Zur Funktion des Gedächtnisses bei Henri Bergson


Seminararbeit, 2000

13 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhalt

0. Bergson in seiner Zeit

1. Materie und Gedächtnis
1.1. Der Mensch als handelndes Wesen
1.2. Die Wahrnehmung der Bilder
1.3. Zwei Formen des Gedächtnisses
1.4. Der Vorgang des Wiedererkennens
1.5. Zusammenspiel von Wahrnehmung und Erinnerungen
1.6. Das Gedächtnis im Dienste der Gegenwart

2. Bergsons Ideen im Lichte neuerer Erkenntnisse

Literatur

0. Bergson in seiner Zeit

Der französische Philosoph Henri Bergson (1859 – 1941), der um die Jahrhundertwende äußerst einflußreich und richtungsweisend war, ja „der gebildeten Öffentlichkeit [als] [...] der Philosoph, als der für die Epoche repräsentative geistige Wortführer par excellence“ galt,[1] ist inzwischen sehr in Vergessenheit geraten, für die Öffentlichkeit gar nicht und für die Philosophie nur noch von geschichtlichem Interesse. Nur wenige seiner Ideen haben in der Philosophie in veränderter Form überlebt, und seine Ideen sind auch nicht in das Allgemein- oder Alltagswissen der Bevölkerung eingegangen, erstaunlicher- und auch bedauerlicherweise, wie ich finde, da seine Ideen, die damals große Wirkung hatten, auch heute noch von Interesse sein könnten und einleuchtende Erklärungsmodelle für viele alltägliche Erfahrungen anbieten, die die üblichen populärpsychologischen Modelle nicht oder nur mit Mysteriumsresten erklären können.

Bergsons Argumentationsweise hängt verständlicherweise stark mit verschiedenen zeitgenössischen Denkrichtungen zusammen, psychologischen und philosophischen Ansätzen, von denen er sich abgrenzt und die er zu widerlegen sucht. Oft geht er von zwei gegensätzlichen (meist in sich bereits nicht stimmigen) Systemen aus, sucht ihre Übereinstimmungen, an denen er die gemeinsame falsche Grundannahme zeigt, und entwickelt von dort seine Hypothesen, die er im weiteren überprüft.

Da die Ideen, die er bekämpft, inzwischen zum Teil ihre Bedeutung eingebüßt haben, wirken manche seiner Widerlegungen aus heutiger Sicht überflüssig. Die damals wichtigen Debatten sind nicht mehr aktuell. Wo die entsprechenden Abgrenzungen und Widerlegungen für das Verständnis der Bergsonschen Ideen nicht nötig sind, werde ich daher nicht oder nur am Rande darauf eingehen.

1. Materie und Gedächtnis

„Materie und Gedächtnis“, 1896 erschienen, ist das zweite von insgesamt vier Hauptwerken,[2] in denen Bergson seine zentrale Idee der durée (mit Dauer nur unzulänglich übersetzbar) entfaltet.[3] Bergson geht von einer Wirklichkeit der Zeit in dem Sinne aus, daß es keine festgelegte oder voraussehbare Zukunft gibt, sondern daß das Leben (auch im Sinne der Evolution)[4] einen quasi schöpferischen Prozeß darstellt, der zur Schaffung wirklich neuer Dinge imstande ist.[5] Im Gegensatz zum Konstrukt der physikalischen, abstrakten Zeit, hängt die wirkliche Zeit, die durée, mit eigenem Erleben und daher, wie sich im folgenden zeigen wird, eng mit dem Gedächtnis zusammen.

1.1. Der Mensch als handelndes Wesen

Die Wirklichkeit der Zeit bedeutet unter anderem, daß der Mensch (und das Leben im weiteren Sinne) echte, nicht determinierte Handlungen ausführt und dadurch wirklich Neues in die Welt bringt. Der Mensch ist für Bergson – und auf diese Grundvoraussetzung kommt er immer wieder zurück – ein in allererster Linie handelndes Wesen, woraus folgt, daß er körperlich und geistig völlig auf sinnvolles, das heißt dem Leben nützliches, Handeln ausgerichtet ist. Damit entspricht er biologisch den Erfordernissen seines Lebens bzw. Überlebens. Bergson verwahrt sich wiederholt gegen die Vorstellung, der Mensch bzw. seine Wahrnehmung oder sein Gedächtnis seien auf die reine Erkenntnis abgestimmt. Im Gegensatz zu diesem oft unterstellten rein spekulativen Interesse betont er den Nützlichkeitsaspekt, der auch dem Gedächtnis zugrunde liege: „Wahrnehmung und Gedächtnis [sind] auf die Tat gerichtet, und diese ist es, welche der Körper vorbereitet.“ [6] Das Gedächtnis hilft dem Menschen beim sinnvollen Handeln im weitesten Sinne. Um die Vorgehensweise des Gedächtnisses zu verstehen, müssen wir den Darlegungen Bergsons über die Wahrnehmung, die Erinnerung und das Zusammenwirken beider in ihren Grundzügen folgen.

1.2. Die Wahrnehmung der Bilder

Für Bergson stellt sich das Universum als eine Ansammlung von Bildern dar, wobei Bild ein absichtlich sehr vager und weit gefaßter Begriff ist. Bilder sind alle Dinge, so wie sie sich einem Bewußtsein im weitesten Sinne erschließen lassen, das heißt wie wir sie erkennen, erfassen oder erforschen können. In diesem Sinne ist auch der menschliche Körper als Bild zu verstehen.

Die Bilder des Universums gehören zwei unterschiedlichen Systemen an. Einerseits gibt es das System der Bilder, die sich gegenseitig nach den Regeln der Naturgesetze beeinflussen, die Gegenstand der Wissenschaft sind und deren Zukunft theoretisch voraussehbar wäre. Andererseits gibt es gleichzeitig das System, in dem die Bilder sich um Zentren lebender Materie gruppieren, die zu wirklicher Tätigkeit, d. h. spontaner, nicht voraussehbarer Handlung befähigt ist. Dieses entspricht der Wahrnehmung des einzelnen Menschen bzw. Lebewesens,[7] und die Gruppierung entsteht durch die Sicht des Menschen, für den sich mit der Lageveränderung des eigenen Körpers auch die Lage aller von ihm wahrgenommenen Bilder verändert. So gehören die Bilder gleichzeitig dem System der Wissenschaft und dem des Bewußtseins an.

Im System meines Bewußtseins erfasse ich die Bilder nicht in ihrer Ganzheit, sondern ich nehme von ihnen nur die Seiten wahr, die mir nützen. Nutzen ist hier zu verstehen als weitestgehende Möglichkeit der Beeinflussung. Allgemein können wir nur das sinnlich wahrnehmen, was wir als Menschen überhaupt theoretisch beeinflussen können, was uns ‚etwas angeht‘.[8] Nutzen beinhaltet auch die Wahrnehmung von Dingen, die mir schaden könnten, weil ich mich so vor ihnen schützen kann. Die Wahrnehmung leistet also die Arbeit, „aus der Gesamtheit der Bilder alle die auszustoßen, auf die ich keinen Einfluß ausüben kann, und dann [...] noch das auszuschließen, was für die Bedürfnisse desjenigen Bildes, das ich meinen Körper nenne, belanglos ist.“ [9]

Die äußeren Bilder, die über Nervenbahnen zu Nervenzentren geleitet werden, betrachtet Bergson als eine Bewegung, die dann als Reaktion, als Handlung im weitesten Sinne (denn auch eine gezielte Nichtreaktion ist als Handlung zu verstehen), wieder nach außen geleitet wird. Ist das agierende Nervenzentrum das Rückenmark, so verbindet es den Reiz mit einer zwangsläufigen Reaktion und einer sofortigen Bewegung, während das Gehirn eine größere Anzahl von Möglichkeiten anbietet, aus denen wir – und darin besteht das wirklich Neue, das in die Welt kommt – frei wählen können. „Das Gehirn verlängert [die aufgenommenen Bewegungen] [...] erst einmal in bloße Anfangsstadien von Reaktionen, aber in beiden Fällen ist es die Funktion der Nervensubstanz, Bewegungen zu leiten, zu kombinieren oder zu hemmen.“ [10]

Dazu setzt das Gehirn motorische Apparate zusammen, die es dem empfangenen Reiz zur Verfügung stellt. Von diesen entwickelt es im Zuge seiner Entwicklung (sowohl evolutionär als individuell betrachtet) immer mehr, und die wachsende Fülle der Wahrnehmungen eines Wesens hängt so ursächlich zusammen mit seinen wachsenden Wahlmöglichkeiten, seiner zunehmenden Indeterminiertheit:[11] „Ein strenges Gesetz [bindet] die Weite der bewußten Wahrnehmung an die Stärke der Aktivität [...], über die das Lebewesen verfügt.“ [12]

Wie sich noch zeigen wird, ist die hier beschriebene ‚reine‘ Wahrnehmung ein Konstrukt, während die wirkliche Wahrnehmung immer schon mit Erinnerung durchtränkt und von ihr beeinflußt ist.

1.3. Zwei Formen des Gedächtnisses

Bergson unterteilt das von uns wahrnehmbare Gedächtnis in motorische Mechanismen, die Gewohnheiten bilden, und einzelne Erinnerungsbilder. Er verdeutlicht Unterschied und Zusammenhang der zwei Formen am Beispiel des Auswendiglernens eines Gedichtes: jede einzelne Phase des Lernens, jede Wiederholung des Aufsagens, bildet eine für sich stehende, datierte und als Ereignis unwiederholbare Erinnerung, die von mir rückblickend in einer Vorstellung erfaßt wird. Das auswendig gekonnte Gedicht kann ich dagegen nur als erneute Tat be- und erleben, das Aufsagen (selbst im Geiste) benötigt eine bestimmte Zeit und ist jeweils Teil meiner Gegenwart. Ohne die Erinnerungen an die einzelnen Lernschritte wäre mir nicht einmal bewußt, daß es sich auch hierbei um eine Art der Erinnerung handelt.[13]

Für Bergson ist das Gedächtnis, das alle Ereignisse unseres Lebens unabhängig von irgendeiner Nützlichkeit aufspeichert (der Aspekt der Nützlichkeit kommt erst bei der Wiederbelebung der Erinnerung zum Tragen) das Gedächtnis par excellence, zu dem vielleicht nur der Mensch fähig ist. Die andere Form bezeichnet er als Gewohnheit im Lichte des Gedächtnisses, die ursprünglicher und natürlicher ist, und deren „vorwärtsstrebende Bewegung uns zum Handeln und Leben treibt.“ [14] Die zweite Form macht die erste nutzbar, indem sie die Bewegungen, die aus diesem eigentlichen Gedächtnis hervorgehen (die einzelnen Lernphasen) organisch verknüpft und dadurch eine Gewohnheit in Form eines funktionsbereiten Mechanismus schafft, der durch einen Schlüsselreiz reflexartig ausgelöst wird. Diese Gewohnheiten nützen dem Leben durch ihre „fertigen Antworten auf die unaufhörlich wachsende Menge möglicher Interpellationen.“ [15]

Das auf das praktische Leben ausgerichtete Gedächtnis der Gewohnheiten drängt daher auch laufend das andere Gedächtnis zurück, „oder darf wenigstens von ihm nur annehmen, was die gegenwärtige Lage nutzbringend beleuchten und kompletieren kann.“ [16] Es ist überhaupt die Aufgabe des Bewußtseins, laufend Bilder der Vergangenheit zu unterdrücken. Das schließt Bergson unter anderem daraus, daß, „läßt für einen Moment die Spannung der Fäden nach, die von der Peripherie über das Zentrum zur Peripherie gehen“ [17] (gemeint sind die unter Punkt 2.3. beschriebenen Nervenbahnen), diese dem Leben unnützen Bilder aus dem Unbewußten hervordrängen.[18] Dies ist im Traum der Fall und bei Störungen des sensorisch-motorischen Gleichgewichts des Nervensystems, wo es zu einer Zunahme spontaner (im Sinne zufälliger, dem Leben nicht förderlicher) Erinnerungsbilder kommt, die den Kranken verwirren und dadurch in seinen Möglichkeiten sinnvoller, zielgerichteter Tätigkeiten einschränken. Das Zurückdrängen der Erinnerungsbilder zeigt sich auch darin, daß wir nicht nach Gutdünken über sie verfügen können. Wenn wir das wollen, müssen wir sie uns durch das Herstellen eines Mechanismus`, also durch die Technik des Lernens, verfügbar machen.

1.4. Der Vorgang des Wiedererkennens

Das Wiedererkennen ist „der konkrete Vorgang, durch den wir die Vergangenheit in der Gegenwart ergreifen.“ [19] Für Bergson ist auch dieser Vorgang primär durch Bewegung bestimmt. Für ihn sind wir Menschen, wie es sich bereits bei der Beschreibung der Wahrnehmung zeigte, „Wesen, bei denen sich gegenwärtige Eindrücke in geeignete Bewegungen fortsetzen.“ [20] Unser Nervensystem ist daher auf Bewegung und auf den Bau von Bewegungsapparaten angelegt, und so kommt es bei Wiederholungen eines Sinneseindrucks zu einer immer festeren Verbindung desselben mit der Bewegung, die auf ihn antwortet. Diese gewohnte, von selbst auftretende Begleitbewegung ist es nun laut Bergson erst, die uns das Gefühl des Wiedererkennens gibt, was bedeutet, „daß wir gemeinhin unser Wiedererkennen erst spielen, ehe wir es denken,“ [21] also ehe es uns bewußt wird.

Möchte man sich bewußt an etwas aus seiner Vergangenheit erinnern, ist es nötig, sich aus der handlungsorientierten Gegenwart zu lösen, und auch dann kann man eine Erinnerung nicht willkürlich herbeizitieren, „wir machen uns lediglich geschickt, sie zu empfangen, indem wir die geeignete Haltung einnehmen.“ [22]

Bergson beschreibt den Prozeß der Wiedererkennung am Beispiel des Verstehens von Sprache. Darauf möchte ich etwas genauer eingehen, da dieses Erklärungsmodell auf den ersten Blick ungewöhnlich, bei näherem Hinsehen aber erstaunlich aufschlußreich zu sein scheint.

Für Bergson werden auch von Gehörseindrücken Begleitbewegungen oder Bewegungsansätze organisiert, die die gehörte Sprache rhythmisch gliedern. Diese Bewegungen entstehen durch die „Tendenz der auditiven Worteindrücke, sich in Artikulationsbewegungen fortzusetzen“ [23], wie es sich deutlich bei der Echolalie zeigt, einer Störung, bei der der Kranke den Sinn dessen, was man ihm sagt, nicht mehr verstehen kann, nichtsdestotrotz die Worte aber nachspricht.

Aufgrund dieser Bewegungsansätze versetze ich mich als Hörender in die Ideen des Sprechenden und kann von da aus den Sinn der Worte erfassen. Ein ausschlaggebendes Argument Bergsons ist, daß man beim Hören einer fremden Sprache nicht in der Lage ist, die einzelnen Laute oder gar Worte zu erkennen. Man kann sie keineswegs gleich nachsprechen (ebensowenig wie Kinder Worte nachsprechen können, bevor diese einen Sinn für sie haben). Die Spracherkennung beginnt offenbar nicht mit den akustischen Signalen in dem Sinne, daß ich erst die Worte höre, dann feststelle, ob ich sie kenne, sie gegebenenfalls verstehe und dann eins nach dem anderen begreife und verknüpfe. Ich kann die Worte gar nicht erst wirklich hören, wenn ich sie nicht kenne, wenn sie also noch keine motorische Verknüpfung in meinem Nervensystem besitzen.

1.5. Zusammenspiel von Wahrnehmung und Erinnerungen

Wie ich unter Punkt 2.3. bereits erwähnte, ist die wirkliche, aktuelle Wahrnehmung immer bereits mit Erinnerungen verknüpft. In der aktuellen Situation gibt es stets ein Zusammenspiel von reiner Erinnerung, Erinnerungsbild und Wahrnehmung. Die reine Erinnerung besteht aus all unseren Erlebnissen, die das Gedächtnis gleichberechtigt nebeneinander aufspeichert, und zwar ohne Beziehung zu ihrer Nützlichkeit. Bergson ist der Überzeugung, daß Erinnerungen nie verlorengehen können. Das Vergessen ist für ihn in keinem Fall ein Verschwinden der irgendwo im Gedächtnis materiell gespeicherten Erinnerungen, sondern immer nur ein Problem ihrer Zugänglichkeit für das Bewußtsein. Die Verbindung zu den Erinnerungen kann durch Krankheiten oder Gehirnverletzungen zerstört werden, nichtsdestotrotz sind die Erinnerungen noch vorhanden. Die reinen Erinnerungen sind uns aber nicht zugänglich, sondern sie können sich nur in Form von Erinnerungsbildern wiederbeleben und uns bewußt werden, wenn sie sich einer aktuellen Situation einpassen und in diese einfließen, und dies kann nur geschehen, wenn sie dadurch, daß sie der jetzigen Situation in irgendeiner Weise ähnlich sind, zu ihrer Bewältigung beitragen können.

Ebensowenig wie eine reine Erinnerung können wir eine reine Wahrnehmung erleben, also eine Sicht der äußeren Bilder, die nur „ein Kontakt des Geistes mit dem gegebenen Gegenstand“ ist,[24] sobald wir überhaupt über eine Erinnerung verfügen können (was bereits vor der Geburt der Fall ist).

Die erste eher grobe äußere Wahrnehmung bewirkt in uns Bewegungen oder Bewegungsansätze, die wie beschrieben zum Wiedererkennen führen. Diese Bewegungsansätze rufen entsprechende, ähnliche Erinnerungsbilder aus immer tieferen Regionen des Gedächtnisses wach, die sich auf das skizzenhafte Bild der Wahrnehmung legen und es ergänzen: „das Gedächtnis verstärkt und bereichert die Wahrnehmung, die ihrerseits, je mehr sie sich entwickelt, eine wachsende Zahl von Ergänzungserinnerungen an sich zieht.“ [25] Wir nehmen diese Bilder unterschiedlicher Herkunft als ein einziges wahr: „Jedes Erinnerungsbild, das zur Interpretation unsrer aktuellen Wahrnehmung dienen kann, weiß sich so vollkommen in sie einzuschieben, daß wir nicht mehr scheiden können, was Wahrnehmung und was Erinnerung ist.“ [26] Bei verstärkter Aufmerksamkeit werden immer mehr Erinnerungsbilder herangezogen, die uns als ein immer genaueres Wahrnehmen der jetzigen Gegebenheiten erscheinen.

Bergson spricht davon, daß Erinnerungsbilder nach außen projiziert werden, was besonders am Beispiel des Lesens deutlich wird. Lediglich während des Lesenlernens sieht man wirklich alle Buchstaben einzeln und fügt sie mühsam zusammen. Beherrscht man die Technik, so erfaßt „unser Geist [...] da und dort schnell ein paar charakteristische Züge; den ganzen Zwischenraum füllt er mit Erinnerungsbildern aus, die er auf das Papier projiziert, wo sie die wirklichen gedruckten Buchstaben verdrängen, ersetzen, ja zu sein scheinen.“ [27] Hat man sich verlesen und es nicht gleich aus dem Zusammenhang heraus bemerkt, so erinnert man sich später tatsächlich an das von einem selbst nach außen projizierte Wort und meint, dieses im neu entstandenen Erinnerungsbild vor sich zu sehen, auch wenn einem der Irrtum im Nachhinein bewußt ist. Ähnliches geschieht auch oft mit anderen Wahrnehmungen, beispielsweise wenn man bei einem bekannten Bild (etwa bei einem Ort, den man oft sieht) eine Veränderung nicht wahrnimmt, sondern sich vielmehr danach an das übliche Bild deutlich zu erinnern glaubt bzw. wirklich erinnert, denn diese nach außen projizierte Sicht entspricht ja dem eigenen Erleben.

1.6. Das Gedächtnis im Dienste der Gegenwart

Bergsons Grundgedanke des handelnden Menschens, dessen Körper ein entsprechend eingerichtetes Werkzeug ist, verdeutlicht sich im Verlauf der Abhandlung immer mehr. Ausschlaggebend für die Vorgänge im Bewußtsein sind die Erfordernisse der Gegenwart; die Funktion des Gedächtnisses ist ganz auf einen der Gegenwart beizusteuernden Nutzen angelegt und entspricht im Prinzip einer fortwährenden Hemmung des Geistes. Die ins Bewußtsein strebenden Erinnerungen werden ständig zurückgedrängt, und nur die in der gegenwärtigen Situation nützlichen Bilder können den Widerstand des Bewußtseins überwinden, wobei Nutzen hier nicht in einem objektiven Sinne zu verstehen ist, sondern lediglich im Sinne einer Orientierungshilfe für Entscheidungen. Man kann auf die Entscheidungen zurückgreifen, die man in einer ähnlichen Situation bereits getroffen hat.[28] Eine solche Entscheidung muß natürlich nicht objektiv dem Leben nützen.[29]

Die Vergangenheit ist aus sich selbst heraus daher machtlos; sie kann nur Macht gewinnen, wenn sie der Gegenwart ähnlich und damit nützlich ist und wieder zu einer gegenwärtigen Wahrnehmung wird.

Die erlebte Gegenwart (in Abgrenzung zur mathematischen Auffassung eines idealen unausgedehnten Punktes bzw. Schnittes in der Zeitachse) beschreibt Bergson als psychischen Zustand mit einer gewissen Dauer, der „zugleich eine Wahrnehmung der unmittelbaren Vergangenheit und eine Bestimmung der unmittelbaren Zukunft“ ist.[30] Da die unmittelbar gemachten Wahrnehmungen unsere Empfindungen bestimmen[31] und die unmittelbare Zukunft sich in Bewegungen manifestiert, ist unsere Gegenwart ein sensorisch-motorischer Zustand und besteht daher „in dem Bewußtsein [...], daß ich von meinem Körper habe.“ [32]

Bergson entwirft für das Gedächtnis das Modell eines Kegels, um seine Funktion in der Gegenwart zu verdeutlichen.[33] Der Kegel stellt die Gesamtheit der im Gedächtnis angehäuften Erinnerungen dar,[34] wobei die Kegelbasis in der Vergangenheit liegt und die ständig vorwärts schreitende Spitze die Gegenwart symbolisiert, die zugleich die (ebenfalls fortschreitende) Ebene der gegenwärtigen Vorstellung des Universums berührt. Die Kegelspitze, d. h. die Gegenwart des Gedächtnisses, beschränkt sich völlig auf die Aufnahme der Wirkungen der Ebene, vereinfacht gesagt der momentan wahrgenommenen Situation, und auf die Reaktion darauf mit Hilfe der passenden Erinnerungsbilder. Befindet sich das Bewußtsein in der Spitze, so kommt es zu einer rein mechanischen Reaktion; je näher es an der Basis liegt, umso mehr macht es sich los vom sensorisch-motorischen Zustand und wird immer traumähnlicher. Das Bild macht deutlich, daß das Bewußtsein einen immer größeren Querschnitt durch den Kegel macht, also mehr Raum einnimmt, je näher es der Basis kommt, dadurch aber immer handlungsunfähiger wird, während es in der Spitze keinen Raum mehr einnimmt, sofort handlungsfähig ist, allerdings keinen Entscheidungsspielraum mehr hat. Der ‚gesunde‘ Menschenverstand‘ liegt für Bergson zwischen Basis und Spitze, zwischen dem lebensunfähigen Träumer und dem rein impulsiv handelnden Menschen, der tierähnlich einem Reiz-Reaktions-Schema folgt.[35]

Bergson bestreitet also nicht die Fähigkeit des menschlichen Geistes zu Spekulation und Kontemplation, er bestreitet aber, daß hierin dessen ursprünglicher Zweck liege. Vielmehr muß dafür der eigentliche Zweck aller geistigen Vorgänge, das Vorbereiten und Ausführen von Handlung, dafür zeitweilig zurückgedrängt werden.

2. Bergsons Ideen im Lichte neuerer Erkenntnisse

Wie ich eingangs erwähnte, spielt Bergson in der heutigen Philosophie kaum noch eine Rolle. Daß seine das Gedächtnis betreffenden Ideen inzwischen vergessen sind, klingt zwar amüsant,[36] scheint mir aber doch bedauerlich zu sein. Die damaligen Annahmen über Gedächtnis und Gehirn sind natürlich zum Teil überholt, was nach meiner Auffassung aber keineswegs Bergsons gesamtes Gedankengebäude einstürzen läßt, vielmehr lassen sich viele neuere Erkenntnisse in Bergsons Modell einfügen; teilweise scheint er auch auf neurologischem Gebiet seiner Zeit voraus gewesen zu sein. So bestätigte sich seine Theorie, daß Erinnerungen nicht verlorengehen, daß vielmehr „Vergessen letztlich nicht [sic] anderes ist als ein Scheitern beim Versuch, Gedächtnisinhalte abzurufen.“ [37]

Wenn man die Qualität von wissenschaftlichen Theorien nach deren Nützlichkeit als Erklärungsmodell bemißt (was doch dem wissenschaftlichen Ideal entspricht), so bietet Bergsons Ansatz für viele unverständlich erscheinende Vorgänge des Gehirns Erklärungsmöglichkeiten, die erstaunlich sind, weil sie nach anderen Theorien Mysteriöses plötzlich verständlich machen.

Mit Vorbedacht habe ich die Frage der Sprachwiedererkennung etwas ausführlicher behandelt. Bergsons Ansatz bietet eine interessante Interpretationsmöglichkeit für Fälle von Aphasie, wie sie der Neurologe Oliver Sacks beschreibt.[38] Es handelt sich dabei um Aphasie-Patienten, Menschen mit einer sensorischen Sprachstörung, die die Bedeutung von Worten nicht mehr erfassen können. Nichtsdestotrotz scheinen sie oft den Sinn dessen, was man ihnen sagt, zu erfassen, sofern man in einer natürlichen Weise mit ihnen spricht. Oliver Sacks führt diese Fähigkeit auf eine verstärkte Sensibilität des ‚Ton-Gefühls‘ zurück, wodurch sie über die sich darin mitteilenden Emotionen des Sprechenden die Bedeutung des Gesagten erfassen oder erahnen können. Dies scheint mir nahe an Bergsons sehr viel konkreterem Modell der Gehörseindrücke zu liegen, die den Hörenden über Bewegungsansätze in die Ideen des Sprechenden versetzen. Interessant wäre eine Untersuchung darüber, ob dieses überraschende ‚Sprachverständnis‘ von Aphasikern nur bei der eigenen bzw. einer dem Kranken bekannten Sprache vorkommt oder auch bei einer ihm fremden (wo es nach Bergsons Theorie nicht der Fall sein dürfte). Oliver Sacks Bericht sagt hierüber leider nichts.

Natürlich können im Rahmen dieser Arbeit keine naturwissenschaftlichen Beweise für Bergsons Ideen erbracht werden, und das ist auch nicht mein Anliegen. Ich möchte lediglich darauf hinweisen, daß es mir für die heutigen Wissenschaften, zumindest für die Philosophie, ein Verlust zu sein scheint, seine Erklärungsmodelle nur mit geschichtlichem Interesse zu betrachten, wie es der Fall ist.

Literatur

Bergson, Henri (1991) (Erstauflage 1896, Paris): Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner

Kolakowski, Leszek (1985): Henri Bergson. Ein Dichterphilosoph. München: Piper.

Oger, Erik (1991): Einleitung. In: Bergson, Henri (1991) (Erstauflage 1896, Paris), Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Hamburg: Meiner, S. IX – LVII

Parkin, Alan J. (1996): Gedächtnis. Ein einführendes Lehrbuch. Weinheim: Psychologie Verlags Union

Sacks, Oliver (1987): Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt

[...]


[1] Kolakowski 1985, S. 7

[2] 1889: Zeit und Freiheit (Essai sur les données immédiates de la conscience), 1896: Materie und Gedächtnis (Matière et Mémoire), 1907: Schöpferische Entwicklung (L`evolution créatrice), 1932: Die beiden Quellen der Moral und der Religion (Les deux sources de la morale et de la religion)

[3] vgl. Kolakowski 1985, S. 7ff und Oger 1991, S. IXff

[4] vgl. Sheldrake, Rupert (1993): Das Gedächtnis der Natur. Das Geheimnis der Entstehung der Formen in der Natur. München: Piper, S. 373f

[5] Im Gegensatz zur platonischen Theorie des Schöpferischen, das vom Vorhandensein aller möglichen Formen ausgeht, die sich im Einzelfall lediglich manifestieren, und auch im Gegensatz zu Theorien der mechanistischen Physik, die aufgrund der ewig gleich wirkenden Naturgesetze nur ewige Formen und Gesetze denken können (ebd.).

[6] Bergson 1991, S. 226

[7] Für Bergson verfügen alle Lebewesen, die sich fortbewegen können, über eine gewisse Entscheidungsfreiheit.

[8] Wahrnehmung wird daher auch als ‚virtuelle Tätigkeit‘ bezeichnet.

[9] Bergson 1991, S. 228

[10] a. a. O., S. 8

[11] Im Alltag ist dies gut zu beobachten: je mehr Einzelheiten wir an Gegenständen oder Situationen wahrnehmen, desto mehr Möglichkeiten sie zu nutzen, auf sie einzugehen, sind uns bewußt, bzw. umgekehrt können wir erst, wenn wir über Dinge oder Situationen Bescheid wissen und uns die Möglichkeiten ihrer Nutzung geläufig sind, die entsprechenden Einzelheiten wahrnehmen.

[12] Bergson 1991, S. 16

[13] Dies ist noch besser nachzuvollziehen am Beispiel von unbewußt angeeigneten Gewohnheiten und motorischen Abläufen (wie etwa das Laufenlernen), an deren Lernprozeß man sich nicht erinnert und die einem wie naturgegebene Fähigkeiten erscheinen bzw. die man überhaupt nicht reflektiert.

[14] Bergson 1991, S. 72

[15] a. a. O., S. 71, Gewohnheiten beschränken momentan unsere Entscheidungsfreiheit, indem sie uns auf bekannte Reize automatisch mit einer erprobten Handlung reagieren lassen (oder in einer gefährlich scheinenden Situation schnell funktionieren). Ohne Gewohnheiten dieser Art wären wir kaum überlebensfähig. Daß sie uns auch unbeweglich machen und in unseren Möglichkeiten einschränken, ohne daß es uns bewußt ist, sei hier nur am Rande erwähnt, da für Bergson die Bewältigung des praktischen Lebens im Vordergrund steht.

[16] Bergson 1991, S. 74

[17] ebd.

[18] Der Begriff des Bewußten und des Unbewußten bei Bergson ist nicht identisch mit den heute geläufigen Begriffen der Psychoanalyse nach Freud. Für Bergson ist das Bewußte das aktuell Wirksame, das Unbewußte ist macht- und wirkungslos, was es bei Freud ja keineswegs ist.

[19] Bergson 1991, S. 80

[20] a. a. O., S. 86

[21] Bergson 1991, S. 85

[22] a. a. O., S. 128, Es ist interessant, daß jemand, der in seinen Erinnerungen lebt, als ‚rückwärtsgewandt‘ bezeichnet wird, daß also die Umgangssprache diese Verbindung zur körperlichen Haltung durchaus kennt.

[23] Bergson 1991, S. 106

[24] Bergson 1991, S. 127

[25] a. a. O., S. 93

[26] a. a. O., S. 95

[27] Bergson 1991, S. 95

[28] Diese Ähnlichkeit muß sich nicht auf die gesamte Situation beziehen. Das Erkennen von Ähnlichkeiten geht laut Bergson von den Bildern aus bzw. von deren Zusammenspiel mit unseren Sinnen, die automatisch das aufnehmen, was für unser Leben wichtig ist. Auf den ‚Allgemeinbegriff‘ nach Bergsons Auffassung genauer einzugehen, würde hier allerdings zu weit führen.

[29] Ein deutliches, wenn auch banales Beispiel wäre das Anzünden einer Zigarette in bestimmten Situationen, das dem Betroffenen aufgrund seiner Erfahrungen als adäquate Handlung erscheint, wiewohl es natürlich nicht dem Leben nützlich im Sinne von gesundheitsfördernd ist. Jeder kennt Situationen, in denen er in einer gewohnten Art reagiert, die bei näherem Hinsehen psychisch oder physisch nicht sinnvoll erscheint. Um diesen Mechanismen zu entrinnen, ist es nötig, sich wie beim gezielten Erinnern aus dem Handlungsverlauf zu distanzieren und entgegen seiner automatisch eingenommenen Haltung und damit gegen sein momentanes Gefühl zu handeln.

[30] Bergson 1991, S. 132

[31] Den Begriff der Empfindung habe ich aus Gründen der Vereinfachung bisher vernachlässigt. Es genügt zu wissen, daß die Haltung (im Sinne der Bewegungsansätze), in die wir uns durch das Zusammenspiel von äußerer Wahrnehmung und sich einfügenden Erinnerungsbildern versetzen, mit Empfindungen einhergeht, sich uns quasi durch die Empfindungen mitteilt. Die Empfindungen sind also durch das Gedächtnis bestimmt.

[32] Bergson 1991, S. 133

[33] a. a. O., S. 147

[34] Das Gedächtnis umfaßt demnach den gesamten Charakter bzw. ist der Charakter, der den Menschen in seiner Ganzheit mit all seinen sich stetig erweiternden Erfahrungen darstellt. Das Bild des Kegels macht auch deutlich, daß das Gedächtnis keineswegs nur eine Funktion des Gehirns ist, sondern umgekehrt Gehirn und Bewußtsein umschließt.

[35] Bergson 1991, S. 148

[36] Es wäre eine interessante Aufgabe, die Gründe hierfür seiner eigenen Theorie entsprechend zu untersuchen.

[37] Parkin 1996, S. 69

[38] vgl. Sacks, Oliver: Die Ansprache des Präsidenten. In: Sacks 1987, S. 115 – 120. Interessanterweise spricht Sacks an anderer Stelle von der „Bergsonschen ‚intentionalen‘ Zeit“ (Sacks 1987, S. 62), geht aber auf Bergsons Ideen über das Gedächtnis sonst nicht ein.

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Details

Titel
Zur Funktion des Gedächtnisses bei Henri Bergson
Hochschule
Universität Lüneburg
Veranstaltung
Seminar 60012: Das Gedächtnis
Note
1
Autor
Jahr
2000
Seiten
13
Katalognummer
V110085
ISBN (eBook)
9783640082629
ISBN (Buch)
9783656381150
Dateigröße
397 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Funktion, Gedächtnisses, Henri, Bergson, Seminar, Gedächtnis
Arbeit zitieren
Rika Schütte (Autor:in), 2000, Zur Funktion des Gedächtnisses bei Henri Bergson, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/110085

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