Die Darstellung der Fischer-Kontroverse in der öffentlichen Diskussion


Hausarbeit, 2006

21 Seiten, Note: B (gut)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Fischer-Kontroverse
2.1 Fischers Konzeption
2.2 Reaktionen auf Fischers Veröffentlichungen
2.2.1 Ausgewählte Kritiker
2.2.2 Fritz Fischers Reaktion auf die Kritik
2.3 Entstehung und Entwicklung der Kontroverse
2.3.1 Gerhard Ritters Offensive
2.3.2 Fritz Fischers Haltung zu Beginn der Kontroverse
2.3.3 Beteiligung der Medien
2.3.4 Popularität der Kontroverse
2.3.5 Fortführung der Diskussionen

3. Die Fischer-Kontroverse in der heutigen Zeit
3.1 Bedeutung von Fischers Thesen für die Geschichtswissenschaft

4. Schluss

5. Quellen und Literatur

6. Erklärung

1. Einleitung

Zu den Aufgaben der Medien gehört es, über gegenwärtige Geschehnisse auf dem Laufenden zu halten. Berichterstattung und Meinungsbildung haben dabei eine Wechselwirkung. Die Fischer-Kontroverse war zu ihrer Zeit - in den 1960-er Jahren - aktuell, obwohl sie sich eigentlich mit Vergangenem beschäftigte, nämlich dem Ersten Weltkrieg. Diese Diskussion, die anfangs unter Fachleuten stattfand, wurde mit Hilfe der Medien an die Öffentlichkeit getragen.

Als 1961 das Buch „Griff nach der Weltmacht“ des Hamburger Geschichtsprofessors Fritz Fischer erschien, rechnete niemand damit, dass diese Arbeit eine jahrelange Debatte auslösen würde, die sich nicht nur auf die Reihen der Wissenschaft beschränkte, sondern auch in Medien und Öffentlichkeit ausgetragen wurde. Fischers Thesen waren neu und mutig, denn er wollte verdeutlichen, dass das Kaiserreich beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs eine aktive Rolle gespielt und schon vorher umfangreiche Expansionsziele verfolgt hatte. Bis heute hat keine weitere wissenschaftliche Kontroverse für vergleichbaren Aufruhr gesorgt.

Diese Arbeit möchte die öffentliche Austragung der Fischer-Kontroverse untersuchen. Der Disput war der erste und bislang einzige seiner Art in der neu gegründeten Bundesrepublik Deutschland, nämlich dadurch, dass die Medien in einem erheblichen Maße beteiligt waren. Dies war nicht nur ungewöhnlich für die Geschichtswissenschaft, sondern überhaupt für eine Fachdiskussion. Es geht daher nur im Rahmen von Fischers Thesen um die Frage, ob der Erste Weltkrieg aus deutscher Sicht der Prävention der Verteidigung diente. Eine bedeutendere Rolle haben die Medienwirksamkeit und das Medienecho; das bewusste Einbeziehen von Zeitungen und Zeitschriften, was eine neue Art der historischen Debatte begründete.

Die wichtigsten Punkte zu Fischers Biographie setze ich als bekannt voraus bzw. werde ich, um die Arbeit nicht unnötig auszudehnen, nur dann darauf eingehen, wenn es insgesamt zum Diskussionskontext passt.

In einem ersten Abschnitt möchte ich einen Überblick über „Griff nach der Weltmacht“ und Fischers Thesen verschaffen. Anschließend gehe ich auf einzelne Reaktionen ein, vor allem aus der Gruppe der konservativen Historiker. Dabei kommt Gerhard Ritter eine besondere Bedeutung zu. Weiter geht es mit der Entwicklung der Kontroverse. In diesem Zusammenhang verweise ich auf verschiedene Veröffentlichungen in den Medien1 sowie die Stellungnahmen Fischers. Mit der Zeit erlangte der Disput auch in der Öffentlichkeit einen hohen Bekanntheitsgrad. Abschließend möchte ich darstellen, welche Stellung Fischers Arbeiten heute in der Geschichtswissenschaft haben. Werden sie anerkannt, wie werden sie überhaupt beurteilt?

Am Anfang der Hausarbeit stellte sich mir die Frage, ob ich chronologisch oder thematisch vorgehen sollte. Zum Ersten Weltkrieg, aber auch schon über Fritz Fischer, gibt es eine Fülle an Literatur. Ich habe mich entschieden, die Hausarbeit in Unterthemen zu gliedern, innerhalb derer ich - wenn angemessen - chronologisch vorgehe.

2. Die Fischer-Kontroverse

2.1 Fischers Konzeption

Fischers 1961 erschienenes Hauptwerk „Griff nach der Weltmacht“ führte zu einer in der jungen Bundesrepublik bis dato ungekannten historischen Debatte. Fischer setzte sich intensiv mit der deutschen Kriegszielplanung vor und während des Ersten Weltkriegs auseinander und kam zu dem Ergebnis, dass das Kaiserreich von Anfang an feste Kriegsziele in seinem Programm verfolgte und dass auch die aggressiven imperialistischen Bestrebungen erheblich zum Kriegsausbruch beitrugen. Somit deckten sich Fischers Theorien nicht mit der vorherrschenden Auffassung vom Defensivkrieg, in den Deutschland „hineingeschlittert“ sei. Hinzu kam, dass in den 1950-er Jahren das Weltkriegsthema von Politik und Gesellschaft eher verdrängt wurde. (Große Kracht 2005: 48). Vor allem Fischers Feststellung, dass das Kaiserreich die Hauptverantwortung am Kriegsausbruch trug und Deutschland somit ganz klar auch die Kriegsschuldfrage zuzuweisen sei (Geiss/Wendt 1973: 13), wurde als besonders provozierend aufgefasst.

Fischer war überzeugt, dass der Krieg nicht nur auf politischer Ebene, sondern ebenso von hohen Amtsträgern aus Wirtschaft, Politik und Militär vorbereitet worden sei. Die Regierung habe Kriegsziele formuliert, um das deutsche Reich geographisch von Frankreich bis Polen auszudehnen (Große Kracht 2005: 49).

In seinen Folgearbeiten erweiterte Fischer diese Thesen und sprach von einer Kontinuität hinsichtlich der politischen Zielsetzungen und auch der Machthaber. Dieselben Gruppen und oft auch Personen seien während des Kaiserreichs bis hin zur Zeit des Nationalsozialismus kontinuierlich aktiv und vor allem einflussreich gewesen, und sie hätten auch ähnliche Ziele verfolgt - ein neuer Forschungsansatz (Jäger 1984: 136ff.).

Mit seinen Arbeiten ging es Fischer darum, eine in seinen Augen wichtige Lücke in der Kriegsforschung zu schließen und aufzuzeigen, wie wenig sich die deutschen Machthaber während des Ersten Weltkriegs an realistischen Bedingungen orientierten (Jäger 1984: 135). So neu waren Fischers Thesen übrigens nicht, denn schon 1903 hegte Erick Marcks den Verdacht, dass das Kaiserreich den Imperialismus auch durch Gewalteinsatz erweitern wollte, was Fischer in „Weltmacht oder Niedergang“ beschrieb (Fischer 1965: 71). Diese Aussage eines Einzelnen ging jedoch unter. Während des Zweiten Weltkriegs, 1942, äußerte Luigi Albertini ähnliche Denkansätze hinsichtlich der Kontinuität der Eliten (Böhme 2000: 119).

Bei seinen Analysen war es Fischer wichtig, auch sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Aspekte einzubeziehen, ohne dabei anklagen oder zu rechtfertigen (Sywottek 1973: 24). Charakteristisch für Fischers Arbeiten ist, dass sie auf intensiven Recherchen beruhen, obwohl sie von der Methodik her traditionell waren. Er weigerte sich, Memoiren als Quellen zu nutzen (Iggers 1971: 360). Nicht nur mit Bethmann Hollwegs „Septemberprogramm“ von 1914 hatte sich Fischer ausgiebig befasst (Große Kracht 2005: 48).

Ein Ergebnis war, dass die politischen Bestrebungen Deutschlands aus einer neuen Perspektive und unter anderen Gesichtspunkten beschrieben wurden, nicht nur Innen- und Außenpolitik, sondern auch die Wirtschaft. Peter-Christian Witt war sogar der Meinung, dass Fischer eine Neuinterpretation der deutschen Geschichte präsentierte, die über die übliche Ereignisgeschichte hinausging (1988: 12f.).

Es hat Fischer selbst überrascht, wie viele Reaktionen „Griff nach der Weltmacht“ hervorrief (Große Kracht 2005: 47). Häufig hieß es, dass Fischer ein eher unangenehmes Thema ansprach, vor allem die Verknüpfung des Imperialismus mit den Expansionszielen Hitlers, ganz zu schweigen von der Schuldzuweisung an Deutschland. Helmut Böhme spekulierte, dass die historischen Verweise während der Debatte weniger provozierend wirkten als Fischers politische Analysen (2000: 120). Es ließ sich nicht vermeiden, dass andere Historiker auf Fischers Thesen mit Gegenthesen reagierten.

2.2 Reaktionen auf Fischers Veröffentlichungen

Die Resonanz auf „Griff nach der Weltmacht“ war mannigfaltig, brach das Buch doch mit der Tradition, dass der Erste Weltkrieg aus deutscher Sicht ein Präventiv- und Defensivkrieg gewesen sei (Böhme 2000, 118). Helmut Lindemann zollte seinen Respekt, dass Fischer beabsichtigte, das momentane Geschichtsbild „gerade zu rücken“ und zur Kriegsschuld samt ihren Konsequenzen zu stehen (Sywottek 1973: 25). Konservative Historiker (deren Weltbild noch vom Erleben des Kaiserreichs geprägt wurde) wie Gerhard Ritter, einer der heftigsten Kritiker Fischers, verteidigten ihr Geschichtsbild. Wolfgang Jäger vermutete, dass vor allem die junge Bundesrepublik nicht ihr Gesicht verlieren sollte (1984: 133). Insgesamt boten die Kritiker jedoch keine neuen Argumente, sondern hielten sich an ihre früheren Analysen. Oft wurde beiläufig erwähnt, dass Fischer auch während der NS-Zeit seine akademische Laufbahn weiterhin verfolgte (Jarausch/Sabrow 2002b: 129).

Auch Fischers Studien über die Person Bethmann Hollwegs ernteten Widerspruch; es hieß, er stelle den früheren Reichskanzler in seiner Charakterisierung als zu eroberungswillig dar.

Die Frage war, ob einzelne Personen die Politik wirklich so stark beeinflusst hätten. Kritiker behaupteten, Fischer habe den damaligen Zeitgeist außer Acht gelassen. Während sich ein Großteil der Historiker der „älteren Generation“ einig war und Fischers Arbeit verurteilte, waren die Reaktionen aus dem Ausland, vor allem den englischsprachigen Ländern, oft positiv. Österreichische Experten wie Rudolf Neck hielten ein Werk wie „Griff nach der Weltmacht“ für längst fällig (Jäger 1984: 147ff.).

2.2.1 Ausgewählte Kritiker

Dass Fischers Thesen eine Diskussion auslösen könnten, erkannte Hans Herzfeld schnell. Ihm imponierte, wie intensiv Fischer das Forschungsmaterial analysiert hatte. Herzfeld mutmaßte, dass beide Parteien zu keinem Konsens finden würden und riet, nicht zu sehr mit Extrembeispielen zu argumentieren. Der Mord an Franz Ferdinand sei nicht der Grund für den Kriegsausbruch gewesen, sondern eher eine Gelegenheit. Ferner stellte Herzfeld fest, dass sich die österreichische Regierung wohl ebenfalls mit einem Präventivkrieg befasst hatte, während Deutschland eher einen defensiven Kurs einschlagen wollte. Doch als sich die Ereignisse überschlugen, sei die Situation außer Kontrolle geraten. Dennoch hat Herzfeld Fischers Arbeiten nie als unseriös abgetan (Berghahn 1980: 407ff.), auch wenn er ihm eine zu einseitige und starre Sichtweise vorwarf. Gemeinsame Berührungspunkte zwischen He rzfeld und Fischer fanden sich beispielsweise in der Auseinandersetzung mit Ludwig Dehios Essay über die Hegemoniebestrebungen, aus der dieser bereits Kontinuität in der Zielsetzung schloss (Sywottek 1973: 31).

Einer der heftigsten und ausdauernden Kritik er Fischers war sein Historikerkollege Gerhard Ritter, der sich bemühte, die Bundesrepublik von der Zeit des Nationalsozialismus zu distanzieren (Böhme 2000: 115). Entsprechend argumentierte er gegen Fischers Thesen und bezog auch die Medien ein, wie durch seine von der Deutschen Presseagentur veröffentlichte Stellungnahme. In Ritters Augen - was auch in seinem Briefwechsel mit Kollegen nochmals deutlich wurde - habe Fischer unverantwortlich gehandelt, und in seinen Arbeiten werde deutlich, dass persönliche Erfahrungen ihn geprägt und zu dieser einseitigen Sichtweise geführt hätten, wie etwa das Erleben des Zweiten Weltkriegs (Sywottek 1973: 24ff.). So könnte man meinen, Fischer wolle im „Griff nach der Weltmacht“ sein Kriegstrauma verarbeiten. Ritter zweifelte daran, dass Fischer die außenpolitische Richtung Deutschlands angemessen beurteilt habe, und erst recht verfehlt sei seine Einschätzung Bethmann Hollwegs (Jäger 1984: 147).

Dass Fischer sich nicht zum Vorgehen der anderen Staaten äußerte, könnte für Ritter als Aufrollen der Versailler Verträge gedeutet werden. Überhaupt fiel der formale Aufbau von Fischers Arbeit oft der Kritik zum Opfer. Vergleichbar seien Ludwigs Dehios Überlegungen gewesen, für den der Erste Weltkrieg auf dem Hegemoniewunsch des Kaiserreichs basierte (Ritter 1964: 59f.).

Auch Michael Freund sah Fischers „Griff nach der Weltmacht“ als eine Neuauflage der Kriegsschuldfrage. Ihm drängte sich jedoch der Eindruck auf, dass die Kriegsschuld des Nationalsozialismus auf den Ersten Weltkrieg erweitert werden sollte, ohne jedoch neue Erkenntnisse vorzuweisen. Es sei prekär, die beiden Weltkriege so miteinander zu vergleichen. Zweck und Ziel von Fischers Arbeit blieben verborgen; es lasse sich höchstens schlussfolgern, dass Deutschland bereits 1914 der Hitlerschen Politik ähnlich gewesen sei, doch solche Verknüpfungen seien allgemein zu vage (Freund 1964: 63ff.).

Golo Mann deutete die Aussagen Fischers, dass Deutschland erst durch den Imperialismus und anschließend durch den Krieg als Weltmacht etabliert werden sollte. Für Mann war auffällig, dass viele Zitate in Fischers Arbeit erschienen (bedingt durch das Studium vieler Akten) was zwar zu keiner neuen Theorie im Hinblick auf den Kriegsausbruch führte, aber eine noch nicht da gewesene Annäherung an das Thema darstellte. Manns Fazit aus der Lektüre: Fischer mache keinen Unterschied zwischen Kriegszielen und Kriegsursachen, was letztlich eine unbefriedigende Schlussfolgerung auf Seiten Fischers darstelle. Es sei jedoch nicht auszuschließen, dass die Resonanz im Ausland - beispielsweise England - ganz anders ausfiele (Mann 1964: 66ff.)

Vier unterschiedliche Gruppierungen dominierten: diejenigen, welche weiterhin zur apologetischen These standen, Fritz Fischer und seine Schule, die Schule von und um Gerhard Ritter sowie jüngere Historiker, zu denen Schüler von Werner Conze und Theodor Schieder gehörten (Böhme 2000: 125ff.).

2.2.2 Fritz Fischers Reaktion auf die Kritik

Trotz vieler Widersprüche stand Fischer weiterhin zu seinen Forschungsergebnissen. Manche Thesen vertiefte er sogar noch (die Überlegungen zur Kontinuitätsfrage). Im Laufe der Kontroverse beteiligten sich neben Historikerkollegen und den Medien auch konservative Politiker (wie Franz Josef Strauß von der CSU) an der Debatte. Wie Böhme (2000: 113) bemerkte, spielte der Hinweis auf die „Tragik“ von Fischers Feststellungen in der Diskussion eine große Rolle, wodurch die Kontroverse bis in die Politik hineinreichte. Doch was sollte schwerpunktmäßig untersucht werden; war der Kriegsausbruch eher dem Handeln einzelner Machthaber - wie Bethmann Hollweg - oder doch dem gesamten Kaiserreich mit seinen Amtsträgern in Militär, Wirtschaft und Politik zuzuschreiben? Vor allem der „Brückenschlag“ vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg ging vielen Kollegen zu weit. Die Kontroverse führte jedoch zu einer intensiven Beschäftigung mit Fischers Kontinuitätsthesen, sodass gegen Ende der 1960-er Jahre viele Arbeiten erschienen, deren Thema die deutsche Außenpolitik war (Sywottek 1973: 28ff.). Spätere und jüngere Kritiker betrachteten den „Griff nach der Weltmacht“ als eine solide Darstellung der damaligen Ereignisse; allerdings entdeckten auch sie hin und wieder Schwächen in der Genauigkeit der Analyse.

2.3 Entstehung und Entwicklung der Kontroverse

Die Fischer-Kontroverse selbst wurde bislang kaum untersucht. Ihren Ursprung hatte sie in einer typischen wissenschaftlichen Auseinandersetzung (Sywottek 1973: 19ff.). Der Publizist und Journalist Rudolf Augstein spekulierte, dass bereits der Terminus „Weltmacht“2ein Reizwort sei, das genüge, um einen Disput auszulösen.

Es sollte weiterhin den angewandten Sozialwissenschaften überlassen bleiben, die Kriegsgeschehnisse zu analysieren, gerade im Hinblick auf die erst vor kurzem gegründete Bundesrepublik, die einen „unbefleckten Neustart“ wagen sollte. Nicht nur deshalb mischten sich im weiteren Verlauf auch die großen Parteien wie CDU und CSU ein. Dass es Fischer darum ging, das Tabu der Weltkriegsforschung zu brechen, ging in den oft hitzigen Diskussionen unter.

Während der Kontroverse traten wiederholt dieselben Fragen nach der Beziehung zwischen Geschichtsbewusstsein, vermitteltem Geschichtsbild und den jeweiligen Ereignissen, der angemessenen Darstellung dieser sowie der prinzipiellen Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit der Außenpolitik auf. Rezensenten der Printmedien wiesen immer wieder darauf hin, dass „Griff nach der Weltmacht“ das allgemeine Geschichtsbild beeinflussen würde (Sywottek 1973: 25). Natürlich trugen die Medien mit der Verbreitung solcher Vermutu ngen auch dazu bei, dass die Bevölkerung ihr politisches Bewusstsein hinterfragte.

2.3.1 Gerhard Ritters Offensive

1964 veröffentlichte Ritter über die Bundeszentrale für politische Bildung eine Vortragsreihe, die unentgeltlich an Geschichtslehrer verteilt wurde und auch im Radio zu hören war. So erreichten seine Schriften unaufgefordert diejenigen, die in Schulen für die Verbreitung von Geschichtstheorien sorgten. Ritter bestand weiterhin auf der These vom schicksalhaften Hineinschlittern Deutschlands in den Ersten Weltkrieg - wie seine Generation es gelehrt und gelernt hatte. Der Disput wurde letzten Endes nicht nur zwischen Historikern, sondern auch zwischen Generationen ausgetragen. Unterstützung erhielt Ritter von seinen Schülern Egmont Zechlin und Erwin Hölzle (Jarausch 2003: 81). Fischer hingegen war nicht ganz klar, inwieweit Ritter sein Buch als Gefährdung für das Politikbewusstsein der Deutschen verurteilte, und er wiederholte seine Absicht, ohne Vorurteile an die Analyse der Kriegsgeschehnisse herangegangen zu sein, zumal er nirgends explizit behauptet hat, dem Kaiserreich die Alleinschuld zuzuschreiben. Er war überzeugt, dass das tradierte Geschichtsbild sich nicht mit der Realität deckte (Fischer 1965: 61f.). Doch alleine der Gedanke, dass Deutschland nicht unschuldig in den Krieg geraten sein könnte, genügte, um als Tabubruch gesehen zu werden.

2.3.2 Fritz Fischers Haltung zu Beginn der Kontroverse

Fischer verstand seine Arbeiten als Anlass, sich kritisch mit Vergangenem zu befassen und auch einen Richtungswechsel im Denken anzustreben. Dem ging Konrad H. Jarausch in „Der nationale Tabubruch“ (2003: 82) nach. Für Jarausch gab es keinen Zweifel, dass die Debatten um die Kriegsschuldfragen immer eine Grundsatzdiskussion bleiben würden. Ein Blick auf Fischers Vita besagte, dass dieser aktiv den Zweiten Weltkrieg miterlebt hatte; spätere Auslandsaufenthalte im angloamerikanischen Sprachgebiet ermöglichten ihm jedoch, die Zeit des Nationalsozialismus aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Für Fi scher ein „heilsamer Schock“: Er setzte sich dafür ein, dass solch ein Zustand künftig im Keim erstickt werden solle.

1959 publizierte Fischer in der „Historischen Zeitschrift“ eine erste Arbeit, die auf Quellen des Auswärtigen Amts und der Reichskanzlei basierte, um Expansionsziele des Kaiserreiches darzustellen. Sein „Krieg der Illusionen“ behandelte die deutsche Außenpolitik vor dem Kriegsausbruch, in der Imperialisten, Akademiker und Militärs gemeinsam agierten und ihre Expansionsziele verdeutlichten (Jarausch 2003: 83.ff.). Im Ostdeutschland der 1960-er Jahre waren sich die meisten Historiker einig, dass die Hauptschuld für den Kriegsausbruch dem Kaiserreich zuzuschreiben war. Egmont Zechlin und auch Jarausch selbst bemerken jedoch, dass Kriegsrisiko nicht mit Kriegswillen gleichzusetzen sei. Es war unmöglich, sich einig zu werden; dafür waren die Forschungsansätze und Haltungen zu verschieden. Hinzu kam der besagte Generationenunterschied zwischen Fischer, Ritter und dessen Anhängern. Die brodelnden Emotionen ließen die Kontroverse mitunter unsachlich erscheinen (Jarausch 2003: 87). So wurde in den Raum gestellt, ob Fischer mit seinen Thesen die Kriegsforschung gar missionieren oder überhaupt Moral verbreiten wolle (Jäger 1984: 138). Die Debatte markierte eine Zäsur im politischen Bewusstsein Deutschlands, das im Begriff war, sich zu verändern.

Rückendeckung erhielt Fischer aus dem Ausland, aus Ostdeutschland sowie besonders von seinem Schüler Imanuel Geiss. Geiss machte aber auch deutlich, dass die Außenpolitik des Kaiserreichs sich von der des Nationalsozialismus unterschied (während Fischer die These vertrat, dass die Außenpolitik vielmehr den Weg zur NS-Zeit geebnet habe). Seine Ergebnisse unterstrich er durch Quellenveröffentlichungen (Jäger 1984: 139f.).

2.3.3 Beteiligung der Medien

Fischers Thesen weckten das Interesse der Medien, die ihrerseits einen Beitrag zur Entwicklung der Kontroverse leisteten, allen voran die Tageszeitungen „Die Welt“, „Die Zeit“ sowie das Magazin „Der Spiegel“. Die Auseinandersetzung war längst keine rein wissenschaftliche Debatte mehr, sondern ein in der Öffentlichkeit ausgetragener Disput, der auch die Politik einbezog und der erstmals auch über die Medien ausgetragen und von diesen diskutiert wurde (Große Kracht 2005: 16).

Im Frühjahr 1964 wurde Fischer vom Goethe-Institut für Vorträge in die USA eingeladen, doch das Auswärtige Amt zog, trotz Protests von zwölf an US - Universitäten lehrenden Historikern, die geplanten Gelder kurzfristig zurück. Letztendlich war die Reise nur möglich, weil sich andere Finanzierungsquellen auftaten. Für „Die Welt“ galt Fischer nun als Märtyrer, dessen wissenschaftliche Freiheit eingeschränkt wurde. Die Schlagzeile „Maulkorb für einen Historiker“ machte ihrerseits Schlagzeilen - politisches und wissenschaftliches „Machtgerangel“ wurde nun über die Medien ausgetragen. Doch gerade der heftige Schlagabtausch dieser bislang einmaligen3Kontroverse führte auf der anderen Seite dazu, dass das politische und historische Bewusstsein in der BRD selbstkritischer und liberaler wurde. Im August wurde auch das Fernsehen auf den Disput aufmerksam. 50 Jahre nach dem Kriegsausbruch strahlten die TV-Sender mehrere Dokumentationen aus, und die ARD organisierte eine Gesprächsrunde mit Fischer, Geiss, Erdmann und Mommsen.

Als Höhepunkt der Debatte gilt noch immer der Historikertag in Berlin vom Oktober 1964, auf dem Fischer seine Konzeption erläuterte. Zwei Fronten prallten aufeinander, und hinzu kam noch die Meinung der Öffentlichkeit. In der „Zeitschrift für Geschichtswissenschaft“ berichtete Joachim Petzold, dass die Berliner Veranstaltung gerade aufgrund der Kontroverse ungewöhnlich viele Zuhörer anlockte (Große Kracht 2005: 60). Dass Fischers Arbeiten ihren Teil zur Weiterentwicklung der Wissenschaft beitruge n, erwähnt auch Jarausch (2003: 94). Die Kontroverse erreichte, dass die traditionelle Meinung vom Defensivkrieg später aufgegeben sowie eingeräumt wurde, dass die Regierung das Risiko eines Kriegsausbruchs eingegangen sei.

2.3.4 Popularität der Kontroverse

Nicht zu unterschätzen sind bei dieser Wende die Rolle und der Einfluss der Medien. Den Anfang machten Tages- und Wochenzeitungen mit Rezensionen von „Griff nach der Weltmacht“. Lob fand besonders, dass Fischer sich ausführlich mit den Quellen beschäftigt und ausgiebiges Material herangezogen hatte. Seine neutrale, vorurteilsfreie Darstellung fand ebenfalls Anklang. Hingegen wurde befürchtet, dass der Bruch mit dem Tabuthema der Kriegsschuldfrage für Differenzen sorgen könnte. Der Ruf der Bundesrepublik sollte keinen Schaden nehmen, im Inland und Ausland (Jäger 1984: 142ff.). Längst ging es bei der Diskussion nicht mehr um die Kriegsschuldfrage und die Verantwortung des Kaiserreichs. Die Fischer-Kontroverse hatte sich verselbständigt. Die Zeitungen beurteilten „Griff nach der Weltmacht“ als ein unheimliches Buch, dessen Inhalt nicht zu leugnen sei („Süddeutsche Zeitung“) oder als erschütternde Lektüre („Die Zeit“). „Der Spiegel“ ging sogar noch weiter und sprach davon, dass Geschehnisse wieder ans Licht gebracht würden, mit denen noch nicht abgeschlossen worden sei. Und die „Historische Zeitung“ erkannte die Brisanz von Fischers Theorie (Große Kracht 2005: 51).

Im März 1964 erschien im „Spiegel“ eine Inhaltsangabe von „Griff nach der Weltmacht“ von Rudolf Augstein, deren Schwerpunkt die Kontinuitätsthese und die Risikobereitschaft Deutschlands im Hinblick auf den drohenden Krieg waren. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) wandte sich Michael Freund gegen Fischer, indem er auf Versailles und die Folgen verwies.

Ähnlich wollte seiner Meinung nach Fischer anklagen. Insgesamt verfehle „Griff nach der Weltmacht“ das Ziel, Objektivität zu bewahren. Giselher Wirsing, der Gründer 1948 erstmals erschienenen Wochenzeitung „Christ und Welt“, schloss sich Freuds Ausführungen an. Im September 1964 wurde ein weiterer Artikel in „Christ und Welt“ veröffentlicht, diesmal von Eugen Gerstenmaier, der nochmals betonte, dass Deutschland ungewollt - und erst recht ungeplant - in den Ersten Weltkrieg geraten sei. Derselb en Auffassung war der amtierende Bundeskanzler Ludwig Erhard (Große Kracht 2005: 57ff.). Es gab sich also ein Wort das andere, und beide Parteien nutzen „ihre“ jeweiligen Medien: Während Fischer für den „Spiegel“ schrieb, publizierte Ritter in der FAZ.

2.3.5 Fortführung der Diskussionen

Dass Fischers Kontinuitätsthese auch ein Thema für zukünftige Wissenschaftler sei, wurde kaum bezweifelt. Gerade in Bezug auf die innenpolitischen Analysen ging „Griff nach der Weltmacht“ nicht zu sehr in die Tiefe. Fischer und seine Schüler begründeten das Scheitern des Kaiserreichs damit, dass die Innenpolitik versagt habe. Fischer sah in dem „Kriegsrat“ vom 8. Dezember 1912 einen wichtigen Wendepunkt im Regierungskurs (Berghahn 1980: 404). Erdmann und Zechlin stimmten Fischer in einer späteren Studie teilweise zu, dass das Kaiserreich auf eine aggressive Außenpolitik gesetzt hätte; laut Zechlin habe Deutschland viel daran gelegen, sich seine Machtposition zu sichern unter Berücksichtigung seiner ungünstigen geographischen „Mittellage“. Erdmann erklärte die Risikopolitik aus der defensiven Einstellung heraus.

Bei Hans Rothfels wurde die Entfernung von seiner früheren Einstellung offensichtlich, und er schloss sich teilweise Wolfgang Mommsen an, der ebenfalls von einer Risikobereitschaft des Kaiserreiches sprach (Jäger 1984: 150ff.) Erst am 28. Juli 1914 sei Bethmann Hollweg, so Mommsen, von seiner bisherigen Kursführung abgewichen. Seine verfehlte Beurteilung der Lage aus dem Jahre 1972 revidierte er später, indem die Innenpolitik den Schwerpunkt der Analyse bildete. Mommsen sah nun in der prekären innenpolitischen Situation ein Kriegsrisiko, aber den Krieg nicht als Ziel der deutschen Politik. (Berghahn 1980: 410f.).

Je intensiver die Kontroverse wurde und desto länger sie andauerte, desto selbstkritischer wurde die Geschichtswissenschaft, sodass die bisher überliefernde Meistererzählung immer mehr in Frage gestellt wurde. Dass das Kaiserreich am Kriegsausbruch beteiligt war, sowohl defensiv als auch aggressiv agierte, ließ s ich nicht länger ignorieren. Von Eckhart Kehr kam der Wunsch, dass die Geschichtswissenschaft sich umorientieren müsse (Böhme 2000: 108). So hat Fischer mit seinen Thesen unvorhergesehen dazu beitragen, dass die Zeitgeschichte ihre bisherigen Überlieferungen reflektierte und den Grundstein gelegt, dass sich irgendwann ein Geschichtsbewusstsein in Europa etablieren kann, an dem sich die Staaten gemeinsam beteiligen (Jarausch 2003: 94ff.). Seine Thesen stellten sowohl einen Abschluss für frühere Kriegstheorie n als auch einen Anfang für weitere Forschungen dar und ermutigten, vor den Methoden der Nachbarwissenschaften nicht zurückzuschrecken und auch einen Blick auf die Forschungssituation anderer Staaten zu werfen.

3. Die Fischer-Kontroverse in der heutigen Zeit

Aus der jüngeren Geschichtsforschung sind Fischers Arbeiten nicht wegzudenken; längst sind seine Thesen etabliert. Die Kontroverse bewirkte, dass die historische Forschung in Deutschland den Stand der Nachbarländer erreichte und dass sich die Geschichtswissenschaft für Methoden und Konzeptionen anderer Disziplinen öffnete (Mommsen 1981: 149f.). Fischer hatte ungewollt erreicht, dass die Historiographie mit ihren Traditionen brach und sich neu orientierte; sie war bereit, das bisherige Geschichtsbild zu revidieren. Allerdings dominierte nach wie vor die politische Geschichte, während die Gesellschafts- und Sozialgeschichte weiterhin eher am Rande eine Rolle spielten. Dennoch wurde die Kontroverse mit der Zeit entspannter und weniger emotionsgeladen.

Fischers „Griff nach der Weltmacht“ räumte mit der Kriegsapologetik auf (Iggers 1971: 361). Die alte Meistererzählung war durch den Wandel des Zeitgeistes nun nicht mehr dominant. Durch die Kontroverse erlebte das politische und historische Bewusstsein bezogen auf den Ersten Weltkrieg eine Änderung; Neutralität und Kritik lösten die konservative Sichtweise ab. So war die Kontroverse für die Entwicklung der Geschichtswissenschaft fast bedeutender als Fischers Buch selbst - in Forschung und Lehre gleichermaßen (Ge iss/Wendt 1973: 9).

Es hat sich gezeigt, dass wissenschaftliche Einstellungen Auswirkungen auf Politik und Forschung haben können. Gerade die Lehre - sowohl Schule als auch Universität - vermittelt immer bestimmte pädagogische Ansichten. Auch hier flossen Fischers Thesen ein und sorgten für eine differenzierte Meinung.

3.1 Bedeutung von Fischers Thesen für die Geschichtswissenschaft

Dispute unter Wissenschaftlern sind nichts Ungewöhnliches, aber wenn sie aktuelle historische Themen betreffen, finden häufig auch die Meinungen von Zeitzeugen Berücksichtigung.4 Klaus Große Kracht stellte es treffend dar, dass Zeitgeschichte gleichzeitig auch immer Streitgeschichte war (2005: 162). Heute ist es üblich, dass Neuerscheinungen auf dem Büchermarkt in Zeitungen u nd Zeitschriften besprochen werden, und Fernsehdokumentationen tragen zu einer weiteren „Popularisierung“ der Wissenschaft bei. Debatten wie die Fischer - Kontroverse bleiben jedoch ein fester Bestandteil in der jeweiligen Disziplin, denn sie zeigten auf, wie unterschiedlich ein Thema interpretiert werden kann. Nachdem sich die Wogen um Fischers Thesen geglättet hatten, interessierte sich die Öffentlichkeit zunächst nicht mehr so stark für zeitgeschichtliche Themen.

15 Jahre nach der Fischer-Kontroverse erschien in „Geschichte und Gesellschaft“ ein Ausblick von Volker R. Berghahn, der nochmals feststellte, dass die deutsche Geschichtswissenschaft bezogen auf die langfristigen Motive des Kaiserreichs noch immer nicht übereinstimmt. Berghahn berief sich auf ausgewählte Buchveröffentlichungen, um zusammenzufassen, inwieweit Fischers Arbeiten seit der Debatte in die Wissenschaft eingeflossen sind.

Bruno Gebhardts „Handbuch der deutschen Geschichte“ ist ein Standardwerk. Im von Erdmann überarbeiteten Kapitel sprach dieser von einem „kalkulierten Risiko“, in Anlehnung an die Arbeiten von Hillgruber und Jarausch. Die Ereignisse seien außer Kontrolle geraten, sodass eine vermittelnde Position nicht mehr möglich gewesen sei. Zur Kriegsschuldfrage selbst äußerte sich Erdmann, dass die deutschen Ziele nicht herausragend aggressiv, dass kein bestimmter Eroberungswille zu erkennen gewesen sei (Berghahn 1980: 404ff.).

Ebenfalls schob Theodor Schieder Deutschland eine hohe Verantwortung zu, was die Risikoplanung und das Verhalten gegenüber Serbien betraf, war jedoch gleichzeitig der Meinung, dass alle Staaten zumindest latent aggressiv vorgingen.

Eine sehr detaillierte Arbeit war „Geschichte im Zeitalter der Weltkriege“ von Gerhart Binder, der sich vor allem mit den diplomatischen Beziehungen befasste. Binders Schlussfolgerung lautete, dass die führenden Politiker und Staatsoberhäupter ihre Macht den Militärs überließen, in denen sie Experten für Krieg und Frieden sahen. In „Deutsche Geschichte im europäischen Rahmen“ von 1975, stellte Rudolf Buchner fest, dass im Juli 1914 ein Krieg noch vermieden werden sollte. Erst durch den Blankoscheck vom 5. Juli bekamen militärische Aktionen die Oberhand (Berghahn 1980: 412ff.).

Berghahns Fazit lautete, dass Fischers Thesen in den von ihm untersuchten Büchern nicht negativ dargestellt würden, in der allgemeinen Literatur jedoch bislang keine besonders Berücksichtigung fänden (Berghahn 1980: 418). Die Warnung Ritters vor einer radikalen Revision erwies sich als unbegründet. Endgültig klären lasse sich die Kriegsschuldfrage wahrscheinlich nicht. Insgesamt wurde die damalige Situation oft als zu harmlos betrachtet und falsch eingeschätzt.

Generell ist ein neu gewecktes Interesse an Erinnerungsgeschichte spürbar. Fischers Verdienste für die Geschichtswissenschaft waren für die Gesamthochschule Kassel ein Grund, ihn mit einem Ehrendoktor auszuzeichnen. Fischer sei es gelungen, dass seine Literatur nicht nur in Fachkreisen erörtert werde, sondern auch die Öffentlichkeit und Politik bewegte. Schon während der Kontroverse machte sich ein grundlegender Wandel in der historischen Forschung bemerkbar, an dem die Einbeziehung der Öffentlichkeit einen bedeutenden Anteil hatte. So lasse sich, gemäß Witt, die Debatte als Paradebeispiel für die Konsequenzen und den Verlauf wissenschaftlicher Diskussionen betrachten (Witt 1988: 3ff.). Erwähnenswert seien außerdem die vielen Studien, die aus dem Disput resultierten.

Witt würdigte ebenfalls die Person Fritz Fischer. Als Lehrer stand er neuen Anregungen und Forschungsansätzen stets offen gegenüber und scheute sich nicht, sich auf Konzepte anderer Disziplinen einzulassen.

Die Beziehung der Geschichtswissenschaft zur antiken Philosophie verlor er dabei aus den Augen - nämlich die Ordnung von Staat und Gesellschaft (Witt 1988: 14ff.).

4. Schluss

Auch über 40 Jahre seit ihrem Höhepunkt ist die Fischer-Kontroverse noch im Gedächtnis nicht nur vieler Historiker präsent. Sie ist vor allem deshalb in Erinnerung geblieben, weil sie der erste heftige Disput in der Geschichtswissenschaft nach der Gründung der Bundesrepublik war. Dazu kommt, dass noch nie zuvor die Medien so stark in eine Fachdebatte einbezogen wurden.

Fischers Thesen haben seinerzeit nicht nur die Wissenschaft gespalten, sondern überhaupt die Nation. Er selbst hatte eine solche Brisanz von „Griff nach der Weltmacht“ nicht erwartet und ebensowenig beabsichtigt, eine jahrelange Diskussion hervorzurufen. Gerade bei der älteren Historiker-Generation und aufstrebenden Politikern erweckten Fischers Arbeiten den Eindruck, dass die BRD - kaum dass sie existierte - mit vergangenem „Ballast“ konfrontiert wurde, mit der Kriegsschuld, mit der Angriffslust des Kaiserreichs.

Es ging Fischer nicht darum, Deutschland oder seine damaligen Machthaber anzuklagen, und er wollte auch niemanden verleumden; ganz im Gegenteil bestand er immer auf Objektivität. Und keinesfalls wollte er seine eigenen Kriegserlebnisse verarbeiten, indem er Thesen aufstelle, die provokativ wirkten. An keiner Stelle in seinen Arbeiten erweckte er den Eindruck, dass er eigene Erinnerungen einbaute.

Fischer präsentierte seine Interpretation der Geschehnisse vor und während des Ersten Weltkriegs - auch deshalb, weil es bislang noch keine Arbeiten gab, die in seine Forschungsrichtung gingen. Stattdessen hatte sich die traditionale Kriegsapologetik durchgesetzt; über weitere Möglichkeiten wurde kaum spekuliert. Ein weiterer Grund, weshalb Fischers Thesen für Furore sorgten. Während er es in seiner deutschen Heimat schwer hatte, fand seine Konzeption vor allem im englischsprachigen Ausland schnell Anklang. So blieb die Fischer - Kontroverse längst kein nationaler Disput.

Fischer blieb seiner (Argumentations-) Linie stets treu; er sah keinen Grund, seine Theorien abzuschwächen, um den gängigen Interpretationen entgegenzukommen. Heute sind seine Thesen ein fester Bestandteil der Geschichtswissenschaft und werden von vielen Seiten anerkannt, und die traditionale Überlieferung vom Präventivkrieg und der aus deutscher Sicht defensiven Haltung verblasste schon im Laufe des Disputs. Zur Verbreitung von Fischers Arbeiten trugen die Medien sehr viel bei. Erstmals diskutierte auch die Öffentlichkeit bei einem eigentlich fachspezifischen Thema mit. Die Debatte fand nicht mehr ausschließlich unter Wissenschaftlern und hinter verschlossenen Türen statt; die Geschichtswissenschaft öffnete sich im Fall der Fischer-Kontroverse sowohl für die breite Masse als auch für andere, oft benachbarte Disziplinen (wie Soziologie oder Politikwissenschaft).

Die Fischer-Kontroverse sorgte für ein verändertes Geschichtsverständnis und ließ zu, dass ein neues Geschichtsbild sich verbreitete, das von Selbstkritik und Reflexion geprägt war. Die Literatur zum Kriegsthema allgemein sowie zu Fischers „Griff nach der Weltmacht“ und der Kriegsschuldfrage wurde umfangreicher; neue Studien erschienen und Quellen wurden erschossen oder anders interpretiert. Die Diskussion brachte also die Forschung voran und ermutigte zu neuen Ansätzen und zur weiteren Auseinandersetzung.

Das Beispiel der Fischer-Kontroverse zeigt, dass verstärkter Medieneinsatz gezielt genutzt werden kann, vor allem um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Auch die Art der Medien, ob seriöse Tageszeitung, Wochenmagazin oder TV-Dokumentation trägt dazu bei. Es ist beeindruckend und zugleich beängstigend, wie richtungsweisend die von den Medien vertretene Meinung sein kann. Doch trotz Fischers Bemühungen und auch der seiner Gegner - beide Gruppierungen sind nicht zu unterschätzen - wird die Kriegsschuldfrage nie endgültig geklärt werden und auch nicht so, dass alle Parteien befriedigt wären. Das Thema Erster Weltkrieg lässt die verschiedensten Interpretationsmöglichkeiten zu. Fischers Ansatz war einer von diesen. Wir dürfen gespannt sein auf weitere Forschungen.

5. Quellen und Literatur

Berghahn, .olker R. (1980): Die Fischer-Kontroverse - 15 Jahre danach. In: Geschichte und Gesellschaft, 6. Jahrgang, Heft 3, Göttingen, S. 403-419

B . ö . hme, .elmut (2000): „Primat“ und „Paradigmata“. Zur Entwicklung einer bundesdeutschen Zeitgeschichtsschreibung am Beispiel des Ersten Weltkrieges. In: Hartmut Lehmann (Hg.), Historikerkontroversen. Göttingen, S. 87-140

Fischer, .ritz (1961): Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18. Düsseldorf.

Fischer, .ritz (1965): Weltmacht oder Niedergang. Deutschland im ersten Weltkrieg. Frankfurt am Main *)

Freund, .ichael (1964): Bethmann-Hollweg, der Hitler des Jahres 1914? Zu einer Spätfrucht des Jahres 1914 in der Geschichtsschreibung. In: Ernst W. Graf Lynar, Deutsche Krie gsziele 1914-1918, Frankfurt am Main/Berlin, S. 175-182 *)

Geiss, .manuel und Wendt, .ernd Jürgen (1973): Fritz Fischer zum 65. Geburtstag. In: Imanuel Geiss und Bernd Jürgen Wendt (Hg.), Deutschland in der Weltpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts. Gütersloh, S. 9-18

Gro . ß . e Kracht, .laus (2005): Die zankende Zunft. Historische Kontroversen in Deutschland nach 1945. Göttingen

Iggers, .eorg G. (1971): Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart. München

J . ä . ger, .olfgang (1984): Historische Forschung und politische Kultur in Deutschland. Die Debatte 1914-1980 über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Göttingen

Jarausch, .onrad H. und Sabrow, .artin (Hg.) (2002b): Verletztes Gedächtnis. Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt. Frankfurt/New York

Jarausch, .onrad H. (2003): Der nationale Tabubruch. Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik in der Fischer-Kontroverse.In: Martin Sabrow et al. (Hg.), Zeitgeschichte als Streitgeschichte, Große Kontroversen seit 1945. München, S. 10-40 *)

Mann, .olo (1964): Der Griff nach der Weltmacht. In: Ernst W. Graf Lynar, Deutsche Kriegsziele 1914-1918, Frankfurt am Main/Berlin, S. 183-193 *)

Mommsen, .olfgang J. (1981): Gegenwärtige Tendenzen in der Geschichtsschreibung der Bundesrepublik. In: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft. 7. Jahrgang/Heft 2: Kontroversen über Historiographie. Göttingen, S. 149-218

Ritter, .erhard (1964): Eine Neue Kriegsschuldthese. In: Ernst W. Graf Lynar (Hg.), Deutsche Kriegsziele 1914-1918. eine Diskussion. Frankfurt am Main/Berlin, S. 121-144 *)

Sywottek .rnold (1973): Die Fischer-Kontroverse. Ein Beitrag zur Entwicklung historisch- politischen Bewußtseins in der Bundesrepublik. In: Imanuel Geiss und Bernd Jürgen Wendt (Hg.), Deutschland in der Weltpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts. Gütersloh, S. 19 -48

Witt, .eter-Christian (1988): Fritz Fischer. Kasseler Universitätsreden. Kassel

*) Angaben zu den Seitenzahlen in der Hausarbeiten beziehen sich auf den ersten Band des Kurses 34238 der . FernUniversit . ä . t Hagen (2005): Deutsche Geschichtsdebatten im 20. Jahrhundert. Der Erste Weltkrieg.

6. Erklärung

Hiermit erkläre ich, dass ich die vorliegende Hausarbeit mit dem Thema „Die Darstellung der Fischer-Kontroverse in der öffentlichen Diskussion“ ohne fremde Hilfe erstellt habe. Alle verwendeten Quellen habe ich angegeben. Ich versichere, dass ich bisher keine Hausarbeit oder sonstige schriftliche Arbeit mit gleichem oder ähnlichem Thema an der Fe rnUniversität oder einer anderen (Fach-) Hochschule abgegeben habe.

Lüdenscheid, 10. April 2006

Carla Hermges

[...]


1 Zu den Medien zähle ich auch „Geschichte und Gesellschaft“ und andere fachspezifische Periodika.

2 Zu Zeiten des Imperialismus meine „Weltmacht“ eine Großmacht, die am Wettlauf um die Aufteilung der Erde teilnahm, um ihre Stellung zu behaupten.

3 „Einmalig“ meint hier die Sonderstellung der Fischer-Kontroverse als erste wissenschaftliche Debatte, die eine so große Medienwirksamkeit erzeugt hat. Sie war ferner das erste historische Streitgespräch seit Gründung der BRD.

4Hier ergibt sich jedoch das Problem, dass Berichte von Zeitzeugen in der Regel individuelles Erleben schildern - auch wenn diese zugleich Historiker sind. Die Grenzen zwischen dem, was erlebt wurde und dem, was die Betroffenen verarbeitet haben, sind nicht immer klar (JARAUSCH/SABROW, Gedächtnis, 24).

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Die Darstellung der Fischer-Kontroverse in der öffentlichen Diskussion
Hochschule
FernUniversität Hagen
Veranstaltung
Historisches Institut
Note
B (gut)
Autor
Jahr
2006
Seiten
21
Katalognummer
V110009
ISBN (eBook)
9783640081875
Dateigröße
502 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit beschäftigt sich mit Fischers Konzeption und deren Rezeption durch andere Historiker und den Medien.
Schlagworte
Darstellung, Fischer-Kontroverse, Diskussion, Historisches, Institut
Arbeit zitieren
Carla Hermges (Autor:in), 2006, Die Darstellung der Fischer-Kontroverse in der öffentlichen Diskussion, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/110009

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