Die Schweigespirale - Eine systemanalytische Annäherung


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

49 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1.Schweigespirale und Systemtheorie
1.1.Ideen und Perspektiven der Systemtheorie
1.2.Gliederung der Systemtheorie und dieser Arbeit

2.Systembeschreibung
2.1.Begriffe und Konventionen
2.1.1.Abstraktion von der Qualität
2.1.2.Gemessene Größen: Signale
2.1.3.Kausalzusammenhänge: Wirkungen
2.1.4.System
2.1.5.Darstellung im Blockschaltbild
2.2.System der Schweigespirale
2.2.1.Kern der Schweigespirale
2.2.2.Signale
2.2.3.Operationalisierung und Skalierung
2.2.4.Wirkungen
2.2.5.Darstellung im Blockschaltbild

3.Strukturelle Systemanalyse
3.1.Anwendung
3.1.1.Das Übertragungsglied „soziale Natur“
3.1.2.Analyse der Black Box
3.2.Kritik
3.2.1.Widersprüchliche Ergebnisse
3.2.2.Nutzen der strukturellen Systemanalyse

4.Kritik und Diskussion
4.1.Kritik an der Theorie der Schweigespirale
4.1.1.Begriffs-Verwirrungen
4.1.2.Gesellschaft und Gruppe
4.1.3.Widersprüche im Konstrukt „öffentliche Meinung“
4.1.4.Ungeklärte Zusammenhänge
4.1.5.Dimensionen von Meinung
4.2.Probleme der Systemtheorie in den Sozialwissenschaften
4.2.1.Enorme Komplexität
4.2.2.Dynamische Systeme
4.2.3.Rückwirkungsfreiheit
4.2.4.Motive eines Systems
4.2.5.Muster-Erkennung

5.Ausblick auf weitere Möglichkeiten
5.1.Quantitative Systemanalyse
5.1.1.Stationäre Analyse
5.1.2.Dynamische Systemanalyse
5.2.Ultimate Systemanalyse

6.Zusammenfassung

7.Literatur

1. Schweigespirale und Systemtheorie

Der Begriff der „Schweigespirale“ wurde Anfang der 70er Jahre von Elisabeth Noelle- Neumann geprägt. Die dahinter stehende Thjeorie stellt noch heute einen wichtigen Bestand- teil der Kommunikationswissenschaft dar. Nicht etwa, weil man die Theorie hätte beweisen können oder weil neue Erkenntnisse darauf aufbauten. Nein – vielmehr ist die Schweigespira- le einer der wenigen Versuche des Fachs, mit mikrotheoretischen Erkenntnissen der Psycholo- gie ein makrotheoretisches Phänomen schlüssig zu erklären. Während anderen Klassiker der Kommunikationswissenschaft klar in der Psychologie (Mikroebene) oder in der Soziologie (Makroebene) verwurzelt sind, setzt sich die Schweigespirale zwischen diese Stühle und be- wegt damit auch nach 30 Jahren noch das Gemüt der Wissenschaftler. Aber trotz umfangrei- cher Bemühungen fassen Kunczik und Zipfel die Situation noch 2001 wie folgt zusammen:

„Insgesamt sind bislang nur einzelne Komponenten, nicht jedoch alle psycholo- gischen, kommunikationstheoretischen und soziologischen Elemente der Schweigespirale gemeinsam einer empirischen Prüfung unterzogen worden (Donsbach 1987b). Die Komplexität des Wirkungszusammenhangs und die Lang- fristigkeit der Wirkungsannahme erschweren eine solche Untersuchung erheblich.“ (S. 379).

Genau genommen scheitert der Versuch einer durchgehenden Überprüfung bereits an der unvollständigen Beschreibung. So wird zwar grob der Zusammenhang zwischen den einz- lenen Konstrukten geschildert, doch bei der genaueren Beschäftigung mit der Theorie bleiben manche Fragen offen. Ihre Klärung wird allerdings nicht das wichtigste Ziel der vorliegenden Arbeit sein. Vielmehr soll gezeigt werden, dass das „alte“ Problem der Schweigespirale mit einem neuen Ansatz effektiver angegangen werden kann als es bislang geschah, und dass fest- gefahrene Probleme unter einer neuen Perspektive frischen Schwung bekommen.

Tatsächlich ist der „neue“ Ansatz älter als die Kommunikationswissenschaft selbst und firmierte zunächst unter dem Namen Kybernetik. Später, in Abgrenzung zur Informations- theorie, wurde der Ansatz dann als Systemtheorie bezeichnet und noch später – etwa zur selben Zeit wie die Schweigespirale – floss die Idee durch Luhmann und Parsons als „soziolo- gische Systemtheorie“ in die Sozialwissenschaften ein. Doch deren Spezialisierung erscheint im vorliegenden Fall eher kontraproduktiv. Deshalb orientiere ich mich im Folgenden an einer weniger speziellen und dafür sehr exakten Ausführung von Norbert Bischof (1998), der die Systemtheorie als Hilfswissenschaft auf der psychologischen Mikroebene anbietet.

1.1. Ideen und Perspektiven der Systemtheorie

Freilich stellt die Systemtheorie kein Allheilmittel dar. Sie bietet aber die Möglichkeit, einen komplexen Zusammenhang mit einer einheitlichen Darstellung sehr handlich zu erfassen. Gerade deshalb erscheint die Schweigespirale als dankbares Opfer für die Anwendung der Systemtheorie: Denn die Schweigespirale verknüpft „Thesen aus ganz ver- schiedenen Wissenschaftsgebieten“ verknüpft (Donsbach & Stevenson nach Noellen-Neu- mann, 2001, S. 295). Und so waren es gerade die verschiedenen Denkansätze und inkompati- ble Konstrukte, welche in der Vergangenheit Stoff für theoretische Diskrepanzen lieferten.

In der Systemtheorie sind die Eigenheiten dieser Konstrukte prinzipiell völlig irrelevant. Sie geht nämlich davon aus, dass jedes System – unter Abstraktion von der Qualität einer Größe – als Wirkungsgefüge aus Signalen und Wirkungen darstellbar ist. Auf diese Begriffe wird im Abschnitt 2.1 näher eingegangen. Doch zunächst ein kurzer Überblick, was Sie in dieser Arbeit lesen können.

1.2. Gliederung der Systemtheorie und dieser Arbeit

Bischof schlägt eine Einordnung und Unter- teilung der Systemtheo- rie vor, wie sie in Abbil- dung 1 dargestellt ist (1998, S. 106).

Besonders wichtig ist

dabei die Unterschei- dung der Systemtheorie

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Einordnung der Systemtheorie und ihrer Teilbereiche (Bischof, 1998, S. 106)

in eine ultimate und eine proximate Herangehensweise. Während die proximate Perspektive die Struktur eines Systems untersucht, vermag es die ultimate Sicht, dieser Struktur einen Sinn zu geben. Mehr dazu in Abschnitt 5.2.

Diese Arbeit orientiert sich an der oben dargestellten Gliederung, wobei aber nur zwei Aspekte der strukturellen proximaten Systemanalyse wirklich ausführlich behandelt werden: In Abschnitt 2 soll zunächst eine Abbildung der Theorie der Schweigespirale geschaffen wer- den. Anschließend wird Abschnitt 3 einen Teil dieses Systems strukturell analysieren.

Im Kern will diese Arbeit untersuchen, ob die Systemtheorie sich in Luhmanns „Begriffs- kombinatorik“ (Kunzik & Zipfel, 2001, S. 84) erschöpft oder ob sie neben „einer Theoriespra-

che, die nur Eingeweihten zugänglich ist“ (Käsler nach Kunczik & Zipfel, S. 84) auch nützli- che Ansätze für die wissenschaftliche Praxis bietet. Zu diesem Zweck sollen in Abschnitt 4 zentrale Probleme der Systemtheorie aufgezeigt werden, die auftreten, wenn diese in der So- zialwissenschaft verwendet wird. Abschließend wird noch auf weitere Möglichkeiten der Sys- temtheorie eingegangen: auf die quantitative Systemanalyse in Abschnitt 5.1 und auf die grundlegenden Ideen der ultimaten Systemanalyse in Abschnitt 5.2.

Parallel zur Systemtheorie wird in dieser Arbeit die Theorie der Schweigespirale und der öffentliche Meinung behandelt. Es ist aber absehbar, dass dieser große Themenkomplex den Rahmen der Arbeit bei weitem sprengen würde. Deshalb beschränke ich mich in jedem Ab- schnitt auf einen kleinen Ausschnitt des Gesamtkomplexes. Am Ende dieser Arbeit werden daher mehr Fragen entstanden sein als geklärt werden konnten. Doch angesichts der Tatsache, dass die Theorie der Schweigespirale seit ihrer Entstehung mehr verteidigt denn weiterentwi- ckelt wurde (vgl. Noelle-Neumann, 2001 S. 347-348), dürften neue Fragen der Theorie nur zuträglich sein. Und deshalb kritisiert Abschnitt 4 nicht nur die Systemtheorie sondern disku- tiert auch einige Schwächen der Schweigespirale.

2. Systembeschreibung

Als erster Teilbereich der Systemtheorie (genauer der Systemanalyse) soll die proximate Strukturanalyse betrachtet werden. Ihr Ziel ist es, die Struktur eines Systems zu erforschen – also die Frage zu beantworten, welche Größen („Signale“) wie („Wirkungen“) miteinander zusammenhängen. Die dazu verwendeten Begriffe sollen im Folgenden in Anlehnung an Bi- schof (1998) näher beschrieben werden.

2.1. Begriffe und Konventionen

2.1.1. Abstraktion von der Qualität

Nach Bischof ist es die „Abstraktion von der Qualität“, welche die Systemtheorie gegen- über anderen Betrachtungsweisen, vor allem der Physik, auszeichnet (S. 15-20). Im Kern be- deutet diese Abstraktion eine große Vereinfachung für den Beobachter (S. 22): Er muss sich beispielsweise keine Gedanken über die Bedeutung öffentlicher Meinung und die Funktion eines quasistatistischen Sinns machen (vgl. im Gegensatz: Noelle-Neumann, 2001, S. 84-121, S. 316 f.). Hat der Beobachter diese Größen operationalisiert und kennt er ihre kausalen Zu- sammenhänge mit anderen Größen, so kann er damit bereits arbeiten.

An dieser Stelle wird schon deutlich, dass die Systemtheorie nicht in Konkurrenz zu jenen psychologischen und soziologischen Theorien steht, auf welchen die Schweigespirale basiert. Im Gegensatz zu ihnen kann und will die proximate Systemtheorie kausale Zusammenhänge (Wirkungen) in Systemen nämlich gar nicht erklären.

2.1.2. Gemessene Größen: Signale

Für gemessene Größen in einem System wird der Begriff „Signal“ verwendet. Entspre- chend der verwandten Informationstheorie „verbindet“ ein Signal stets einen Sender mit einem oder mehreren Empfängern. Dadurch ergibt sich ein „Ort im Kausalnexus“, welcher alleine das Signal identifiziert (Bischof, 1998, S. 28). Mit anderen Worten: Ein Signal ist jene Information (im technischen Sinne), die von einem Subsystem zu einem anderen fließt. Dabei ist es unerheblich, ob die Information optisch, haptisch, verbal oder gar telepathisch über- tragen wird – von der Qualität wird ja grundsätzlich abgesehen (S. 28)1.

Darüber hinaus besitzt ein Signal eine zweite konstituierende Eigenschaft (Bischof, 1998, S. 28): Es muss Informationen für seinen „Empfänger“ tragen. Und dies ist nur möglich, wenn es verschiedene Zustände annehmen kann. Deshalb können Konstanten keine Signale sein.

2.1.3. Kausalzusammenhänge: Wirkungen

Das Gegenstück zum Signal ist die so genannte Wirkung – ein Begriff, der potenziell zu Verwirrung führt. Tatsächlich versteckt sich dahinter nichts anderes, als ein Systembestand- teil, der aus einem oder mehreren Eingangssignalen (Inputs) ein oder mehrere Ausgangssigna- le(Output) erzeugt (Bischof, 1998, S. 33). Genau genommen ist nicht einmal ein physisches Objekt dafür notwendig – jede kausale Beziehung zwischen Eingangsgrößen und einer Aus- gangsgröße ist eine Wirkung (S. 28 f.). Darstellbar ist diese Beziehung am einfachsten durch eine mathematisch Formel y = F(x) bzw. y = F(x, z, ...) im Falle mehrerer Eingangsgrößen.

Konkrete mathematische Formeln für eine Sozialwissenschaft? Spätestens an dieser Stelle dürfte ein gewisses Unbehagen gegenüber der Systemtheorie aufkeimen. Menschen als Bau- steine sozialer Systeme sind weder elektronische Bauteile mit definierten Kennlinien noch Maschinen mit fest programmiertem Verhalten. Auf dieses Problem soll unter anderem in Ab- schnitt 4.2 eingegangen werden.

2.1.4. System

Das System schließlich ist nichts weiter als „ein konkreter Ausschnitt aus der physischen Realität, in dem Interaktionen stattfinden ...“ (Bischof, 1998, S. 13). Aus der Perspektive der Systemtheorie also die Gesamtheit der betrachteten Signale und Wirkungen.

Keine Antwort gibt die Systemtheorie indes auf die Frage, welche Wirkungen bzw. Subsys- teme noch Teil des Systems sind und welche nicht mehr. Dennoch werden externe Einflüsse auf das System dadurch nicht ausgeschlossen. Sie sind vielmehr die Grundlage für stationäre Systeme (Bischof, 1998, S. 35) und Ausgangspunkt einer Systemanalyse. Bezeichnet werden solche Signale, die von außen kommen, als freie Eingänge (S. 33). Für den Beobachter sind sie „kausal unterspezifiziert“, er weiß nichts darüber, weshalb sie einen bestimmten Wert annehmen (S. 27). Offene Eingänge stellen für das System also „Freiheit“ dar, das System un- terliegt keiner totalen Determination im Sinne eines Laplace‘schen Dämons (S. 25-27).

2.1.5. Darstellung im Blockschaltbild

Für die Darstellung von Systemen gibt die Systemtheorie (unter anderem) das Blockschalt- bild an die Hand (vgl. Bischof, 1998, S. 33-39): Signale werden darin als Pfeile, Wirkungen als Blöcke dargestellt.

So zeigt Abbildung 2 beispielhaft die korrekte Darstellung des Gesetzes von Yerkes und Dodson (1908), wonach die Leistung einer Person mit wachsender allgemeiner Aktivierung zunimmt bis zu einem Opti-mum, während sie nach überschreiten des Optimums wieder abnimmt.

Die Signale wären in diesem Fall die allgemeine Aktivierung (x) und die Leis-

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Blockschaltbild des Gesetzes von Yerkes und Dodson (Zusammenhang zwischen allgemeiner Aktivierung und Leistung)

tung (y). Anstatt des Diagramms ließe sich übrigens auch eine Formel im Block angeben.

So einfach die beschriebenen Elemente und die Darstellung im Blockschaltbild auch wir- ken, für den Forscher haben sie einen klaren Vorteil: Er kann tatsächliche oder theoretische Systeme übersichtlich und exakt darstellen – zumindest in der Theorie. Ob dies auch auf die Schweigespirale zutrifft soll hier geklärt werden.

2.2. System der Schweigespirale

Will man das System der Schweigespirale darstellen, so ist es sinnvoll, sich zunächst Klar- heit über die Grenzen des Systems zu verschaffen. Aus systemtheoretischer Sicht bedeutet dies nichts anderes als die betrachteten Signale zu benennen. Deshalb sollte an dieser Stelle eigentlich eine Tabelle sämtlicher Signale erscheinen, die sich aus den Abhandlungen zur Schweigespirale ableiten lassen. Doch schnell wurde klar, dass dies ein aussichtsloses Un- terfangen werden würde.

Zum einen sieht Noelle-Neumann die Schweigespirale als allgemein gültige Konstante menschlicher Natur (2001, S. IV), was dazu führt, dass dasselbe theoretische Konstrukt in den verschiedensten Formen erscheint: So wird das Meinungsklima, welches zunächst durch die Abschätzung eines Wahlausgangs operationalisiert ist (S. 15-16) später mit der Gefahr zerschnittener Autoreifen (S. 80, S. 82) auf eine Ebene gestellt, um im Anschluss daran unver- ändert in das Konstrukt „Öffentliche Meinung“ überführt zu werden (S. 91). Diese findet sich anschließend in Form religiöse Moralvorstellungen wieder (S. 357-358).

Zum anderen trugen die Kritik an der Schweigespirale und deren Differenzierung ebenfalls nicht unwesentlich dazu bei, dass immer neue Größen in die Erklärung des Prozesses mit ein- bezogen wurden. Deshalb wird die Schweigespirale und ihre Funktion heute an unterschied- lichste individuelle, gesellschaftliche und thematische Voraussetzungen geknüpft2. Und all diese Faktoren wären als Signale aufzufassen.

Doch zurück zum System. Dieses soll einen Ausschnitt der konkreten Realität umfassen (siehe oben). Es muss also weder die gesamte (soziale) Welt beschreiben, noch muss es auf verschiedenste Sachverhalte anwendbar sein. Aus diesen Gründen und angesichts der enor- men und unüberschaubaren Komplexität, welche der Schweigespirale inzwischen zu eigen ist, erscheint es sinnvoll, zunächst nur den Kern der Theorie ins Visier zu nehmen.

2.2.1. Kern der Schweigespirale

Als Ausgangspunkt bietet Noelle-Neumann folgende Zusammenfassung (2001, S. 299) an:

„Das Testen der Theorie ist kompliziert, weil sie auf vier einzelnen Annahmen be- ruht und auf einer fünften, die die Verknüpfung dieser vier betrifft.

Die vier Annahmen sind:

1. Die Gesellschaft gebraucht gegenüber abweichenden Individuen Isolationsdro- hungen.
2. Die Individuen empfinden ständig Isolationsfurcht.
3. Aus Isolationsfurcht versuchen die Individuen ständig, das Meinungsklima einzuschätzen.
4. Das Ergebnis der Einschätzung beeinflußt ihr Verhalten vor allem in der Öf- fentlichkeit und insbesondere durch Zeigen oder Verbergen von Meinungen, zum Beispiel Reden und Schweigen.

Die fünfte Annahme verknüpft die vier Annahmen und erklärt daraus Bildung, Verteidigung und Veränderung der öffentlichen Meinung.“

2.2.2. Signale

Welche Signale sich aus diesen fünf Thesen erschließen lassen, zeigen die Tabellen 1 und 2 auf der nächsten Seite.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1: Signale im Mikrobereich der Schweigespirale

Aus den Signalen, welche sich aus den Thesen erschließen lassen, repräsentieren 6 die (psychologische) Mikroebene der Theorie (oben). Aus ihrem Zusammenwirken wird die Ent- stehung öffentlicher Meinung gefolgert – einem Konstrukt der Makroebene (unten). Außer- dem kann ein Meinungsklima nur wahrgenommen werden, wenn es tatsächlich existiert. Da- her soll noch ein weiteres (Makro-)Signal in das System aufgenommen werden, welches im Folgenden als „Meinungsverteilung“ bezeichnet wird.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 2: Signale im Makrobereich der Schweigespirale

Meinungs-Begrifflichkeiten

In der Tat ist die Unterscheidung von Meinungsklima und öffentlicher Meinung nicht ganz einfach. Noelle-Neumann verwendet für diese Begriffe nämlich eine ähnliche Operatio- nalisierung. So definiert sie öffentliche Meinung als „Meinungen im kontroversen Bereich, die man öffentlich äußern kann, ohne sich zu isolieren“ (Noelle-Neumann, 2001, S. 91, ähnlich S. 257). Doch lässt sich dieses Konstrukt nicht ohne Probleme messen (S. 300) und deshalb ist im Kontext von Messungen immer die Rede vom Meinungsklima (z.B. S. 301- 302, S. 296).

Das Meinungsklima aber entspricht der (individuell) wahrgenommenen öffentlichen Mei- nung (Noelle-Neumann, 2001, S. 79, S. 81, S. 302) oder auch der wahrgenommenen Mei- nungsverteilung (S. 27-28, S. 17, S. 25). In jedem Fall existiert Meinungsklima nicht un- abhängig von einer Person, auch wenn These 3 auf Seite 299 dies impliziert.

Um Verwechslungen zu vermeiden, verwende ich für die aggregierten Einzelmeinungen einer Gesellschaft daher – wie oben angekündigt – die Bezeichnung „Meinungsverteilung“.

2.2.3. Operationalisierung und Skalierung

Bevor die Zusammenhänge zwischen den beschriebenen Signalen betrachtet werden, ist es sinnvoll, deren Skalierung festzuhalten.

Meinung, Verhalten und Meinungsklima

Das Konstrukt „Meinung“ nimmt in der Theorie eine zentrale Rolle ein. Es sollte nicht vergessen werden, dass der Begriff in der Sozialforschung immer wieder Probleme aufwirft, doch diese sollen hier nicht weiter stören. Für die System-Betrachtung sind Meinungen einfach durch ihre Operationalisierung definiert. Im ursprünglichen Kontext der Schweigespi- rale also als Einstellung bzw. Präferenz gegenüber den Wahlalternativen einer Bundestags- wahl. Noelle-Neumann (2001, S. 296) schreibt hierzu: „Man muß in der Art einer normalen Umfrage ermitteln, wie sich die Meinungen der Bevölkerung zu einem ausgewählten Thema verteilen.“ Orientiert man sich an der tatsächlichen Messung, so ist die „individuelle Mei- nung“ eine nominal skalierte Variable. Und zur Vereinfachung betrachtet Noelle-Neumann im Kontext von Schweigespirale und Bundestagswahl sogar nur zwei mögliche Alternativen: CDU/CSU und SPD. Damit wird die Meinung (m) zur schlichten dichotomen Variable.

Das Verhalten (v) äußert sich im Zeigen oder Verbergen der eigenen Meinung. Hier tritt also zu den möglichen Ausprägungen von Meinung noch die dritte Ausprägung des „Schweigens“.

Auf der anderen Seite steht das wahrgenommene Meinungsklima (w). Auf Personenbasis beschreibt es, welche Meinung „die meisten“ – in den Augen des Individuums – vertreten. Das Signal kennt also die selben Ausprägungen wie Meinung (vgl. Noelle-Neumann, 2001, S. 27). Darüber hinaus ist noch eine dritte Ausprägung zu erwarten: Unwissenheit. Denn wenn etwa 65% der Bevölkerung eine Aussage darüber treffen können, wer wahrscheinlich die Wahl gewinnt (vgl. S. 17, S. 18), so will und/oder kann sich ein Viertel bis ein Drittel der Befragten nicht festlegen (S. 17, vgl. auch S. 78 im Kontext eines anderen Themas).

Meinungsaggregate

Im Aggregat gilt die Beschränkung auf nominale Meinungs-Werte freilich nicht mehr. In der Gesamt-Umfrage wird die Meinung, welche der Einzelne zur Antwort gab, zur Mei- nungsverteilung (p), einem metrischen Wert (vgl. z.B. Noelle-Neumann, 2001, S. 32). Nach obiger Vereinfachung betrachten wir nur zwei sich ausschließenden Wahlalternativen, von denen genau eine präferiert wird. Deshalb kann die Meinungsverteilung eindimensional durch den Anteil jener Befragten ausgedrückt werden, die eine der beiden Meinungsausprägungen präferieren. Der andere Anteil berechnet sich als Differenz auf 100%.

Die öffentliche Meinung (o) stellt indes einen Sonderfall dar. Obwohl sie aus „einer Sum- me individueller Meinungen“ entsteht (Noelle-Neumann, 2001, S. 321), unterscheidet sie sich von der einfachen Meinungsverteilung. Um ihrer Definition (Isolation bei Nichtbeachtung, S. 91) gerecht zu werden, muss sie viel stärker polarisiert sein, als die Meinungsverteilung. Eine Operationalisierung zur Messung gibt Noelle-Neumann nicht, trotzdem muss dieses Si- gnal für die Theorie der Schweigespirale wenigstens als hypothetisch messbares Konstrukt gedacht werden. Entsprechend der nominalen Skalierung von Meinung und Verhalten, und entsprechend der per Definition geforderten Polarität, ist auch für die inhaltliche Komponente von öffentlicher Meinung eine Nominalskalierung anzunehmen. Doch in Tabelle 2 wurde be- reits darauf hingewiesen, dass es sich bei öffentlicher Meinung wenigstens um ein zwei- dimensionales Konstrukt handeln muss. Dadurch soll das Konstrukt verschiedenen An- forderungen gerecht werden, die Noelle-Neumann stellt:

- Öffentliche Meinung kann sich bilden (vgl. S. 299) im Sinne von entstehen.
- Es gibt „... öffentliche Meinung in verschiedenen Aggregatszuständen, fest, flüssig und

»luftartig«.“ (S. 91 nach F. Tönnies).

Es muss also es einen Zustand öffentlicher Meinung geben, in dem sie noch nicht existiert bzw. in dem sie noch nicht als Tradition oder Sitte verfestigt ist. Neben der inhaltlichen

Komponente (oi) wird deshalb noch eine zweite Komponente der Existenz bzw. Verfesti- gung (oe) angenommen. Da es keinen stichhaltigen Gründe gibt, diese Komponente auf diskrete Werte zu beschränken, wird sie als metrisch angenommen.

Abweichung und Isolation

Die verbleibenden Signale gestalten sich recht unkompliziert. Eine Isolationsdrohung (d) kann von der Gesellschaft gebraucht werden oder eben nicht. Freilich sind Abstufungen in der Ernsthaftigkeit der Drohung denkbar oder in der Anzahl der Personen, welche die Isolation androhen. Doch darauf geht Noelle-Neumann (2001) an keiner Stelle näher ein. Daher wird für die Isolationsdrohung eine dichotome Skalierung verwendet. Entsprechendes gilt für die Isolation (i) an sich.

Und auch die Abweichung eines Individuums (a) kann nur dichotom skaliert sein. Zum einen, weil eine teilweise Abweichung in der Theorie nicht behandelt wird, zum anderen, weil die Abweichung als Signal eine Besonderheit aufweist: Im Gegensatz zu den anderen Signa- len handelt es sich um keine natürlich existierende Größe. Die Abweichung kommt erst als Nicht-Gleichheit zweier anderer Signale zustande. Sie kann also aus logischen Gründen nicht unmittelbar manipuliert werden (nicht einmal theoretisch, vgl. Bischof, 1998, S. 79). Es handelt sich also bei der Abweichung um eine so genannte Hilfsgröße, welche ausschließlich durch Manipulation der ihr zu Grund liegenden Wirkgrößen verändert werden kann. Im kon- kreten Fall wären dies das Verhalten (v) und die inhaltliche Komponente öffentlicher Mei- nung (oi). Und diese jeweils nominalen Signale können entweder übereinstimmen oder eben nicht, womit sich die dichotome Skalierung der Abweichung (a) ergibt. Eine Toleranzzone ist in der Theorie der Schweigespirale nicht vorgesehen.

Damit ist auch schon die erste Wirkung in dem System beschrieben: Die Abweichung (a) nimmt die Ausprägung 0 (keine Abweichung) an, falls Verhalten (v) und inhaltliche Komponente öffent- licher Meinung (oi) übereinstimmen, sonst die Ausprägung 1 (Abweichung).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Beziehung zwischen a, v und o – Darstellung im Blockschaltbild

Weitere Zusammenhänge werden im folgenden Abschnitt behandelt.

[...]


1 Die Absehung von der Qualität besagt aber nicht, dass es unbedeutend wäre, wie detailreich eine Information durch einen Kanal übertragen werden kann (vgl. Transinformation eines Kanals, Bischof, 1998, S. 68). So bietet ein optisch im Fernsehen übertragenes Signal dem Empfänger in der Regel mehr unterscheidbare Zustände als ein schriftlich in der Zeitung übertragenes Signal. Die Qualität des Kanals fließt also insofern in das Signal ein als es seinen Wertebereich limitiert.

2 Die Schweigespirale bzw. Teile dieser Theorie hängen nach Noelle-Neumann (2001) mit unzähligen Größen zusammen, z.B.: Milieu einer Person (S. 52), Situation der Öffentlichkeit einer Person und ihre Reaktion darauf (S. 202), individuelles Peinlichkeitsempfinden (S. 316) oder sektenhafte Abkapselung einer Personengruppe (S. 248); Wissen der Öffentlichkeit (S. 350), Konformität, Integration und Gefährdung einer Gesellschaft (S. VII, S. 192, S. 198), Werte der Zukunft (S. 319) oder auf thematischer Ebene gar Neuheit/Flüssigkeit und Emotionalisierung eines (Meinungs-)Themas (S. 219-220, S. 296), akute Krisen/Bedrohungen (S. 204), Argumentationsfähigkeit einer Meinungs-Partei (S. 248-249), etc.

Ende der Leseprobe aus 49 Seiten

Details

Titel
Die Schweigespirale - Eine systemanalytische Annäherung
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München
Veranstaltung
Politische Kommunikation
Note
1,0
Autor
Jahr
2004
Seiten
49
Katalognummer
V110545
ISBN (eBook)
9783640087129
Dateigröße
1227 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Schweigespirale ist ein unbestrittener Klassiker der Kommunikationswissenschaft. Doch was bleibt von der Theorie, wenn man sie mit den harten Mitteln der klassischen Systemtheorie einer intensiven Analyse unterzieht? Diese Arbeit zeigt auf, wo sich die Katze in den Schwanz beißt und - und warum Methoden der Systemtheorie für die Sozialwissenschaften so hilfreich sein können.
Schlagworte
Schweigespirale, Eine, Annäherung, Politische, Kommunikation
Arbeit zitieren
Dominik Leiner (Autor:in), 2004, Die Schweigespirale - Eine systemanalytische Annäherung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/110545

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