Familien in der Systemtherapie - Problem des "re-entry"


Seminararbeit, 2006

17 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Eine Einführung in die Systemtherapie

II. Familiensysteme nach Niklas Luhmann

III. Familienkonstruktion in der systemischen Therapie

IV. Das Phänomen des „re - entry

I. Eine Einführung in die Systemtherapie

Seit den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts versuchen Therapeuten durch eine Vielzahl von Konzepten und Techniken Problemlagen, die Familien und Paare betreffen, zu analysieren. Neben diesem zunehmenden Interesse an der Erforschung familiärer Beziehungen entwickelte sich in den achtziger Jahren nach der Auseinandersetzung mit neueren epistemologischen und systemtheoretischen Konzepten dieser Zeit aus der Psychotherapie die systemische Therapie. Diese aus den Naturwissenschaften entlehnten Positionen, deren Begriffe und Theorien von Wissenschaftlern wie Humberto Maturana, Francisco J. Varela und Heinz von Foerster geprägt waren, befassten sich mit dem kognitiven Konstruktivismus sowie mit den Modellen der Kybernetik. Im deutschsprachigen Raum fand die systemische Therapie Ergänzung durch die Theorie der sozialen Systeme Niklas Luhmanns. In den neunziger Jahren waren die theoretischen Konzepte eher an alternativen Denkweisen aus der Diskurstheorie und der Sozialpsychologie orientiert. Während linguistische Ansätze, narrative und konversationale Modelle an Bedeutung gewannen, standen die sozialkonstruktivistischen und soziologischen Theorien im Hintergrund. Das soziale System der systemischen Therapie begann sich auszudifferenzieren. Vereinzelt erklang der Vorschlag, den Begriff ‘Systemische Therapie’ aufzugeben und durch spezielle Kennzeichnungen wie narrative Therapie, Kurzzeittherapie oder konversationale Therapie zu ersetzen oder die Bezeichnung zu spezifizieren, zum Beispiel als integrativ - systemische Therapie oder konstruktivistisch - systemische Therapie.

Nach diesem Einblick in die historischen Hintergründe versuche ich nun auf die Ansätze der systemischen Therapie einzugehen, welche auf intensive Weise durch das Denken Niklas Luhmanns geprägt wurden. Hierbei ergeben sich aus soziologischer Sichtweise nicht nur Gemeinsamkeiten. An dieser Stelle soll der Versuch unternommen werden, Probleme, die in der Familie auftreten, nicht mehr nur durch „psychosoziale“ (K. Ludewig, Systemische Therapie, 1993: 107) Grundlagen erklären zu wollen, wie es in der systemischen Familientherapie der Fall ist. Diese Thematik sollte vielmehr durch soziologische Forschungen zur Familienberatung bestimmt werden. Luhmann liefert mit seinem Text „Sozialsystem Familie“ (in N. Luhmann, Soziologische Aufklärung 5, 1990) präzise Voraussetzungen, um Familie nur noch im Bereich des Sozialen anzusiedeln und von den irritierenden psychischen Vorgängen abzusehen. Zunächst jedoch möchte ich Familie aus therapeutischer Sichtweise betrachten.

II. Die Familie in der systemischen Therapie

Die aus der Psychotherapie hervorgegangene systemische Familientherapie ist eine Methode zur konstruktiven Bearbeitung familiärer Krisen. Ihren Konzepten zufolge wird ein Problem nicht isoliert betrachtet, sondern im Zusammenhang mit der jeweilig aufeinander bezogenen und intensivierten Lebenssituation innerhalb sowie den Beziehungen zu anderen Menschen außerhalb der Familie. Aus therapeutischer Sicht entstehen und bestehen vor allem in der Familie oft Probleme und Schwierigkeiten, da Verletzungen, Zurückweisungen oder Kränkungen im familiären Umfeld intensiver wirken als in weniger eng verflochtenen sozialen Beziehungen. Die Wechselwirkungen zwischen ihren Mitgliedern und den Menschen in ihrem sozialen Umfeld, ob Kollegen oder Freundeskreis, sind ebenfalls bedeutsam für ihre Wahrnehmungen, Empfindungen, Verhaltens- und Kommunikationsmuster. Demnach sind für die Wahl der Behandlungsform die psychosozialen Strukturen einer Gruppe und die Bedeutung der signifikanten Bezugspersonen, nicht aber die Rechtsform der Gruppe oder die juristisch legitimierte Form der Familie von Relevanz.

In diesem Zusammenhang werden Schwierigkeiten, psychische Auffälligkeiten oder Konflikte nicht als Störungen gesehen, sondern als Bewältigungsversuch für die Probleme, welche die Familie belasten. Wie sie bisher ihre Schwierigkeiten bewältigt haben und mit Krisen umgegangen sind, beinhaltet nach dem Denken systemischer Therapeuten erste Möglichkeiten für Veränderungen. Nur die Familie selbst verfügt über die Ressourcen und Fähigkeiten, die notwendig sind, um entstandene Schwierigkeiten auflösen zu können. Speziell im Fall problemhaften Verhaltens bei Kindern und Jugendlichen können tragfähige Lösungen für die Familie erarbeitet werden, wenn das komplette Familiensystem in die Therapie mit einbezogen wird. So können alle vorhandenen familiären Möglichkeiten für einen effektiven Lösungsprozess nutzbar gemacht werden. Das bedeutet aber nicht, dass zwangsläufig immer die gesamte Familie anwesend sein muss, sondern vielmehr, dass all diejenigen eingeladen werden, die etwas zur Lösung des Problems oder der Schwierigkeiten beitragen können und möchten. Auch wenn nicht alle Familienmitglieder präsent sind, so sind sie doch indirekt an den Sitzungen beteiligt, weil immer das gesamte familiäre System betrachtet wird.

Durch die systemische Therapie soll eine klarere und verständlichere Kommunikation innerhalb der Familie gefördert werden, welche zuvor durch diverse Auslöser unterbrochen oder in einem Ausmaß verändert wurde, dass sie innerhalb der Familie zu Krisen geführt hat. Beispiele dafür sind die Geburt oder der Auszug der Kinder, die Pubertät und die Ablösung vom Elternhaus, Trennung und Scheidung, Krankheit oder der Tod eines Familienmitgliedes. Weitere Schwierigkeiten, von denen insbesondere Kinder und Jugendliche in der Familie betroffen sind, wie Verhaltensauffälligkeiten, schulische Probleme, sexuelle und körperliche Gewalt, Drogenkonsum oder Essstörungen, können unterschiedlichste Erziehungsprobleme - Überforderungsgefühle der Eltern, Streit oder Rivalität unter Geschwistern, aggressives Verhalten, Konflikte mit Gleichaltrigen - hervorrufen.

In einem ersten Gespräch werden Anliegen, Ziele und Wünsche der einzelnen Familienmitglieder geklärt sowie die Anzahl der Sitzungen und die Teilnehmer bestimmt. In welcher Konstellation die Familie die Therapiestunden wahrnimmt, wird individuell und möglicherweise in wechselnder Form festgelegt.

Hierbei stellt sich die Frage: kann die der Psychotherapie entstammende systemische Therapie in ihrer Behauptung, sich an der Systemtheorie anzulehnen, die Familie überhaupt mit ihren Vorstellungen phänomengerecht beschreiben?

II. Familiensysteme nach Niklas Luhmann

Das Ziel der systemischen Therapie besteht darin, Familienstrukturen gezielt durch Interventionen zu verändern. In diesem Zusammenhang versuche ich vorerst das Luhmannsche Theoriekonstrukt und die daran orientierten therapeutischen Grundlagen zu erfassen, um anschließend die Familie aus ihrem psychischen Geschehen abzulösen - mit dem Fokus, sie als ein soziales System zu begreifen, welches nur mittels Kommunikation operiert und dessen Probleme daher nur als die der kommunikativen Prozesse zugrundeliegenden verstanden werden können.

Der von den Naturwissenschaftlern Humberto Maturana und Francisco J. Varela geprägte Begriff der „Autopoiese“ (H. Maturana/ F. J. Varela, Baum der Erkenntnis, 1987: 55) nimmt in der Systemtheorie Niklas Luhmanns eine besondere Stellung ein. Luhmann bedient sich diesem zunächst im biologischen Kontext gebrauchten Sinngehalt und verändert ihn so, dass seine Übertragung in die Soziologie möglich wird. Mit dem eigens modifizierten Begriff der Autopoiese, der aus dem Griechischen übersetzt ‘Selbsterzeugung’ bedeutet, führt er den Gedanken der Geschlossenheit von Systemen ein. Damit beschreibt Luhmann eine Selbstbezogenheit von Systemen, die sich darin ausdrückt, dass diese sich stets auf sich selbst beziehen und ihr Fortbestehen allein aus sich selbst heraus organisieren. Soziale Systeme sind autopoietische Systeme, weil Kommunikationen nur im Rückgriff auf vorlaufende Kommunikationen zustande kommen, durch die sie veranlasst und ermöglicht werden, und im Vorgriff auf nachlaufende Kommunikationen, die sie veranlassen. Das bedeutet nicht, dass die Systeme unabhängig von ihrer Umwelt weiterbestehen können.

Jedoch ermöglicht erst die operative Geschlossenheit diese Offenheit gegenüber der Umwelt. Die Reproduktion ihrer selbst vollziehen die Systeme zwar einzig mit Hilfe eigener Strukturen, jedoch bedürfen sie der ständigen Abgrenzung zu ihrer Umwelt, um immer wieder definieren zu können, welche ihre Strukturen im Gegensatz zu solchen der Umwelt stehen. Jede Operation eines Systems zieht die Grenze zwischen System und Umwelt neu, da die Operation nur dann dem System zugerechnet werden kann, wenn sie sich von einer Umwelt des Systems unterscheidet. Anhand dieser Überlegungen wird nochmals die Bedeutsamkeit der Differenzierung von sozialen und psychischen Systemen hervorgehoben.

Mit dem Begriff des psychischen Systems charakterisiert Luhmann „das, was ansonsten als Mensch, Persönlichkeit oder Individuum bezeichnet wird“ (A. Treibel, Einführung in die soziologischen Theorien der Gegenwart, 1997: 29). Die zuvor erwähnten Operationen psychischer Systeme bestehen aus Bewusstseinsprozessen, Gedanken, Wahrnehmungen, Gefühlen und Wille. Die spezifischen Operationen sozialer Systeme andererseits können mit dem Begriff der Kommunikation erfasst werden. Der Begriff der sozialen Systeme fasst beispielsweise „Familien, Institutionen, Regierungen“ (ebd., 1997, 29) sowie die Gesellschaft an sich zusammen.

Familie als ein soziales System begreifen zu wollen bedeutet, sie aus den Bereichen der „lebensmäßigen [und] psychischen (...) Realität“ (N. Luhmann, 1990: 196) herauszulösen und in den Bereich der Kommunikation anzusiedeln. „Das Sozialsystem Familie besteht (...) nur aus Kommunikation, nicht aus Menschen und auch nicht aus „Beziehungen„ zwischen Menschen“ (ebd., 1990: 197, Herv. i. O.). Die Elemente innerhalb des sozialen Systems werden betrachtet als das Ergebnis eines „Netzwerk[s] der eigenen Operationen“ (ebd., 1990: 198).

Sobald sich ein Familiensystem durch seine eigenen Operationen produziert und reproduziert, offenbart sich seine Schließung gegenüber den Operationen der Umwelt. Diese operative Schließung bildet die Grundlage von Autonomie, stellt den Unterschied zur Umwelt dar. Somit ist das System trennbar von allem, was es eben nicht ist, denn zwischen dem komplexen System und der komplexeren Umwelt tritt eine Grenze, die eine Asymmetrie zwischen Innen und Außen darstellt. Nur in der „Differenz zwischen System und Umwelt“ (ebd., 1990: 198) ist das System als System und die Umwelt als Umwelt erkennbar.

Die Schließung erfolgt jedoch nicht durch Kommunikation in dem Sinne, dass das Kommunikationssystem sich von dem der Umwelt ablöst, sondern liegt einzig in der Unterscheidung spezieller Operationen. Die Umwelt ist ein „konstitutives Moment dieser Differenz„ und dadurch „für das System nicht weniger wichtig als das System selbst“ (N. Luhmann, Soziale Systeme, 1984: 289). Außerhalb systeminterner Kommunikation existiert die unentrinnbare soziale Umwelt mit einer Vielzahl funktionaler Kommunikationszusammenhänge, in deren Spielraum von Variationen und Differenzen man sich nur durch Selektion und Komplexitätsreduktion zurechtfinden kann.

Systeme und ihre Teilsysteme werden mit einer Umwelt konfrontiert, die zum Einen vielschichtige Ansprüche an sie heranträgt und andererseits keine universell gültige Orientierungshilfe bietet. Aufgrund der Integration und Verbindung im kulturellen, gesellschaftlichen und ökologischen Lebensraum verändern sich Familiensysteme im Laufe der Zeit in einer geordneten Weise. Sie sind imstande, neue Organisationsformen mit neuen Möglichkeiten hervorzubringen, ohne dabei ihre Funktion zu verlieren - die Erhaltung der eigenen Struktur.

Jedes System speichert selektiv im Laufe seiner Geschichte Erfahrungen, die es in der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt gewonnen hat, in seinem Gedächtnis ab. Daher muss nicht alles neu erfunden werden. Strukturen wirken auf das System entlastend, sind jedoch nicht dauerhaft. Sie sind nicht stabil, auch wenn ein außenstehender Beobachter diesen Eindruck gewinnen könnte. Strukturen werden vom System ständig variiert und ausgewechselt.

Die Unterscheidung von System und Umwelt entsteht unabhängig von System. Auch muss sie nicht vom System selbst wahrgenommen werden, denn „auch wenn es [das System] selber nicht fähig wäre, sie zu beobachten“ (N. Luhmann, 1990: 198) wird die Unterscheidung dadurch produziert, dass ein anderes System sie beobachtet und somit innere von äußeren Prozessen differenziert. Indem Außenstehende diesen „mitlaufenden Effekt“ (ebd., 1990: 198) beobachten, können beide Seiten der Unterscheidung bezeichnet werden.

Aus therapeutischer Sichtweise können demnach Aussagen über diese Differenz von einem Beobachter getroffen werden. Die ersten Anhaltspunkte für die systemische Familientherapie sollen im folgenden Abschnitt dargestellt werden.

III. Familienkonstruktion in der systemischen Therapie

Der systemtheoretischen Terminologie entsprechend wird die Familie in der systemisch orientierten Psychotherapie als ein relativ autonomes, nach innen geschlossenes und nach außen offenes, organisatorisch komplexes, autopoietisches soziales System beschrieben, das sich durch Interventionen gezielt verändern lässt.

In der Unterscheidung von System und Umwelt sehen Niklas Luhmann und die systemischen Therapeuten gleichermaßen eine Doppelfunktion. Einerseits wird das System durch seine operative Schließung in der Verbindung mit der Umwelt unterbrochen, andererseits wird eine Relation zwischen beiden hergestellt. Die eigentliche Aufgabe dieser Grenze besteht darin, die strukturelle Kopplung zwischen System und Umwelt zu regulieren. Demnach sind Familiensysteme in sich geschlossen, weil „keine ihrer Operationen außerhalb stattfinden [kann]; sie sind aber in dem Maße offen, wie ihre Komponenten mit Zuständen und Prozessen der Umwelt interagieren können„ (K. Ludewig, Systemische Therapie, 1993: 90).

In der Praxis ist es allerdings selten der Fall, dass alle Angehörigen gemeinsam die Hilfe des Therapeuten aufsuchen. Dennoch müssen die Probleme Einzelner in der therapeutischen Betrachtung in einem Gesamtzusammenhang gesehen werden, als Teil einer sozialen Ordnung. Helm Stierlin und Fritz B. Simon zufolge verhält sich „ein System in seiner Ganzheit (...) qualitativ neu und anders (...) als die Summe seiner isoliert betrachteten Einzelelemente„ (H. Stierlin/ F. B. Simon, Die Sprache der Familientherapie, 1999: 355). Die Beschreibung eines Systems als Ganzheit setzt allerdings voraus, dass es von seiner Umwelt unterschieden werden kann. Die Entscheidung, wo Grenzen des Systems gezogen werden, trifft der Beobachter, der Teil des Systems sein kann. In unserem Fall jedoch außerhalb des beobachteten Systems steht.

Die systemische Therapie zeichnet sich durch ein Konzept aus, welches sowohl in Theorie als auch in Praxis das psychische Erleben der Mitglieder im Kontext des Familiensystems zu erklären versucht. Der Faktor ´Psyche` wird durch das systemtheoretische Konzept der prinzipiellen Intransparenz von individuellen Bewusstseinsvorgängen als „black boxes“ (N. Luhmann, 1984: 156) bezeichnet. Deshalb muss sich die systemische Familientherapie an das halten, was sie beobachten kann, nämlich das bestimmte Kommunikationen den Identitäten von Menschen Ausdruck geben und sie damit erst ermöglichen. Um das Familiensystem als Gesamtkonstrukt zu erfassen bietet Kurt Ludewig mit dem Konzept der „Mitglieder“ (K. Ludewig, 1993: 110) eine Verbindung zwischen Mensch und Kommunikation. Die Familie soll nicht betrachtet werden als ein „Makrosystem, [das sich] (...) kaum auf den Alltag des Therapeuten übertragen„ (ebd., 1993: 110) lässt, sondern als ein System, das aus Mitgliedern besteht, die „eine sozial konstituierte Einheit [darstellen], (...) die den Kommunikationsprozess prägen und festigen„ (ebd., 1993: 110). In diesem Sinne bilden sich innerhalb des Zusammenwirkens verschiedene geordnete Einheiten heraus, welche in der Vorstellung der Mitglieder bestehen. Diese sind im persönlichen Erleben jedes Einzelnen durch hierarchische Differenzierungen geprägt. Helm Stierlin formuliert dies wie folgt: „Das Zusammenspiel der genannten Wirklichkeitskonstruktionen und Muster bringt sich in der jeweiligen Beziehungsrealität (...) der jeweils von den Systemmitgliedern konstruierten und gestalteten Realität zu Ausdruck. Diese lässt sich dann von einen außenstehenden Beobachter (...) beschreiben“ (H. Stierlin, Prinzipien, 1997: 79f).

Die Leitdifferenz des beobachtenden Therapeuten ist die System - Umwelt – Differenz seines Klientensystems. Bei einer solchen Beobachtungsoperation führt er allerdings unweigerlich seine eigenen System - Umwelt - Referenzen mit ein, „denn Beobachtung ist zugleich immer „selbstimplikativ“ (D. Krause, Luhmann - Lexikon, 2005: 72). Daher versucht der Therapeut in der Kommunikation mit einem anderen Beobachter seine therapeutische Kompetenz als Erweiterung kommunikativer Spielräume einzubringen. Kurt Ludewig formuliert die fachliche Begleitung und Beratung durch weitere Therapeuten als „Supervision“ (K. Ludewig, 1993: 149). Dabei orientiert sich die Therapie an den Richtlinien, die den professionellen Helfer immer wieder zur Reflexion seiner eigenen Rolle, seiner Möglichkeiten und seiner praktischen Maßnahmen veranlassen. Der Therapeut ist sowohl Beobachter eines anderen Beobachters, als auch der Beobachter einer Kommunikation, in der er selbst als Beteiligter vorkommt. In der Selbstbeobachtung gilt es für den Therapeuten zu prüfen, ob er in der Lage ist, seine Rolle als positiver Impulsgeber für den Klienten auszufüllen und ob er sich an die selbstgesetzten Maßstäbe hält, die er als systemisch orientierter Psychotherapeut akzeptiert.

Supervision als eine Erweiterung der therapeutischen Sichtweise präsentiert sich jedoch nur anhand der Selbstreflexion des Therapeuten und nicht an der Selbstreflexion des zu therapierenden sozialen Systems. Mit dem Konzept der Selbstreflexion wird die Frage relevant, welche Rolle der Therapeut einnimmt. Er ist als Beobachter Teil des therapeutischen Kontextes, das heißt ihm können nicht mehr objektive Beobachtungs- und Wahrnehmungskompetenzen bezüglich des zu lösenden Problems zugeschrieben werden.

Der Therapeut als Beobachter versucht gemeinsam mit dem Klientensystem eine neue Wirklichkeit zu konstruieren. Dabei kann lediglich ein an bestimmten Grenzen vollzogener systeminterner Veränderungsprozess angeregt werden. Jedoch will der Therapeut keine Kommunikation etablieren, die beabsichtigte Effekte bei den beteiligten psychischen Systemen wahrscheinlich macht, denn das wäre Manipulation. Veränderungen werden nicht kausal von außen bewirkt, sondern stellen die Folgen der Prozesse in den Relationen zwischen den Subsystemen dar. In diesem Zusammenhang muss festgehalten werden, dass die Lösung eines Problems, sei es im praktischen oder im theoretischen Bereich, niemals als einzig richtig und definitiv angesehen werden kann.

Zusammenfassend festigt sich der Nutzen der Theorie Luhmanns in der systemischen Familientherapie wie folgt: Alle Operationen sozialer Systeme zielen auf die Erzeugung und Aufrechterhaltung des Systems ab. Somit operieren sie als geschlossene Systeme, die über Kommunikation nach außen empfänglich sind, jedoch nur gemäß systeminterner Kriterien mit diesen Informationen umgehen, sie annehmen oder ablehnen, um ihre Funktion zu erhalten. Systemtherapeutischem Denken zufolge schränken dysfunktional gewordene Muster die Verhaltensweisen des betroffenen Systems ein. „Klienten und Familien kommen wegen Problemen und Beschwerden, die insofern geordnet sind, als sie wieder und wieder auftreten. Die Probleme tauchen in verschiedenen Situationen und trotz mancher Bemühungen wiederholt auf; sie sind also stabil“ (W. Tschacher/ E. J. Brunner, Theorie der Selbstorganisation und systemische Sicht der Psychotherapie, 1997: 85). Diese als problematisch erlebte Ordnung wird im therapeutischen Setting einer anderen Ordnung gegenübergestellt. Dadurch soll dem Klientensystem ein Unterschied zwischen den möglichen Wirklichkeitskonstruktionen aufgezeigt werden.

Daraus resultiert für die systemische Therapie, dass die Möglichkeiten zur jeweiligen Problemlösung im Klienten selbst zu finden sind und dass der Therapeut den Klienten nur im Prozess der Entscheidung zwischen diesen Möglichkeiten begleitet. Seine Aufgaben bestehen darin, einen Dialog zu ermöglichen, um sich ein Bild vom subjektiven Erleben des Familiensystems machen zu können. „Das Ziel der Therapie ist (...) die Fortsetzung des therapeutischen Gesprächs und Dialogs, so dass die gemeinsam geschaffene Darstellung, die als Problem aufgefasst wurde, nicht mehr besteht“ (H. A. Goolishian/ H. Anderson, Menschliche Systeme, 1988: 268).

IV. Das Phänomen des „re-entry“

Die Anwendung des Autopoiese - Konzeptes verlangt von Luhmann, dass er sich vollkommen auf den Nachweis der Abgeschlossenheit des Systems, der Undurchlässigkeit der Grenze konzentriert. Das Augenmerk systemischer Therapeuten liegt jedoch weniger in der Annahme, dass das Familiensystem selbst Grenzen aufweist, ihre Thematisierung beruht vielmehr auf den beobachtbaren Differenzierungen. Um jedoch die notwendige Abgeschlossenheit der Familie gegenüber der Umwelt zu veranschaulichen, muss Kommunikation unterscheidbar gemacht werden.

Der Prozess des Unterscheidens, der im ersten Verlauf zur Systembildung geführt hat, wird vom System noch einmal angewandt, diesmal jedoch in Bezug auf sich selbst. Für die erneute Einführung dieser systembildenden Operation in das System verwendet Luhmann den Begriff des „re-entry“ (N. Luhmann, 1990: 200), welchen er von dem Mathematiker George Spencer Brown übernommen hat. Das ‘re-entry’ ist der Eintritt einer Unterscheidung in sich selbst, die Wiedereinführung der Unterscheidung in das, was unterschieden worden ist. In Bezug auf die Operationen der Familie bedeutet das, dass die Operation als Operation eine Differenz erzeugt, mit der sich das System von seiner Umwelt unterscheiden kann. Nur innerhalb des Systems nehmen Operationen Anschluss aneinander. In der Umwelt geschieht gleichzeitig etwas anderes oder nichts. Sie hat nur begrenzt Folgen für die interne Kommunikation. Wenn ein System zwischen verschiedenen Kommunikationen eine Kopplung herstellen muss, dann muss es beobachten und festlegen können, welche kompatibel mit der eigenen erscheint. Ein System, das die eigene Anschlussfähigkeit kontrollieren will, muss daher über so etwas wie Selbstbeobachtung verfügen. Psychische und soziale Systeme bilden ihre Operationen als beobachtende Operationen aus, die es ermöglichen, das System selbst als ein „System - in - einer - gesellschaftlichen – Umwelt“ (ebd., 1990: 200) von seiner Umwelt zu unterscheiden - und dies obwohl die Operationen nur im System stattfinden können. Somit können soziale Systeme nicht nur über ihre Umwelt, sondern auch über ihre Differenz zur Umwelt kommunizieren. Das bedeutet, dass sie ihre Differenz selbstreferentiell darstellen.

Die Differenz von System und Umwelt kommt demnach zweimal vor. Zum Einen als ein durch das System produzierter Unterschied und andererseits als ein im System beobachteter Unterschied. Dem ‘re-entry’ zufolge kann sich das System operativ an seiner eigenen Unterscheidung orientieren und besitzt so die Fähigkeit sich selbst zu reproduzieren. „Auf diese Weise kann es [das System selbst] die Schließung als Einschließung vollziehen“ (ebd., 1990: 200) und wird nicht mehr nur von einem Beobachterstandpunkt betrachtet.

Anhand der Identität von Personen kann das System sich von seiner Umwelt unterscheiden und sich selbst als ein System bezeichnen. Personen werden von Luhmann definiert als „Identifikationspunkt[e] des Gesamtverhaltens eines Menschen innerhalb und außerhalb der Familie. Personen sind Konstrukte eines Beobachters, hier der Familie, die den Menschen auferlegt, ja ihnen als Eigenkonstruktion zugemutet werden. Über Personen, freilich nur über sehr wenige, kann die Umwelt, freilich nur in engen Ausschnitten, in das System wiedereingeführt werden, ohne damit ihre Unterscheidbarkeit einzubüßen“ (ebd., 1990: 200f). Die Identität einer Person bezeichnet hierbei das Konzept der reflexiven Beobachtung. Als Selbstbeobachter verstehen sie sich different zur Umwelt. Um dies zu erreichen sind sie aber paradoxerweise auf ihre soziale Umwelt angewiesen, in der mittels einer Vielzahl von Kommunikationen mögliche Orientierungen und Anhaltspunkte bereitgestellt werden.

Demnach prozessiert Kommunikation innerhalb der Familie nur indem „ das externe und das interne Verhalten [von Personen] intern relevant wird“ (ebd., 1990: 200, Herv. i. O.). Das Verhalten wird intern erst relevant, wenn die Paradoxie der gleichzeitigen Inklusion und Exklusion in die sozialen externen Beziehungen ausgeblendet wird. Die Personen liefern Beiträge für die interne Kommunikation, die allerdings Beiträge der Umwelt sind, also außerhalb des Familiensystems angesiedelt, jedoch in interner Kommunikation thematisiert werden. Der Informationswert kommunikativer Beiträge wird den beteiligten Personen zugeordnet. Als Person beobachtet man sich und andere innerhalb des sozialen Systems im Hinblick auf den spezifischen Beitrag, der von jeder anderen Person für die Kommunikation erbracht wird. Dabei wird jedes Verhalten genauso wie Nicht-Verhalten als Kommunikation angesehen.

Das gesamte Verhalten, welches einer Personen zugeordnet werden kann, wird aufgrund der intensiven Lebensweise für andere Familienmitglieder kommunizierbar. Luhmann beschreibt die Familie daher als ein „ System mit enthemmter Kommunikation „ (ebd., 1990: 203, Herv. I. O.). Die Operationen werden aufrechterhalten, indem jedes Familienmitglied im gleichen Maße Zugang zu ihnen hat. Das bewirkt, dass sämtliche Bereiche, die eine Person betreffen, kommunizierbar gemacht werden. Aus dieser Thematisierung versuchen Personen zu flüchten, indem sie sich an den familiären Prinzipen orientieren um nicht aufzufallen, sie richten ihre kommunikativen Beiträge nach den Resultaten ihrer Beobachtungen. „Es bildet sich eine Geschichte der ungleichen Favorisierung von Themen“ (ebd., 1990: 204)

Daher sind die Personen Beobachter und Beobachtete zugleich. Sie verfahren auf eine Art und Weise, dass sie in der Kommunikation auftretende Ereignisse unmittelbar auf sich oder auf andere beziehen, anstatt die Informationen als Produkt der Autopoiese innerhalb eines Kommunikationssystems anzusehen. Indem nämlich die sozialen Kommunikationsprozesse durch eine Umdeutung als individuelles Handeln den Personen zugeordnet werden, fließen in der Selbstbeobachtung der Personen beständig Informationen ein, die gemäß der Logik der Zuschreibung als Reflexionen der eigenen Identität aufgefasst werden müssen.

„Familienordnung (...) zwingt die Beteiligten mehr oder weniger, so zu bleiben, wie man zu sein schien, oder eine Änderung auszuhandeln“ (ebd., 1990: 204). Diese Richtungsorientierung an Personen wirkt sich hemmend auf familieninterne Kommunikation aus. Demnach sind beide Prozesse der Kommunikation in Familien anzutreffen, wobei die „Enthemmung selbst (...) durch Hemmungen geschützt“ (ebd., 1990: 204) ist.

Somit lassen sich die Beiträge zur Kommunikation nur im Rahmen beobachteter Beobachtungen begreifen. „Die Kommunikation wird deshalb, wenn sie dem Rechnung trägt, so gesteuert, dass sie ein wechselseitiges Beobachten ermöglicht. Sie vermeiden Fragen, die nur die Möglichkeit offen lassen, die Wahrheit zu sagen oder zu lügen - und in jedem Falle nicht das zu sagen, was man beobachtet, wenn man sich mit einer solchen Frage konfrontiert sieht“ (ebd., 1990: 214). Ausgesprochen wird, was im Rahmen beobachteter Beobachtungen innerhalb der Intensität kommunikativer Prozesse nicht als brisant eingestuft werden kann. Dies bildet eine unkalkulierbare Grundlage für die Therapie problemreicher Familiensysteme. Da alle Personen als Beobachter ständig andere Beobachter beim Beobachten beobachten. Daraus ergeben sich hochkomplexe, selbstbezügliche Prozesse, in deren Verlauf problematische Strukturen entstehen können. Im Sinne des Themas kann sich die Auffassung beobachteter Beobachtungen rächen.

Das Phänomen des ‘re-entry’ kann irritierend wirken und zu problematischen Konfusionen beider Differenzen führen. Beispielsweise hinterfragen die Personen sich selbst und ihr Familiensystem kritisch und versuchen, sich an anderen sozialen Systemen, wie zum Beispiel der Nachbarschaft oder dem Bekanntenkreis, zu messen. Die Folge davon kann zu der Enttäuschung führen, nicht so sein zu können wie die anderen. Einer anderen Vermutung zufolge wird das Problem selbst vom System als solches bezeichnet und unterschieden, wiederholt also einen Bildungsprozess und stellt daher ein neues System dar, was zu einer problematischen Integration und somit zu einer Konfusion führen könnte.

Beim Versuch diese Problematik zu verfolgen, lassen sich Schlüsse für die Ausmaße interner Kommunikation ziehen. Misshandlungen in der Familie werden nicht selten wegen Kommunikationshindernissen tabuisiert. Interne Probleme verlangen die Offenlegung von Intimität, das Enthemmen gehemmter Kommunikation und innerfamiliäre Eingeständnisse, welche die Familienordnung zu Fall bringen könnten. Die Opfer von Misshandlungen entscheiden sich oft dafür, im Schweigen gefangen zu sein, anstatt ihre Erfahrungen mitzuteilen.

Literaturverweis

- Detlef Krause, Luhmann – Lexikon, Frankfurt am Main 2005
- Annette Treibel, Einführung in die soziologischen Theorien der Gegenwart, Opladen 1997
- Niklas Luhmann, Soziale Systeme, Frankfurt am Main 1984
- Niklas Luhmann, Sozialsystem Familie. In: ebd., Soziologische Aufklärung 5, Opladen 1993
- Kurt Ludewig, Systemische Therapie, Stuttgart 1993
- Helm Stierlin/ Fritz B. Simon, Die Sprache der Familientherapie, Stuttgart 1999
- Helm Stierlin, Prinzipien. In: Fritz B. Simon (Hg.), Lebende Systeme, Frankfurt am Main 1997
- Wolfgang Tschacher/ Ewald J. Brunner, Theorie der Selbstorganisation und systemische Sicht der Psychotherapie. In: Ludwig Reiter/ Ewald J. Brunner/ Stella Reiter-Theil (Hg.), Von der Familientherapie zur systemischen Perspektive, Berlin 1997
- Harry A. Goolishian/ Harlene Anderson, Menschliche Systeme. In: Ludwig Reiter, Ewald J. Brunner, Stella Reiter-Theil (Hg.), Von der Familientherapie zur systemischen Perspektive, Berlin 1997

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Familien in der Systemtherapie - Problem des "re-entry"
Hochschule
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Veranstaltung
Soziologie der Familie
Note
1,3
Autor
Jahr
2006
Seiten
17
Katalognummer
V110169
ISBN (eBook)
9783640083459
ISBN (Buch)
9783640119110
Dateigröße
568 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Familien, Systemtherapie, Problem, Soziologie, Familie, Luhmann, reentry, Therapie, Systemtheorie
Arbeit zitieren
Randy Adam (Autor:in), 2006, Familien in der Systemtherapie - Problem des "re-entry" , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/110169

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