Am Leben orientierte Konzepte. Die Pädagogik Martin Bonhoeffers im Vergleich.


Hausarbeit, 2006

14 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Ziel dieser Arbeit
1.2 Vorgehensweise und Gliederung
1.3 Quellen

2 Wichtige Stationen im Leben Martin Bonhoeffers
2.1 Die Studienzeit
2.2 Die Zeit in Berlin
2.3 Martin Bonhoeffer in Tübingen

3 Vergleich mit Andreas Mehringer
3.1 Persönliche Einflüsse
3.2 Neustrukturierung der Heimerziehung
3.3 Parallelen zwischen Bonhoeffer und Mehringer

4 Einflüsse von Johann Heinrich Pestalozzi
4.1 Die Rolle der öffentlichen Erziehung
4.2 Die Rolle der Pädagogen

5 Vergleich mit Anton Makarenko
5.1 Abgrenzung
5.2 Ähnliche Methoden für unterschiedliche Ziele

6 Ideen von Maud Mannoni
6.1 Die gesprengte Institution
6.2 Die Rolle der Psychologie

7 Zusammenfassung

8 Bibliographie

1 Einleitung

1.1 Ziel dieser Arbeit

Der vorliegende Text beschäftigt sich mit der Pädagogik Martin Bonhoeffers. Die nähere Betrachtung von Bonhoeffers Leben und Wirken führte zu der Beobachtung, dass sich in Bonhoeffers praktischem Handeln – im Gegensatz zu vielen anderen berühmten Pädagogen die in der Heimerziehung tätig waren – keine generelle Leitlinie erkennen lässt. Dieses Fehlen eines „roten Fadens“ beziehungsweise einer grundlegenden Theorie macht es schwer, die Pädagogik Bonhoeffers zu charakterisieren. Um dies dennoch möglich zu machen, soll das Handeln Bonhoeffers im Folgenden Text mit dem anderer „Klassiker/Innen“ der Heimerziehung verglichen und auf eventuelle Parallelitäten untersucht werden. Dies hat zum Ziel, Einflüsse für Bonhoeffers Handeln zu erkennen und konkret zu benennen, wodurch es letztendlich möglich wäre, die Pädagogik Martin Bonhoeffers deutlicher einzuordnen und ihr eine klarere Position in der wissenschaftlichen Debatte zuzuweisen.

1.2 Vorgehensweise und Gliederung

Insgesamt vier Pädagoginnen und Pädagogen werden im Folgenden mit Martin Bonhoeffer verglichen. Zwar lassen sich viele weitere Übereinstimmungen mit anderen Ideen erkennen, in diesen Fällen wäre es jedoch nicht möglich gewesen, deutlich zu zeigen, dass Bonhoeffer tatsächlich durch die entsprechenden Personen beeinflusst wurde, oder die Gemeinsamkeiten waren einfach nicht deutlich genug, um als Vergleich herangezogen zu werden.

Die Arbeit ist chronologisch entlang Martin Bonhoeffers Lebenslauf gegliedert: die einzelnen Kapitel stehen in derselben Reihenfolge, wie sie als Einflüsse auf Bonhoeffer in dessen Leben auftraten. Diese Anordnung veranschaulicht Veränderungen in Martin Bonhoeffers Haltung und hilft, die Entwicklung seiner Pädagogik nachzuvollziehen. Zuerst wird Andreas Mehringer betrachtet, in dessen Münchner Waisenhaus Bonhoeffer nach seinem Abitur als Praktikant arbeitete. Während seines Studiums setzte er sich ausführlich mit den Schriften Pestalozzis auseinander, weshalb dieser als nächster Einflussfaktor behandelt wird. Ungefähr zeitgleich war Bonhoeffer im „Haus auf der Hufe“ in Göttingen tätig, wobei zum ersten Mal seine handwerkliche und bisweilen materialistische Veranlagung sichtbar wurde, welche in Kapitel fünf mit dem Wirken des sowjetischen Pädagogen Anton Makarenko verglichen wird. Kapitel sechs bezieht sich auf Bonhoeffers Tübinger Zeit. Die Struktur, mit welcher er die ihm dort unterstellten Einrichtungen leitete, greift viele Ansätze der in Paris tätigen Pädagogin Maud Mannoni auf. Zu Beginn des Textes steht ein kurzer biographischer Abriss, welcher weniger auf Vollständigkeit abzielt, als vielmehr darauf, wichtige Stationen Bonhoeffers Leben zu skizzieren, ohne die viele spätere Punkte kaum verständlich wären.

1.3 Quellen

Die meisten im folgenden Text angestellten Überlegungen basieren auf Bonhoeffers eigenen Werken – insbesondere der Abhandlung „Totale Heimerziehung oder begleitende Erziehungshilfen.“ Ergänzende Informationen über die Person Martin Bonhoeffers, welche eine bessere Interpretation seiner Handlungsweise erlauben, sind zumeist der von Frommann und Becker verfassten Biographie „Martin Bonhoeffer. Sozialpädagoge und Freund unter Zeitdruck.“ Entnommen. Eine für die Entstehung dieser Arbeit unschätzbare – wenn auch nicht zitierbare – Quelle stellt außerdem ein Gespräch mit Bonhoeffers Kollegin und langjähriger Wegbegleiterin Anne Frommann dar, welches ich im Juni 2005 in Tübingen mit ihr führen konnte. Weitere Quellen sind im Literaturverzeichnis aufgeführt.

2 Wichtige Stationen im Leben Martin Bonhoeffers

2.1 Die Studienzeit

Bereits vor Aufnahme seines Studiums absolvierte Martin Bonhoeffer zwei Praktika, die für die spätere Entwicklung seiner Pädagogik von großer Bedeutung waren.[1] Im Jahre 1955 arbeitete er im „Rodney Youth Centre“ in Liverpool – bemerkenswert an seinen Aufzeichnungen aus dieser Zeit ist vor allem die sachliche und bereits recht fundierte Kritik, die er an den Methoden der dortigen Leiterin formulierte. Stark geprägt hat ihn mit Sicherheit der Aufenthalt in Andreas Mehringers Waisenhaus in München. Dort war er ein ganzes Jahr Praktikant in einer der Wohngruppen.

Während seines Studiums widmete sich Bonhoeffer der Arbeit in und am sogenannten „Haus auf der Hufe“ – einer Art offenen Anlaufstelle in einem Randbezirk Göttingens. Neben dieser Arbeit war Bonhoeffer noch auf vielfältige Weise sozial engagiert, wodurch sein tatsächliches Studium der Pädagogik (ein zunächst begonnenes Jura-Studium hatte er nach kurzer Zeit wieder beendet) eher einer Teilzeitbeschäftigung gleichkam. Dies bedeutete nicht, dass Bonhoeffer sein Studium nicht ernst genommen hätte: insbesondere an seiner Promotionsarbeit arbeitete er mit ungemeiner Gewissenhaftigkeit – die hohen Ansprüche an die Qualität der eigenen Arbeit waren einer der Gründe, warum er diese nie abschließen konnte.

2.2 Die Zeit in Berlin

1969 wurde Martin Bonhoeffer als Senatsabgeordneter nach Berlin abberufen. Dort erhielt er die Aufgabe die Berliner Kinderheime zu reformieren und neu zu strukturieren.[2] Die dort vorherrschenden chaotischen Zustände führten dazu, dass Bonhoeffer sich neben der organisatorischen Tätigkeit im Senat in hohem Maße in den Heimen selbst einbrachte und sich in Notsituationen immer wieder um einzelne Kinder kümmerte.

In dieser Zeit wurde zum ersten Mal die Bereitschaft Bonhoeffers deutlich, sich in vollem Maße für seine Ziele einzusetzen – auch wenn das den kompletten Verlust seiner Freizeit und stressbedingte gesundheitliche Probleme zur Folge hatte. Besonders belastend in dieser Zeit waren die andauernden Querelen mit anderen Abgeordneten des Berliner Senats, die in Bonhoeffer einen Quertreiber sahen und sich vielen seiner neuen Vorschläge mit Vehemenz widersetzten. Dies führte letztendlich auch zum Scheitern der Reformversuche und 1976 seinem endgültigen Weggang aus Berlin. In dieser Zeit lernte Bonhoeffer nach und nach, seine Anliegen gegenüber Staatsapparat und Verwaltung im Interesse der ihm anvertrauten Kinder und Jugendlichen auf effiziente Weise zu vertreten und durchzusetzen.

2.3 Martin Bonhoeffer in Tübingen

Direkt nachdem er Berlin verlassen hatte, Begann Bonhoeffer seine Arbeit in Tübingen. Er war dort in verschiedenen Projekten tätig und leitete selbst eine Wohngruppe für Jugendliche. Während dieser Zeit verstärkten sich die Tendenzen aus den Jahren zuvor noch: die Arbeitsbelastung wurde für ihn immer höher und komplexer, sein Gesundheitszustand verschlechterte sich Konstant. Trotz einem Kuraufenthalt gelang es ihm Bonhoeffer nicht diesem Kreislauf zu Entkommen, was zur Folge hatte, dass er 1982 einen Herzinfarkt erlitt durch dessen Folgen ihn bis zu seinem Tode 1989 zum Pflegefall wurde.

3 Vergleich mit Andreas Mehringer

3.1 Persönliche Einflüsse

Martin Bonhoeffer mit Andreas Mehringer zu vergleichen fällt in vieler Hinsicht schwerer, als der Vergleich Bonhoeffers mit anderen Pädagogen, da sich beide kannten und ein enges persönliches Verhältnis pflegten.[3] Die Zeit, die Bonhoeffer in dem von Mehringer geleiteten Waisenhaus verbrachte, hat ihn mit Sicherheit für sein ganzes Leben geprägt, wenngleich er von Anfang in einigen Punkten andere Ansichten vertrat als dieser. Mehringer und Bonhoeffer standen noch bis zu dessen Schlaganfall in regelmäßigem Kontakt und Diskurs.

Trotzdem wäre es Falsch Martin Bonhoeffer als „Ziehsohn“ Mehringers zu beschreiben – allein schon dadurch, dass die Zeit der gemeinsamen Zusammenarbeit beider im Vergleich zu Bonhoeffers anderen Tätigkeiten relativ gering war. Darüber hinaus würde es den eigenständigen Geist Bonhoeffers mit Sicherheit verkennen, der schon zu seinen Jugendzeiten eigene Ideen und Konzepte entwickelte und diese auch umzusetzen vermochte. Besonders in der Frage, wie die Heimerziehung als solche einzuschätzen sei und ob es nicht das Ziel aller Pädagogik sein müsste, diese zu falls möglich ganz vermeiden (eine Ansicht, die Bonhoeffer vertrat) waren beide uneinig.

3.2 Neustrukturierung der Heimerziehung

Andreas Mehringer hatte die Leitung des Münchener Waisenhauses im Jahre 1945 übernommen, was ihm neben allen Problemen – das Waisenhaus war durch Luftangriffe während des Krieges schwer beschädigt worden – die Möglichkeit verschaffte dort einen kompletten Neuanfang zu Beginnen, der ihm für die damalige Zeit relativ viel Freiraum für Reformideen ließ.[4]

Neben grundlegenden Änderungen in der Satzung des Hauses, welche die Rechte der dort untergebrachten Kinder betraf, waren die grundlegendsten Änderungen vor allem baulicher Art. Mehringer erkannte gleich zu Beginn seiner Tätigkeit, dass das bisweilen aufsässige Verhalten vieler seiner Waisenkinder „...ein Schrei der Sehnsucht nach Wärme [war], nach Teilnahme am vollen Leben, ein schrei der vergewaltigten Natur von Kindern, die man –aus welchem Grund eigentlich? – in eine künstliche Lebensform sperrte.“[5] Mehringer war der Ansicht, dass die unnatürliche Art und Weise der Unterbringung, die stark von den Zuständen in einer intakten Familie abwich, die riesigen Schlaf- und Speisesäle, die Geschlechtertrennung, unweigerlich Störungen in der Entwicklung der Waisenkinder zur Folge haben mussten. Daher trug er der Stadtverwaltung im Zuge des Wiederaufbaus der Einrichtung sein Anliegen vor, dort gemischte Kleingruppen einzurichten.

Mehringers Idee war, eine Institution zu schaffen, die den organisatorischen Anforderungen der Heimerziehung gerecht werden konnte - das heißt, die staatlich finanzierbar und dem dort angestellten Personal zumutbar war - und zugleich den Zuständen in einer „normalen“ Familie so nahe wie irgend möglich kam. Dies hatte im Vergleich zu früher auch eine deutlich andere Verteilung der Autorität innerhalb des Waisenhauses zur Folge. Es gab keinen Direktor mehr, der das komplette Haus befehligte, sondern die einzelnen Gruppenmütter konnten für ihre „Familien“ eigene Regeln und Strukturen aufstellen und auch den Tagesablauf innerhalb gewisser Grenzen, die durch organisatorische Erfordernisse gegeben waren (so zum Beispiel die zentrale Ausgabe von Mahlzeiten), individueller gestalten. Laut Mehringer selbst „...gab es bald diese zwei ungeschriebenen Gesetze: Was hinter der Wohnungstüre geschieht, ist Privatsache; und diesen zweiten Satz: Mit Wissen der Gruppenmutter dürfen die Kinder alles tun.[6]

3.3 Parallelen zwischen Bonhoeffer und Mehringer

Ähnlich bedeutsam wie Andreas Mehringer, schätzte auch Martin Bonhoeffer das Umfeld der Heimkinder für deren spätere Entwicklung ein. Er war der Ansicht, dass „Kinder [...] ein Recht darauf [haben], glücklich zu sein, auch – oder gerade – solange sie in einem Heim Leben müssen.“[7] Bonhoeffer war wie Mehringer der Ansicht, dass konventionelle Heime diesem Anspruch niemals gerecht werden könnten.

Er war was das zuende führen dieses Gedankens, als auch dessen praktische Umsetzung anging, wesentlich radikaler als Mehringer. Die Idee des „Nestes“ war im Grunde nichts anderes als eine Fortsetzung von Mehringers Idee der Kleingruppe, jedoch mit einer noch geringeren Anzahl von Kindern. Dies, sowie seine Bestrebungen, die Kinder – falls möglich – in Pflegefamilien zu geben und sie dort zu integrieren, standen im Zeichen der Bestrebung, die institutionalisierte Erziehung so nahe wie irgend möglich an die Familiensituation zu bringen. Bonhoeffer war überzeugt davon, dass selbst die beste Heimerziehung gegenüber der Familie defizitär war und deswegen immer eine Notlösung darstellte.[8]

Ähnliche Schwierigkeiten wie Andreas Mehringer hatte Martin Bonhoeffer mit der Durchsetzung seiner Ideen gegenüber den Behörden. Besonders was die (an sich tariflich abgesteckte) Arbeitsbelastung seiner Angestellten anging, klafften Realität und seine Erwartungen oft weit auseinander. Stärker als Mehringer war Bonhoeffer in dieser Hinsicht idealistisch geprägt und ging stets von der Überlegung aus, was für „seine Kinder“ nötig sei, bevor er über die Durchführbarkeit seiner Vorstellungen nachdachte, was viele Entscheidungsprozesse erschwerte und seinen „Kampf“ gegen die Ämter oft zu einer zähen Angelegenheit werden ließ.[9]

4 Einflüsse von Johann Heinrich Pestalozzi

4.1 Die Rolle der öffentlichen Erziehung

Trotz des großen zeitlichen Unterschiedes formulierte Johann Pestalozzi in seinem „Stanser Brief“ eine These, die so auch von Bonhoeffer hätte stammen können. Er schrieb: „Die größtmögliche Wirkung der Volksbildung könnte durch die vollendete Erziehung einer merklichen Anzahl Individuen aus den ärmsten Kindern im Lande erzielt werden, wenn diese Kinder durch ihre Erziehung nicht aus ihrem Kreis gehoben, sondern durch dieselbe vielmehr fester an denselben angeknüpft würden.“[10] Würde man „die ärmsten Kinder“, durch einen auf die Problemfelder unserer Zeit zugeschnittenen Terminus ersetzen (zum Beispiel „die am meisten benachteiligten Kinder“), so kann man durchaus behaupten, dass Pestalozzi an dieser Stelle die gleiche Problematik benennt, die auch Bonhoeffer in Bezug auf die Heimerziehung immer wieder betonte.

Die Heime konnten in Ihrer Struktur dem Anspruch nicht gerecht werden, Heranwachsenden, die aus dem sozialen Netz der Gesellschaft gefallene waren, wieder an diese heranzuführen. Neben anderen Beispielen nennt Bonhoeffer als Grund hierfür die deutlich schlechteren Bildungschancen, die Heimkindern entstünden, da sie nicht den gleichen Rückhalt und die gleiche Förderung genießen konnten, wie Kinder in intakten Familien.[11]

Gerade bei der Formulierung der Reformvorschläge der Heimerziehung wird klar, dass sich Bonhoeffer stark an den Ideen Pestalozzis orientierte, der bereits zu seiner Zeit forderte, „...dass die Vorzüge, die die häusliche Erziehung hat, von der öffentlichen müssen nachgeahmt werden.“[12] Diese Idee taucht auch wie ein roter Faden immer wieder in den Ideen Martin Bonhoeffers auf, der – wie in Kapitel 3.2 bereits angesprochen – stets versuchte, die institutionalisierte Erziehung so familiär wie in ihren Grenzen nur irgendwie möglich zu gestalten.

4.2 Die Rolle der Pädagogen

Diese Vorstellung von der Rolle der Heimerziehung stellt in der oben beschriebenen Form natürlich hohe Anforderungen – insbesondere an die in den jeweiligen Einrichtungen tätigen Pädagogen. Sowohl Pestalozzi als auch Bonhoeffer erkannten dies und formulierten ihre diesbezüglichen Einschätzungen. Bei Pestalozzi heißt es sinngemäß, dass der Heimerzieher zugleich die Eigenschaften von Mutter und Vater in sich vereinen müsse, um den Kindern durch Sanftheit Halt zu geben, ihnen aber gleichsam Grenzen aufzuzeigen und sie zu Fordern.[13]

Martin Bonhoeffer war sich eben dieser Schwierigkeit nur zu gut bewusst. Er selber war Zeit seines Lebens Vorbild, was Engagement und Aufopferungsbereitschaft für seine Zöglinge anging – wusste dabei aber nur zu gut, dass er solch kompromisslosen Einsatz von seinen Mitarbeitern in der Form nicht fordern konnte. Seine Arbeit und seine Reformvorhaben bewegten sich daher stets im Dilemma zwischen nötigen Überstunden und der physischen und psychischen Grenze von sich und seinen Angestellten. Gerade dieses professionalisierte Verhältnis zwischen Pädagogen und Heimkindern, nannte er wiederholt als die größte Schwäche der öffentlichen Erziehung.[14] Er selbst trachtete danach, die Beziehung zu den Kindern nicht übermäßig zu „pädagogisieren“, sondern sie so natürlich wie möglich - eben so familiär wie möglich zu halten. Ein wichtiger Punkt war für ihn dabei Aktivität. Martin Bonhoeffer war der Ansicht, dass ein Heimerzieher, der seine Aufgabe nur darin betrachtet, die ihm anbefohlenen Kinder zu beaufsichtigen und „passiv“ zu erziehen unglaubwürdig und im großen und ganzen nutzlos sei.[15] Er war stets darum bemüht die Kinder in seinen Einrichtungen sinnvoll zu beschäftigen, sich an diesen Aktivitäten zu beteiligen. Auf diesen Ansatz wird im folgenden Kapitel detailliert eingegangen.

5 Vergleich mit Anton Makarenko

5.1 Abgrenzung

An dieser Stelle muss klar gestellt werden, dass die beiden Pädagogen Martin Bonhoeffer und Anton Makarenko in vieler Hinsicht nur sehr schwer zu vergleichen sind.[16] Besonders was die eigenen Zielsetzungen angeht, muss zwischen den beiden deutlich unterschieden werden. So war Makarenko ein überzeugter Sozialist, dessen Methoden letztendlich darauf ausgerichtet waren, seine Zöglinge zu folgsamen Arbeitern und Bauern zu machen. Außerdem war er ein Verfechter der Kollektiverziehung, was den Ansichten Bonhoeffers, dass Kinder individuell gefördert werden müssten natürlich stark widerspricht.[17] An dieser Stelle fehlt selbstverständlich der Raum, um die ganze Komplexität Makarenkos eingehender zu untersuchen. Daher soll im folgenden Abschnitt nur auf Parallelen zwischen ihm und Bonhoeffer eingegangen werde – diese lassen sich durchaus finden und der Vergleich scheint interessant.

5.2 Ähnliche Methoden für unterschiedliche Ziele

In der Tat lassen sich bei den Prinzipien und Leitlinien viele Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Pädagogen erkennen. Ähnlich wie Bonhoeffer auch, vertrat Makarenko die These, dass Kinder und Jugendliche ernstzunehmende Mitglieder der Gesellschaft sind und in diese Leben nur integriert werden können, wenn man sie auch am gesellschaftlichen Leben teilhaben lässt. Auch war Makarenko – genau wie Bonhoeffer der Ansicht, dass technische und Handwerkliche Arbeiten eine sehr gute Methode sind, die Heimkinder nicht nur zu beschäftigen, sondern sie wieder an die Gesellschaft heranzuführen. Beide stimmten in der Überzeugung überein, dass alle Kinder durchaus das Potential zu einer guten Entwicklung in sich tragen, dass dies aber nur durch eine gute Erziehung zum Vorschein kommen kann.

Auch was die Produktivität der eigenen Institutionen anging lassen sich Gemeinsamkeiten erkennen, wenngleich man den „Fleiß“ Makarenkos natürlich immer im Kontext der sowjetischen Planwirtschaft betrachten muss. Doch auch Bonhoeffer legte großen Wert darauf, die Tätigkeiten in den Einrichtungen möglichst sinnvoll und effizient zu gestalten und besaß auch einen gewissen Stolz, was den tatsächlichen materiellen Gegenwert der selbst- und durch die Kinder geleisteten Arbeiten anging.[18]

Beiden war auch eigen, dass sie – im Gegensatz zu vielen anderen in der Heimerziehung tätigen Pädagogen – zunächst keinerlei Selektionskriterien ansetzten, was die Aufnahme von neuen Zöglingen anging. In Makarenkos Kommune befanden sich Berichten zufolge auch jugendliche Kriminelle.

Bonhoeffer selbst hat nie gezögert, höchst problematische Jugendliche in seine Einrichtungen aufzunehmen und setzte diese Entscheidungen bisweilen auch gegen den Widerstand seiner Kollegen durch.[19] Insofern kann man beiden eine große Konsequenz zusprechen, wenn es darum ging, die eigenen Ideen und Ideale trotz aller Schwierigkeiten im Hinblick auf die Situation der Jugendlichen durchzuführen und diesen Vertrauen zu schenken.

6 Ideen von Maud Mannoni

6.1 Die gesprengte Institution

Maus Mannoni arbeitete in ihrer Einrichtung in Bonneuil mit Kindern, die Martin Bonhoeffer als „aus dem Nest gefallen“ bezeichnet hätte. Das Spektrum reichte von verhaltensauffälligen bis hin zu schwer Psychotischen Kindern, welche alle gemeinsam hatten, dass sie in ihrem bisherigen Umfeld nicht mehr leben bleiben konnten. Auch sie brachte die Kinder in kleinen bis kleinsten Gruppen unter und sorgte zudem dafür, dass sie die Häuser tagsüber verließen, um eigenen Aufgaben (beispielsweise handwerklichen Arbeiten) nachzugehen.

Ganz deutlich stimmt Mannoni mit Martin Bonhoeffer in der Ansicht überein, dass Kinder nur dann wieder in die Gesellschaft integriert werden können, wenn ihre Erziehung und Entwicklung in einem Umfeld vonstatten geht, welches dem einer intakten Familie so nahe wie möglich kommt. Genau wie Bonhoeffer versuchte sie daher – falls irgendwie möglich – Pflegefamilien zu finden, in welche Kinder dann von Bonneuil aus ziehen konnten, um ihnen ein positives Umfeld für ihre weitere Entwicklung zu geben.

6.2 Die Rolle der Psychologie

Ein erstaunlich starke Übereinstimmung zwischen Mannoni und Bonhoeffer herrscht in der Rolle, die sie der Psychologie beziehungsweise Psychoanalyse in ihren Einrichtungen einräumen.[20] In der Einrichtung von Bonneuil gab es konsequenterweise keine psychologischen Diagnosen. Maud Mannoni wollte sich von klassischen psychologischen Herangehensweisen lösen, da sie diese für zu starr erachtete. Anstatt Patienten, die durch eine bestimmte Diagnose in eine damit verbundene „Schublade“ mit mehr oder weniger vorgeschriebenen therapeutischen Folgen gesteckt würden, wollte sie alle betreuten Kinder zunächst gleich behandeln. Sie ging davon aus, dass die Psychologie viel zu sehr Teil des Systems war, welches die Kinder krank (oder wie sie sagte „systembestört“[21] ) hatte werden lassen, um sie von Ihren Problemen wieder befreien zu können.

Diese betont Antipsychologische Haltung nahm Bonhoeffer zwar nicht in derartiger Konsequenz ein – er stand der Psychologie jedoch auch sehr skeptisch gegenüber. Für ihn war die Psychotherapie viel zu weltfremd und viel zu sehr Selbstzweck. Er war der Ansicht, dass Therapie unter bestimmten Umständen zwar nötig war – in der praktizierten Form jedoch ihr Ziel verfehlen würde, nämlich die Kinder und Jugendlichen wieder an die Gesellschaft heranzuführen. Dazu benötigten sie seiner Ansicht nach ein Zuhause mit allen damit verbundenen Aspekten wie Sicherheit und Rückhalt.[22]

Ähnlich ablehnend zeigte er sich gegenüber Versuchen gegenüber, psychologische Elemente in das Arbeitsleben seiner Einrichtung einzubauen. Den Wunsch nach Supervision, den viele seiner Kolleginnen und Kollegen hegten, betrachtete er mit Skepsis und als diese bei den Mitarbeitern schon fest in den Arbeitsalltag integriert war, dauerte es sehr lange, bis Bonhoeffer sich dafür entschied, sie auch für sich selbst in Anspruch zu nehmen.

7 Zusammenfassung

Wer bei Martin Bonhoeffer nach einer pädagogischen Leitlinie für alle Lebenslagen sucht, der wird nicht fündig werden. Das Gegenteil davon könnte eher als sein Konzept beschrieben werden: die Lebenslagen nehmen wie sie kommen und nach einer individuellen Lösung suchen. Martin Bonhoeffers Pädagogik war so stark wie möglich frei von theoretischen Ausflüchten, sondern stattdessen immer an den Erfordernissen seiner Heimkinder orientiert. So beantwortet er mit seinem Leben und Wirken auf eigene Art und Weise die Frage danach, wie Pädagogischen Wissen und Theorien am besten umgesetzt werden können. Nämlich durch das eingehen auf die dem Pädagogen anvertrauten Individuen, mit all ihren Sorgen, Nöten und Schwächen.

Dass dies eine sehr hohe Anforderung an die Pädagogen stellt ist nicht zu leugnen. Martin Bonhoeffer war Zeit seines Lebens gerne bereit, diese Belastung auf sich zu nehmen. Um das zu leisten, was die Gesellschaft den Heimkindern nicht bieten konnte: einen humanen Lebensraum, als eine solide Basis für ihre individuelle Entwicklung. Die Erkenntnis, dass die öffentliche Erziehung gegenüber der familiären immer Nachteile haben würde, hielt Bonhoeffer nicht davon ab, erstere so weit wie möglich zu verbessern. Mit dieser Pädagogik hat er auf dem Feld der Heimerziehung Zeichen gesetzt und bewiesen, dass die Möglichkeiten, benachteiligten Kindern den Anschluss an die Gesellschaft zu ermöglichen verbesserungsfähig und noch lange nicht ausgeschöpft sind.

( 3204 Wörter )

8 Bibliographie

Bonhoeffer, Martin: Das Haus auf der Hufe. In: Neue Sammlung, Heft 1, 1965.

Bonhoeffer, Martin: Forschungsaufgaben in der Heimerziehung. In: Neue Sammlung, Heft 2, 1966.

Bonhoeffer, Martin: Totale Heimerziehung, oder begleitende Erziehungshilfen. In: Neue Sammlung, S. 470-478, 1967.

Bonhoeffer, Martin: Personale Organisation im Heim – emotionale Desorientierung für Kinder. In: Neue Sammlung, Heft 4, 1973.

Bonhoeffer, Martin 1974: Kinder in Ersatzfamilien: Sozialpädagogische Pflegestellen; Projekte und Perspektive, zur Ablösung von Heimen. Stuttgart, 1974.

Bonhoeffer, Martin: Zerbrechen die Heime an der modernen Arbeitszeitregelung? In: Unsere Jugend, Heft 5, 1977.

Frommann, Anne / Becker, Gerold: Martin Bonhoeffer. Sozialpädagoge und Freund unter Zeitdruck. Mössingen, 1996.

Hoffmann, Franz: Anton Semjonowitsch Makarenko. Leipzig, 1980.

Kuhlemann, Gerhard: Pestalozzi in unserer Zeit. Baltmannsweiler, 1998.

Makarenko, Anton: Der Weg ins Leben. Weimar, 1967.

Mannoni, Maud: Ein Ort zum Leben. Die Kinder von Bonneuil. Frankfurt/Main, 1978

Mannoni, Maud: Scheißerziehung: von der Antipsychiatrie zur Antipädagogik. Frankfurt/M, 1979.

Mehringer, Andreas: Heimkinder. München, 1982.

Pestalozzi, Johann Heinrich: Brief an einen Freund über seinen Aufenthalt in Stans. In: Thole / Galuske / Gängler (Hrsg.): KlassikerInnen der Sozialen Arbeit. Neuwied, 1998.

Pestalozzi, Johann Heinrich / Flitner, Wilhelm: Ausgewählte Schriften. Basel, 2001

[...]


[1] Frommann / Becker (1996): S. 21-42

[2] ebd.: S. 117-175

[3] Frommann / Becker (1996): S. 55-61

[4] Mehringer (1982): S. 32-42

[5] ebd.: S.37

[6] ebd.: S.39f

[7] Bonhoeffer (1966): S. 221

[8] Bonhoeffer (1967): S. 470ff

[9] Frommann / Becker (1996): S. 58f

[10] Pestalozzi (1998): S.43

[11] Bonhoeffer (1973): S. 409

[12] Pestalozzi (1998): S. 47

[13] ebd.: S. 47f

[14] Fromman / Becker (1996): S. 82ff

[15] Bonhoeffer (1977): S. 215

[16] Hoffmann (1980)

[17] Hierfür lassen sich viele Beispiele finden, unter Anderem in: Frommann / Becker (1996): S. 232

[18] Bonhoeffer (1965): S. 82

[19] Frommann / Becker (1996): S. 228f

[20] Mannoni (1978): S.49ff

[21] ebd.: S.39

[22] Frommann / Becker (1996): S. 178f

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Am Leben orientierte Konzepte. Die Pädagogik Martin Bonhoeffers im Vergleich.
Hochschule
Eberhard-Karls-Universität Tübingen
Veranstaltung
KlassikerInnen der Hiemerziehung
Note
1,3
Autor
Jahr
2006
Seiten
14
Katalognummer
V110118
ISBN (eBook)
9783640082957
Dateigröße
617 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Leben, Konzepte, Pädagogik, Martin, Bonhoeffers, Vergleich, KlassikerInnen, Hiemerziehung
Arbeit zitieren
Uli Theobald (Autor:in), 2006, Am Leben orientierte Konzepte. Die Pädagogik Martin Bonhoeffers im Vergleich., München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/110118

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