Wie viel von Jürgen Habermas Diskursethik steckt in dem schweizerischen Regierungssystem?


Hausarbeit, 2005

16 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

Einleitung:

1. Die Schweiz als europäischer, demokratischer Sonderfall:
1.1 Bedeutung des Föderalismus für die Schweizer Demokratie:
1.2 Das Prinzip der direkten Demokratie:

2. Die grundlegenden Gegenstände der Theorie des Diskurses von Jürgen Habermas:
2.1 Die pluralistische Gesellschaft:
2.2 Die Konzentration auf die Formalien:
2.3 Der Universalisierungsgrundsatz als Brückenprinzip zwischen dem Individuum und der Gesellschaft:
2.4 Die Vorraussetzungen für den Diskurs:

3. Theorie trifft auf Praxis:
3.1 Ist die Schweiz eine pluralistische Gesellschaft?
3.2 Die Formalien als Schlüssel zum Konsens:
3.3 Universalisierungsgrundsatz als fast unerreichbares Demokratieprinzip:
3.4 Die Spielregeln einer Demokratie sind auch die Spielregeln des Diskurses:

Schlusswort

Literaturverzeichnis:

Erklärung

Einleitung:

Zu oft wird in der politischen Theoriebildung ein theoretisches Herrschafts – bzw. Gesellschaftsmodell gelobt, aber nach einer genaueren Betrachtung schnell wieder verworfen. Die politische Theorie ist keine Praxiswerkstatt für Gesellschaftskonzepte sondern zeigt vielmehr Visionen und Zukunftsvorstellungen für ein erfolgreiches Miteinander. Damit sollte man sich jedoch nicht zufrieden geben.

Diese Arbeit ist ein Versuch, die Diskursethik von Jürgen Habermas mit der Regierungsstruktur und dem Demokratieverständnis der Schweiz zu verbinden. Im Mittelpunkt der Arbeit steht die Frage: Inwieweit bedient sich die Schweiz eines innerstaatlichen Diskurses in der Bevölkerung und wie hoch ist der Praxisanteil der Diskursethik an dem gegenwärtigen Schweizer Mitbestimmungsmodell?

Ziel dieser Arbeit ist es, Schnittmengen zwischen Theorie und Praxis aufzuzeigen und zu beweisen, dass die politische Theorie und die Analyse politischer Systeme untrennbar voneinander sind und dass sich beide Disziplinen gegenseitig bedingen.

Des Weiteren sollen auch Grenzen der Anwendung der Theorie des Diskurses von Jürgen Habermas herausgearbeitet werden.

Am Anfang der Arbeit wird zunächst das schweizerische Gesellschafts – bzw. Regierungssystem genauer erläutert. Dabei liegt der Schwerpunkt nicht auf einer klassischen Darstellung des politischen Systems (Parteienwettbewerb, etc.), sondern vielmehr auf der Ebene der Mitbestimmung durch die schweizerische Bevölkerung bei gesellschaftlichen und politischen Fragen. Dieser Analyse schließt sich die Darstellung der Diskursethik von Jürgen Habermas an. Hierbei soll vor allem eine vereinfachte Darstellung der Diskursethik herausgearbeitet werden, um fokussierend auf die Verbindungspunkte, die das Begründungsmodells zusammenhalten, eingehen und einen Vergleich mit der Praxis ermöglichen zu können. In diesem Prozess werden die Hauptargumentationspunkte der Diskursethik herausgegriffen und mit den schweizerischen Realitäten verglichen. Die dabei entstehenden Schnittmengen und Unterschiede zeigen am Ende der Arbeit, wie viel Habermas wirklich in der Schweiz steckt und ob eine politische, gesellschaftliche Theorie, wie die des Diskurses, auch in anderen Staaten Anwendung finden könnte.

1. Die Schweiz als europäischer, demokratischer Sonderfall:

Die Schweiz stellt auf dem europäischen Boden, dank seiner sich zu den Nachbarnländern stark unterscheidenden Auffassung von Demokratie, einen „Sonderfall“[1] der politischen Systemlehre dar. Darüber hinaus ist die Schweiz ein Staat, der durch viele ethnische, sprachliche und kulturelle Unterschiede geprägt worden ist. Im Norden sind überwiegend deutschsprachige Schweizer angesiedelt. Im Sünden erstreckt sich der italienisch sprechende Teil der Schweiz und im Westen dominiert die französische Sprache und Kultur. Die Mentalität der Schweizer Bevölkerung wird in den unterschiedlichsten Darstellungen als sehr freiheitsliebend beschrieben.

1.1 Bedeutung des Föderalismus für die Schweizer Demokratie:

Die Staatsstruktur der Schweiz trägt der freiheitsliebenden Mentalität Rechnung. Die Kantone mit ihren sehr unterschiedlichen kulturellen Prägungen bilden einen föderalistischen Staatenbund, der „eines der wichtigsten Strukturelemente der schweizerischen Staatsverfassung“[2] darstellt. Doch kulturelle und religiöse Unterschiede können auch Konflikte heraufbeschwören, weshalb das föderale Staatssystem geradezu ideal für die Schweiz ist, weil in diesem „die Nicht Zentralisierung politischer Gewalten und Gewährung lokaler Autonomie“[3] garantiert wird. Wichtigster politischer Auftrag des Bundes war bzw. ist es, die Lebensverhältnisse in den unterschiedlichen Kantonen durch Zuschüsse auf ein gleiches Niveau zu bringen, welcher nicht immer zufriedenstellend erfüllt wird.

Wie bereits angesprochen wirkt in einem föderalistischen Staatsgebilde ebenfalls ein Bundesstaat mit. Auf der Bundesebene existiert in der Schweiz ein Nationalrat mit 200 Mitgliedern und ein Ständerat als Vertretung der Kantone. Diese beiden Institutionen wählen den Bundesrat. Dieses siebenköpfigen Kollegium gilt als Staatsoberhaupt der Schweiz mit einem aus seinen Reihen jährlich wechselnden Bundespräsidenten. Der Bundesrat wird auf vier Jahre gewählt. Besonders interessant ist für uns dabei die Zusammensetzung dieser höchsten innerstaatlichen Institution.

Im Bundesrat der Schweiz, also innerhalb der Regierung, sind alle schweizerischen Parteien vertreten, dieses entspricht einer Vertretung des Volkes, das aus den unterschiedlichsten kulturellen Milieus erwachsen ist. Die Zusammensetzung des Bundesrates erfolgt nach der sogenannten „Zauberformel“[4]. Jeweils zwei Vertreter der Freisinnigen, zwei Christlich- Demokraten, zwei Sozialdemokraten und ein Vertreter der Volkspartei besetzen die Ämter des Bundesrates und stellen damit gleichzeitig die schweizerische Regierung. Diese vier Volksparteien vertreten gut drei Viertel der Wählerstimmen. Es werden somit alle politischen Kräfte an der Regierung beteiligt und es kommt innerhalb dieser Regierung zu einem Proporz[5].

Das bedeutet, alle Ämter werden gleich untereinander verteilt. Dieses verfassungsrechtliche Verteilungsprinzip ermöglicht es, vor allem Minderheiten, die bei einer Mehrheitsdemokratie nur eine sehr geringe Chance auf politische Mitbestimmung genießen, vollwertig an der Regierung mitzuwirken, ihre Interessen zu vertreten und ihre Zielvorstellungen zu artikulieren. Die eben beschriebene Proporzregel hat sich aus der kulturellen Verschiedenheit der verschiedenen Gesellschaften innerhalb der Schweiz fortwährend entwickelt und symbolisiert die Fähigkeit einer Konsensdemokratie.

Der Konsens innerhalb dieser Regierung beruht darauf, dass politische Themen und Reformvorschläge nur im Einvernehmen aller politischer Parteien verabschiedet werden können. Die Konsensfindung bedarf einer langwierigen Dauer von Gesprächen, Diskussionen und es besteht die Gefahr, dass Vorschläge „verwässert“ werden. Doch letztendlich funktioniert diese Art des Regierens aller Parteien.

Die negativen Effekte der Konsensdemokratie, wie die zeitliche als auch die inhaltliche Komponente, werden durch das zweite Strukturelement der Staatsverfassung beinahe wieder aufgehoben.

1.2 Das Prinzip der direkten Demokratie:

Neben dem stark ausgeprägten föderalistischen Staatsprinzips genießt ebenso die direkte Demokratie den Rang eines Strukturelements der Staatsverfassung. Die direkte Demokratie ermöglicht es dem Bürger über Gesetzesvorlagen direkt in Form einer Volksabstimmung mit zu entscheiden. Darüber hinaus besitzen die Schweizer Bürger die Möglichkeit durch Volksinitiativen unmittelbar auf die Politik Einfluss zu nehmen. Das Volk besitzt im Gegensatz zu anderen Demokratien den „höchsten demokratischen Legitimation“[6] Grad. Ihm nachgeordnet sind das Parlament und die Regierung. Die Schweizer Bürger werden hierbei nicht zu allen politischen Tagesthemen befragt, sondern entscheiden „nur“ über die wichtigsten politischen Vorschläge. Ein Beispiel für einen möglichen Volksentscheid wäre die Zustimmung oder Ablehnung eines EU Beitritts der Schweiz bzw. weitere völkerrechtlich bindende Verträge. Die direkte Demokratie mit ihren Volksentscheiden amortisiert somit die negativen Aspekte der Konsensdemokratie; denn die wichtigsten politischen Weichenstellungen werden alleine von den Bürgern gefällt. Der Bundesrat trifft nur nachrangigere Entscheidungen, deren Ausmaß an Bedeutung nicht die gleiche Wichtigkeit zukommt, wie das oben angesprochene Beispiel zum EU Beitritt.

In der direkten Demokratie ist es jedoch unerlässlich, dass zwischen den beiden Instrumenten der Mitbestimmung unterscheiden wird. Auf der einen Seite das Gesetzesreferendum und auf der anderen die Volksinitiative. Somit besitzen die Schweizer ein Kontrollorgan in Form des Gesetzesreferendums und eine Initiativrecht auf Bundesebene. Dadurch wird zunächst die Parlamentsarbeit kontrolliert und ergänzt und es wird wiederum Minderheiten die Chance ermöglicht, aktiv für sich und seine Vorstellungen und Probleme zu werben. Die Zahl der Volksinitiativen aus den Jahren von 1848 bis 2000 zeigt, dass die Schweizer insgesamt über 138 Volksinitiativen abgestimmt haben. 116 davon wurden angenommen[7]. Dieses ist ein Beleg für den lebendigen Umgang mit der direkten Demokratie.

2. Die grundlegenden Gegenstände der Theorie des Diskurses von Jürgen Habermas:

Nach der verkürzten Darstellung des Schweizerischen Demokratie – und Regierungsverständnisses wird im kommenden Teil der Arbeit die theoretische Basis für den später anstehenden Vergleich geliefert. Dabei geht es vor allem darum, ein Grundgerüst zu erstellen, an dem im weiteren Verlauf eine Prüfung mit der Gegenwart vollzogen werden kann.

2.1 Die pluralistische Gesellschaft:

Ausgangslage eines praktischen Diskurses, der Findung der idealen Sprechsituation, ist nach der Vorstellung von Jürgen Habermas ein Konflikt zwischen zwei Parteien, Gruppierungen oder Menschen. Dieser „Konfliktstoff“[8] erwächst nach Vorstellungen der Diskursethik aus der „kommunikativen Alltagspraxis“[9]. Das bedeutet, in jeder Äußerung steckt ein Konflikt. Dieser Konflikt kann durch sprachliche Mittel gesteigert oder verschleiert werden. Hierunter versteht man, dass eine Sprechsituation, die eines Diskurses nahe kommen möchte, einen Konflikt beinhalten muss bzw. dass wenigstens zwei unterschiedliche Positionen aufeinandertreffen müssen. Habermas spricht in diesem Fall von „Geltungsansprüchen“[10] und „Wahrheitsansprüchen“[11]. Zusammengefasst lässt sich als erster Gegenstand festhalten, dass sich die Diskursethik einer heterogenen Gesellschaft bedienen muss. Damit ist die heterogene, pluralistische Gesellschaft Grundvoraussetzung für die Entstehung eines Diskurses und der damit einsetzenden Diskursethik nach Jürgen Habermas.

2.2 Die Konzentration auf die Formalien:

Als zweite wichtige Grundvoraussetzung für einen gesellschaftlichen Diskurs ist es für Habermas unersetzlich, dass sich sein Begründungsprogramm nur auf rein formale „Spielregeln“ konzentriert. Inhaltliche Vorgaben werden von Habermas verneint. Habermas schreibt dazu, dass eine „Differenzierung zwischen Wahrheit und normativer Richtigkeit auf der Ebene der Argumentation nicht zu erwarten“[12] ist.

Dieses Konzentration auf die Formalien bietet der Theorie einen hohen Universalisierungsgrad. Sie kann in den unterschiedlichsten Sprechsituationen angewendet werden. Habermas entbindet sich dadurch einer moralischen Diskussion über Werte und Tugenden. Diese behält er den Diskursteilnehmern vor, die durch seine Ethik des Diskurses auf die richtigen Antworten gebracht werden sollen. Habermas ist also davon überzeugt, dass wenn diese „Prozeduren faktisch eingehalten werden, dann muss das Ergebnis auch als gerecht angesehen werden, während man über inhaltliche Gerechtigkeit endlos streiten könnte“[13] Diese Vorstellung ist angelehnt an die juristische Überzeugung, dass das Urteil des Richters als gerecht angesehen werden muss, wenn die Voraussetzung gegeben ist, dass dem Angeklagten ein fairer Prozess zugestanden worden ist. Dieser juristische Automatismus findet sich eindeutig bei Habermas wieder[14].

2.3 Der Universalisierungsgrundsatz als Brückenprinzip zwischen dem Individuum und der Gesellschaft:

In einem weiteren Schritt unterzieht Jürgen Habermas die Teilnehmer seines Diskurses eines „universellen Rollentausches“[15]. Dabei setzt Habermas darauf, dass „die Folgen und Nebenwirkungen, die sich jeweils aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen eines jeden Einzelnen (voraussichtlich) ergeben, von allen Betroffenen akzeptiert (und den Auswirkungen der bekannten alternativen Regelungsmöglichkeiten vorgezogen) werden können“[16].

Ohne diesen Rollentausch der Mitglieder des Diskurses kann die ideale Sprechsituation nicht gelingen und der Diskurs würde scheitern. Habermas benutzt also den Universalisierungsgrundsatz, als ein „Brückenprinzip“[17], um aus einer pluralistischen Gesellschaft eine Überparteilichkeit der Mitglieder entstehen zu lassen. Dieser Universalisierungsgrundsatz wird durch Habermas an den kategorischen Imperativ von Kant angelegt und von ihm umformuliert. Habermas fordert in seiner Formulierung, dass wir unsere Zielvorstellung nicht anderen als gültig vorschreiben sondern, dass wir auch unsere Zielvorstellungen überprüfen lassen.

Dabei liegt der Schwerpunkt von nun an nicht mehr auf dem Individuum, sondern bei der Allgemeinheit. Denn nur Zielvorstellungen, die allen genügen, werden als „universelle Norm“[18] am Ende des Diskurses anerkannt. Problematisch am Universalisierungsgrundsatz als Brückenprinzip ist jedoch, dass der Universalisierungsgrundsatz selbst bereits eine Art von Norm, bzw. „ein formales Moralprinzip“[19] darstellt. Das bedeutet, dass alle Diskursteilnehmer diese Brücke als richtig und gerecht bewerten müssen. Ansonsten scheitert der Diskurs schon an dieser Stelle.

2.4 Die Vorraussetzungen für den Diskurs:

Wie bereits angedeutet können Normen innerhalb des Diskurses nur Bestand haben, wenn diese von allen Mitgliedern anerkannt worden sind[20]. Damit unterstreicht Habermas, dass der Diskurs die höchste normative Instanz ist. Die Teilnehmer des Diskurses sind Rechtssprecher über das, was sie zulassen und verbieten. Trotzdem fordert Habermas vier grundlegende Vorraussetzungen, um sicher zu stellen, dass der angestrebte Diskurs überhaupt funktionieren kann. Habermas diskutiert seine Forderungen und kommt am Ende überspitzt formuliert auf die folgenden Voraussetzungen

- Jeder Teilnehmer muss über eine kommunikative Kompetenz verfügen.
- Jeder Diskursteilnehmer besitzt eine Redegleichheit zu seinen Mitstreitern. Dieses Redegleichheit „sichert allen Teilnehmern gleiche Chancen, Beiträge zur Argumentation zu leisten und eigene Argumente zur Geltung zu bringen“[21]. Dieses Ziel gilt für alle Vorraussetzungen für den idealen Diskurs. Darüber hinaus wird damit das Recht verbürgt, dass jeder Mensch auch ein Recht hat, an einem Diskurs teilzunehmen.

Des weiteren werden von Habermas folgende zwei Punkte als elementar und unverzichtbar für den Diskurs angesehen:

- Jeder Teilnehmer soll darüber hinaus wahrheitsgemäß argumentieren und sprechen.
- Jeder Teilnehmer soll dazu noch vernünftig sein.

Nur wenn diese vier Regeln von den Diskursteilnehmern eingehalten werden, kann ein Diskurs und ein anschließender Konsens gefunden werden. Diese vier Regeln sollen somit als Spielregeln für den Diskurs angesehen werden und sind vergleichbar mit institutionellen Regeln, z.B. in einer Geschäftsordnung oder im parlamentarischen Betrieb[22].

3. Theorie trifft auf Praxis:

Im folgenden Verlauf wird nun der Versuch unternommen, die wichtigsten theoretischen Grundsätze in Bezug zum schweizerischen Demokratieverständnis zu setzen. Dabei orientiert sich die Arbeit an den vier oben herausgearbeiteten Fixpunkten der Theorie des Diskurses. Darunter fallen die pluralistische Gesellschaft, die Konzentration auf die Formalien, der Universalisierungsgrundsatz als Brückenprinzip und die Vorraussetzungen oder Spielregeln für den Diskurs.

3.1 Ist die Schweiz eine pluralistische Gesellschaft?

Nach Habermas Vorstellung muss am Beginn eines gesellschaftlichen Diskurses ein Konflikt vorherrschen. Das Wort Konflikt ist in diesem Zusammenhang als unterschiedliche Meinung oder Zielvorstellung zu verstehen. Die Schweiz ist durch ihre ethnischen Differenzen auf sehr engem Raum eine im höchsten Maße pluralistische Gesellschaft. Die Gesellschaft stellt Mix aus Deutscher, Französischer, Italienischer und Ur Schweizerischen Kultur dar. Dieses wird darüber hinaus durch die vier Landessprachen noch untermauert. Dazu kommt, dass bestimmte Kantone wirtschaftlich dominanter sind als andere. Darüber hinaus ist der Bevölkerungsanteil der verschiedenen Kulturen ebenso unterschiedlich. Dadurch entstehen strukturelle Minderheiten. Darüber hinaus symbolisieren vor allem die elf Parteien die Vielfalt der politischen Kultur in der Schweiz und sind damit gleichzeitig Ausdruck der Pluralität innerhalb der Bevölkerung. Die politische Spanne reicht dabei von den Grünen bis hin zur religiös geprägten Evangelischen Volkspartei (EVP)[23].

Damit erfüllt die Schweiz geradezu als idealtypisches Beispiel die Grundvoraussetzung für eine pluralistisches Gesellschaft, die in einen Diskurs nach Jürgen Habermas eintreten kann bzw. soll.

3.2 Die Formalien als Schlüssel zum Konsens:

Habermas Forderung auf Inhalte strickt zu verzichten sondern nur den formalen Weg zu beschreiten wurde bereits im Kapitel 2.2 als juristisch dargestellt. In diesem Bereich verbindet sich die Forderung Habermas mit der schweizerischen Verfassung. Die Verfassung gibt keine inhaltlichen sondern rein formal, juristische Vorgaben an die Gesellschaft. Darüber hinaus bildet der in Verfassungsrang stehende Föderalismus der Schweiz ebenso einen formalen Rahmen, der mit Inhalt gefüllt werden darf bzw. werden soll. Dazu kommt die bereits angesprochene direkte Demokratie, mit der Einbindung des mündigen Bürgers (seit 1971 auch der mündigen Bürgerrinnen).

Die schweizerische Verfassung schreibt lediglich vor, dass es die Möglichkeit der Bürgerinnen und Bürger gibt, Volksinitiativen einzuleiten und zur Abstimmung zu bringen. Gleichzeitig ist festgelegt, dass bestimmte Gesetzesvorhaben der Regierung durch die Mehrheit der Bevölkerung abgesegnet werden müssen.

Doch das Gesetz bestimmt nicht über die Inhalte dieser Vorhaben, sondern nur über die formalen Kriterien und der damit verbundenen juristischen Gültigkeit. In sofern kann die Forderung von Jürgen Habermas auf die Konzentration der Formalien als verfassungsrechtlicher Rahmen für einen Nationalstaat gewertet werden mit dem Hintergrundgedanken, die Verfassung als Hüterin der Demokratie zu etablieren.

Dieses Ziel verfolgt indirekt auch Jürgen Habermas, indem er durch die Forderung der Vermeidung von Inhalten im Diskurs, am Ende einen Automatismus installiert, der besagt, dass wenn der Diskurs richtig nach den formalen Regeln durchgeführt wird, am Ende auch ein gutes Ergebnis sicher gestellt ist.

3.3 Universalisierungsgrundsatz als fast unerreichbares Demokratieprinzip:

Der von Jürgen Habermas als Brückenprinzip angelegte Universalisierungsgrundsatz, in Anlehnung an Kants kategorischen Imperativ, lässt sich nur sehr schwer realisieren. Doch die Schweizer Verfassung bzw. die Schweizer Parteien haben einen gangbaren Weg gefunden, wie dieser Universalisierungsgrundsatz einbezogen werden soll. Habermas verfolgt damit das Ziel, dass unsere persönlichen Vorstellungen von der Allgemeinheit erst geprüft, dann angenommen und schließlich verändert oder abgelehnt werden sollen.

In der Schweiz funktioniert diese Universalisierung durch den freiwilligen Proporz und den Konsens. Im schweizerischen Regierungsmodell ist eine Teilung der Regierung auf alle Parteien, zwar nicht formell juristisch festgeschrieben, aber als Gewohnheitsrecht gesellschaftlich tief verankert. Der Hintergrund dabei ist, dass alle Parteien in der Regierung vertreten sind. Berechnet wird die Verteilung der Sitze in der Regierung durch die Zauberformel[24].

Dadurch sollen die politischen Positionen breit gestreut sein und ein Konsens gefunden werden, der von der Allgemeinheit getragen bzw. auch gefordert worden ist. In der Praxis bedeutet das, dass unter Umständen stärkere Parteien ihre politischen Forderungen so auszulegen, dass auch Minderheiten diese Vorstellungen teilen können. Jede Partei muss in die Rolle der anderen Regierungspartei schlüpfen, um deren Argumentation zu verstehen, um damit dann gemeinsam einen Kosensvorschlag erbringen zu können. Durch dieses Regierungsprinzip erreicht die Schweiz schon einen Großteil des im Universalisierungsgrundsatz Geforderten.

3.4 Die Spielregeln einer Demokratie sind auch die Spielregeln des Diskurses:

Wie in jeder Gesellschaft bedarf es auch in der demokratischen, schweizerischen Gesellschaft einiger grundlegender Spielregeln, um die Errungenschaft der Gesellschaft zu erhalten. Die Grundvoraussetzungen für eine intakte, demokratische Gesellschaft sind zum Teil deckungsgleich mit den Forderungen, die Habermas in seiner Diskursethik vertritt.

Die Fähigkeit zur Kommunikation als Vorraussetzung besteht auch in einer Demokratie. Ohne die Vermittlung von Botschaften und Vorstellungen kann eine Demokratie nicht existieren. Doch Kommunikation bedeutet nicht unbedingt, dieses in Wort und Schrift zu tun, sondern auch über Gebärden, Blickkontakt und kinästhetischen (Tiefensensibilität)[25] Händedruck. Doch diese Kommunikationsformen sind in der modernen Demokratie nicht vorhanden. Die Demokratie in unserer Vorstellung lebt vom gesprochenen Wort und nicht auch von Gesten, die ebenso so viel ausdrücken können. Doch Habermas bezieht dieses ebenso in seinen Diskurs mit ein.

Die geforderte Redegleichheit für alle ist jedoch ein fester Bestandteil der demokratischen Grundordnung und deshalb auch nicht aus dem Schweizer Demokratieverständnis wegzudenken. Diese Redegleichheit geht in der Schweiz oft noch viel weiter als in anderen Demokratien. Dieses wird durch den freiwilligen Proporz gewährleistet. Beispielhaft wäre dabei die Prägung einer Medienanstalt für eine bestimmte politische Richtung, die andere Politiker gar nicht bzw. nur kürzer zu Wort kommen lassen. Dieses kann im freiwilligen Proporz nicht vorkommen, da die Posten für Intendanten gleich unter den Parteien vergeben wird. Die Vorstellung, dass jedoch die Wahrhaftigkeit des gesprochenen Wortes als Vorraussetzung gilt, ist nahezu unerreichbar. Auch im politischen Konsens sind politische Tricks und Unwahrheiten nicht vermeidbar. Auch die Forderung nach der Vernunft aller Redeteilnehmer ist eine schwer übertragbare Vorstellung. Doch die Schweizer Politiker erwiesen sich in der Vergangenheit immer als vernünftig. Denn die freiwillige Proporzregel ist verfassungsrechtlich nicht abgesichert. Das kann bedeuten, dass unter Umständen die stärkste Fraktion durchaus aus eine alleinige Regierung ohne die anderen vertretenden Parteien bilden kann.

Schlusswort:

Es ist nicht immer leicht, politische Theorien auf die realen Gegebenheiten zu übertragen, denn oft gehen politische Theorien von unterschiedlichen Grundvoraussetzungen aus. Im Falle von Jürgen Habermas Diskursethik gelingt es zu einem großen Teil die Grundpfeiler der Theorie mit der schweizerischen Demokratie zu vergleichen und Parallelen aufzuzeigen. Die hohen Übereinstimmungen zwischen Theorie und Praxis im Falle der Schweiz belegen zugleich jedoch auch, dass eine derartige Theoriebildung in anderen Staaten wenige Chancen hätte. Denn vor allem historische Gegebenheiten und das schweizerische kulturelle Bewusstsein fördern die Entwicklung des gelebten Diskurses, der auf der Welt als einmalig gelten dürfte.

Trotz der Kritik an Habermas können Teile seiner Diskursethik demokratische Grundzüge wiedergeben und werden einem teilweise empirischen, also nachkontrollierbaren Anspruch gerecht. Doch es bleiben auch offene Punkte, die leider nicht auf die Realität übertragbar sind. Beispielhaft ist dafür der Universalisierungsgrad, der nicht 1:1, wie Habermas es forderte übertragen werden kann. Dazu kommt die Regel der Vernunft und der Wahrhaftigkeit der Rede. Nichts desto trotz kann man aus politischen Theorien Erfahrungen, Vorschläge und Lösungsansätze übernehmen und durch sie gesellschaftlich profitieren.

Literaturverzeichnis:

Gebauer, Richard: Letzte Begründung. Eine Kritik der Diskursethik von Jürgen Habermas. München 1993.

Habermas, Jürgen: Diskursethik. Notizen zu einem Begründungsprogramm. In: Habermas, Jürgen: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt/Main 1999.

Linder, Wolf: Das politische System der Schweiz. In: Ismayr, Wolfgang (Hrsg.): Die politischen Systeme Westeuropas. 3. Auflage Opladen 2003.

Linder, Wolf: Swiss Democracy. Possible Solutions to Conflict in Multicultural Socities. New York 1994.

Reese, Wolfgang, Lohmann, Hans Martin, Bonacha, Thorsten: Jürgen Habermas. Frankfurt/Main 2001.

Zimmer, Renate: Handbuch der Sinneswahrnehmung. Grundlagen einer ganzheitlichen Erziehung. 4. Auflage, Freiburg 1995.

Erklärung:

Hiermit erkläre ich, dass ich diese Seminarhausarbeit alleine, ohne weitere fremde Hilfe, die hier nicht aufgeführt ist geschrieben habe.

17.10.2005, Robert Weber

[...]


[1] Linder, Wolf: Das politische System der Schweiz. In: Ismayr, Wolfgang (Hrsg.): Die politischen Systeme Westeuropas. 3. Auflage Opladen 2003, S. 487.

[2] Ebd., S. 489.

[3] Linder: Das politische System der Schweiz, S.489.

[4] Ebd., S.492.

[5] vgl. Ebd., S. 492.

[6] Linder: Das politische System der Schweiz, S.495.

[7] vgl. Linder: Das politische System der Schweiz, S. 497.

[8] Gebauer, Richard: Letzte Begründung. Eine Kritik der Diskursethik von Jürgen Habermas. München 1993, S. 33.

[9] Ebd.,S. 33.

[10] Habermas, Jürgen: Diskursethik. Notizen zu einem Begründungsprogramm. In: Habermas, Jürgen: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt/Main 1999, S. 68.

[11] Ebd., S. 68.

[12] Habermas: Diskursethik, S. 68.

[13] Reese, Wolfgang, Lohmann, Hans Martin, Bonacha, Thorsten: Jürgen Habermas. Frankfurt/Main 2001, S. 75.

[14] vgl. Ebd., S. 75.

[15] Habermas: Diskursethik, S. 75.

[16] Ebd.,S. 75/76

[17] Gebauer: Letzte Begründung. Eine Kritik an der Diskursethik von Jürgen Habermas, S. 35.

[18] Habermas: Diskursethik, S. 77.

[19] Gebauer: Letzte Begründung. Eine Kritik an der Diskursethik von Jürgen Habermas, S.34.

[20] Habermas: Diskursethik, S. 103.

[21] Habermas: Diskursethik, S. 99.

[22] Vgl. Habermas: Diskursethik, S. 102.

[23] Vgl. Linder: Das politische System der Schweiz, S. 506.

[24] vgl. Kapitel 1.1

[25] vgl. Zimmer, Renate: Handbuch der Sinneswahrnehmung. Grundlagen einer ganzheitlichen Erziehung. 4. Auflage, Freiburg 1995.

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Wie viel von Jürgen Habermas Diskursethik steckt in dem schweizerischen Regierungssystem?
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München
Veranstaltung
Soziale Anerkennung und Gerechtigkeit: Der politische Kontext der Frage nach der Geltung des Persönlichen (Kant, Rawls, Habermas, Honneth)
Note
1,3
Autor
Jahr
2005
Seiten
16
Katalognummer
V110180
ISBN (eBook)
9783640083565
Dateigröße
542 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Jürgen, Habermas, Diskursethik, Regierungssystem, Soziale, Anerkennung, Gerechtigkeit, Kontext, Frage, Geltung, Persönlichen, Rawls, Habermas, Honneth)
Arbeit zitieren
Robert Weber (Autor:in), 2005, Wie viel von Jürgen Habermas Diskursethik steckt in dem schweizerischen Regierungssystem?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/110180

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