Myschker (2005) das „Drei-Phasen-Modell“ entwickelt, an dem er die multifaktorielle Bedingtheit von Verhaltensstörungen erklärt: In einer ersten Phase entstehen Beeinträchtigungen im Menschen durch Problemkonstellationen aus Anlage, Umwelt und Selbstbestimmung. In einer zweiten Phase werden maladaptive Verhaltensweisen ausgeformt, die anschließend in einer dritten Phase habitualisiert werden und sich zu Verhaltensstörungen entwickeln (S. 81 f.).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: „Drei-Phasen-Modell“ (Quelle: Myschker 2005, S. 82).

Störungen und Behinderungen entstehen demnach im Prozess der Kommunikation und Interaktion. Hierbei spielen Etikettierungen im Sinne von objektiven Zuschreibungen eine entscheidende Rolle. Sie können dazu führen, dass die betroffenen Kinder das ihnen zugeschriebene Verhalten tatsächlich übernehmen und ihre Probleme zu einer ‚Störung’ erklären, der sie ausgeliefert sind und erwarten somit ‚behandelt’ zu werden.

Auffallend ist, dass der Begriff ‚Verhaltensstörung’ häufig in Zusammenhang mit ‚Lernstörung’ gebracht wird sowie seine Nähe zum Behinderungsbegriff (vgl. Myschker 2005, S. 63ff.). Eine deutliche Abgrenzung zwischen den genannten Begriffen ist jedoch für das Verständnis dieser Arbeit wichtig, wie im 3. Kapitel deutlich wird.

2.3 Problematik der Kategorisierung von Verhaltensauffälligkeit

Verhaltensauffälligkeit kann demnach als ein Oberbegriff verstanden werden, unter dem sämtliche Verhaltensweisen und Symptome, auch Behinderungen, psychische Störungen, chronische Krankheiten, Verhaltensprobleme, Lernprobleme etc. subsumiert werden können. Für diese Arbeit ist jedoch wichtig zu klären, dass mit ‚Verhaltensauffälligkeit’ das primär sichtbar auffällige Verhalten im schulischen Kontext gemeint ist.

Bestimmte Verhaltensweisen fallen nur vor einem sozialen Hintergrund mit bestimmten, explizit formulierten oder implizit vorhandenen Normen auf. Je nach sozialen Rahmenbedingungen wechseln die Normen der Beurteilung oft, d.h. andere Verhaltensweisen können auffällig oder die bisher als auffällig wahrgenommenen akzeptiert werden. Auffälliges Verhalten kann demnach nur in Abhängigkeit von sozialen Rahmenbedingungen entstehen. Für den schulischen Kontext bedeutet dies, dass in erster Linie wichtig ist, was sichtbar und auffällig ist. Das Verhalten des Schülers, das aus Sicht der Lehrer oder Eltern Erziehung und Bildung beeinträchtigen kann. Zur Feststellung einer Verhaltensauffälligkeit gehören jedoch immer zwei: der Schüler, der sich verhält und der Erwachsene, dem das Verhalten auffällt. Hierbei greift der Beobachter auf seine eigenen Wertschätzungen und Normalitätsvorstellungen zurück, somit entstehen Erwartungen und Normen aus seiner Sichtweise. Er nimmt das Verhalten des Schülers subjektiv als ‚auffällig’ bzw. ‚störend’ wahr. Die Gültigkeit der formulierten Kriterien für eine Verhaltensauffälligkeit ist daher immer von den Bedingungen des jeweiligen Kontextes und der beurteilenden Person abhängig (vgl. Mand 2003, S. 22f.).

Wie deutlich wird, gibt es keine eindeutige Definition und damit auch keine eindeutige Symptomatik, mit der die hier angesprochenen Probleme beschrieben werden. Vielmehr handelt es sich um sehr unterschiedliche Phänomene, die unter dem Begriff Verhaltensauffälligkeit subsumiert werden.

Abgesehen von der Schwierigkeit, menschliches Verhalten in seiner Vielfalt und Differenziertheit zu bestimmen, ergeben sich an dieser Stelle eine Vielzahl von Fragen, wie z.B.:

[...]


[1] Das „Problem“ der Heterogenität hat bereits Eingang in die bildungspolitische und bildungstheoretische Diskussion gefunden: Die Vortragsreihe im Oberstufen-Kolleg Bielefeld mit dem Titel „Heterogenität im Kontext von Schule und Unterricht“, die 2006 aktuelle Forschungsergebnisse und konkrete Konzepte für Schule und Beratung vorgestellt hat, die Fülle der Literatur zu diesem Thema (als Beispiel sei das 2006 erschienene Buch von G. Becker mit dem Titel „Lehrer lösen Konflikte“ zu nennen), das Symposium im Februar 2007 mit dem Thema „Individuelle Förderung auf der Didacta sowie das neue Schulgesetz in NRW) verdeutlichen die Aktualität dieser „Problematik“.

[2] Mit dem Schulgesetz NRW (10.02.2005) ist in Nordrhein-Westfalen nicht mehr von Sonderschulen, sondern von Förderschulen die Rede.

[3] Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel 3.

[4] Vgl. dazu Schlee 1989.

[5] An deutschen Universitäten wird ‚Verhaltensgestörtenpädagogik’ sogar als ein wissenschaftliches Fach im Bereich der Sonderpädagogik angeboten (vgl. Hillenbrand 1999, S. 10 & Myschker 2005, S. 44).

[6] Bereits auf dem 1. Weltkongress für Psychiatrie in Paris 1950 wurde der Begriff ‚Verhaltensstörung’ international als Sammelbegriff für alle „Abwegigkeiten und Handlungen und Haltungen von den einfachsten ‚Ungezogenheiten’, dem Ungehorsam, dem Jähzorn, den Tics, den Ess- und Schlafstörungen bis zu den schwersten Formen der Verwahrlosung und Kriminalität“ (Wiesenhütter 1964, zit. n. Myschker 2005, S. 43).

[7] Das alte medizinische Modell, das das sonderpädagogische Denken und Handeln über Jahrzehnte hinweg wie kaum ein anderes beeinflusst, versteht Behinderung vor allem als Defizit, legitimiert didaktische Konzepte und sonderpädagogische Institutionen mit diesen Defiziten, arbeitet mit Sonderanthropologien (Annahmen zum Wesen des Behinderten), löst das Problem der Ressourcenverteilung, indem die Vergabe von zusätzlichen Mitteln an die vermeintlich objektive Feststellung dieser Defizite gebunden wird (vgl. Mand 2003, S. 14).

[8] Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel 2.2

[9] In der Literatur zur Entstehung von Verhaltensauffälligkeiten wird fast ausschließlich der Begriff ‚Verhaltensstörung’ verwendet.

[10] Was Myschker (2005) in seinem „pädagogischen Aspekt“ (S. 118ff.) und Hillenbrand (2002) in seinem „ökologische Modell“ (S.69ff.). erklären, beruht auf derselben Theorie und meint dasselbe. Beide erklären hier die Entstehung von Verhaltensstörung aus einer ganzheitlichen Perspektive, die das Kind in Interaktion mit seiner Umwelt und alle beteiligten Systeme berücksichtigt.

[11] Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel 5

Ende der Leseprobe aus 105 Seiten

Details

Titel
Pädagogische Beratung bei Verhaltensauffälligkeit in der Schule
Hochschule
Universität Bielefeld
Note
1,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
105
Katalognummer
V111463
ISBN (eBook)
9783640095162
Dateigröße
666 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Pädagogische, Beratung, Verhaltensauffälligkeit, Schule
Arbeit zitieren
Nadja Tapyuli (Autor:in), 2007, Pädagogische Beratung bei Verhaltensauffälligkeit in der Schule , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/111463

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