Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust - eine narzißtische Kränkung


Essai, 1996

5 Pages


Extrait


Walter Grode

Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust - eine narzißtische Kränkung

Rezensionsessay zu: Daniel Jonah Goldhagen: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz ge-wöhnliche Deutsche und der Holocaust. Aus dem Englischen von Klaus Kochmann. Siedler Verlag. Berlin 1996

(Erschienen in: >Lutherische Monatshefte< Kirche im Dialog mit Kultur, Wissenschaft und Politik,, Heft 12, Dezember 1996)

Goldhagens Befund ist eindeutig: Der Holocaust fand in Deutschland statt und nur in Deutschland, weil nur hier drei Faktoren zusammentrafen: Hier kamen die entschlossensten, giftigsten Antisemiten in der Menschheitsgeschichte an die Macht und beschlossen, eine mörderische Phantasie zum Zentrum der staatlichen Politik zu machen. Das geschah in einer Gesellschaft, die die entscheidenden Ansichten dieser Leute über die Juden weithin teilte. Der dritte Faktor war, daß nur Deutschland sich in der geopolitischen Lage befand, einen Völkermord dieser Größenordnung durchzuführen. An dieser Mahnung ist nichts herumzurelativieren, sie wird auf ewig wie ein Fels in der deutschen Geschichte stehen.

Wenn das Erscheinen von Goldhagens Werk (fast ein Jahr nach dem Ende des Gedenkjahres 1995) so viel Staub aufgewirbeln konnte, so wohl weniger deshalb, weil er als Historiker auf der Singularität des Zusammentreffens dieser drei Faktoren besteht, sondern weil er zugleich eine spezifische, ausschließlich auf den deutschen Antisemitismus bezogene, soziologische und psychologische Perspektive einfordert, eine Perspektive, die die individuelle Mentalität der Täter zum zentralen Element der Untersuchung macht.

Der Autor breitet dokumentarisches Material aus, mit dem sich die Wissenschaft bisher allenfalls am Rande und allein unter historischen Gesichtspunkten befaßt hat. Dies gilt für die Beteiligung der deutschen Polizeibataillone, insbes. aber für die Bedingungen in den Arbeitslagern, in denen Juden bei sinnlosen und sich wiederholenden Arbeiten ohne ausreichende Nahrung, ohne Schlaf buchstäblich zu Tode gearbeitet wurden. Und es gilt für das Verhalten der Wachen während der Todesmärsche in der letzten Kriegsphase, als sie trotz eines Befehls von Himmler, die Juden nicht weiter zu mißhandeln, ihrem anscheinend tiefsitzenden mörderischen Haß auf ihre Opfer verhaftet blieben.

Goldhagens Ergebnisse sind schockierend: So sei der Kreis der Täter sehr viel größer als bislang angenommen, die Täter seien in erster Linie ganz gewöhnliche Deutsche gewesen, motiviert durch einen tief verwurzelten, "eliminatorischen" Antisemitismus, der fast die gesamte deutsche Bevölkerung jener Zeit durchdrungen habe. Und diese deutschen Täter, schreibt Goldhagen, waren individuell urteilsfähig. Doch sie standen ihren Taten nicht neutral oder gar ablehnend gegenüber, wie sämtliche bisherigen Erklärungsansätze, mögen sie ansonsten noch so unterschiedlich sein, unisono behaupten. Sie handelten also nicht etwa aus einem Befehlsnotstand heraus, noch nicht einmal aus einem subjektiven, sondern "aus freien Stücken" und aus Überzeugung.

Goldhagen argumentiert simplifizierend und monokausal. Souverän erklärt er fast sämtliche Ergebnisse der NS-Forschung für irrelevant. Dafür betreibt er eine filmreife Inszenierung des Grauens. Mit Hilfe solcher (zumindest diesem Thema unangemessener) Stilmittel, rührt er jedoch an zwei noch immer noch wirksame Tabus: Die Vorstellung, die große Mehrheit der Deutschen habe vom Judenmord nichts gewußt und habe ihn auch nicht gewollt. Und an das zweite, viel stärker wirkende, die Täter seien gar nicht der Überzeugung gewesen, es sei gerechtfertigt die Juden zu töten.

Beides läßt Goldhagen nicht gelten. Kaum verhüllt begeht er einen ungeheuerlichen Tabubruch : Er setzt die deutschen Täter des Holocaust - die nach seinen abschließenden Worten nur das wurden, was auch die meisten Deutschen hätten werden können - (kaum verhüllt) mit denen in Ruanda oder Liberia gleich.

Doch vor einer Auseinandersetzung mit dieser nationalen narzißtischen Kränkung, weichen sowohl die nachgeborenen Kritiker der TAZ-Generation, als auch die der FAZ-Generation abblockend und insinuierend zurück. Mit dem ironischen Ergebnis, daß das Buch eine Aussöhnung zwischen den Generationen zuwege brachte, auf die die FAZ-Generation, vierzig Jahre lang vergeblich hatte warten müssen.

Fast alle Kritiker unterstellten Goldhagen, er postuliere erneut eine Kollektivschuld oder schlimmer noch - einen unveränderlichen deutschen Nationalcharakter. Viele zahlten es Goldhagen heim, indem sie nicht nur seine wissenschaftliche Reputation, sondern auch die persönliche Integrität in Zweifel zogen. Nicht nur dieser Unredlichkeiten wegen, hätten seine deutschen Kritiker mit Goldhagen besser umgehen sollen: Denn mit seinem

Beharren auf einer spezifisch deutschen, orts- und zeitgebundenen Mentalität, entlastet Goldhagen ja nicht nur die zivilen Gesellschaften des Westens und die deutschen Generationen der Nachgeborenen, sondern (zumindest partiell) auch die Tätergeneration.

Hier stößt Goldhagens anerkennenswerte und glänzend vermarktete Absicht, den Holocaust nicht nur als historisches Phänomen zu begreifen, an von ihm selbst errichtete kulturanthropologische Grenzen. Denn unter universell soziologischem oder sozialpsychologischem Blickwinkel, den Goldhagen jedoch als angeblich ahistorisch ablehnt, erscheint mir der Holocaust und vor allem auch das in ihm eingekapselte Grausamkeitspotential, sehr viel mehr als ein Phänomen der Moderne und weniger als ein generationen- und kulturgebundenes, deutsches Spezifikum.

Erinnert sei z.B. an die Schlußsätze Hannah Arendts in ihrer Studie über den Eichmann-Prozeß. Das eigentliche Verbrechen Eichmanns, schrieb sie, sei gewesen, daß er sich angemaßt habe, darüber zu entscheiden, wer das Recht habe, auf dieser Erde zu leben. Genau das aber ist der Stachel, der jede tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Holocaust zu einer fortwährenden und gleichermaßen zu einer nicht zu bewältigenden macht. Denn unsere gesamte (westliche) Lebensweise, mit allen ihren zivilisatori- schen Fortschritten, hat diese schlummernde Hybris (geweckt z.B. durch die "Fortschritte" in der Embryonenforschung oder der Transplantationsmedizin) zu ihrer immanenten Voraussetzung.

Was hingegen ihre Wirkung auf das deutsche Geschichtsbild angeht, so könnte die von Goldhagen provozierte Sichtweise für uns Deutsche und unser Verhältnis zum Holocaust, bzw. zum Antisemitismus von ähnlich kathartischer Wirkung sein, wie Anfang der sechziger Jahre Fritz Fischers zunächst hart angegriffenes Buch "Der Griff nach der Weltmacht", das den Ersten Weltkrieg in eine Kontinuitätslinie deutscher Außenpolitik stellte, die bis 1945 reichte.

Fin de l'extrait de 5 pages

Résumé des informations

Titre
Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust - eine narzißtische Kränkung
Cours
-
Auteur
Année
1996
Pages
5
N° de catalogue
V110244
ISBN (ebook)
9783640084197
Taille d'un fichier
394 KB
Langue
allemand
Annotations
Rezensionsessay zu: Daniel Jonah Goldhagen: Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. Aus dem Englischen von Klaus Kochmann. Siedler Verlag. Berlin 1996 (Erschienen in: "Lutherische Monatshefte" Kirche im Dialog mit Kultur, Wissenschaft und Politik, Heft 12, Dezember 1996)
Mots clés
Ganz, Deutsche, Holocaust, Kränkung
Citation du texte
Dr. phil. Walter Grode (Auteur), 1996, Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust - eine narzißtische Kränkung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/110244

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