Kulturanalyse an Hand Andrei Makines 'Le testament français'


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

28 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Edward T. Hall
1.1. Die drei Kulturdimensionen nach Edward T. Hall
1.2. Analyse ausgewählter Textstellen
1.2.1. Kontext: High- und Low-Kontext-Kulturen
1.2.2. Zeit: Monochrome und polychrome Kulturen
1.2.3. Raum
1.3. Kurze Zusammenfassung

2. Geert Hofstede
2.1. Die fünf Kulturdimensionen nach Gert Hofstede
2.2. Analyse ausgewählter Textstellen
2.2.1. Machtdistanzindex
2.2.2. Individualismus versus Kolektivismus
2.2.3. Maskulinität versus Femininität
2.2.4. Unsicherheitsvermeidungsindex
2.3. Kurze Zusammenfassung

3. Fons Trompenaars
3.1. Die sieben Kulturdimensionen nach Fons Trompenaars
3.2. Analyse ausgewählter Textstellen
3.2.1. Universalismus contra Partikularismus
3.2.2. Individualismus contra Kollektivismus
3.2.3. Affektiv contra neutral
3.2.4. Spezifisch contra diffus
3.2.5. Leistung contra Ansehen
3.2.6. Konsekutiv contra synchron
3.2.7. Selbstbestimmt contra außengeleitet
3.3. Kurze Zusammenfassung

4. Zusammenstellung der Ergebnisse

Einleitung

Die vorliegende Hausarbeit beschäftigt sich mit Andrei Makines Roman „Le testament français“ aus dem Jahr 1995. Das Buch handelt von Aljoscha, einem russischen Heranwachsenden mit französischen Vorfahren, der seine Jugend in Russland verbringt, sich aber trotzdem der französischen Kultur verbunden fühlt, die ihm seine Großmutter Charlotte in den Sommerferien immer nahe zu bringen versucht. Dabei wird vor allem beschrieben, wie der Junge versucht, sich in (s)einer Kultur zurechtzufinden. Nach mehreren Identitätskrisen, in denen er sich mal mehr der russischen, dann wieder mehr der französischen Kultur zugehörig fühlt, erkennt er schließlich, dass beide Kulturen ein Teil seiner Selbst sind, und dass er sie annehmen und akzeptieren muss.

Ziel dieser Hausarbeit ist eine Kulturanalyse anhand der drei Wissenschaftler Edward T. Hall, Geert Hofstede und Fons Trompenaars. Sie setzten sich mit der Frage auseinander, wie und warum sich Kulturen unterscheiden und an welchen Merkmalen, genannt Kulturdimensionen, man diese Unterscheidung festhalten kann. Im Speziellen soll die Frage erörtert werden, wie Makine die beiden Kulturen beschreibt - also auf gleiche oder unterschiedliche Weise - und welche Charakteristika die jeweilige Kultur kennzeichnen. Dabei spielen Selbst- und Fremdwahrnehmung eine zentrale Rolle.

Zuerst werden am Anfang der jeweiligen Kapitel die Vorgehensweise und Dimensionen der Wissenschaftler erläutert, anschließend wird anhand von ausgewählten Textstellen untersucht, ob die jeweiligen Resultate mit der Textstelle übereinstimmen. Dabei verkörpert Charlotte die französische Kultur, Aljoscha und seine Schwester dagegen sind Kinder Russlands, allerdings wird Aljoschas kultureller Identitätskonflikt zur russischen Kultur im Laufe des Buches deutlich. Am Ende eines jeden Kapitels soll eine kurze Zusammenfassung die Hauptaspekte des Kapitels nochmals verdeutlichen. Die sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen werden zusammengefasst um zu einem abschließenden Resultat zu gelangen. Dabei soll auch untersucht werden, welche Theorie der Wissenschaftler am meisten mit den im Buch beschriebenen Situationen übereinstimmt.

1. Edward T. Hall

1.1. Die drei Kulturdimensionen nach Edward T. Hall

Edward T. Hall war einer der ersten Wissenschaftler, der sich schon in den 60er Jahren mit verschiedenen Kulturen auseinandersetzte. Dabei gelangte er zu drei sich unterscheidenden Kulturdimensionen: Kontext, Zeit und Raum.

1.2. Analyse ausgewählter Textstellen

Zunächst wird die jeweilige Dimension kurz beschrieben und anschließend auf eine entsprechende Textstelle angewendet.

1.2.1. Kontext

A high context [...] communication or message is one in which most of the information is already in the person, while very little is in the coded, explicit, transmitted part of the message. A low context [...] communication is just the opposite; i.e., the mass of the information is vested in the explicit code.”[1] Menschen in einer Low-Kontext-Kultur drücken überwiegend verbal aus, was sie wollen, während High-Kontext-Kulturen davon ausgehen, dass das Gegenüber auch durch Gesten und Bräuche versteht, was man übermitteln möchte.[2] Während Charlotte, auf einem Balkon in der russischen Steppe sitzend, von ihrem ehemaligen Wohnort in Frankreich erzählt, gehen ihren Enkeln Bilder durch den Kopf, die mit der Wirklichkeit nicht viel zu tun haben. Offenbar geht Charlotte davon aus, die Kinder könnten sich eine französische Stadt vorstellen, ohne dass sie mit Worten beschreiben muss, dass es einen Unterschied zischen russischen und französischen Dörfern gibt:

«Oh! Neuilly, à l´époque, était un simple village... » Elle l´avait dit en français, mais nous, nous ne connaissions que les villages russes. Et le village en Russie est nécessairement un chapelet d´isbas [...]. Et quand […] Charlotte nous parla pour la première fois d´un certain Marcel Proust, [...] nous imaginâmes ce dandy [...] au milieu des isbas![3]

Die oben genannte Situation ist ein Beispiel dafür, dass Frankreich eine High-Kontext- und Russland eine Low-Kontext ist. Dies lässt sich an anderen Beispielen weder be- noch widerlegen. Dennoch gibt es einige Situationen im Buch, die sehr stark vom Kontext abhängen. Als Aljoschas Schwester ihm drei Worte zuflüstert, wissen beide, dass die meisten Menschen mit diesen Worten nichts anfangen können würde:

Et c´est comme venant d´une autre planète que j´entendis soudain la voix de ma soeur – quelque paroles teintées d´une mélancolie souriante: Te rappelles-tu: « bartavelles et ortolans truffés rôtis »?[4]

Auch Aljoscha erkennt die Wirkung des Kontextes:

L´indicible! Il était mystérieusement lié, je le comprenais maintenant, à l´essentiel. L´essentiel était indicible. Incommunicable. Et tout ce qui, dans ce monde, me torturait par sa beauté muette, tout ce qui se passait de la parole me paraissait essentiel. L´indicible était essentiel.”[5]

Die beiden oben genannten Beispiele zeigen, dass Kontext nicht nur kultur- sondern auch beziehungsabhängig ist. So hat jede Familie oder jeder Gemeinschaft ihre eigenen Wörter, die außer ihnen niemand versteht.

1.2.2. Monochrome und polychrome Kulturen

Zeit ist eine fundamentale Basis, auf der alle Kulturen aufbauen und um die herum sie kreisen. Monochrome Kulturen werden charakterisiert als linear und teilbar; fahrplanmäßig werden Programmpunkte abgehakt, eines wird nach dem anderen erledigt. Menschen in einer polychromen Kultur hingegen machen vieles gleichzeitig; sie sind charakterisiert durch „ the simultaneous occurrence of many things and by a great involvement with people.[6] In Makines Buch befinden sich zwar keine Textstellen, in denen beschrieben wird, wer wann was gleichzeitig oder nacheinander erledigt; dennoch beschreibt er einige Male die Zeit, wodurch erkennbar wird, wie subjektiv Zeit eigentlich ist:

Le choix des évenements était plus ou moins subjectif. Leur succession obéissait surtout à notre fiévreuse envie de savoir, à nos questions désordonnées. [...] Ce présent, ce temps où les gestes se répétaient indéfinimant était bien sûr une illusion d´optique.[7]

Diese Verwirrungen hängen zum großen Teil wohl von der kindlichen Auffassungsgabe ab, Charlottes Andersartigkeit dürfte aber auch hier eine gewisse Rolle spielen. Eine wieder andere Zeiteinteilung haben Funktionäre in Russland:

À trois heures, il se levait [...]. Comme tous les autres fonctionnaires à travers l´immense l´empire. Ils savaient qu´au Kremlin, le maître du pays terminait sa journée de travails à trois heures. Sans réfléchir, tout le monde s´empressait d´imiter son emploi du temps. Et on ne pensait même pas que de Moscou à la Sibérie, en enjambant plusieurs fuseaux horaires, ces « trois heures du matin » ne correspondaient plus à rien.[8]

Die obigen Textstellen zeigen, dass Makine in seinem Buch keinen Unterschied zwischen monochromer und polychromer bzw. zwischen “russischer“ und “französischer“ Zeit macht. Dennoch spielt auch hier die Zeit im subjektiven Empfinden eine zentrale Rolle.

1.2.3. Raum

Raum meint hier den räumlichen Abstand zwischen zwei miteinander kommunizierenden Personen. „ Each person has around him an invisible bubble of space which expands and contracts depending on a number of things: the relationship […], cultural backround and the activity being performed.[9] In Nordeuropa sind diese Blasen relativ groß, d.h. der Abstand zwischen zwei Personen ist relativ groß. Je weiter südlich man geht, desto kleiner werden die Blasen. Während man in Frankreich jemandem relativ nahe kommen kann,[10] so wird dies in folgender Textstelle in Russland als unhöflich angesehen:

„[...] Qu´un incident incroyable se produisit. Un individu qui n´appartenait ni à la suite impériable ni au nombre des notables français se dressa devant le couple des souveraines, tutoya le Tsar, et avec une adresse très mondaine, baisa la main de la tsarine ! Médusés par tant de désinvolture, nous retînmes notre souffle.”[11]

Folglich hat Raum in Russland eine andere Bedeutung als in Frankreich. In Frankreich ist der Raum relativ gering, und auch Berührungen sind nicht selten, während diese in Russland leicht als unangenehm und unangemessen empfunden werden, sodass man in Russland einen gewissen Raumabstand zur anderen Person halten muss.

1.3. Kurze Zusammenfassung

Halls Dimensionen spiegeln sich teilweise im Buch wider. In der ersten Textstelle wird Frankreich beschrieben, das, im Vergleich zu Russland, eine High-Kontext-Kultur darstellt. Andererseits wird aber auch deutlich, dass es nicht nur auf Merkmale zwischen unterschiedlichen Kulturen, sondern auch innerhalb einer Kultur ankommt. Besonders, wenn es um Zeit geht, wird erkennbar, dass sie subjektiv zu verstehen ist. Zuletzt findet der Raumbegriff in Makines Buch seine Bestätigung: Hall hat, im Gegensatz zu den vorigen Dimensionen, festgestellt, dass in Frankreich ein relativ enges Raumverhältnis vorherrscht. Diese Dimension stimmt mit der im Buch beschriebenen Situation überein.

2. Geert Hofstede

2.1. Die fünf Kulturdimensionen nach Geert Hofstede

Geert Hofstede ist einer der wichtigen Wissenschaftler nach Hall, der sich umfassend besonders im betrieblichen Bereich mit vielen Kulturen auseinandersetzte. Zu großem Ruhm gelangte seine IBM-Studie. Besonders daran ist, dass er dabei Menschen befragte, die nur einer Firma, nämlich IBM, die global vertreten ist, angehörten. So konnte man von vornherein ausschließen, dass sich die Menschen aufgrund unterschiedlicher Unternehmenskulturen anders verhalten, sondern entsprechend ihrer Landeskultur. Nach umfassender Analyse gelangte Hofstede zu fünf unterschiedlichen Kulturdimensionen, in die sich die verschiedenen Kulturen einteilen lassen. Auf die fünfte Dimension (Konfuzianische Dynamik) wird hier verzichtet, da sie auf der chinesischen/indischen Sichtweise basiert, die in diesem Roman nicht vertraten ist.

Hofstede hat, im Gegensatz zu Hall, viele Länder untersucht und auch einzeln aufgelistet.[12] Er hat zwar Frankreich untersucht, nicht jedoch Russland. Daraus ergibt sich folgende Herangehensweise: Zuerst wird die französische Kultur in Bezug auf die jeweiligen Dimensionen Hofstedes untersucht. Anschließend wird anhand des Buches verglichen, ob sich die russische Kultur bezogen auf die jeweilige Dimension anders (also mehr oder weniger stark) verhält. Abschließend lassen sich dann auf abstrakter Ebene die Dimensionen der russischen Kultur bestimmen.

2.2. Analyse ausgewählter Textstellen

2.2.1. Machtdistanzindex

Seine erste Dimension nennt Hofstede „Machtdistanz“.[13]Machtdistanz spiegelt das Spektrum der möglichen Antworten wider, die in den verschiedenen Ländern auf die grundsätzliche Frage, wie man mit der Tatsache umgehen soll, dass die Menschen ungleich sind, gegeben wurden.“[14] Der Machtdistanzindex gibt Auskunft über die Abhängigkeit von Beziehungen in einer Kultur. In Ländern mit geringer Machtdistanz wird Interpendenz, in Ländern mit einem hohen Machtindex wird Gehorsam bevorzugt.[15]

Hofstedes Machtdistanzindex geht von 0 (sehr geringe Machtdistanz) bis 100 (sehr hohe Machtdistanz). Dabei ermittelt er für Frankreich den Wert 68.[16] Dieser Wert liegt deutlich über dem westeuropäischen Durchschnitt und zeigt somit eine relativ hohe Abhängigkeit der Normalbürger zum Staat. Die Machtdistanz ist im Buch an folgenden Stellen beschrieben:

Il est mort subitement à l´Élysée. Dans les bras de sa maîtresse, Marguerite Steinheil... […].“[17]

Der französische Präsident Faure stirbt im Elysée-Palast, dem Amtssitz, in den Armen seiner Geliebten Marguerite Steinheil. Dies verleiht dem Präsident menschliche Züge und macht ihn darüber hinaus selbst abhängig von anderen. Hier wird, entgegen den Erwartungen, eine Machtdistanz beschrieben, die relativ niedrig ist. Dies wird umso deutlicher, wenn man die Persönlichkeiten der russischen Nation untersucht:

„[…] à leur côté, aucune présence féminine et, à plus forte raison, amoureuse n´était concevable.“[18]

Doch die unüberwindbare Macht des Staates den Bürgern gegenüber ist noch auffälliger:

Un soldat, posté près du pont, lui barra le passage en lui demandant de présenter ses papiers. [...] « Vous pourrez les récupérer, après les vérifications nécessaire, au conseil révolutionnaire », annonça-t-il [...].“[19]

Mais l´absurde logique de cette conversation ne la lâchait plus. [...] Nous n´avons pas trouvé vos papiers, dit-il en entrant.“[20]

Hier zeigt sich die Macht und die Unnahbarkeit russischer Funktionäre nicht nur dadurch, dass man sich keine Frau an der Seite des russischen Staatsoberhauptes vorstellen, sondern auch wie folgt: Charlotte muss ohne jeden Grund ihre Papiere abgeben, die sie auch nicht wiederbekommt, denn es heißt, sie seien unauffindbar. Es zeigt sich also eine deutliche Abhängigkeit, die Auswirkungen auf die Machtdistanz hat. Obgleich der französische Machindex gemäß Hofstede hoch einzuordnen ist – was mit der oben genannten Textstelle nicht übereinstimmt – würde er in Russland deutlich höher zu bewerten sein.

2.2.2. Individualismus versus Kollektivismus

Individualismus beschreibt Gesellschaften, in denen die Bindungen zwischen Individuen locker sind […], Kollektivismus beschreibt Gesellschaften, in denen der Mensch von Geburt an in starke, geschlossene Wir-Gruppen integriert ist, die ihn ein Leben lang schützen und dafür bedingungslose Loyalität verlangen.“[21] Der Bezugspunkt ist zwar nicht der Staat, sondern die Gruppe, dennoch lassen sich Gemeinsamkeiten zwischen einem kommunistischen und einem kollektivistischen Staat erkennen.

Dieser Wertegegensatz hat auf Hofstedes Skala eine Spanne von 0 (sehr kollektivistisch) bis 100 (sehr individualistisch). Frankreich liegt mit 71 Punkten erkennbar im individualistischen Bereich. Dieser Wert findet sich ausgeprägt auch im Buch wieder: Als Charlottes französischer Vater erfährt, dass Demonstranten vom Staat erschossen werden sollen, zeigt er nicht dem Staat gegenüber Treue, sondern gegenüber den Demonstranten.

Ce respectable et riche médicin apprend [...] que la grande manifestation des ouvriers qui allait d´une minute à l´autre se déverser sur la place principale de Boiarsak serait accueillie, à l´un des carrefours, par le tir des mitrailleuses.“ [22]

Auch Charlotte fühlt sich einem Kriegsverletzten verpflichtet und schickt ihn nicht, wie es der Arzt will, ins Kriegsgefängnis, sondern macht ihm einen Gipsfuß, damit die vom Verletzten selbst verschuldete Wunde heilen kann.

Il passera en conseil de guerre... [...] Et si on lui mettait un plâtre?[23]

Anders als Charlotte und deren Vater stellt sich Aljoscha zeitweise ganz in den Sinne der Gemeinschaft bzw. des Staates. Er genießt es, keine Verantwortung zu haben und Entscheidungen nur zu akzeptieren anstatt sie selbst zu fällen.

Vivre dans la bienheureuse simplicité de ces gestes ordonnés : tirer, marcher en rang [..]. Cet objectif était, lui aussi, simple et univoque [...].“[24]

Diese Textstellen verdeutlichen die unterschiedliche kulturelle Herkunft der handelnden Personen. Charlotte und ihr Vater handeln individualistisch, sorgen sich also um das Wohl einzelner Personen, und bewältigen damit „Aufgaben, die das Gefühl vermitteln, etwas erreicht zu haben.“[25] Für Aljoscha ist der Staat das, für was es sich lohnt, zu kämpfen. Für ihn ist die Anwendung seiner Fertigkeiten[26] (z.B. bei paramilitärischen Wettkämpfen) wichtiger. Damit ist Aljoscha mit seiner “russischen“ Seele eindeutig dem Kollektivismus zugeordnet und steht augenscheinlich im großen Interessenkonflikt zu Frankreich, denn „ Individualismus hat sich […] [in Russland] als Wert nicht entwickeln können. Umso höher rangiert stattdessen in der gesellschaftlichen Werteordnung das Kollektiv.“[27]

2.2.3. Maskulinität versus Femininität

Diese Dimension zeigt, ob Bestimmtheit (Maskulinität) oder Bescheidenheit (Femininität) im Verhalten wünschenswert ist.[28] Außerdem kennzeichnet Maskulinität „ eine Gesellschaft, in der die Rollen der Geschlechter klar gegeneinander abgegrenzt sind […]. Femininität kennzeichnet eine Gesellschaft, in der sich die Rollen der Geschlechter überschneiden […].[29]

Es wäre einfach zu behaupten, Russland sei das härtere, gröbere, männlichere Land, Frankreich hingegen bestäche mit seiner Feinheit, mit der Noblesse und mit seiner Femininität. Diese Aussage stimmt nur dann, wenn es um äußerliche Erscheinungen geht. Hier bedient sich Makine ganz offensichtlich nationaler Stereotypen zur Charakterisierung der beiden Länder. So wird die russische Frau vorwiegend mit folgenden Attributen beschrieben:

ce grand corps féminin affalé au milieu de la salle à manger[30], „ courbée sous le poids des énormes bidons[31], „ Cette femme apporta avec elle le souffle pesant et fort de la vie russe[32], und „ Elle portait un grand châle brun, un vieux manteau de gros drap, en hiver – des botes de feutre, en été – des chaussures fermées, sur une épaisse semelle[33].

Die Französinnen dagegen werden so beschrieben:

une femme, très jeune aussi, en robe blanche, avec un boa de plumes.[34]j´aurais appelé cette façon de sourire `féminité.`[35] „[…] remarquai-je aussi la beauté de Charlotte… L´idée de cette beauté me parut d´abord invraisemblable. Dans la Russi en ce temps, toute femme dépassant la cinquantaine se transformait en « babouchka » - un être dont il eût été absurde de supposer la féminité et, à plus forte raison, la beauté.“[36]

Des Weiteren speist man in Frankreich „ bartavelles et ortolans[37], während in Russland nur Grundnahrungsmittel und Wodka[38] auf der Speisekarte stehen.

Wenn es aber um Wesenszüge geht, stimmt die obige Beschreibung nicht mehr. Nach Hofstede ist Frankreich ein relativ feminines Land, es erreicht 43 von 100 möglichen Punkten[39] (je mehr Punkte, desto maskuliner). In Makines Buch wird die Stellung der Frau bzw. die Rollenverteilung der Geschlechter wenig behandelt, deshalb lässt sich Hofstedes Analyse hier nicht bestätigen. Was die Rollenverteilung in Russland betrifft, so bietet uns Makine zwei verschiedene Möglichkeiten an: zum einen beschreibt er die Soldaten in ihrer kühnen Männlichkeit:

Et les soldats qui sortaient des tourelles me fascinèrent par leur virilité sereine. Ils étaient tous semblables, taillés dans la mêmematière ferme et saine.[40]

Zum anderen ist es, anders als erwartet, auch Frauen erlaubt, mit Waffen umzugehen:

Elle avait dû s´entraîner beaucoup pour manier la masse glissante de l´arme avec une telle habileté.[41]

Man kann anhand Makines Buche folglich nicht definitiv feststellen, zu welchem Pol dieser Dimension die russische Kultur gehört, wobei eine Tendenz zur Femininität festgestellt werden kann

2.2.4. Unsicherheitsvermeidungsindex

Unsicherheitsvermeidung ist der „ Grad, in dem die Mitglieder einer Kultur sich durch ungewisse oder unbekannte Situationen bedroht fühlen. Dieses Gefühl drückt sich u.a. in nervösem Stress und einem Bedürfnis nach Vorhersehbarkeit aus; ein Bedürfnis nach geschriebenen und ungeschriebenen Regeln.“[42] Jede Unsicherheit schafft Angst; das Wesen der Unsicherheit „ liegt darin, dass sie eine subjektive Erfahrung […] darstellt.“[43]

Laut Hofstede liegt Frankreich in der Unsicherheitsvermeidung mit 86 von 100 möglichen Punkten (je mehr Punkte, desto mehr wird die Unsicherheit vermieden) weit vorne. Dies lässt sich im Buch nur bestätigen, wenn man davon ausgeht, dass Russland einen noch höheren Unsicherheitsvermeidungsindex als Frankreich hat. Zusammen mit einer Gruppe russischer Jugendlicher wird die junge Charlotte vor eine Mutprobe gestellt; Charlotte wird gefragt, ob sie sich traue, um Mitternacht auf den Friedhof zu gehen. Während sich die russische Jugend nicht wagt, hat Charlotte der Ehrgeiz gepackt:

„[…] il s´agissait de savoir de quelle sorte de mort eût été terrassé celui qui aurait osé se rendre à minuit précis dans un cimetière. [...] Charlotte en souriant s´était dite capable d´affronter toutes les forces surnaturelles [...].[44]

Auch bei dem Abholen der Essensrationen wird versucht, aller Ungewissheit aus dem Wege zu gehen; dies bemerken auch Aljoscha und seine Schwester, als Aljoscha sich in eine Warteschlange vor einem Laden anstellt, um Essensrationen zu holen und seine Schwester dazustößt; dies wird als Drängeln aufgefasst und von der Gesellschaft abgelehnt; es handelt sich hier offenbar um ein ungeschriebenes Gesetz:

Nous ne comprîmes pas ce qui provoqua soudain la colère de la foule. Les gens qui se tenaient derrière nous avaient dû croire que m´a soeur voulait se faufiler sans faire la queue – un crime impardonnable![45]

Die Schwester folgt nicht der ungeschriebenen Ordnung sondern tut etwas Unerwartetes, nicht Übliches, was von den anderen Russen als unangenehm empfunden wird.

2.3. Kurze Zusammanfassung

Wie die obige Analyse zeigt, gibt es durchaus Abweichungen zwischen den Kulturdimensionen Hofstedes und den im Roman beschriebenen Verhaltensweisen. So scheint der Machtindex – obwohl in Frankreich hoch – in Russland noch höher anzusiedeln zu sein. Auch was die Unsicherheitsvermeidung der Franzosen betrifft, reagiert die handelnde Person – Charlotte – im Gegensatz zu ihrer “ursprünglichen“ Natur. Doch an anderer Stelle stimmt Hofstedes Ergebnis mit Makines Buch überein, nämlich in der Dimension Individualität versus Kollektivität, wodurch sich ein sehr großer Unterschied der beiden Länder feststellen lässt.

3. Fons Trompenaars

3.1. Die sieben Kulturdimensionen nach Fons Trompenaars

Ausgehend von Hofstedes Forschungen teilt Trompenaars[46] die Kulturen in sieben verschiedene Dimensionen ein. Dabei geht er davon aus, dass kulturelle Probleme durch drei Aspekte hervorgerufen werden: „ solche, die aus der Beziehung zu anderen Menschen entstehen [1. Universalismus contra Partikularismus, 2. Individualismus contra Kollektivismus, 3. Neutral contra emotional, 4. Spezifisch contra diffus und 5. Leistungsstatus contra Ansehen[47] ] , solche, die vom Verlauf der Zeit herrühren [Konsekutiv contra synchron[48] ] , und solche, die aus Umwelt und Umgebung erwachsen [Selbstbestimmt contra außengeleitet[49] ].“[50] Ebenso wie Hofstede hat er nicht nur nach verschiedene Dimensionen geforscht, sondern er hat die einzelnen Kulturen auch zahlenmäßig zugeordnet auf einer Punkteskala aufgelistet.

3.2. Analyse ausgewählter Textstellen

3.2.1. Universalismus contra Partikularismus

Der Kernsatz der Universalisten lautet: Was gut und richtig ist, kann definiert werden und ist allgemeingültig.[51] [52] In partikularistischen Kulturen hingegen sind die menschlichen Beziehungen und die sich daraus ergebenden Verpflichtungen und Umstände wichtiger als das Allgemeinwohl. „ Statt beispielsweise zu glauben, dass der einmal richtige Weg immer der richtige sei, ist dem Partikularisten klar, dass Freundschaft auch verpflichtet und daher Priorität hat.“[53]

Trompenaars hat dies untersucht, indem er zwei Definitionen des Begriffs « Unternehmen » vorgab:

A: Ein Unternehmen ist ein System, das dazu dient, Funktionen und Aufgaben auf effiziente Weise zu erfüllen. Menschen werden beschäftigt, um diese Funktion mit Hilfe von Maschinen oder anderen Mitteln zu erfüllen. Sie werden entsprechend ihrer jeweiligen Aufgabe bezahlt.
B: Ein Unternehmen ist eine Gruppe von Menschen, die gemeinsam arbeiten. Sie haben soziale Beziehungen zu anderen Menschen und zur Firma. Von diesen Beziehungen hängt das Funktionieren ab.[54]

Die Franzosen sprachen sich nur zu 36 % für ein System (anstatt für eine Gruppe von Menschen) aus, die Russen hingegen zu 68 %. Das bedeutet also, dass sich die Franzosen im Allgemeinen durch ihre sozialen Beziehungen definieren, während es die Russen über das System tun.

Haltung A wird auch bei Aljoscha deutlich: Er (System) erzählt Geschichten und bedient sich dabei unterschiedlicher Erzählstile (Maschine oder Mittel), um seine unterschiedliche Zuhörerschaft zu bedienen. Entsprechend seines Erzählstils wird er mit Applaus oder Anerkennung belohnt (also nicht, weil sie seine Freunde sind und deshalb seine Erzählungen schätzen):

Je devenait des leurs dans chacune de ces classe.“[55]Je remarquia assez rapidemment qu´il fallait assaisonner mes récits français selon le goût de mes interlocuteurs.“[56]

Anders ist Charlotte, deren Erzählungen nur zu einem gelungen Ergebnis führen, da sie in persönlichem Kontakt zu den Zuhörern - ihren Enkeln - steht:

Et sur notre balcon, une Française nous parlait de la barque qui traversait une grande ville inondée et accostait le mur d´un immeuble... Nous nous secouâmes en essayant de comprendre où nous étions. Ici ? Lá-bas ? Dans notre oreilles s´étaignait le chuchotement des vagues.“[57]

3.2.2. Individualismus contra Kollektivismus

Diese Dimension entspricht Hofstedes „Individualismus versus Kollektivismus“. Trompenaars definiert diese Dimension folgendermaßen: „ Ist es wichtiger, sich zunächst auf den einzelnen zu konzentrieren, der nach eigenem Willen und nach Gutdünken seinen Beitrag zum kollektiv leistet, oder ist es wichtiger, zunächst an das Kollektiv zu denken, weil es sich aus vielen einzelnen zusammensetzt?[58]

An folgendem Dilemma unterscheidet Trompenaars individualistische von kollektivistischen Kulturen:

A: Der individuelle Weg: man arbeitet allein. So ist man weitgehend sein eigener Herr. Der einzelne kann die meisten Dinge alleine entscheiden, und wie er dabei verfährt, ist seine eigene Sache. Man muss nur auf sich selber Rücksicht nehmen, ohne dass einem andere ständig auf die Finger schauen.
B: Die andere Methode ist die Arbeit in einer Gruppe, wo jeder mit jedem zusammenarbeitet. Jeder kann seinen Teil zu den Entscheidungen beitragen, und einer kann auf den anderen zählen.[59]

Dieses Problem lässt sich auch im Buch wieder finden. Wie oben bereits festgestellt ist die russische Kultur eher kollektiv, die französische dagegen eher individualistisch.[60] Dennoch kann man nach Trompenaars´ Definition auch eine klare Außenseiterrolle, erkennen: Paschka, armer russischer Dorfjunge, verhält sich dickköpfig und entdeckt die Welt lieber alleine als in einer Gruppe:

Ils le détestaient parce qu´il leur renvoyait une image très déplaisante de l´adulte.“[61]

Obstinément, ils fuient la ville, la société, le confort, se fondent dans la forêt et, chasseurs ou vagabonds, y finissent souvent leurs jours. “[62]

Da Paschka aber auch in der russischen Kultur ein Außenseiter ist, ist es nicht verwunderlich, dass er einen anderen Wert als Trompenaars´ „Durchschnittsrusse“ erzielt.

3.2.3. Affektiv contra emotional

Unter dieser Dimension versteht man die Spannbreite der Gefühle. „ Soll die Natur unserer Interaktion von Objektivität und Vorurteilsfreiheit geprägt sein, oder wird auch der Ausdruck von Gefühlen toleriert ?[63] Handelt man kühl und überlegt, oder schnell und affektiv? Lässt man seinen Gefühlen freien Lauf oder neigt man eher dazu, sie vor anderen zu verbergen?

Als Aljoscha Paschka die Geschichte über einen kleinen Jungen im Krieg erzählt, der sich, obwohl er die Chance hatte, wegzurennen, vor die Soldaten stellt, um sich erschießen zu lassen, steigen Paschka Tränen in die Augen, versucht dies aber zu verbergen:

Et l´incroyable se produisit. Il enjamba le bord de la barque et, pieds nus, se mit à marcher dans la neige. J´entendis une sorte de gemissement étouffé que le vent humide dissipa rapidement au-dessus de la pleine blanche. [...] Une grimace douloureuse crispait son visage. Les flammes de notre feu de bois se reflétaient dans ses yuex avec une fluidité inhabituelle.“[64]

Das entgegengesetzte Beispiel ist Charlotte, die während der Trauerfeier ihrer Tochter nicht weinte:

Durant ces jours tristes et la journée des funérailles, Charlotte fut seule à ne pas pleurer.[65]

Offenkundig ist aber, dass beide versuchen, ihren Schmerz zu verbergen. Gemäß diesen Beispielen sind sowohl Russland als auch Frankreich im neutralen Bereich einzuordnen.

3.2.4. Spezifisch contra diffus

Hier ist die Spannbreite der Betroffenheit ausschlaggebend. „ In spezifisch orientierten Kulturen trennt [man] säuberlich die dienstliche Beziehung […] von Beziehungen anderer [privater] Natur. […] In manchen Ländern jedoch gibt es die Tendenz, dass jeder Lebensbereich und jeder Aspekt der Persönlichkeit alle anderen durchdringt.“[66] Diese Beziehungen sind folglich diffus.

Auf die Frage Aljoschas, wie der französische Präsident Félix Faure starb, antwortet Charlotte ganz unverblümt. Aljoscha selbst erkennt hier den Unterschied zwischen beiden Kulturen und weiß auch, dass eine russische Babuschka in dieser Situation anders reagiert hätte:

D´ailleurs, le courage et l´absence totale d´hypocrisie dans le récit de Charlotte démontrèrent ce que je savais déjà : elle n´était pas une grande-mère comme les autres.[67]

Charlotte verhält sich offen gegenüber ihrem Enkel; sie erzählt, obwohl das vielleicht nicht ihre Aufgabe ist, über Sexualität. Dieses Verhalten entspricht jedoch nicht der diffusen Vorgehensweise, die überwiegend in Frankreich zu finden ist.[68]

3.2.5 Leistungsstatus contra Ansehen

Leistungsstatus bedeutet, nach seinen bisher erbrachten Leistungen und Erfolgen beurteilt zu werden, Ansehen hingegen bedeutet den Status, den man durch Geburt, Verwandtschaft, Alter, Geschlecht, Beziehungen etc. erhält. „ In einer Leistungskultur könnte die erste Frage lauten: “Was haben Sie studiert?“, in einer mehr am Ansehen, am zugeschriebenen Status orientierten Kultur würde eher gefragt: “Wo haben Sie studiert?“[69]

Um dies herauszufinden stellte Trompenaars u.a. folgende Frage: „Gehen Sie Ihren eigenen Weg selbst ohne Erfolg?“ Überraschenderweise sind Frankreich und Russland einer Meinung: 25 % der Russen und 26 % der Franzosen stimmen nicht zu. Bleibt also ein Großteil, der auch ohne Erfolg weiterarbeiten würde; das Paradebeispiel in Makines Buch ist Aljoscha. Er, der sich im Laufe des Romans beiden Kulturen nahe fühlt, geht seinem Traum nach und schreibt Bücher – anfangs ohne großen Erfolg:

Car ces livres avaient été écrits directement en français et refusés par les éditeurs : j´étais « un drôle de Russe qui se mettait à écrire en français ». Dans un geste de désespoir, j´avais inventé alors un traducteur et envoyé le manuscrit en le présentant comme traduit du russe.“[70]

Weiterhin hat Trompenaars gefragt, ob Ansehen vom familiären Hintergrund abhängt. 73 % der Franzosen und nur 53 % der Russen stimmten nicht zu. Diese Ansicht zeichnet sich in Makines Buch in Charlottes Kindheit ab, als sie der Tochter des Gouverneurs Unterricht in Französisch erteilt. Die Tochter genießt nur auf Grund ihres Vaters Stellung Privilegien, nicht aber etwa, weil sie besonders gute Leitungen erbringt:

Seule la fille du gouverneur était autorisée à porter, à l´école, une robe au col auvert avec cette parure au milieu.

Auffällig ist, dass die beiden Kulturen auf zwei Fragen, die dem Zweck dienen, herauszufinden, ob die jeweilige Kultur leistungs- oder beziehungsorientiert ist, einmal übereinstimmen und einmal deutlich voneinander abweichen.

3.2.6. Konsekutiv contra synchron

Trompenaars teilt die Zeit, die Anteil an der Kultur hat, in 2 Pole ein: in einen konsekutiven und einen synchronen Pol. Diese Dimension ist identisch mit Edward T. Halls Dimension der monochromen und polychromen Kulturen und wurde oben bereits beschrieben.

3.2.7. Selbstbestimmt contra außengeleitet

Diese Dimension beschreibt den Bezug zur Natur. Auch sie besitzt zwei Pole, die einander gegenüber stehen: der selbstbestimmte und der außengeleitete Pol. Menschen in einer selbstbestimmten Kultur „ glauben, dass sie die Natur kontrollieren können und sollten, indem sie ihr ihren Willen aufzwingen […]. Die anderen [Menschen in einer außengeleiteten Kultur] glauben, dass der Mensch ein Teil der Natur ist und im Einklang handeln müsse mit ihren Gesetzten, Bedingungen und Kräften.[71] Trompenaars hat zur Differenzierung dieser Pole folgende zwei Thesen aufgestellt:

A: Was mir geschieht, steht in meiner eigenen Verantwortung.
B: Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich nicht genug Kontrolle über den Lauf meines Lebens habe.

81 % der Franzosen glauben, dass alles, was ihnen geschieht auf ihr eigenes Handeln zurückzuführen ist. Für Russland wurde kein Wert ermittelt, allerdings aber für die damalige DDR und für andere (ex-)kommunistische Staaten. Ostdeutschland steht zusammen mit China an unterer Spitze mit nur 35 %.[72] Die Tatsache, dass russische Menschen mehr an Schicksal als an die Macht zu Handeln glauben, ist auch bei Aljoscha erkennbar, als er über die Geschichte über die “kleine Tasche vom Pont-Neuf“ nachdenkt:

C´est en imaginant cette sacoche féminine au milieu des croix, sous le ciel de Sibérie,

que je commençai à pressentir l´incroyable destinée des choses.[73]

Später jedoch widerrief er diese Gedanken:

Mais ce soir de mars […] je compris que dans cette vie il n´y avait aucune logique, aucune cohérence.[74]

Hin- und hergerissen zwischen den Kulturen, weiß er nicht mehr, an was er glauben soll. Wieder denkt er sich, das franzosische Gefühlsleben hindere ihn am Leben:

Oui, justement, cette sensiblerie française qui m´empêche de vivre! Pensai-je avec colère.[75]

Welchen immensen Einfluss beide Kulturen auf Aljoscha haben, hat sich in diesen Textstellen gezeigt. Dies lässt sich auch auf Trompenaars Dimension übertragen; Russland ist die Kultur, die sich von außen leiten lässt, Frankreich hingegen ist selbstbestimmt.

3.3. Kurze Zusammenfassung

Die obige Analyse lässt dich in drei Teile unterteilen. Erstens: in die Dimensionen, die mit den Textstellen übereinstimmen, zweitens: in die Dimensionen, die werde wider- noch belegt werden können und drittens: in die Dimensionen, die von den anderen Wissenschaftlern übernommen wurden. Es gibt drei Dimensionen von Trompenaars, die mit den Textstellen genau übereinstimmen: Universalismus contra Partikularismus, Individualismus contra Kollektivismus und Leistung contra Ansehen, wohingegen es vier Dimensionen gibt, die sich nicht bestätigen lassen, da es keine Anhaltspunkte bzw. Zahlen gibt: affektiv contra neutral, spezifisch contra diffus, konsekutiv contra synchron und selbstbestimmt contra außengeleitet. Der dritten Gruppe entsprechen die Dimensionen Individalismus versus Kollektivismus[76] und konsekutiv contra synchron.[77] Auffällig ist, dass Trompenaars Dimensionen zwar nicht immer mit Makines Roman übereinstimmen, sich aber auch kein Mal widerlegen lassen.

4. Zusammenstellung der Ergebnisse

Im Schlussteil soll nun versucht werden, auf die anfangs gestellten Diskussionspunkte zu antworten.

Das Auseinandertreten von Selbst- und Fremdwahrnehmung kultureller Erfahrungsmuster bildet die produktive Grundspannung von Makines Erinnerungs- und Schreibarbeit. Und gerade die Vergegenwärtigung von Vergangenem nimmt einen eminent wichtigen Platz in seiner Poetik ein.[78]

Makine beschreibt die beiden Kulturen auf völlig unterschiedliche Weise. Sein Schreibstil ist deutlich zugunsten Frankreichs. Für ihn ist Frankreich, jedenfalls anfänglich, ein reiches Land mit vielen Geheimnissen, gesegnet mit unwahrscheinlich vielen kulinarischen Köstlichkeiten, Russland hingegen offenbart sein Reichtum in einer bodenständigen Art. Während in Frankreich Zeit für Träumereien ist, wird in Russland gehandelt. Frankreich ist das Land der Liebe, wie der Leser es nicht nur durch Felix Faure erfährt, sondern auch durch viele andere Kleinigkeiten, wie den „petite pomme“ oder das Foto der drei weiblichen Schönheiten. Russland hingegen beherbergt Menschen mit Beziehungen praktischer Art, wie etwa Aljoschas Tante und deren Lebensgefährte Dimitritsch.

Die ausgesuchten Textstellen stimmen nach einer Analyse nach Hall relativ wenig überein. Deutlich wird aber, dass die einzelnen Dimensionen nicht nur kultur- sondern auch beziehungsabhängig sind. Diese Tatsache ist augenscheinlich, vor allem in den beiden Dimensionen Zeit und Raum.

Bei Hofstede ist dies schwerer zu beurteilen, denn hier gibt es konkrete Zahlen über Frankreich, nicht jedoch über Russland. Man muss diese Analyse also relativ und nicht absolut sehen. Wenn Hofstede zu dem Ergebnis kam, der Machtdistanzindex sei in Frankreich relativ hoch, so muss man das im Vergleich zu Deutschland oder anderen westlichen Staaten sehen; Im Vergleich zu Russland ist der Machtdistanzindex in Frankreich relativ niedrig. Auch bei der Unterscheidung zwischen maskulin und feminin gibt das Buch keinen Aufschluss: wenn es um Äußerlichkeiten geht, ist sicher Frankreich das femininere Land, geht es um Charakterzüge, so kann man sowohl in Frankreich als auch in Russland Femininität erkennen. Geht es um die Unsicherheitsvermeidung, so widerspricht das Verhalten Charlottes gänzlich dem in Hofstedes Buch der französischen Kultur zugeschriebenen Verhalten.

Bei der letzten Dimension – Individualismus versus Kollektivismus – ist die Übereinstimmung mit dem Buch eindeutig: Frankreich ist dem Individualismus zugeordnet, Russland verhält sich in völlig anders und kann daher dem Kollektivismus zugeschrieben werden.

Bleibt zum Schluss die Analyse anhand Trompenaars Kulturdimensionen. Auffällig ist, dass die Anzahl der Dimensionen im Laufe der Zeit zugenommen haben[79] Dies führt zu einer relativ großen Übereinstimmung der Dimensionen mit der im Buch beschriebenen Situationen. Übereinstimmung gab es im Bereich Universalismus contra Partikularismus, Individualismus contra Kollektivismus und Leistung contra Ansehen. Die anderen 4 Dimensionen weisen gemäß Trompenaars keine Zahlen auf, sie können also weder be- noch widerlegt werden. Trotzdem gibt es mehr Übereinstimmungen bei Trompenaars als bei Hofstede. Das hat folgende Gründe: Zum einen ist es immer schwierig, eine Kultur zu kategorisieren; je mehr Auswahlmöglichkeiten man hat, einer Kultur gewisse Merkmale zuzuordnen, desto genauer kann man diese beschreiben und desto größer ist die Chance, dass sich eine Kultur mit dem jeweiligen Merkmal identifiziert. Zum anderen ist Makines Buch keine Studie über die russischen und französischen Menschen, sondern es ist ein literarisches Buch, das auf das subjektive Empfinden des Autors zurückgeht.

Bibliographie

Primärliteratur:

Makine, Andrei: Le testament français. Paris: Mercure de France (Collection Folio), 1995

Sekundärliteratur:

Hall, Edward Twitchell: Understanding cultural differences – Germans, French and Americans. Yarmouth, Me.: Intercultural Press, 1990

Hofstede, Geert: Interkulturelle Zusammenarbeit – Kulturen, Organisationen, Management. Wiesbaden: Gabler, 1993

Pfeiler, Wolfgang: „ Historische Rahmenbedingungen der russischen politischen Kultur “ in: Veen, Hans-Joachim / Weilemann, Peter R. (Hrsg.): Russland auf dem Weg zur Demokratie? Paderborn/München/Wien/Zürich: Schöningh, 1993

Schmitt, Claudia: „ Sprache und Identität im interkulturellen Roman: Patrick Chamoiseau, Milan Kundera und Andrei Makine “ in: Schmeling, Manfred/Duhem, Sandra (Hrsg.): Sprache und Identität in frankophonen Kulturen – Langues, identité et francophonie. Opladen: Leske + Budrich: 2003

Trompenaars, Fons: Handbuch Globales Managen – Wie man kulturelle Unterschiede im Geschäftsleben versteht. Düsseldorf/Wien/New York/Moskau: Econ Verlag, 1993

Internetadressen:

http://www2.soc.hawaii.edu/css/dept/com/resources/intercultural/Hall.html (Stand: 25.08.04)

[...]


[1] Hall, S. 6

[2] vgl. http://www2.soc.hawaii.edu/css/dept/com/resources/intercultural/Hall.html (Stand: 25.08.04)

[3] Makine, S. 43f.

[4] Makine, S. 68

[5] Makine, S. 175f.

[6] Hall, S. 14

[7] Makine, S. 117f.

[8] Makine, S. 129

[9] Hall, S. 11

[10] vgl. Hall, S. 11

[11] Makine, S. 51

[12] Hall hat auch verschiedene Kulturen untersucht, allerdings hat er sie dem Namen nach nicht aufgelistet. Halls Ergebnis war die Aufstellung dreier Kulturdimensionen, Hofstede dagegen wies den einzelnen Dimensionen auch bestimmte Länder zu.

[13] Vorgehensweise siehe unter 1.2.

[14] Hofstede, S. 38

[15] Vgl. Hofstede, S. 41

[16] Hofstede, S. 40

[17] Makine, S. 111

[18] Makine, S. 111

[19] Makine, S. 88

[20] Makine, S. 93

[21] Hofstede, S. 67

[22] Makine, S. 105

[23] Makine, S. 146f.

[24] Makine, S. 120

[25] vgl. Hofstede, S.68

[26] vgl. Hofstede, S. 68

[27] Pfeiler, S. 32

[28] Vgl. Hofstede, S. 98

[29] Hofstede, S. 101

[30] Makine, S. 34

[31] Makine, S. 34

[32] Makine, S. 200

[33] Makine, S. 206

[34] Makine, S. 45

[35] Makine, S. 15

[36] Makine, S. 272

[37] Makine, S. 46

[38] Makine, S. 106

[39] Hofstede, S. 103

[40] Makine, S. 221

[41] Makine, S. 218

[42] Hofstede, S. 133

[43] Hofstede, S. 131

[44] Makine, S. 103

[45] Makine, S. 67

[46] Trompenaars war selbst Schüler von Hofstede

[47] vgl. Trompenaars, S. 21

[48] vgl. Trompenaars, S. 21

[49] vgl. Trompenaars, S. 21

[50] Trompenaars, S. 21

[51] Vorgehensweise siehe unter 1.2.

[52] vgl. Trompenaars, S. 21f.

[53] Trompenaars, S. 22

[54] vgl. Trompenaars, S. 33

[55] Makine, S. 224

[56] Makine, S. 224

[57] Makine, S. 32

[58] Trompenaars, S. 22

[59] vgl. Trompenaars S. 79f.

[60] Siehe auch 1.2.2.

[61] Makine, S. 157

[62] Makine, S. 157f.

[63] Trompenaars, S. 22

[64] Makine, S. 163

[65] Makine, S. 199

[66] Trompenaars, S. 109

[67] Makine, S. 113

[68] vgl. Trompenaars, S. 121

[69] Trompenaars, S. 23

[70] Makine, S. 313

[71] Trompenaars, S. 181f.

[72] Es wird davon ausgegangen, dass es einen Zusammenhang zwischen kommunistischen Staaten und der Ansicht, man könne sein Schicksal nicht selbst in die Hand nehmen, gibt. Vgl. auch Trompenaars, S. 185

[73] Makine, S. 103f.

[74] Makine, S. 212

[75] Makine, S. 252

[76] vgl. Hofstede: Individualismus versus Kollektivismus

[77] vgl. Hall: Monochrome und polychrome Kulturen

[78] http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3453186907/302-1510900-3861630 (Stand: 27.08.04)

[79] Hall fand 3, Hofstede fand 5 und Trompenaars fand 7 Dimensionen heraus

Ende der Leseprobe aus 28 Seiten

Details

Titel
Kulturanalyse an Hand Andrei Makines 'Le testament français'
Hochschule
Universität des Saarlandes
Veranstaltung
Hauptseminar
Note
1,7
Autor
Jahr
2004
Seiten
28
Katalognummer
V110123
ISBN (eBook)
9783640083008
Dateigröße
615 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Anwendung der Kulturdimensionen nach Edward T. Hall, Geert Hofstede und Fons Trompenaars
Schlagworte
Kulturanalyse, Hand, Andrei, Makines, Hauptseminar
Arbeit zitieren
Sabrina Schirmer (Autor:in), 2004, Kulturanalyse an Hand Andrei Makines 'Le testament français', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/110123

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